11
Vom Wesen des Mädchens
Jeder kennt die Märchen der Brüder Grimm – von ihnen gesammelt und aus alter mündlicher Überlieferung stammend. In diesen Märchen lebt immer wieder das tief berührende Bild einer reinen Seele – in Gestalt eines Mädchens.►6 Man denke hier etwa an das Märchen ,Die Sterntaler’ oder ,Die sechs Schwäne’ oder ,Frau Holle’.
Wir wollen von diesem letzten Märchen einmal den Anfang hören:[1]
Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleißig, die andere häßlich und faul. Sie hatte aber die häßliche und faule, weil sie ihre rechte Tochter war, viel lieber, und die andere mußte alle Arbeit tun und der Aschenputtel im Hause sein. Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: „Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.“ Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und vieltausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen, der war voller Brot; das Brot aber rief: „Ach, zieh mich raus, zieh mich raus, sonst verbrenn ich: ich bin schon längst ausgebacken.“ Da trat es herzu und holte mit dem Brotschieber alles nacheinander heraus. Danach ging es weiter und kam zu einem Baum, der hing voll Äpfel, und rief ihm zu: „Ach, schüttel mich, schüttel mich, wir Äpfel sind alle miteinander reif.“ Da schüttelte es den Baum, daß die Äpfel fielen, als regneten sie, und schüttelte, bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter. Endlich kam es zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau, weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: „Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll dir's gut gehn. Du mußt nur achtgeben, daß du mein Bett gut machst und es fleißig aufschüttelst, daß die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle.“ Weil die Alte ihm so gut zusprach, so faßte sich das Mädchen ein Herz, willigte ein und begab sich in ihren Dienst.
Wer, der dieses Märchen in der Kindheit kennengelernt hat – oder auch später –, hat sich nicht mit diesem Mädchen identifiziert? Und warum? Weil sie ein gutes Herz hat. Nicht etwa, weil sie am Ende die Goldmarie wird – denn wenn wir auf das Gold aus wären, wären wir wieder die ,Pechmarie’, die das Gold wegen ihrer Selbstsucht gerade nicht bekommt.
Diese unmittelbaren Empfindungen, die jeder in der eigenen Seele sofort nacherleben kann, machen die Essenz all dieser von einer wunderbaren Sphäre umgebenen Märchen aus. Der Inhalt dieser Märchen ist tief moralisch – ohne dass diese Moral von außen kommen muss. Sie liegt in der Essenz der Märchen verborgen. Die schöne, fleißige Tochter hat ein gutes Herz, weil sie fleißig und nicht faul und verdorben wie die andere Tochter ist. Und sie ist fleißig trotz der Behandlung ihrer schlimmen Mutter – und ihre äußere Schönheit ist eine Entsprechung ihrer inneren Schönheit.[2]
Und der moderne Wahn der Interpretation – dem wir in diesen Bänden vielfach begegnen werden►7 – muss schon tief gesunken sein, um zu Aussagen wie der folgenden zu kommen:[3]
Frau Holle [...] repräsentiert eine mythische Mutterfigur, die Geborgenheit gewährt, solange man ihren Regeln folgt. Sowohl Pech- als auch Goldmarie fallen in den Brunnen, d. h., sie unternehmen eine Reise in die Unterwelt. Spindel und Nadel repräsentieren hierbei [...] Geschlechtsreife. Brot und Äpfel stehen sinnbildlich dagegen dafür, dass Goldmarie ihr Dasein sichern kann. Die Initiationsprobe durch die Mutterfigur Holle tritt sie an, unterwirft sich den ihr aufgetragenen Pflichten und kann dementsprechend Frau Holles Haus als vollerblühte Frau verlassen. Pechmarie hingegen empfindet die weiblichen Pflichten als unzumutbaren Leistungsdruck. Da sie somit den Normen der Gesellschaft nicht gehorcht, wird sie der Ächtung preisgegeben.
Die erste Unwahrheit ist, dass die Goldmarie als ,vollerblühte Frau’ wiederkehrt – sie ist auch nach ihrer Rückkehr noch immer Mädchen. Selbst der diese verkündende Hahn spricht nicht von ,Frau’, sondern von der goldenen Jungfrau, und davor und danach ist von ihr als Mädchen die Rede.
