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Das Problem mit dem Wesen
Dieser Band blickt auf das wunderbare Wesen des Mädchens. In einer Zeit, in der bereits der Begriff des ,Wesens’ verächtlich gemacht ist, muss ein solches Vorhaben Anstoß erregen – fast mehr noch als die Liebe zum Mädchen selbst. Erregt doch jedes Sprechen vom ,Wesen’ ungute Erinnerungen an frühere Zuschreibungen, Ideologien, Dogmen und patriarchale Herrschaftswünsche. Was aber ist das Wesen?
Das Wesen ist eben das völlige Gegenteil von Zuschreibungen. Es kann von ihnen weder erreicht, noch verändert, noch beschmutzt, noch angetastet werden. Wie die Würde des Menschen – die auch zu seinem Wesen gehört –, ist es unantastbar. Es spielt damit keine Rolle, was ,Zuschreibungen’ welcher Zeit auch immer gewesen waren – es kommt nur auf die Erkenntnis des Wesens an. Es spielt für dieses Wesen nicht einmal eine Rolle, wenn es verleugnet wird. Das heilige Wesen des Menschen bliebe in sich unantastbar, selbst wenn jeder einzelne Mensch es von sich weisen und verspotten würde – wie man Christus verspottete.
In dieser Weise soll also versucht werden, sich gleichsam heilig dem Wesen des Mädchens anzunähern – und wir haben längst damit begonnen. Das Gleiche könnten Frauen oder Mädchen mit dem Mann wagen – dazu wären sie berufen.
Einer Welt, der nichts mehr heilig ist (außer vielleicht der eigene Selbstbezug, der Kapitalismus und das Handy),[1] ist es auch notwendigerweise unverständlich, wie man in Bezug auf eine ,Wesenserkenntnis’ idealisieren kann. Müsste man dann nicht gerade ,realistisch’ bleiben? Ist nicht auch jede idealisierende Liebesbeziehung – zum Scheitern verdammt? Aber ... vielleicht sind es im Gegenteil die anderen, die scheitern.
Novalis hat versucht, zu zeigen, dass das ,Romantisieren’, wie er es nannte, gerade der wahre Realismus ist – weil er das Idealische der vollen Wirklichkeit sichtbar macht. So gesehen leben wir fortwährend in einer herablähmenden Verzauberung, die uns hindert, unsere eigene Wirklichkeit zu erreichen – und die Wirklichkeit alles anderen. Dann aber wäre Idealismus geradezu notwendig – und die fortwährende Not wendend... Und eine leuchtende Brücke zum Wesen...
Das Wesen kann nur mit dem Idealischen zu tun haben – denn es ist vollkommen unabhängig von den Schwächen, Halbheiten, Verirrungen, Selbstbezüglichkeiten und materialistischen sowie anderen Prägungen des Einzelnen. Weder der Grashalm unter der Gehwegplatte noch die im Gewächshaus hochgezüchtete Tomate kommt dem Wesen der Pflanze nahe. Sie offenbart etwas davon – aber das meiste gerade nicht.
Nun gehört zum Wesen des Menschen auch die Tatsache seiner Individualität. Das ist wahr. Das ändert aber nichts daran, dass sich auch diese Individualität vom Wesen entfernen kann – es liegt sogar mit darinnen. Es liegt im Wesen des Menschen, sich von seinem eigenen Wesen entfernen zu können – das können alle anderen Organismen nicht. Sie werden von ihrer Umwelt geprägt – und können nicht das Geringste dafür. Der Mensch aber schafft sich sogar seine Umwelt. Die Abirrungen des Menschen haben damit zu tun, dass er nicht nur von seinem Wesen geführt wird, sondern auch von Mächten ver-führt – und hier erst entstehen Freiheit und Tragik, die ebenfalls zum Wesen des Menschen gehören...
Der Mensch kann zutiefst individuell sein Wesen wahrmachen – oder auch verfehlen. Die Individualität ist nur ein Teil seines Wesens. Insofern es wahrhaft menschlich ist, umfasst es noch viel mehr.
