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Carol Gilligan (1982/2011)
Carol Gilligan: In A Different Voice. Psychological Theory and Women’s Development. Cambridge 1982. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
Während die meisten Feministinnen stets die Gleichheit von Mann und Frau betonten, gab es demgegenüber immer wieder stets auch einige Stimmen, die auf das ganz Spezifische des Weiblichen hinwiesen – wodurch auch dem Männlichen erst wahrhaft der Spiegel vorgehalten wurde. Diese Stimmen verlangten nicht ,gleichen Zugang’ in eine männliche Welt, sondern sie zeigten, dass das Männliche in seiner bisherigen Form zutiefst einseitig ist und die Welt solange nicht wirklich menschlich sein wird, bis nicht das spezifisch Weibliche sein volles Daseinsrecht haben und das menschliche Zusammenleben ebenso prägen wird – um einst vielleicht sogar als das wahrhaft Menschliche erkannt zu werden, das der Mann in sich allzusehr und allzu lange unterdrückt hat.
Eine solche großartige Stimme war Carol Gilligan mit ihrem Buch ,In a Different Voice’ (1982).
Schon ziemlich zu Beginn stellt Gilligan Freuds hier bereits zitierten Aufsatz ,Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds’[7] den Darstellungen der Soziologin Nancy Chodorow gegenüber.[1] Diese weist darauf hin, dass Mädchen das Rollenmodell ihrer Mütter, zu denen sie eine enge Beziehung haben, übernehmen – und damit wesentlich mehr Empathiefähigkeit entwickeln als Jungen:[8][2]
Girls emerge with a stronger basis for experiencing another’s needs of feelings as one’s own […]. […] From very early, then, because they are parented by a person of the same gender … girls come to experience themselves as less differentiated than boys, as more continuous with and related to the external object-world, and as differently oriented to their inner object-world as well.’
Und Gilligan fährt fort, dass Jungen – die sich bereits von der Mutter lösen müssen – durch Trennung, Mädchen durch Bindung gekennzeichnet sind:[8][3]
Consequently, relationships, and particularly issues of dependency, are experienced differently by women and men. For boys and men, separation and individuation are critically tied to gender identity since separation from the mother is essential for the development of masculinity. […] Since masculinity is defined through separation while femininity is defined through attachment, male gender identity is threatened by intimacy while female gender identity is threatened by separation. Thus males tend to have difficulty with relationships, while females tend to have problems with individuation.
Eine andere Studie zeigte, dass Jungen oft in großen, altersgemischten Gruppen spielen, oft Wettkampfspiele, und dass sie zwar oft streiten, aber die Konflikte auch effektiv lösen und ein Spiel deswegen nie abbrechen – während Unstimmigkeiten bei Mädchen tendenziell zum Abbruch des Spiels führen.[4]
Dies bestätigt die Beobachtungen, die schon Jean Piaget 1932 machte, wonach Jungen sich zunehmend fasziniert der Entwicklung von Regeln und fairen Prozeduren widmen, während Mädchen hier pragmatischer sind und bereitwilliger Ausnahmen zulassen. Piaget schloss daraus, das Rechtsgefühl, das er für die moralische Entwicklung als essenziell betrachtete, sei bei Mädchen ,weit geringer entwickelt’.[10][5]
Gilligan weist nun darauf hin, dass Mädchen einfach, statt ein System von Regeln zur Streitlösung kompetitiver Spiele[6] zu entwickeln, die Fortsetzung eines Spiels der Fortsetzung von Beziehungen unterordnen.[10] Bruno Bettelheims Märchendeutung, etwa von ,Schneewittchen’, lege außerdem nahe, dass Jungen das Abenteuer suchen, während Mädchen sich verinnerlichen.[13][7]
Auch verweigern sich Mädchen Wettkämpfen so sehr, dass es zum regelrechten Konflikt zwischen ,Femininität’ und ,Erfolg’ kommt.[14] Mit ,Maskulinität’ dagegen sind alle Eigenschaften verknüpft, die als notwendig für das Erwachsenwerden betrachtet werden: autonomes Denken, klares Entscheiden, verantwortliches Handeln.[17] Männer zeigen vor allem ,Instrumentalität’, Frauen ,Expressivität’.[8] Doch spätestens im mittleren Alter sehnen sich Männer wieder nach der Gefühlsebene – die Frauen schon immer kannten:[17]
The discovery now being celebrated by men in mid-life of the importance of intimacy, relationships, and care is something that women have known from the beginning.