Eine ebensogroße Absurdität ist nun der Rest der ,Deutung’, die eine Vergewaltigung und Perversion des ganzen Märchens (und Mädchens) ist.
Die Pechmarie wird als positives Bild erfolgreicher ,Emanzipation’ von ,Normen der Gesellschaft’ hingestellt, die Goldmarie als bloße ,Anpasslerin’, die sich ,unterwirft’.
Um zu empfinden, was hier wirklich geschieht, muss man mit einer aufrichtigen Seele selbst das Märchen auf sich wirken lassen – und nicht einfach zum Anpassler der perversen Deutungen werden und sich diesen unterwerfen. Was also geschieht wirklich durch diese Deutung?
Die Faulheit wird als Vorbild hingestellt – und ein fleißiges, gutes und reines Herz wird zur Sklavin gesellschaftlicher Normen erniedrigt.
Auf solche ,postmodernen’ Deutungen kann auch nur eine degenerierte Psychologie kommen, die auf steuerfinanzierten Stellen sitzend selbst faul nicht das Geringste tun muss, um sich um den Lebensunterhalt zu kümmern – und die unwahrsten und lügenhaftesten Ideen absondern kann, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Die Goldmarie als ,normiertes Dummerjan-Trinchen’, das die gesellschaftlichen Auflagen erfüllt? Mit dieser Deutung wird es gleich zweimal gestraft – einmal von der eigenen bösen Mutter, ein zweites Mal von der nicht minder hässlichen, narzisstisch nur sich selbst liebenden, sich ,modern’ wähnenden Psychologie. Die sich dann auch ein zweites Mal auf die Seite der bösen Mutter stellt und die faule Tochter in den Himmel lobt. Weil es ja so ein ,unzumutbarer Leistungsdruck’ ist, zu Hause ein wenig zu arbeiten (was man ja nicht tun muss, wenn ein Aschenputtel zur Verfügung steht) – oder gar in dem geheimnisvollen Garten die Brote aus dem Ofen zu retten, wenn sie darum bitten.
Diese Psychologie, die so deutet, wie dies auf Wikipedia wiedergegeben wurde, offenbart ihre ganze Hässlichkeit. Sie erklärt Faulheit für Emanzipation von gesellschaftlichen Normen – und Fleiß, ein gutes Herz und innere, seelische Schönheit für verachtenswerte ,Unterwerfung’. Hier hat eine selbsternannte ,Geisteswissenschaft’ wirklich alle Begriffe durcheinandergeworfen – und nur die eigene Selbstgefälligkeit, die diese Wissenschaft mit der hässlichen Tochter gemeinsam hat, hindert sie daran, die Vergewaltigung der Wahrheit zu empfinden. Bei dieser Wissenschaft könnte die Wahrheit im Ofen verbrennen, ohne dass sie sich bemüßigt fühlte, einen Finger zu rühren. Und Erkenntnisse, die reif und leuchtend am Baum hängen, lässt sie lieber verfaulen – geht es ihr doch um sich allein.
Frau Holle ist durchaus eine mythische Mutterfigur – aber sie repräsentiert nicht die gesellschaftlichen Pflichten und erst recht nicht ,unzumutbaren Leistungsdruck’, sondern sie prüft einzig und allein das Herz. Hätte die Pechmarie widerwillig die Brote versorgt und das Bett aufgeschüttelt, so wäre auch dies nicht ohne Folge gewesen.
Frau Holle geht es nicht so sehr um die bloße äußere ,Leistung’, die jemand zähneknirschend vollbringen kann, sondern um das Herz, mit dem jemand bei der Sache ist. Dies belohnt sie – und zwar nicht anders als der Himmel selbst in ,Die Sterntaler’. Hier wie dort findet man keine äußere Belohnung, sondern die Offenbarung dessen, was das eine wie das andere Mädchen längst in sich trägt – ein goldenes Herz.