So ist es auch beim Mädchen – und natürlich auch beim Mann, beim Jungen, bei der Frau, immer. Auch das Männliche und Weibliche hat ein Wesen, hat natürlich auch Abirrungen, Fehler, Verkümmerungen, Verdunkelungen, aber all das hat mit dem Wesen nichts zu tun, nur mit den Trübungen. Man kann dies natürlich alles in den Wind schlagen – aber dann ist man eben Konstruktivist, Materialist oder eine weitere, verwandte postmoderne Abart dessen. Man wird das Wesen nicht los, indem man es leugnet. Allenfalls macht man dann das Wesen des Leugners wahr, also gerade etwas nicht wahrhaft Menschliches...
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Das Wesen des Mädchens hat zunächst einmal damit zu tun, dass es körperlich schwächer ist als ein Junge. Es ist daher zurückhaltender – auch das ist sein Wesen. Die Individualität kann von diesem Wesen abweichen – sie kann gerade sagen: An diesem Punkt möchte ich gar kein Mädchen sein. Das ist etwas anderes, als zu sagen: Mädchen sind nicht zurückhaltender. Doch, sie sind es – aber sie können sich auch weigern. Sie verweigern an diesem Punkt ihr Mädchensein (weil das gerade ,in’ oder ,cool’ ist)[2] – sie könnten es aber auch bejahen. Dann wären sie zurückhaltender.
Der entscheidende Punkt ist, dass diese Wesenseigenschaft in der heutigen Zeit negativ kodiert ist. Wäre sie es nicht, würde ein Mädchen sie gerade stolz oder jedenfalls gerne wahrmachen. Da wir aber in einer maskulin geprägten Gesellschaft leben, gelten Mädchen, die das Ihre wahrmachen, als bloße ,Mädchen’ – in schlechtem Sinne. Und daraus ergibt sich alles Weitere, eben die genannte Tatsache, dass die Mädchen selbst ihrem Wesen entfliehen und es verleugnen, um etwas wahrzumachen, was ihnen erstrebenswerter erscheint.
Sehr oft ist es selbst dann noch so, dass ein Mädchen trotz allem noch immer zurückhaltender ist als ein Junge. Es gibt das sehr rein Zurückhaltende auf, wird vielleicht sogar ein regelrechter ,Tomboy’ (Wildfang) – ist aber noch immer zutiefst Mädchen. Und dies kann man spüren – und dies ist etwas zutiefst Positives.
Zum Zurückhaltenden des Mädchens gehört auch, dass es nie solche Zuschreibungen vornehmen würde, wie es das Patriarchat getan hat. Es ist eben kein Zufall, dass es das Patriarchat gab: Das weibliche Wesen und gar das Wesen des Mädchens hätte nie geherrscht – weil es dies überhaupt nie gewollt hätte. Dass es auch Königinnen gab, und zwar auch grausame, ändert nichts an dieser Tatsache – denn es gibt eben auch Grashalme unter Gehwegplatten und hochgezüchtete Tomaten. Natürlich sind nach Jahrhunderten des Patriarchats dann auch grausame Königinnen denkbar ... sonst aber nicht. Eine grausame Königin ist eine Perversion ihres eigenen Geschlechts – und pervertiert wurde sie vom anderen Geschlecht.
Dies wirft die Frage auf, wie das andere Geschlecht pervertiert werden konnte – denn dass das Patriarchat eine Perversion des männlichen Wesens war, wird niemand bestreiten, der es nicht für eine gewisse Zeit als gottgewollt behaupten würde (was auch noch möglich ist). Diese Frage eröffnet weite spirituelle Horizonte, die gegen Ende dieses Bandes berührt werden sollen. Offenbar aber ist es so, dass das männliche Wesen, zumindest – und diesen Zusatz muss man ebenfalls tief ernst nehmen – in der Inkarnation in die Leiblichkeit für die verführenden Impulse anfälliger, jedenfalls überall da, wo es um Macht, Herrschaft und noch vieles andere geht.
All diese Fragen eröffnen überhaupt erst ein tieferes Verständnis – und es ist niemandem damit geholfen, sie gar nicht erst zu stellen und stattdessen die ,Wesensfragen’ zu leugnen. Denn auch das ist wieder das Wesen des postmodernen Zeitalters: Sich bereits für wissend zu halten und immer ganz schnell eine Antwort zu haben, für tiefere Gedankengänge dagegen keine Zeit, keine Kraft, kein Interesse oder etwas Anderes nicht zu haben. Oberflächlichkeit und innerer Hochmut helfen aber bei diesen tiefsten Fragen niemals weiter – sie bezeugen höchstens die Abirrungen dessen, der sich ihnen verweigert.