Während Piaget dem Mädchen im Index seines Werkes vier kurze Einträge widmet, fehlen solche in Kohlbergs ebenso bekannten Studien völlig.[18][9] Er unterscheidet in seinem männlich orientierten Schema der Entwicklung moralischen Urteilens und Handelns grob gesagt die erwartungsorientierte Haltung (be a ,good boy/nice girl’), dann die Orientierung an Regeln und Gesetzen und schließlich an universalen ethischen Prinzipien.[18][10] Die weibliche Empfindung funktioniert aber völlig anders – es gibt also noch eine weibliche Moralität:[19]
This conception of morality as concerned with the activity of care centers moral development around the understanding of responsibility and relationships, just as the conception of morality as fairness ties moral development to the understanding of rights and rules.
Man kann also beides einander gegenüberstellen:
männlich weiblich
Fairness/Gerechtigkeit Sorge, Pflege
Rechte und Regeln Verständnis, Verantwortlichkeit
Fairness, Gleichwertigkeit Nicht allein lassen / nicht verletzen
Trennung Verbindung
Individualität Beziehung[11]
Einander in Ruhe lassen Sich umeinander kümmern
Egoismus Altruismus[12]
Ein junger Mann in Kohlbergs Studie beschrieb Moralität:[19]
I think it is recognizing the right of the individual, the rights of other individuals, not interfering with those rights. Act as fairly as you would have them treat you.
Eine junge Frau äußerte sich gegenüber Gilligan dagegen so:[20]
We need to depend on each other, and hopefully it is not only a physical need but a need of fulfillment in ourselves, that a person’s life is enriched by cooperating with other people and striving to live in harmony with everybody else, and to that end, there are right and wrong […].
Während also Jungen vermeiden wollen, die Rechte eines anderen zu stören, wollen Mädchen eher vermeiden, etwas zu unterlassen, was sie hätten tun sollen. Kürzer gesagt: Jungen achten auf das, was man ,nicht tun sollte’ – Mädchen auf das, was man tun sollte![21] Weil man mit anderen Menschen nicht vor allem über die gegenseitigen Freiheiten (negativ) verknüpft ist, sondern über die gegenseitigen Beziehungen, Abhängigkeiten, Nöte, Bedürfnisse.
Gilligan weist nun auf die Aussagen eines Jungen und eines Mädchens hin, die mit Kohlbergs ,Heinz-Dilemma’ konfrontiert wurden, in dem es darum geht, ob Heinz aus einer Apotheke ein Medikament stehlen dürfe, um das Leben seiner Frau zu retten. Der Junge, Jake, beantwortet und begründet die Frage ganz klar logisch.[26][13] Die elfjährige Amy dagegen antwortet scheinbar ausweichend:[29]
Well, I don’t think so. I think there might be other ways besides stealing it, like if he could borrow the money or make a loan or something, but he really shouldn’t steal the drug – but his wife shouldn’t die either. […] If he stole the drug, he might save his wife then, but if he did, he might have to go to jail, and then his wife might get sicker again, and he couldn’t get more of the drug, and it might not be good. So, they should really just talk it out and find some other way to make the money.
Amy taucht also auf berührende Weise ein in die konkrete Situation und versucht, sie wirklich zu lösen. Es geht ihr um die Beziehungen zwischen den Menschen – und sie akzeptiert das Dilemma nicht, auf das Jake abstrakt-logisch antwortet. Ihr geht es nicht um die Abwägung der verletzten Normen, sondern darum, dass der Apotheker falsch handelt.