So ist Frau Holle Repräsentantin einer höheren, himmlischen Gerechtigkeit, die die Wahrheit ans Licht bringt – das Innere des Menschen. Dies ist immer die Botschaft der Märchen. Das Innere kommt ans Licht. Das Gute einer Seele – und das Böse einer anderen.
Die Goldmarie ist eindeutig das wahre Mädchen. Nicht, weil sie fleißig ist und angeblichen ,Normen’ gehorcht, sondern weil sie ein gutes Herz hat und aus sich heraus fleißig ist. Es würde immer arbeiten – mit einer guten Mutter um so liebender, unter einer bösen Stiefmutter aber auch, und selbst ohne jede Mutter würde es das tun, was notwendig ist. Es holt die Brote nicht aus dem Ofen, weil es muss, sondern weil es geschehen muss, durch wen auch immer – und sie ist gerade dort, an sie ergeht die Bitte.
Die Goldmarie überlegt nicht erst, ob es für sie nicht vielleicht eine ,Zumutung’ wäre, da sie sich auf das Faulsein verlegt hat, sondern ein solcher Gedanke käme ihr überhaupt nicht. Dieses Mädchen lebt mit den Dingen – nicht gegen sie. Dieses Mädchen betrachtet alles um sich herum als innig mit sich verwandt. Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge, Wesen, alles steht einander bei, wenn es kann. Das ist das Grundempfinden dieses Mädchens – und es kommt mitten aus seinem Herzen.
Gesellschaftliche Normen sind hier noch nicht einmal berührt. Es geht rein um innerseelische Realitäten. Dafür muss man nur noch einmal von neuem den Anfang des Märchens empfindend erleben:
Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, daß die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie abwaschen; sie sprang ihm aber aus der Hand und fiel hinab. Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück. Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: „Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf.“ Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wußte nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen.
Dieses arme Mädchen erfüllt selbst die Befehle seiner bösen Mutter. Es klagt nicht – es ist ein Beispiel einer heute ganz unvorstellbaren Hingabe und Demut. Nicht über seine vom Spinnen blutenden Finger weint es, sondern erst, als es die Spindel verliert. Und obwohl es den Zorn der Stiefmutter fürchtet, wie man an seinem Weinen tief mitempfinden könnte, sucht es doch keine Ausrede, sondern erzählt ihr ,das Unglück’, das heißt die reine Wahrheit. Man muss dies alles innerlich miterleben. Man muss dieses gute Herz spüren – wie es nichts als die Wahrheit sagen kann, obwohl es weinen muss, weil es Angst hat.
Und man muss spüren, wie das Mädchen völlig verzweifelt von dem Befehl der Stiefmutter an den Brunnen zurückkehrt, ratlos, denn es kann doch nimmermehr die Spule zurückholen! Spüren muss man, was dies heißt: dass es ,nicht wusste, was es anfangen sollte’ – und dass es Herzensangst ist, die in ihm lebt, existenzielle Ratlosigkeit, Verzweiflung, Ausweglosigkeit.
Und was es heißt, dass dieses treuherzige Mädchen in den Brunnen springt, um die Spule zu holen. Es weiß nicht, wie es wieder herauskommen soll. Es gibt gar keine Möglichkeit dazu – ja, es muss sich eigentlich klarmachen, dass es dort unten ertrinken wird. Und trotzdem springt es – um die Spule zu holen.
Man versteht die unendlich tiefgehende Essenz dieser Märchen erst, wenn die eigene Seele innerlich noch mitempfinden kann – und nur in diesem Maße. Ist die eigene Seele so erkaltet, dass sie nur noch intellektuell und unberührt Zeile für Zeile liest, so ist ein solches Märchen nichts anderes als die allabendlichen Börsenzahlen – sie sagen einem nichts, sie lassen das Innere tot. Das Herz ist wie mit Pech versiegelt – nichts dringt mehr hinein, nichts mehr hinaus...
Was bedeutet dies für unser Thema? Es bedeutet die sich wieder vertiefende Erkenntnis, dass die Goldmarie das wahre Mädchen ist, ein Wesen mit einem weiblichen, sanften, unendlich guten, goldenen Herzen – während die Pechmarie so recht nichts anderes als der moderne Egoist ist, der sich narzisstisch der Selbstsucht, dem Selbstbezug und den eigenen Genüssen hingibt – und nur ganz zufällig männlich oder weiblich geboren ist.