Nimmt man die spirituelle Menschenkunde der Anthroposophie ernst, so beginnt das Männlich-Weibliche und auch das in dieser Weise gefärbte Seelische überhaupt erst mit der Inkarnation – die nachtodlich und vorgeburtlich in der rein geistigen Welt lebende Individualität ist weder männlich noch weiblich, hat all dies abgelegt ... und inkarniert sich in verschiedenen Erdenleben jeweils in Leibern beiden Geschlechts, die dann auch wiederum das nur im Erdenleben existierende Seelische färben. Dasjenige, was über das rein Geistige hinaus auch nach dem Tod als Seelisches ewig bleibt, ist dasjenige Seelische, was selbst Geistnatur, also ein Ewiges, angenommen hat.
Diese Realitäten sind ungeheuer weitgehend – aber man kann unmittelbar begreifen, dass sie mit der Frage nach dem Wesen zu tun haben.
Es ist deutlich, dass weder männlich noch weiblich, damit aber auch nicht das Mädchen (oder der Junge) mit der Individualität in höchstem Sinne zu tun haben. Dennoch existieren nicht nur männliche und weibliche Leiblichkeiten, sondern auch männliche und weibliche Seelen – und wenn man die Seele nicht als bloßes Produkt des Leibes sieht, muss das Seelenwesen eine Realität haben, die zwar vom Leiblichen mit geprägt und gefärbt wird, aber auch ein eigenständiges Sein und Wesen hat. Man kann sich vorstellen, dass sich die Individualität, die sich der Inkarnation nähert, in der übersinnlichen Welt gleichsam mit dem Urbild des Männlichen oder Weiblichen durchdringt und auf diese Weise mit einem seelischen Gewand ,überkleidet’, das sie dann außerdem noch mit sich selbst, also ihrer ganzen Individualität, völlig durchdringt, das aber heißt: individualisiert.
Und so, wie in der geistigen Welt auch die Ideen als lebendige Urbilder-Wesen existieren – und etwa jeder Tisch das durch Menschenhand ,inkarnierte’ Exemplar der ewigen Idee und des Wesens TISCH ist, jede Pflanze eine Offenbarung dessen, was Goethe als lebendige ,Urpflanze’ erkannte –; wie es die reine Idee der GERECHTIGKEIT gibt und so auch alles andere in seiner Idee als Wesen lebt – so gibt es auch das lebendige Urbild und Wesen des MÄDCHENS ... und kann es vom seelisch-geistigen Wesen des Menschen, dass sich dieser geistigen Welt nähert, gefunden werden ... oder sich sogar finden lassen.
Nimmt man dies alles ernst, muss man zunächst nochmals begreifen, dass jede einzelne Pflanze auf Erden eine Offenbarung der Urpflanze ist – durch ihre Artzugehörigkeit und durch die Umwelt in ganz spezifischer Art gestaltet. Es gibt aber gewissermaßen eine Urform, man könnte vielleicht von dem ,Herzen’ der lebendigen Urpflanze sprechen. Es geht um den Typus, um das Typische – also gleichsam die Essenz der Pflanze, die sich nicht derart seltsam wie eine Liane oder ein Kaktus differenziert, sondern näher am ,Zentrum’ bleibt, sich nicht in sagenhafter Weise abwandelt, bis an die Ränder des Möglichen, das trotzdem noch immer Pflanze ist. Auch die Urpflanze hat also eine Art Gestalt – kann sich auf Erden aber bis zur Liane differenzieren, bis zum Kaktus, bis zur Orchidee, aber das alles hat sozusagen bereits weitreichende ,übersinnliche Wege’ erfordert.