Jake ist überzeugt, dass der Richter nachsichtig wäre, Amy ist bereits überzeugt, dass sich Heinz und der Apotheker einigen können müssten. Jake erkennt, dass starre Normen Fehler haben können, Amy erkennt, dass die ganze Welt fehlerhaft ist, wenn Menschen nicht teilen können.[29] Aus Kohlbergs Sicht ist Amy in ihren moralischen Urteilen eine ganze Stufe ,unreifer’ als Jake – aber der ganze Urteilsmaßstab ist ein männlich-abstrakter! Gilligan stellt fest:[30f]
Amy’s judgments contain the insights central to an ethic of care, just as Jake’s judgments reflect the logic of the justice approach. Her […] central tenet of nonviolent conflict resolution, and her belief in the restorative activity of care, lead her to see the actors […] not as opponents in a contest of rights but as members of a network of relationships on whose continuation they all depend. […]
Amy is considering not whether Heinz should act in this situation (“should Heinz steal the drug?”) but rather how Heinz should act […] (“Should Heinz steal the drug?”).
Für Claire, eine Collegestudentin, ist klar, dass Heinz die Frau auch dann retten müsse, wenn er sie nicht liebt:[57]
In a way it’s like loving your right hand; it is part of you. That other person is part of that giant collection of everybody.
Jungen erleben die Welt in Kategorien von (Rang-)Ordnung und Hierarchie, Mädchen in Kategorien von Gemeinschaft und Zusammenhang. Dementsprechend sind die Sehnsüchte und Ängste ganz verschieden:[62]
Thus the images of hierarchy and web inform different modes of assertion and response: the wish to be alone at the top and the consequent fear that others will get too close;[14] the wish to be at the center of connection and the consequent fear of being too far out on the edge.[15]
Das Nicht-verletzen-Wollen und sogar Nicht-Urteilen zeigt sich in den Worten einer anderen jungen Frau, Ruth:[102]
We are talking about an unjust society, we are talking about a whole lot of things that are not right, that are truly wrong […]. If I could change it, I certainly would, but I can only make my small contribution from day to day, and If I don’t intentionally hurt somebody, that is my contribution to a better society. And […] also not to pass judgment on other people, particularly when I don’t know the circumstances of why they are doing certain things.
Mädchen und Frauen kennen Empathie mit der ganzen Umwelt. In ihnen lebt ein Liebes-Impuls, während es Jungen und Männern um abstrakte Ideen geht. Gilligan verweist hier auch auf Abraham, der Gott seinen Glauben beweisen wollte, indem er gehorsam seinen Sohn Isaak tötet (Gen 22), und demgegenüber jene Frau, die vor dem Richter Salomon ihr eigenes Kind lieber einer anderen überlassen wollte, damit es keinen Schaden erleide (1 Kön 3,16-27).[104][16]
Von entgegengesetzten Enden kommend, können aber Mädchen lernen, auch an sich zu denken (personal integrity)[17] – und junge Männer können sich der Ethik des Sich-Kümmerns annähern (generosity and care).[166] Oder wie es ein junger Mann, Alex, formuliert:[167]
People have real emotional needs […], and equality doesn’t give you attachment. Equality fractures society and places on every person the burden of standing on his own two feet.
Mädchen wissen um das Illusionäre solcher ,Autonomie’:[172]
Since the reality of connection is experienced by women as given rather than as freely contracted, they arrive at an understanding of life that reflects the limits of autonomy and control.
Und Gilligan schließt ihr Buch damit, dass sie nochmals den Wert dieser ,anderen Stimme’ der Frauen betont, wenn die Welt wahrhaft menschlich werden soll:[173f]
[…] in the different voice of women lies the truth of an ethic of care, the tie between relationship and responsibility, and the origins of aggression in the failure of connection. […]
[…] While an ethic of justice proceeds from the premise of equality – that everyone should be treated the same – an ethic of care rests on the premise of nonviolence – that no one should be hurt.