Das heißt nicht, dass alle männlichen Wesen egoistisch sein müssen und dass es nur die Aufgabe der weiblichen Wesen wäre, selbstlos zu sein. Aber es heißt, dass es vor allem im Wesen des Mädchens liegt, nicht an sich zu denken, sondern die ganze Welt in seinem Herzen zu tragen. Das ist es, was letztlich alle hier vorliegenden Bände erlebbar machen wollten: das Wesen des Mädchens und die eigentliche Quelle der Parthenophilie.
Das Märchen ,Frau Holle’ ist keine verkappte Schule der Anpassung an gesellschaftliche Normen. Es ist eine in ein Erleben hineinführende Offenbarung vom wahren und vom falschen Wesen des Mädchens. Das wahre Wesen des Mädchens ist ein Wesen mit einem Herzen aus Gold. Das falsche Wesen des Mädchens klebt an der eigenen Person, wie das Pech nachher an der Pechmarie klebte. Diese hat danach genug Zeit gehabt, sich Gedanken über ihr Wesen zu machen... Es ist aber nicht das wahre Wesen des Mädchens. Die Pechmarie hatte es längst verdorben und verunstaltet – verzogen von ihrer ebenso hässlichen Mutter.
Das schöne Mädchen aber wurde nicht erzogen – auch nicht zum Gehorsam. Sehr wohl haben Leid und harte Arbeit den Fleiß und die Demut dieses Mädchens erst so recht zum Leuchten bringen können – doch hätte all dies nicht längst schon zuvor im Wesen des Mädchens gelegen, es wäre nie hervorgekommen. Die Pechmarie an ihrer Stelle hätte auch in dieser Lage jede Situation genutzt, eine Arbeit nicht zu tun, nur halb zu tun, mit Ausreden und Lügen zu agieren, der Stiefmutter zu widersprechen, es ihr heimzuzahlen oder wegzulaufen.
Es geht in diesem Märchen nicht um die Konditionierung zu gesellschaftlichen Normen. Es geht um die Offenbarung dessen, was in beiden Mädchen längst als Wesen lebt. Diese Wahrheit spürt sogar die Natur (der krähende Hahn, aber auch die Brote und die Äpfel selbst). Nur der postmoderne ,Deutungskünstler’ ist blind gegen das Alleroffensichtlichste. Es wäre ja auch ein Affront gegen sein hochmütiges Selbstbild, wenn die Wahrheit so einfach wäre. Er muss die Dinge schon ins Gegenteil verkehren, damit seine eigene Leistung so recht zum Vorschein kommt. Die Goldmarie als das anzuerkennen, was sie ist, ginge ihm genauso gegen den Strich wie der Pechmarie das Aufschütteln der Betten.
Aber was ist der daraus hervorwirbelnde Schnee anderes als das reinste Bild der Unschuld? Dies können beide nicht zulassen – die Pechmarie nicht, die ihre Unschuld durch ihren Egoismus längst völlig verloren hat, und der ,Deutungskünstler’ nicht, der seine Unschuld in dem Moment verloren hat, als er klüger sein wollte als die Herzensweisheit der Märchen selbst, die schon wirkte, als man das Wort ,Normen’ noch überhaupt nicht kannte.
*
Es ist die Unschuld, die man heute am allerwenigsten zulassen kann. Niemand kann sie mehr zulassen, weil sie – ganz genauso wie die Wahrheit – nicht wie eine ,billige Hure’ zu haben ist, sondern man sich den Umgang mit ihr verdienen müsste. Anstrengungen liebt man heute aber nicht.
O ja, für ein höheres Gehalt, eine gute Ausbildung, einen Fortschritt in der sportlichen Leistung oder sonst irgendwelche Hobbys und Marotten ist man sehr wohl bereit, sich anzustrengen. Aber für die Unschuld?
