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Hingabe, Narzissmus und Kapitalismus
Die von Carol Gilligan beschriebene weibliche Natur offenbart, dass Frauen und Mädchen in ihrem tiefsten Inneren verantwortungs- und liebevolle Beziehungswesen sind. Dieses Denken und Fühlen in Beziehungen, in Verbundenheit mit anderem, ist der genaue Gegensatz zu dem selbst- und ich-bezogenen männlichen Denken. Das weibliche Denken enthält immer das Element der Hingabe, jede Beziehung enthält das Element der Liebe. Hingabe aber ist Liebe, und Liebe ist Hingabe.
Doch Hingabe ist in der modernen ,gleichberechtigten’ Gesellschaft inzwischen ein Tabu. Und auch nicht jede weibliche Äußerung, auch nicht jede, die der Hingabe ähnlich erscheint, hat mit ihr zu tun. In der Begegnung der Geschlechter kann scheinbare weibliche ,Hingabe’ auch machtvolle Verführung sein – und sogar Instrument narzisstischer Allmachtsfantasien. So sagt der Sexualforscher Ulrich Clement:
Es gibt eine interessante Theorie zu Vergewaltigungsfantasien, die besagt, dass es sich um verkappte Triumphfantasien handelt. Die Frau folgt mit der Inszenierung einem Unwiderstehlichkeitsparadigma: "Der will mich, weil ich so attraktiv bin." Er kann gar nicht anders! [...]
Man weiß schon lange, dass es solche Gewaltfantasien gibt und wie häufig sie vorkommen. Man hat sie nur nicht richtig verstanden. Die Sexualforscherin Marta Meana sagt, wir haben uns darin geirrt, Frauen immer als Wesen zu betrachten, die ausschließlich an der Beziehung interessiert sind. Frauen sind viel narzisstischer, als sie zugeben. Sie wollen eigentlich großartig gefunden und begehrt werden. Deshalb denken sie sich Fantasien aus, in denen alle Blicke auf sie gerichtet sind. []
Sexualforschungskolleginnen sagen, dass sie jahrelang das Bild einer Frau zur Referenz genommen haben, die autonom über ihre Sexualität verfügt und sagt, wann sie Lust hat, und sich dann auf einen Mann einlässt oder einen verführt. Das ist ein sehr feministisch inspiriertes Bild. Diese Sexualforscherinnen verstehen jetzt, das sie selbst einem politisch motivierten blinden Fleck aufgesessen sind: Sie haben gedacht, Begierde würde bedeuten, sich dem Mann und seinem männlichen Blick zu unterwerfen. Sie haben übersehen, dass es auch ein eigenes Bedürfnis der – ansonsten autonomen, starken – Frauen gibt, und zwar das Bedürfnis, begehrt zu werden. Das hatten viele Sexualforscherinnen sich bisher verboten zu sehen, weil es nicht in ihr Frauenbild passte.
In dieser Hinsicht ist der ,Kampf um das Begehren’ ein Kampf um die Macht – ausgefochten mit der Münze der Attraktivität und ihrer größtmöglichen Wirksamkeit. Weibliches Verführungspotenzial als Macht über den Mann, die gesamte Männerwelt. Die Lenkung des männlichen Triebes und Begehrens als die Potenz der Frau...
All dies hat mit unschuldiger, liebender Hingabe natürlich nicht das Geringste zu tun. Man kann sagen: ,Starke Frauen’ haben das narzisstische Bedürfnis, begehrt zu werden. Sanfte Mädchen mit einem reinen Herzen haben dagegen die Fähigkeit sich hinzugeben, ohne narzisstisch zu sein. Und das ist erst wirkliche Hingabe.
Der Irrtum liegt bereits darin, in der heutigen Gesellschaft ,stark’ sein zu müssen, um nicht der geheimen Verachtung anheimzufallen. Der Irrtum liegt bereits im Begriff ,Stärke’ überhaupt (die wiederum mit ,Selbstständigkeit’ oder gar ,Individualität’ gleichgesetzt wird). Man versteht nämlich nicht, dass das sanfte Mädchen eine ganz andere Stärke besitzt: die Stärke, nicht ,stark’ sein zu müssen, sondern einfach ganz Mädchen zu sein – mit aller Hingabefähigkeit, die nur ein Mädchen hat. Diese Stärke ist unvorstellbar, denn sie trotzt sanft sämtlichen Vorurteilen unserer Gesellschaft. Sie ist sanft und hingabefähig, obwohl dies von allen nur spöttisch belächelt wird. Wer ist wohl stärker? All jene, die sich dem Mainstream anpassen – oder das Mädchen, das den Mut hat, ganz und gar Mädchen zu bleiben?