Man vergleiche in diesem Zusammenhang, wie schon Marsilio Ficino (1433-1499) die drei Tugenden beschrieb, die zur Seligkeit und dem ,Besitzen Gottes’ führen:[18]
Die Tapferkeit bezeichnen wir bei den Menschen als Männ-lichkeit wegen der mit ihr verbundenen Stärke und Kühnheit, das maßvolle Temperament wegen seiner Sanftmut und gerin-geren Begehrlichkeit als Weiblichkeit, die Gerechtigkeit gilt als aus beiden gemeinsam bestehend: sie ist männlich, weil sie kein Unrecht zuläßt, weiblich, weil sie kein Unrecht tut.
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Knapp dreißig Jahre nach ,In a Different Voice’ erschien Gilligans Büchlein ,Joining the Resistance’ (2011), in dem sie einige Fragen weiter vertieft.[19]
Auch hier kritisiert sie die patriarchale Aufspaltung in Gerechtigkeit (justice, männlich) und Fürsorge (care, abgewertet-weiblich) und schreibt, innerhalb eines nicht-patriarchalen, sondern wahrhaft demokratischen Kontextes wäre gegenseitige Fürsorge allgemein-menschlich.[22] Fürsorge ist nicht ,selbst-los’, sondern bedeutet eine Beziehungsethik, die sich auf die Prämisse gegenseitigen Aufeinander-Angewiesenseins gründet.[23] Die heutige Kultur dagegen trennt dualistisch das eigentlich Zusammenhängende: Verstand und Gefühl, Geist und Körper, Selbst und Beziehungen.[25]
Kinder sind noch ganz empathisch und zutiefst offen für alle Gedanken und Empfindungen um sie herum.[20] Doch schon früh verinnerlichen Jungen die Gender-Grenzen – weil sie andernfalls ,Mädchen’, ,Muttersöhnchen’ etc. genannt werden. Spätestens zu Beginn der Adoleszenz liegt dann der Zeitpunkt, wo auch die Unterscheidung in ,good and bad girls’ einsetzt – ebenfalls definiert durch Normen der Umwelt.[27] Aber die gesunde Seele eines Mädchens wehrt sich gegen diese Trennung:[33]
There is an inherent tension between our human nature and the structures of patriarchy, leading the healthy psyche to resist an initiation that mandates a loss of voice[21] and a sacrifice of relationship.
Deswegen ist ein Mädchen in der Adoleszenz so verletzlich, so innerlich verwirrt:[35]
A cardinal finding lay in the observation that, at the brink of adolescence, girls speak of feeling pressed to choose between having a voice and having relationships […]. […] Entering secondary education and becoming young women, they were encouraged to separate their minds from their bodies, their thoughts from their emotions, their honest voices from their relationships.
Es geht also nicht um die Hormone, sondern um reale psychologisch-kulturelle Zwangsprozesse: Um weiterhin akzeptiert und ,geliebt’ zu werden, ein ,gutes Mädchen’ zu sein, müssen Mädchen ihre innerste, authentische Stimme aufgeben und sich anpassen.[37] Die elfjährige Amy aus ,In a Different Voice’ hat sich gegen das ,Heinz-Dilemma’ gewehrt und es auf ihre Weise beantwortet. Mit fünfzehn beantwortet sie dieselbe Frage mit: ,The situation ist unreal’.[39] All dies führt dazu, dass Frauen die ,patriarchale Story’ viel eher als eine falsche Story erkennen und benennen können.[40]
Gilligan fiel immer wieder auf, dass Mädchen in dieser verletzlichen Phase auf einmal sehr, sehr häufig ,I don’t know’ sagen – was im Grunde offenbart, dass sie ihren eigenen Gefühlen nicht mehr vertrauen. Sie halten sich an das, was die Kultur ihnen auferlegt – die das ,don’t’ zwischen das ,I know’ einfügt. So werden sie gezwungen, ihre Empathie und ihr intuitives Wissen allmählich aufzugeben:[64]
Girls are caught between their ability to read other minds and a culture that tells us we can’t read other minds, between their empathy and desire for connection and a society that places a premium on separateness and independence, between an impulse to work cooperatively and the rewards to be gained by working competitively.