Der erste Einwand, sich auch nur gedanklich mit ihr zu befassen, ist ja schon ihr angebliches Veraltetsein. Unschuld? Mit solchen Begriffen will man doch nur wieder ,gesellschaftliche Normen’ installieren! Irrtum. Die Unschuld geht alledem weit, weit voraus. Aber das will man nicht mehr wahrhaben.
Der zweite Einwand ist, dass man ja nicht ,naives Opfer’ sein möchte, da die Unschuld doch das geborene Opfer sei. Das ist nicht ohne Wahrheit. Aber was ist die Alternative? In einer Welt der Schuld mit den Wölfen zu heulen und sich so recht zur ,Stärke’ zu emanzipieren, um in einer sozialdarwinistischen Welt mit den Starken mitzuhalten? Mitmachen bei dem Tanz um das goldene Kalb ,Stärke’? Der Stärkere siegt? Konkurrenzkampf als Welt- und Lebensinhalt?
Niemand möchte heute mehr etwas mit der Unschuld zu tun haben, weil niemand schwach sein möchte, niemand benachteiligt sein möchte, jeder seinen Vorteil sichern möchte. Der Kernpunkt ist: Niemand möchte mehr mit der Unschuld zu tun haben, weil jeder sie bereits verloren hat. Das gerade ist die eigentliche Schuld: Das verschämte Verleugnen und Beiseitewischen der Unschuld, das Nichts-mehr-von-ihr-wissen-Wollen. Die Zeit ist vorbei. Sie ist nicht mehr zeitgemäß. Wir leben jetzt im Zeitalter des Die-eigenen-Interessen-Vertretens, das An-sich-Denkens, des Kampfes um den eigenen Vorteil. Das ist Emanzipation. Das ist Ich-Stärke. Das ist modernes Selbst.
Wirklich?
Es mag sein, dass das Bild des Mädchens, wie es in diesen Bänden erlebbar gemacht wird, zu dem scheinbar Veraltetsten gehört, was überhaupt existiert. Aber dann liegt dies nur daran, dass wir uns bereits unendlich von jenem Ursprung entfernt haben, wo dieses Urbild noch wahr und real empfunden werden konnte.
Dennoch ist dieses Bild nicht weniger wahr als zu anderen Zeiten. Es ist noch immer wahr. Nur dass wir jetzt in anderen Zeiten leben, die ihre Wahrheit dazugestellt haben: die Wahrheit des Egoismus, der Selbstbezogenheit, der Selbstverwirklichung, der gestuften und kontrollierten und dosierten ... Freundlichkeit.
Wo aber die Seele ihre Freundlichkeiten stuft, dosiert und kontrolliert, kann von Unschuld keine Rede mehr sein – das ist wahr. Und ich sagte ja: Wir leben in einer Zeit, die die Unschuld nicht nur verloren hat, sondern von ihr auch gar nichts mehr wissen will. Wir leben in einer Zeit, die die Unschuld geradezu hasst – als unliebsame Erinnerung an ihren eigenen Sündenfall: den Verlust dieser Unschuld.
Am liebsten hätte man nicht einmal mehr das schlechte Gewissen als Erinnerung daran. Und wenn es gelänge, die Goldmarie als Tölpel und die Pechmarie als eigentliches Vorbild zu installieren, dann hätte man es auch geschafft: selbst das schlechte Gewissen wäre ausradiert. Man wäre mit der eigenen Hässlichkeit endlich allein und müsste sich nicht mehr an etwas erinnern lassen, was viel schöner ist. Wie die böse Stiefmutter und das Schneewittchen... Man will die Unschuld nicht nur verloren haben – man will sie eigentlich auch umbringen, damit es nichts mehr gibt, was schöner ist, ja mehr noch, was einen an die eigene Hässlichkeit erinnert.
Man hasst und fürchtet die Unschuld – weil ihre Schönheit noch immer sichtbar ist, in unverminderter Stärke, nur will man dies nicht mehr wahrhaben. Man verachtet sie als naiv. In Wirklichkeit verachtet man sie für sich – man selbst will nicht so sein. Nur deshalb wird die Verachtung nach außen projiziert. Bliebe sie nur eine innere Entscheidung, müsste man sich auch den damit verbundenen Egoismus irgendwie eingestehen. Wenn man aber auch äußerlich auf sie herabblicken kann, gilt der eigene Standpunkt als höherwertig – und man hat kein Legitimationsproblem.