All jene, die vor dem Dogma der ,Gleichberechtigung’ umkippen, können nur als ,schwach’ bezeichnet werden. Denn um Gleichberechtigung geht es gar nicht – niemand kann dem sanften, hingebungsvollen Mädchen die Tatsache nehmen, dass es gleichberechtigt ist. Denn es wird sich nur dem ganz und gar hingeben, von dem es sich geliebt fühlt. Und in der Liebe ist die Gleichberechtigung immer wesenhaft vorhanden, sie kann gar nicht anders. Denn der Junge oder der Mann, der das sanfte Mädchen liebt, kann seinerseits gar nicht anders, als es in all seiner Sanftheit zu ehren und zu verehren. Damit ist der Ausgleich von vornherein gegeben. Das sanfte, hingebungsvolle Mädchen wird verehrt und zutiefst geliebt. Wo soll da die ,Gleichberechtigung’ fehlen? Sie fehlt allenfalls da, wo ,Liebe’ zur Machtfrage verkommt – also in allen modernen Beziehungen, in denen zwei narzisstische, im Grunde liebesunfähig gewordene Individuen dennoch versuchen, irgendwie zusammenzukommen. Diese sich immer neu wiederholende moderne Tragik beweist vollkommen, dass Liebe ohne Hingabe unmöglich ist. Das Mädchen aber ist die Meisterin der Hingabe...
Die Sanftheit des Mädchens ist auch mit seiner ihm wesenseigenen körperlichen Schwäche verbunden. So schrieb schon der Philosoph Edmund Burke (1729-1797) über das Wesen des Zarten (delicacy):
An air of robustness and strength is very prejudicial to beauty. An appearance of delicacy, and even of fragility, is almost essential to it. Whoever examines the vegetable or animal creation will find this observation to be founded in nature. It is not the oak, the ash, or the elm, or any of the robust trees of the forest, which we consider as beautiful; they are awful and majestic; they inspire a sort of reverence. It is the delicate myrtle, it is the orange, it is the almond, it is the jasmine, it is the vine, which we look on as vegetable beauties. It is the flowery species, so remarkable for its weakness and momentary duration, that gives us the liveliest idea of beauty and elegance. [...] The beauty of women is considerably owing to their weakness or delicacy, and is even enhanced by their timidity, a quality of mind analogous to it.
Schüchternheit oder Scheu ist aber nicht immer ,Ängstlichkeit’, es kann auch Vorsicht, Zurückhaltung, Selbstlosigkeit und Unschuld umfassen – und damit das Wesen dessen, was wir im tiefsten Sinne Anmut nennen können. Das Wesen des Mädchens...
Und hier begegnen sich ,Leibfeindlichkeit’ und Liebe – denn es geht um die Verneinung der Grobheit, der groben Sinnlichkeit ... um Raum zu schaffen für das ganz andere: das Geheimnis des Zarten. Es geht nicht um Leibfeindlichkeit. Es geht um das Geheimnis der Seele – und diese muss überhaupt erst gefunden werden. Das Mädchen in seinem wahren Wesen hat sie gefunden, hat sie nie verloren. Wer aber sonst kann das von sich sagen?
Das Mädchen weiß, dass es weder auf körperliche Stärke noch auf Ich-Stärke noch auf Durchsetzungsvermögen oder einen falschen Individualitätsbegriff ankommt, sondern auf etwas viel Heiligeres – nämlich die Frage, ob der Mensch wirklich eine Seele habe und ob diese Seele die Fähigkeit der Hingabe kennt...
Denn was nützte alle ,Seele’ mit aller Stärke, allem Durchsetzungsvermögen und aller ,Individualität’, wenn ihr das Eigentliche fehlte – und sie letztlich weder jemals wahrhaft und tief empfinden noch jemals wahrhaft lieben könnte? Sie wäre nur ,ein tönendes Erz’ (1 Kor 13,1) und würde ihre eigene Leere früher oder später immer mehr empfinden – dann zu spät.
Das Mädchen im Sinne dieser Bände aber ist die eigentliche Trägerin und Hüterin der menschlichen Seele.