Und ein dreizehnjähriges Mädchen, Judy, bringt in seinen Worten zum Ausdruck, wie die Kultur das wahre, mit dem Herzen verbundene Selbst abtrennt und sich alles immer mehr ins bloße Gehirn verlagert:[65f]
A mind has your real thoughts and a brain sort of has the intelligence … what you learn in school … physics and statistics and all that, but your mind is associated with your heart and your soul and your internal feeling and your real feelings. […]
I think that may be really young children have … [mind] more than anyone else because I don’t know, they don’t have much of a brain […]. It goes into your brain. And I think that after a while, you just sort of forget your mind, because everything is being shoved at you into your brain.
Die ,patriarchale Initiation’[22] implantiert in die Seele etwas der menschlichen Natur Fremdes – und drängt die Fähigkeit gegenseitigen Verstehens und der Empathie an den Rand.[67] Die wirklich wichtigen Fragen dürfen nicht mehr gestellt, nicht meht gefühlt werden – auch die Seele des Mädchens soll sich mit der profanen Realität abfinden.[23]
Oft wird gesagt, Mädchen hätten ein Trennungsproblem. Gilligan erwidert: Das haben sie. Aber nicht ein Problem der ,Selbstwerdung’, sondern sie wehren sich gegen die bereits erwähnten Trennungen von Verstand und Gefühl, Geist und Körper, Selbst und Beziehungen. Denn auf diesem Wege geht im Grunde beides verloren: die Verbindung zur eigenen inneren Stimme und die wahre Verbindung zum anderen Menschen.[76] Man kann hier auch an das psychologische Phänomen der ,Identifikation mit dem Aggressor’ denken – der aber in diesem Fall die Gesellschaft selbst ist. Das Mädchen übernimmt die Normen der Entfremdung, dissoziiert von seinem eigenen, aufrichtigen Wesen und denkt und fühlt fortan mehr oder weniger entfremdet.[24]
Aber auch Jungen hätten in der Adoleszenz noch einmal eine Chance, die frühen Prägungen rückgängig zu machen bzw. wieder aufzubrechen:[109][25]
[…] when erotic desire and an enhanced subjectivity move them to reveal what they may have repressed or hidden – their emotional intelligence, their tenderness – and thus to reject patriarchal constructions of manhood, as Eros does in exposing his love for Psyche.
Die wahre menschliche Seele und auch die Solidarität unter den Frauen hat sich schon in der Komödie ,Lysistrata’ (411 v. Chr.) von Aristophanes offenbart, als die Titelheldin, deren Name soviel wie ,Heeresauflöserin’ bedeutet, die Frauen dazu bringt, den Peleponnesischen Krieg zu beenden, indem sie sich auf der Akropolis einschließen und sich den Männern solange verweigern, bis diese Frieden schließen.[121][26]
Aber Mädchen in der Adoleszenz geben ihre eigene innere Stimme auf, weil sie beginnen, die äußeren Normen zu übernehmen – konkret: sich mit dem zu identifizieren, wie sich ,Frauen’ verhalten. Und sie finden keine weiblichen Vorbilder, die zutiefst heil und authentisch sind.[27] Das Ideal aber sähe anders aus – wenn auch Frauen ihre Entfremdung aufhalten und so Mädchen und Frauen einander bestärken könnten:[160]
If women and girls stay with one another at the time when girls reach adolescence, girls’ playfulness and irreverence will tap the wellsprings of women’s resistance. And women in turn […] will join girls in their desire for relationship and for knowledge and, by doing so, teach girls that they can say what they want and know without being left all alone.
Das eigentliche Rätsel ist, wie die Fähigkeit der gegenseitigen Empathie verlorengeht. Gilligan beschreibt Erfahrungen, wie Mobbing in Klassen aufhört bzw. um mindestens die Hälfte abnimmt, und zwar nachhaltig und dauerhaft, wenn in einem Projekt Babys in den Klassenraum gebracht werden.[165][28] Projektgründerin Gordon sagt: ,Empathy can’t be taught, but it can be caught.’[167] Nicht gelehrt, aber eingefangen – von der eigenen Seele, die wieder auf ihre innerste Stimme hört, diese von neuem ,auffängt’.