Obwohl die Unschuld wunderschön ist, wird sie subtil verachtet, um nicht den eigenen Egoismus und Mangel an Unschuld verachten zu müssen. Das ist der wahre Grund für die Rolle der Unschuld in unserer Zeit. Die Unschuld ist wieder das Aschenputtel geworden – umhergestoßen und verachtet von jedem.
Aber die Unschuld ist das Mädchen – und das Mädchen ist die Unschuld und beide sind eins. Und die Parthenophilie verachtet das Mädchen nicht – sondern verehrt es unsäglich.
Ja – die Parthenophilie ist in ihrem Wesen eine tiefe Liebe zur Unschuld. Und schon kommen von neuem die selbsternannten Psycho-Deutungskünstler und sprechen von ... ,Regression’. Das bedeutet, die Liebe zum Mädchen sei eine Rückkehr zu einer infantileren Stufe, die mit der ,normalen’ ,Erwachsenenliebe’ nicht zurechtkomme.
Das wäre ungefähr das Gleiche, wie zu sagen, der Blumenliebende käme mit Plastikblumen nicht zurecht. Nun sollen gewiss die Frauen nicht mit ,Plastik’ verglichen werden, aber es sollte deutlich werden, dass man die Liebe zum Mädchen nicht als etwas Geringeres ansehen darf. Es ist etwas Höheres – zumindest wenn die seelische Sphäre der Verehrung wirklich beteiligt ist. Im Mädchen wird etwas verehrt, was in der erwachsenen Welt nicht mehr vorkommt – und insofern ist diese Erwachsenenwelt tatsächlich Plastik. Nur im Mädchen lebt noch etwas, was dort, wo das Mädchen nicht mehr zu finden ist, stirbt.
Es müsste nicht sterben – aber es stirbt heute oft genug sogar im Mädchen. Im gewöhnlichen, modernen Mädchen, das auch nicht anders ist, als Menschen heutzutage eben sind. Aber dieses ,eben sind’ erkennt die parthenophile Seele eben nicht an. Sie liebt das Wesen der Mädchen – selbst da, wo kein Mädchen dieses Wesen mehr hat. Dann liebt sie eben jenes eine Mädchen, das es doch noch hat. Oder sie liebt sogar nur die Idee des Mädchens – bis es wieder Mädchen gibt, die dieses Wesen von neuem haben...
Wordsworth dichtete 1804 in seiner ,Immortality Ode’:[4]
Heaven lies about us in our infancy!
Shades of the prison-house begin to close
Upon the growing Boy, [...]
At length the Man perceives it die away,
And fade into the light of common day.
Das gilt für die Jungen – aber nicht für alle Mädchen...
*
Es geht nicht um eine ,Norm’ vom Mädchen – es geht um das Wesen des Mädchens.
Es gibt auch keine Norm der Rose. Rosen werden nicht normiert – sie haben ein Wesen, und die schönste Rose offenbart es am reinsten. Man kann Rosen zu Tode züchten, je nach Geschmack. Mit gefüllten Blättern, gezackten, mit gelben, grünen und sogar schwarzen Blättern, möglich ist sicherlich (irgendwann) alles. An dem Wesen der Rose ändert das alles nichts. Sie bleibt sich in ihrer Schönheit ewig gleich – und wird den Menschen allenfalls an seinen immer perverseren ,Geschmack’ erinnern, wenn er nicht mehr in der Lage ist, das reine, pure, schlichte und doch so edle, majestätische Wesen der Rose als solches zu lieben.