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Wir sehen heute, wie die feministische Bewegung diese Wahrheit völlig aufgibt, ja geradezu mit Freuden ,entsorgt’, damit aber auch die Seele selbst – denn heute spricht man ja ohnehin nur noch von ,Psyche’, und ja, Psyche hat auch ein Mann, sogar der brutalste Manager hat noch eine ,Psyche’. Und man glaube nicht, man sei viel weiblicher, weil man den Regenwald retten und die Klimaerwärmung aufhalten will. Menschlicher ja – weiblicher nein.
Heute wird Gleichberechtigung der Frau in Quoten gemessen: Die Gleichberechtigung ist da gegeben, wo Frauen genauso viel Anteil am Kuchen der männlich geprägten Welt haben wie die Männer selbst. Wo also auch Frauen als Manager Leute entlassen können (oder zumindest mit Kapitalismus spielen dürfen), als Feuerwehrfrau ihre Frau stehen dürfen und anderes mehr. Als ob es darum ginge! Vielen aber geht es darum – denn in anderem Sinne sind sie längst gar nicht mehr Frau. Es geht nur noch um die Quote, unabhängig davon, mit welchen Geschlechtsorganen man geboren wurde. War da sonst noch was? Alles Übrige ist doch Prägung von Gesellschaft und Kultur, soll doch gerade entsorgt werden! Und so haben wir dann Männer ohne Brüste und Männer mit Brüsten – oder war da doch noch etwas?
Wenden wir uns einem feministischen Manifest zu, das von drei linken amerikanischen Akademikerinnen geschrieben wurde – und wo es heißt:
Im Frühjahr 2018 hat Facebook-Managerin Sheryl Sandberg erklärt: „Wir wären in einer weitaus besseren Lage, wenn die Hälfte aller Länder und Konzerne von Frauen, die Hälfte aller Haushalte von Männern geführt würde.“ [...] Bereits als ehemalige Stabschefin des US-Finanzministers Larry Summers – des Mannes, der für die Deregulierung der Wall Street verantwortlich zeichnet – hatte sie keinerlei Bedenken, Frauen zu versichern, durch Zähigkeit errungener geschäftlicher Erfolg sei der Königsweg zur Geschlechtergleichheit.
Im selben Frühjahr hat ein militanter feministischer Streik Spanien lahmgelegt. Mehr als fünf Millionen Demonstrantinnen folgten dem Aufruf der Veranstalter dieser vierundzwanzigstündigen huelga feminista, sich einzusetzen für „eine Gesellschaft ohne sexistische Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt […], für Rebellion und den Kampf gegen jenes Bündnis von Patriarchat und Kapitalismus, das uns gehorsam, fügsam und still sehen will“. [...]
Diese beiden Stimmen stehen für gegensätzliche Wege der feministischen Bewegung. Sandberg und ihresgleichen begreifen den Feminismus als Magd des Kapitalismus. [...]
[...] Ein Weg führt zu einem verbrannten Planeten, wo menschliches Leben bis zur Unkenntlichkeit verelendet, wenn es überhaupt möglich bleibt. Der andere Weg weist uns in jene Art von Welt, die stets im Mittelpunkt der kühnsten Menschheitsträume gestanden hat: eine gerechte Welt, in der Wohlstand und natürliche Ressourcen von allen geteilt werden und in der Gleichheit und Freiheit nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt sind. [...]
[...] Indem er das Dogma, Frauen müssten sich durchsetzen, ebenso ablehnt wie den Feminismus des einen Prozent, kann unser Feminismus ein Fanal setzen und allen anderen Hoffnung verleihen.
Die hier angedeutete Bewegung eines ,Feminismus der 99 %’ entlarvt die Hohlheit derjenigen Feministinnen völlig, die nichts weiter als karrierebezogene ,Alpha-Frauen’ sind, die sich von ihren männlichen Pendants kein bisschen unterscheiden. Weiterhin entlarvt er die ,Mikrokredite’ an Frauen der Dritten Welt als Almosen, die nur dazu dienen, dem Raubtierkapitalismus sein Feigenblatt aufzusetzen. Der hier skizzierte Feminismus will nichts Geringeres als eine neue, menschliche Gesellschaft, die nur antikapitalistisch sein kann.
Und doch agieren auch diese Feministinnen ausschließlich in dem Sinne, der heute als ,emanzipativ’ gilt: aufgeklärt, scharf analysierend und entlarvend, kritisch, kämpferisch. Auch hier sehen wir das Primat des Denkens – und ebenso wenig wird bezweifelt, dass es nur und stets um die Machtfrage geht. Eine andere Gesellschaft muss erkämpft werden, mit Mitteln der Gegen-Macht, mit Streiks, mit Arbeitsniederlegungen, mit Demonstrationen – eine Art durchaus militanter Feminismus mit ,Haaren auf den Zähnen’ und mit gestähltem Gedankenwerkzeug.