Denn was normalerweise passiert, ist das Schwächerwerden der Beziehungen. Auch Jungen können mit fünfzehn innige, tiefste Freundschaften untereinander haben – und ein, zwei Jahre später wird dies bereits wieder schwächer, verliert seine Farbe, seine Tiefe.[168][29] Spätestens jetzt fordert die Kultur die Dissoziation – jede derart enge Bindung würde als ,Homosexualität’ interpretiert...[171][30] Obwohl die Jungen darunter leiden, tun sie es als unvermeidlich ab. So ist der tragische Schlüsselsatz eines Mädchens ,I don’t know’ – und der eines Jungen: ,I dont’ care’...[174]
Wir brauchen statt Anpassung und abstrakter Urteile wieder Neugier und Offenheit – diese werden dann zu Empathie und Verbundenheit.[176] Gilligan schließt ihr Buch mit dem Hinweis darauf, dass es in der Natur nur einmal in jedem Jahr Frühling werde – in der Seele dieses Potenzial aber immer da sei: ,The time to act is now.’[180][31]
Fußnoten
[1] Nancy Chodorow: Family Structure and Feminine Personality, in: Michelle Z. Rosaldo & Louise Lamphere (Ed.): Woman, Culture, and Society. Stanford 1974, p. 43-66. • Nancy Chodorow: The Reproduction of Mothering. Psychoanalysis and the Sociology of Gender. Berkeley 1978 (deutsch: Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter. München 1985).
[2] Chodorow, The Reproduction..., a.a.O., p. 167.[8] • Eindrücklich ist auch die Aussage des Mädchens Jenny bei Gilligan: ,If I could grow up to be like anyone in the world, it would be my mother, because I’ve just never met such a selfless person. She would do anything for anybody, up to a point that she has hurt herself a lot because she just gives so much to other people and asks nothing in return. So, ideally, that’s what you’d like to be, a person who is selfless and giving.’ Jenny selbst beschreibt sich ,much more selfish in a lot of ways.’[136]
[3],[...] growing girls come to define and experience themselves as continuous with others; their experience of self contains more flexible or permeable ego boundaries. Boys come to define themselves as more separate and distinct, with a greater sense of rigid ego boundaries and differentiation. The basic feminine sense of self is connected to the world, the basic masculine sense of self is separate.’ Chodorow, The Reproduction..., a.a.O., p. 169. • ,[...] definieren und erleben sich Mädchen im Verlauf ihres Heranwachsens als kontinuierlich mit anderen verbunden; ihre Selbsterfahrung ist durch flexiblere und durchlässigere Ichgrenzen bestimmt. Knaben hingegen definieren sich mehr als separate und von anderen unterschiedene Wesen und entwickeln ausgeprägtere Ich-Grenzen und stärkere Differenzierungen. Das grundlegende weibliche Selbstgefühl ist Weltverbundenheit, das grundlegende männliche Selbstgefühl ist Separatheit.’ Das Erbe der Mütter, a.a.O., S. 220.
[4] Lever J (1976): Sex differences in the games children play. Social Problems, 23(4), 478-487. • Janet Lever untersuchte 181 Fünftklässler.[9]
[5] Jean Piaget (1932): The Moral Judgment of the Child. New York 1965, p. 77.
[6] Mädchen spielen vor allem nicht-kompetitive Spiele wie Seilspringen, ,Himmel und Hölle’ etc.[10]
[7] Freud sieht auch diese Nach-Innen-Wendung der Mädchen in der Pubertät als ,Narzissmus’![39] Siehe seine kleine Schrift ,Zur Einführung des Narzißmus’ (1914): ,Hier scheint mit der Pubertätsentwicklung [...] eine Steigerung des ursprünglichen Narzißmus aufzutreten [...].’►7
[8],Instrumentalität’ entspricht Zweckdenken, Subjekt-Objekt-Dualismus etc., ,Expressivität’ dem Ausdruck von Gefühlen, Selbstoffenbarung etc.