So ist es auch mit dem Mädchen. Man kann sich immer neue Definitionen oder Formen des Mädchens überlegen – brave Mädchen, freche Mädchen, erfolgreiche Mädchen, mutige Mädchen, Mädchen mit Jungenfrisur, Mädchen mit Jungenträumen, Mädchen mit und ohne Tätowierung, lang- oder kurzbeinige Mädchen, Mädchen in Kleidern, in Hosen, ganz ohne Kleidung, Mädchen, die alles mitmachen, Mädchen, die nichts mitmachen, Mädchen mit Glatze, mit Zahnlücken, Mädchen mit Maschinenpistole, mit Häkelzeug, dicke Mädchen, Mädchen mit Barbiegestalt – und immer so weiter. Aber das ändert nichts daran, dass die Seele in ihrem Innersten längst und stets und immer weiß, was eigentlich ein Mädchen ist, in seiner reinsten Gestalt.
Dieses Wesen kann man nicht verändern – man kann höchstens sich und sein Inneres betrügen und dann etwas anderes für das Wesen des Mädchens erklären, was es nicht ist.
Natürlich gilt – schon reflexartig – eine solche Auffassung als ,reaktionär’, denn kann man heute nicht alles neu festlegen, wie man es gerade möchte? Man kann die Biologie gentechnisch verändern, man kann die Definitionen diskurstechnisch verändern, also was soll das Gerede von einem Wesen? Das ist genau das Hassobjekt des (post-)modernen Strukturalismus, der glaubt, alles beeinflussen zu können, gleichsam eine Allmacht zu haben. Aber gegen das Wesen hat er keinerlei Macht – nur jene, es nicht anzuerkennen. Das ist sein Wesen: der eigene Hochmut.
Das Wesen des Mädchens bleibt sich gleich, egal, wieviele hochmütige Generationen noch kommen, die meinen, es umdefinieren zu können. Das Wesen ist über jede Definition erhaben. Eine Charakterisierung könnte hoffen, das Wesen mehr oder weniger zu erfassen – aber dafür bräuchte die Seele die Selbstlosigkeit, dies überhaupt zu wollen.
Das Wesen lebt in einer höheren Welt als der der zufälligen Verwirklichung. Würde die Erde versteinern, so könnte das Wesen der Rose überhaupt nicht mehr zur Erscheinung kommen, weil, wenn überhaupt, nur ganz kümmerliche Krüppelpflanzen noch wachsen würden. Das Wesen kann nur erscheinen, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind. Sind sie es nicht, erscheinen nur Missgestalten.
Es ist auch nicht das Wesen des Menschen, egoistisch und selbstbezogen zu sein. Er wird es unter Bedingungen, die dies begünstigen und alles andere weitgehend verhindern. Es ist in unserer Zeit ein ungeheurer Impuls der Selbstbezogenheit am Wirken – aber das heißt nicht, dass sich hierin das Wesen des Menschen offenbart. Das tut es gerade nicht. Wenn aber nicht das Wesen des Menschen – um wieviel weniger das Wesen des Mädchens!
Ist das Mädchen etwa nicht auch Mensch? Doch, aber es ist zugleich noch mehr – es ist außerdem noch Mädchen. Und gerade hier liegt sein Wesen. Was ist denn das Wesen des Mädchens? Nun, das muss man spüren. Wenn man es nicht spürt, könnte man Jungen und Mädchen gegeneinander austauschen. Aber das Mädchen ist anders. Und das Wesen des Mädchens ist sehr anders.
Warum ist es so schwer, anzuerkennen, dass das Wesen des Mädchens Unschuld ist? Und dass ein Mädchen, wo es weniger unschuldig ist, auch bereits weniger Mädchen ist? Hat man so viel Angst vor dem Wesen des Mädchens – und davor, diese Erkenntnis zuzulassen? Offenbar...
Fußnoten
[1] Projekt Gutenberg.
[2] Hingedeutet ist hiermit auf die Realität der moralischen Welt. Sie ist nichts vom Menschen gemachtes, sondern der Mensch kann den (heiligen) Zugang zu ihr finden. Es geht auch nicht um ,moralische Imperative’, eine ,ewige Weltordnung’ etc., sondern um etwas viel Zarteres, aber auch Heiligeres.
[3] Wikipedia: Der blonde Eckbert.
[4] Ode: Intimations of Immortality from Recollections of Early Childhood. www.poetryfoundation.org.