In ganz ähnlicher Weise ist nun auch der Mensch ein ganz eigenes ,Reich’ – wie das Pflanzenreich. Auch der Mensch hat ein Wesen. Und ja – auch die menschliche Liane und der menschliche Kaktus ist noch immer Mensch, gleichzeitig aber auch nur noch die Karikatur eines Menschen. Wir können an den Typus des Geizhalses, des Sadisten, des besessenen ,Erbsenzählers’ und anderes mehr denken. Auch hier überall entfernt sich das Menschliche von seinem Zentrum, und zwar immer weiter, aber die volle, die tiefe Wahrheit dessen ist etwas rein Übersinnliches und muss empfunden werden, kann auch in aufrichtigem, kräftigem Denken gedacht werden. Man muss dies bis in seine Realität hinein finden.
Ganz ähnliches gilt nun auch für das Mädchen. Der Vergewaltiger ist noch immer ein Mann – aber er ist sozusagen bereits die Perversion der Perversion. Der pervertierte Mann will Macht haben – dem Vergewaltiger ist sogar das Leid des anderen Menschen egal, oder er ergötzt sich daran sogar noch. Aber auch das nicht zurückhaltende Mädchen ist bereits eine Abweichung vom ,Zentrum’. Damit meine ich nicht Lerneifer, Mut oder anderes – ich meine etwas viel Zarteres, schwieriger zu Fassendes.
Ein Mädchen würde nie andere Menschen übertrumpfen wollen – einfach nur um des Übertrumpfens willen. Im Sport ist das etwas anderes – der Wettkampfgedanke hier macht etwas anderes geradezu unmöglich, und auch ein Mädchen kann Sport und sogar Leistungssport mögen. Aber selbst hier sieht man häufig, wie Niederlagen leichter genommen, ,Gegnerinnen’ herzlicher umarmt und ein Scheitern sanfter weggesteckt wird. Überall außerhalb des Sportes fällt das Verbissene erst recht weg – im Gegensatz zu den Männern.
Natürlich kann man sagen, all dies wurde den Männern wiederum anerzogen. Aber zu einem Anerziehen braucht es eben auch eine Geneigtheit (Veranlagung, Disposition). Es ist kein Wunder, dass es den Männern so gut anerzogen wurde, dass sie es fast nicht mehr ablegen können. Es hat mit dem Wesen zu tun. Es ist nicht das Wesen – aber das stärkere Geneigtsein dazu ist Teil des Wesens.
Ein Mann muss kämpfen – ein Mädchen kann nachgeben ... und tut dies oft sogar gern, weil es seinem Wesen entspricht. Man kann diese Sätze hundert- und tausendmal bestreiten, aber man sollte sie lieber einmal und zehnmal empfinden und dann spüren, was sich der Seele ergibt, wenn sie nicht mehr bloß reflexartig das verweigert, was sich nicht mehr ,political correct’ anhört. Und wenn der Mann nachgibt? Dann ist auch er sowohl dem wahrhaft Menschlichen nähergekommen (man denke an die Bergpredigt!), als auch seiner weiblichen Seite.
Ein Mädchen kann also Lerneifer haben, aber dies hat mehr mit Interesse und Hingabe zu tun als mit dem Trieb, ,Klassenbeste’ werden zu wollen – und selbst letzteres wäre weniger Trieb als das Produkt einer Erziehung, ,perfekt’ sein zu sollen. Dass Mädchen sich selbst dazu oft so tragisch leicht erziehen lassen, hat wiederum mit ihrer Hingabefähigkeit zu tun. In jedem Fall fällt es Mädchen leichter, im heutigen Schulsystem zu bestehen, als Jungen. Sie sind interessefähiger – nicht im Spezialistensinne, sondern im umfassenderen Sinne. Und auch dies ist wieder Hingabe. Es ist eine Art Selbstlosigkeit – und das Gegenteil davon ist die Herrschaft ganz persönlicher Lust. Davon ist das Mädchen insgesamt viel weiter entfernt als der Junge. Auch dies ist teilweise wieder Erziehungsprodukt, aber erneut: Die Erziehung kann nur mit einer Geneigtheit arbeiten. Sie muss irgendwo ansetzen, wo ihr etwas entgegenkommt.
Das bloß Persönliche ist bei Mädchen weniger stark entwickelt als bei Jungen – die reinere Seite, die dadurch zu Interesse, Hingabe, Zurückhaltung und vielem mehr fähig ist, ist bei Mädchen stärker entwickelt als bei Jungen. Natürlich gibt es in dieser Hinsicht auch ,weibliche Jungen’ und ,männliche Mädchen’, allein schon durch die Individualität, aber der Überblick über die Jungen insgesamt und die Mädchen insgesamt führt doch immer wieder zurück zum Wesen...