[9] Lawrence Kohlberg: The Philosophy of Moral Development. San Francisco 1981. • Gilligan war selbst Forschungsassistentin bei Kohlberg, siehe Wikipedia englisch: Carol Gilligan. • Die Stufenfolge entspricht also der Orientierung an den zu spürenden Erwartungen der Umwelt, dann an existierenden Regeln und Gesetzen und zuletzt an moralischen Prinzipien, aus denen auch letztere erst hervorgehen.
[10] Wikipedia: Kohlbergs Theorie der Moralentwicklung. • Genauer werden hier folgende Ebenen und Stufen unterschieden: A. präkonventionell (1. Strafe und Gehorsam, 2. instrumentell-relativistisch, Gegenseitigkeit), B. konventionell (3. interpersonale Konkordanz, 4. Gesetz und Ordnung), C. Übergangsstufe (,postpubertäre’ Ablösung von der Konvention), D. postkonventionell (5. legalistisch, Sozialvertrag, 6. universal-ethisch). Später vermutete Kohlberg eine 7. transzendentale Stufe (Jesus, Buddha, Gandhi). Ebd.
[11] Interessanterweise fiel schon Freud auf, dass bereits ganz kleine Mädchen hier eine stärkere Tendenz zu haben scheinen: ,Man empfängt auch den Eindruck, daß das kleine Mädchen intelligenter, lebhafter ist als der gleichaltrige Knabe, es kommt der Außenwelt mehr entgegen, macht zur gleichen Zeit stärkere Objektbesetzungen.’ Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Wien 1933, S. 162, 33. Vorlesung: ,Die Weiblichkeit’. Projekt Gutenberg.
[12] Da Persephone im griechischen Mythos unter anderem durch die Narzisse in die Unterwelt gelockt wird, sieht Gilligan auch hier einen Hinweis: ,reminding us that narcissism leads to death’. • Bei Hesiod heißt es: ,Fern von Demeter, der Herrin der Ernte, die mit goldener Sichel schneidet, spielte sie und pflückte Blumen mit den Töchtern des Okeanos, Rosen, Krokus und schöne Veilchen, Iris, Hyazinthen und Narzissen. Die Erde brachte die Narzisse hervor als wundervolle Falle für das schöne Mädchen nach Zeus' Plan, um Hades, der alle empfängt, zu gefallen.’ Wikipedia: Raub der Persephone.
[13] Heinz solle es stehlen, und der Richter würde es verstehen, auch die Gesetze hätten ihre Fehler (bzw. blinden Flecken).[26]
[14] In einer Studie erfanden von 88 männlichen Studenten 25 % zu Bildern, die Nähe ausdrückten, Geschichten, die Gewalt beinhalteten, von 50 Studentinnen dagegen erfanden 16 % solche Geschichten bei Bildern, wo es um Erfolg ging. Pollak S & Gilligan C (1982): Images of violence in thematic apperception test stories. Journal of Personality and Social Psychology 42(1), 159-167.[41]
[15] Auch dies kann wieder als ,Narzissmus’ missdeutet werden (das Mädchen will ,im Mittelpunkt’ stehen), in Wirklichkeit aber geht es um das menschliche Bedürfnis nach Beziehung, der Gedanke ,Mittelpunkt’ fällt hier völlig weg – während er für den einsam an einer Spitze einer Hierarchie stehenden Mann viel relevanter ist, denn dieser will etwas ,sein’, ,darstellen’, während es dem Mädchen darum überhaupt nicht geht.
[16] Salomon hatte dies weise vorausgesehen, denn er verfügte, das Kind solle mit dem Schwert in zwei Teile geteilt werden (v. 25).
[17],When the distinction between helping and pleasing frees the activity of taking care from the wish for approval by others, the ethic of responsibility can become a self-chosen anchor of personal integrity and strength.’[171] • Es gibt aber sicherlich viele Mädchen, die hilfsbereit sind, ohne jemals ,gefallen’ zu wollen – wo der Hilfsimpuls einfach der primäre ist.