Dies mag alles sehr sympathisch sein – und ein anderer Ansatz zur Rettung des Planeten ist auch weithin gar nicht sichtbar. Und doch hat auch dies nichts mit dem Mädchen zu tun, insofern dessen Wesen auch hier verleugnet wird, als sei es unbedeutend, ja gar nicht existent.
Die Frage ist aber: Kann ein konfrontativer Ansatz je eine wahrhaft menschliche Welt schaffen? Kann insbesondere ein vor allem auf intellektuelle Schärfe sich stützender Ansatz ja dem Ganzmenschlichen den Boden bereiten? Oder hat er es nicht schon selbst verloren – ohne es zu bemerken? Ist nicht die Hingabe längst entsorgt, und man hat es nur noch nicht realisiert? Welche Frau möchte sich denn noch hingeben? Nur noch Partnerschaft? Modern, unkompliziert, praktisch und gut?
Begreift man nicht, dass sich nicht einmal der Regenwald retten lässt, wenn die Natur nicht mehr wahrhaft geliebt wird? So sehr, dass man es mit brennendem Herzen gar nicht begreifen kann, wie irgendjemand auch nur den Verlust einer einzigen Art in Kauf nehmen kann? Begreift man nicht, dass ,intellektuelle Zuneigung’ absolut nicht ausreicht? Keine rettenden Kräfte entfaltet, nicht auf Dauer? Begreift man nicht, dass man bei allem ,brennenden Herzen’ einer emanzipativen linken Gesinnung das wahre Herz längst verloren hat – sogar gern, weil man es mit emanzipativen Ansätzen nicht für vereinbar hält? Welches hingebungsvolle Mädchen wäre denn schon emanzipativ?
Vielleicht aber ist das Mädchen die am meisten emanzipative Kraft von allen. Denn was tut es? Es weist sanft, aber entschieden alle Kämpfe auf dem Boden der Macht und der mit diesem Begriff verbundenen Kategorien zurück. Es öffnet den Blick auf ein völlig anderes Reich: sein Reich... Ein Reich der Anmut, der Sanftheit, der Liebe, ohne kämpfen zu müssen, der schüchternen Freude, ohne sich für die Freude oder die schüchterne Zurückhaltung verteidigen zu müssen. Ein Reich der Unschuld und der seelischen Tiefe, das von anderen überhaupt nicht mehr gekannt wird – das aber notwendig ist, wenn wir das Mysterium der Menschheit nicht verlieren wollen. Notwendig, weil der emanzipative Ansatz nicht reichen wird – man glaube es oder glaube es nicht.
Das Mädchen bewahrt etwas, das für die Rettung der Erde absolut entscheidend sein wird – und es wird nicht einmal von seinen emanzipativen Geschlechtsgenossinnen verstanden. Einsam aber hütet es, was die anderen nicht mehr kennen... Vielleicht ... vielleicht werden eines Tages auch sie wieder aufwachen ... für das Eigentliche, das Tiefste...
Fußnoten
[1] Wenke Husmann: "Die Lust, sich hinzugeben, ist ein Tabu". ZEITmagazin online, 16.9.2014.
[2] Edmund Burke: A philosophical inquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful with several other additions. Harvard Classics, Vol. 24, Part 2. www.bartleby.com. Teil 3, Abschnitt 16.
[3] Das ist auch das (oft verschüttete) Geheimnis der ,Heiligen Schrift’: ,Quer durch die Bücher der Bibel mäandert eine verschüttete Tradition der Zärtlichkeit, die noch immer ihrer Entdeckung harrt. Feinfühlig, unbefangen und heilungsstiftend ist sie, wie sie sich im Charakter biblischer Leitgestalten erweist.’ Pinchas Lapide (Hg.): Das Hohelied der Liebe. München 1993, S. 10, zitiert nach Werner Schneider-Quindeau: Kindliche Unschuld und leibliches Verlangen. Zur biblischen Symbolik von Kind und Körper, in: Ilka Quindeau & Micha Brumlik (Hg.): Kindliche Sexualität. Weinheim/Basel 2012, S. 71-83, hier 80.
[4] Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya & Nancy Fraser: Feminismus für die 99 Prozent. Ein Manifest. www.zeitschrift-luxemburg.de, Juli 2019. Auszug aus dem gleichnamigen Buch, Berlin 2019.