Die Seele des Mädchens ist also reiner. Sie lässt sich weniger stark vom Ego-Impuls korrumpieren – der dann wieder zu tun hat mit Leistung, Macht, Prestige und anderem mehr. Gerade deshalb ist das Mädchen so viel beziehungsfähiger. Es kann anderes und Andere so wichtig nehmen wie sich selbst – Jungen sind hier oft regelrecht ,gelähmt’. Viele Jungen wollen entweder immer oder zumindest ab und zu im Mittelpunkt stehen, und sie brauchen dies geradezu. Viele Mädchen müssen dies nie – und es fehlt ihnen auch nichts.
Das Mädchen ist also in seinem Wesen viel unschuldiger. Da, wo ein Mädchen ebenso nach Prestige und Anerkennung strebt, gibt es entweder bereits viel von seinem Mädchenwesen auf – oder es tut dies noch immer unschuldiger als ein Junge. Natürlich gibt es auch beim Mädchen unzählige Abirrungen – die dann spezifisch Mädchenart sind. Wir kennen die Schlagworte: Zicke, Intrigantin, Sticheleien. In diesen Abirrungen sind Mädchen oft ,fieser’ und ,heimtückischer’ als Jungen, die oft mit ganz offenem Visier kämpfen: Hart und brutal, aber offen. Das tun Mädchen sehr selten. Und wieder zeigt sich etwas von dem Wesensunterschied.
Das Letztere muss nicht zum Nachteil des Mädchens gedeutet werden. Es bedeutet ebenso, dass Mädchen vor offener Gewalt nahezu stets zurückschrecken. Dass psychische Gewalt genauso schmerzhaft sein kann, ändert nichts daran, dass sie rohe körperliche Gewalt schlichtweg verachten – oder zumindest gewaltige Barrieren überwinden müssen, um sie selbst auszuüben und dies nicht nur in Notwehr. So gesehen sind und bleiben Mädchen zurückhaltender – denn das Psychische ist stets subtiler.
Aber ganz und gar positiv haben Mädchen für das Seelische eine unglaublich viel größere Gabe. Es ist geradezu sprichwörtlich, dass die weibliche Seite der Menschheit eher im Fühlen lebt, die männliche eher im Intellekt – und dies ist insgesamt einfach eine Wahrheit. Auch durch Erziehung, wie wir wissen, aber eben auch durch das Wesen. Das Denken ist für das Mädchen keineswegs ein fremder Kontinent, aber es wird bei ihm immer mit dem Fühlen verbunden bleiben – während ein Junge problemlos beides trennen kann. Man kann wirklich sagen: Ein Junge denkt mit dem Kopf, ein Mädchen denkt mit dem Herzen. Dies hat zwei Bedeutungen: entweder buchstäblich mit dem Herzen, oder aber zumindest mit Beteiligung des Herzens...
Man kann eigentlich an jedem einzelnen Punkt ansetzen. Wenn man zumindest einen Punkt anerkennen kann, weil man ihn erkennt, kann man an diesem unmittelbar fortfahren. Kann man empfinden, dass das Mädchen für das Fühlen eine viel größere Begabung hat, so wird auch deutlich, dass es unschuldiger sein muss – denn seine Gabe liegt dann buchstäblich nah am Herzen. Die Gabe des Fühlens muss selbstloser machen, weil man sie verdrängen müsste, um auch das Selbstlosere zu verdrängen. Fühlen bedeutet immer auch: die Umgebung fühlen. Ein Junge lebt sozusagen viel mehr in seiner eigenen ,Raumkapsel’ als ein Mädchen. Und wiederum: Deswegen sind Mädchen so viel beziehungsfähiger. Das alles sind keine ,Schubladen’, es sind tiefe und in letzter Hinsicht heilige Realitäten. Und jeder beziehungsfähige Junge hat viel vom wahrhaft menschlichen, aber oft auch weiblichen Wesen in sich aufgenommen und macht es wahr...