[18] Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, übers. Karl Paul Hasse. Hamburg 2004, S. 115. Hervorhebung H.N.
[19]● Carol Gilligan: Joining the Resistance. Cambridge 2011. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[20],The four-year-old boy who asks his mother, “Mommy, why are you sad?” and then responds to her denial of sadness by saying “Mommy I know you, I was inside you,” and the eleven-year-old girl who observed, “My house is wallpapered with lies,” sound a voice that resides within all of us, however buried.’[112]
[21] Dieses Wort bedeutet bei Gilligan immer wieder die innerste, wahre, wahrhaftige Stimme, das eigentliche Selbst.
[22],I have used the word “patriarchy” to describe those attitudes and values, moral codes and institutions, that separate men from men as well as from women and divide women into the good and the bad.’[177]
[23] Besonders eindrücklich ist dieser ,Verstummungsprozess’, als Gilligan die dreizehnjährige Judy fragt, ob es einen Weg gebe, über die Probleme in ihrer Familie zu sprechen: ,I don’t know, because I don’t – I don’t know. I mean, I do know. It’s just like – I can’t explain – I don’t know what, how to put it into words … I don’t even know if I know what it is. So I can’t really explain it. Because I don’t know. I don’t even know like in my brain or in my heart what I am really feeling. I mean I don’t know if it’s pain or upsetness or sad – I don’t know.’[68] • Die leidvollen Empfindungen von Judy haben sicherlich auch damit zu tun, dass sie bei niemandem in ihrer Familie die Bereitschaft spürt, etwas zu ändern oder überhaupt darüber zu sprechen. Ihre Seele wird von der sie umgebenden Normalität erstickt...
[24] Auch Freud nimmt dies einfach so hin und führt sogar noch das patriarchal strafende ,Über-Ich’ ein, die Gewissensstimme, die in Wirklichkeit nur die verinnerlichte äußere Norm ist.[99] Und den Frauen, die von inzestuösen Beziehungen mit dem Vater berichten, glaubt er nicht mehr, weil er in seiner Selbstanalyse das frühe Begehren nach der Mutter und damit den ,Ödipuskomplex’ entdeckt hat, den er daraufhin verallgemeinert.[103] Damit hat Freud sich für den wirklichen Missbrauch mehr oder weniger blind gemacht – auch für die Dissoziation der einzelnen, ursprünglich ,heilen’ Seele, der durch die Kultur ein ,inzestuöser Missbrauch’ angetan wird, weil sie nicht aufwachsen darf, wie sie ist: rein und unschuldig.
[25] Und das gilt eben auch zutiefst für jede Begegnung eines Mannes mit einem Mädchen!
[26] Wikipedia: Lysistrata.
[27] Gilligan schildert den Moment, in dem eine Lehrerin die ganze Tragik dieser Mädchen zu begreifen beginnt: ,And then suddenly, seeing the circle closing, Miller says, hand rising, covering her mouth, “My God,” as tears begin flowing, “And there is nothing there.”’[159] ,Nothing there’ bedeutet: Niemand, an den Mädchen sich halten könnten...
[28] Mary Gordon: Roots of Empathy. Changing the World, Child by Child. Toronto 2009. • rootsofempathy.org. • Gilligan zitiert Beobachtungen: ,tough kids smile, disruptive kids focus, shy kids open up’. Und: ,The baby acts “like a heart-softening magnet,” drawing to itself human qualities that seemingly had hardened.’[166]
[29] Ein Fünfzehnjähriger: ,[...] you have this thing that is deep, so deep, it’s within you, you can’t explain it. […] I guess in life, sometimes two people can really, really understand each other [...].’ Und zwei Jahre später: ,It’s like best friends become close friends, close friends become general friends, and then general friends become acquaintances.’[168]
[30] Siehe Niobe Way: Deep Secrets: Boys’ Friendships and the Crisis of Connection. Cambridge MA 2011.
[31] Siehe Niobe Way, Alisha Ali, Carol Gilligan et al. (Ed.): The Crisis of Connection: Roots, Consequences, and Solutions. New York 2018.