Und so kann man jederzeit fortfahren. Ein mutiges Mädchen etwa hat einen viel sanfteren Mut als ein Junge – es hat schlichtweg einen weiblichen Mut, und nicht einfach einen weiblichen Mut, sondern den Mut eines Mädchens. Man muss für all diese Qualitäten eine tiefe Empfindung entfalten – dann offenbaren sie sich auch wirklich. Und ein Mädchen wird am ehesten in der Lage sein, aufrichtig und vielleicht sogar staunend zu sagen: Ja, das stimmt! Während ein Junge eher sagen würde: ,Hä, was, Mut? Mut ist gleich Mut – was für Unterschiede? Versteh ich nicht...’ Weil er es nicht verstehen wollen würde. Er würde kurz darüber nachdenken – und die Sache dann beiseitelegen. Als unwesentlich.
Ein Mädchen, das einmal auf eine Sache und ein Rätsel aufmerksam geworden ist, kann darüber lange und immer wieder nachdenken – es kann sich den Dingen tatsächlich hingeben. Es kann auch Bücher lesen und sie dabei weniger verschlingen als in sie eintauchen. Ein Junge weiß vielleicht nicht einmal, was das ist. Und so sehen wir fortwährend die viel sanftere Seele des Mädchens, die zu so unendlich viel mehr fähig ist, weil sie in ihrer ganzen Art dem Wasser entspricht – während der Junge nie so selbstlos sein könnte. Wasser höhlt den härtesten Stein, während beim Jungen Stein auf Stein prallt, und wenn es nichts hilft, muss man es eben sein lassen. Das Mädchen ist geduldig, es hat eine sanfte Hartnäckigkeit, es hat eine unschuldige Bedingungslosigkeit, es hat eine geheimnisvolle Liebe zu den Dingen.
Obwohl es bereits stark am Schwinden ist: Wieviele Mädchen lieben wohl die Natur und stille Spaziergänge in ihr – und wieviele Jungen? Die meisten Jungen würden nicht einmal verstehen, was das Mädchen ,da will’. Und ist es nicht erstaunlich, dass sicherlich 95 Prozent der Kampf-, Baller-, Tötungs- und anderen Bildschirmspiele von Jungen gespielt werden? Oder dass ein ebensogroßer Teil der Zuschauer und Akteure beim sogenannten ,Beatboxen’, einer Verunstaltung der Sprachorgane durch das Vonsichgeben bloßer Percussion-Laute, männlich sind? Hier würden die Mädchen einfach nicht begreifen können, wozu das gut sein soll – es würde sie innerlich erstarren lassen aufgrund seiner Sinnlosigkeit...
Ist es nicht erstaunlich, dass Jungen ein viel größeres ,Interesse’ für das Seelenlose der Porno-Industrie und ihrer Produkte aufbringen? Nein, es ist nicht erstaunlich. Überall und an jedem Punkt wieder zeigt sich das seelenvollere Wesen des Mädchens. Der Junge ist geradezu von allen Seiten von Abirrungen gefährdet – und erliegt ihnen immer wieder so leicht. Das Mädchen bewahrt eine heilige Mitte viel leichter und viel sanfter. So kommen wir immer wieder zum Zentralbegriff der Unschuld – und das bedeutet eben keineswegs, zu behaupten, Mädchen müssten oder würden heute unschuldig sein. Sie sind es aber dennoch. Und wiederum: All dies muss man empfinden lernen.
Mädchen sind heute noch immer unschuldiger als Jungen – und die besonders unschuldigen Mädchen sind ganz besonders Mädchen. Sie sind nah am Wesen des Mädchens – und bleiben ihm treu. Und auch die Treue ist etwas, was Mädchen mehr haben, denn sie sind liebefähiger und hingabefähiger. Fortwährend schließen sich die Kreise und kommen neue Wesenseigenschaften hinzu...
Wir beenden diesen Gang der Gedanken an dieser Stelle – aber nur, um auf andere Weise neu zu beginnen.
Fußnoten
[1] Dies ist keineswegs nur ein hingeworfener Sarkasmus, dafür ist die Sache und die Lage viel zu ernst und zu traurig.
[2] Oder aber: sie durch Unterdrückung sich geradezu gezwungen fühlen, sich zu wehren und ihr eher zurückhaltendes Wesen aufzugeben. Es gibt stets viele mögliche Gründe.