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Die heilige Polarität oder: Das Pippi-Langstrumpf-Paradox
Was sind all diese Bände über das Mädchen wert, wenn Mädchen und Frau seit über zweitausend Jahren von einer männlichen Welt unterdrückt wurden? Von einer Welt, die zum Patriarchat führte – der Herrschaft der patres, der Väter? Einer Welt, in der Söhne mehr galten als Töchter, Jungen mehr als Mädchen, Männer mehr als Frauen. Einer Welt, die die Frauen als Hexen verfolgte, ihnen den Zugang zu Bildung verweigerte, sie auf die Eigenschaft als Schönheits- und Sexualobjekt reduzierte? Auf die Eigenschaft eines reizvollen Püppchens?
Welches Menschen-, welches Mädchenbild haben dann diese Bände hier? Treten sie in die Fußstapfen dieser patriarchalischen Demütigung? Und wo es scheinbare ,Erhebung’ ist, da es ja um das ,schöne Geschlecht’ geht – wird da nicht dennoch nur die Demütigung reproduziert, indem dieses schöne Geschlecht seine nun noch einzige Eigenschaft dem anderen Geschlecht zur Verfügung stellen darf? Um verfügbar zu sein? Als ... schöner Schein? Als ... willige Sklavin? Als ... hingebungsvolles Objekt?
Früher erzog man Kinder dazu, sich für ein ,Geschenk’ nicht nur zu bedanken, sondern man müsse es sogar noch gerne tun, man müsse innerlich wirklich dankbar sein – auch für das geschmackloseste, uninteressanteste Geschenk noch der hässlichsten Tante. Ist das Mädchenbild dieser Bände ein Danaer-Geschenk,[1] bei dem die Mädchen noch dankbar sein müssen für ihre ... eigene Demütigung und ihre erneute Reduktion auf ein uraltes Rollenbild?
Nein – die Mädchen müssen nicht dankbar sein, und die ,modernen’ Mädchen werden alles hier Stehende auch ganz modern verlachen, weil sie ja gar nichts mehr annehmen müssen und sein können, wie sie wollen. Das ist die Moderne, und es ist zugleich die Freiheit – und diese Freiheit ist notwendig und entscheidend für das Menschliche. Das Zeitalter der Freiheit ist erreicht – oder sollte erreicht sein.
Aber warum dann dennoch ein so festes, starres, enges Rollenbild? So kann man fragen, wenn man ... noch immer nichts verstanden, begriffen, empfunden, erlebt hat. Es handelt sich nicht um ein Rollenbild, es geht um die Frage nach dem Wesen. Also nicht um Dogmatik, nicht um Orthodoxie, sondern um Ontologie.[2] Was ist das Wesen der Mädchen? Oder leugnen wir das Seiende, um an dessen Stelle erst einen Nominalismus und dann einen Konstruktivismus zu setzen? ,Mädchen’ nur als Bezeichnung – als leere Hülle, die alles aus sich machen kann?
Dies ist heute offenbar sehr weitgehend Konsens, aber die Frage nach der Essenz von etwas[3] ist nicht durch demokratische oder populistische Mehrheitsbildungen zu beantworten. Die Leugnung des Wesens konnte nur in einem materialistisch werdenden Zeitalter erfolgen, das alles Innere und Höhere verlor. Ein Zeitalter, das kein Erleben innerer Wesenhaftigkeit mehr hatte, musste alle Unterschiede auf rein Äußerliches oder aber auch bloße Konvention und Konstruktion zurückführen.
Dies begann schon im Mittelalter, in der Scholastik, wo der Realismus vom Nominalismus bekämpft wurde. Dieser behauptete zum Beispiel, die Rose hätte kein Wesen, sondern nur einen Namen, der das bezeichnen würde, was man eben sieht. [4] Was aber macht dann die Rosen zu Rosen? Das Erbgut, wie wir heute meinen? Oder liegt selbst diesem etwas zugrunde? In religiöser Sprache: Ein Schöpfungsgedanke? Konnten die Realisten diesen noch empfinden, die Nominalisten aber nicht mehr? Blieben diesen nur noch ... die ,nackten Namen’?
Der Name eines Menschen aber ist zunächst – ,ich’. Das allein schon lässt empfinden, dass ein Mensch individueller ist als die anderen Lebewesen, die dieses Wort nicht sagen können und es auch nicht in sich tragen. Der Mensch hat ein Ich, er ist ein Ich. Er ist daher kein Gattungswesen mehr, sondern jeder Mensch ist einzigartig, eine Gattung für sich. [5] Durch Biologie, Kultur und Erziehung ist er Gattungswesen, aber er ist noch etwas darüber hinaus. Er bringt etwas mit, was nicht durch die äußeren Einflüsse und das bloß Leibliche erklärt werden kann. Das ist das Ich – eine rein geistige Wesenheit, die schon vor der Geburt existierte und nach dem Tod existieren wird. Hier beginnt der Realismus. Das ,Ich’ ist kein bloßer Name, es ist eine Wirklichkeit. Hier beginnt die Ursache der Individualität – dies ist die Individualität.
Aber gerade dann – wie kann man dann vom Mädchen reden? Hier wird doch gerade der individuelle, einzigartige Mensch erneut unter einen ... Gattungsbegriff gebracht?
Und man kann hier die eindeutigen Sätze Rudolf Steiners aus seiner berühmten ,Philosophie der Freiheit’ anführen: [6]
Es ist unmöglich, einen Menschen ganz zu verstehen, wenn man seiner Beurteilung einen Gattungsbegriff zugrunde legt. Am hartnäckigsten im Beurteilen nach der Gattung ist man da, wo es sich um das Geschlecht des Menschen handelt. Der Mann sieht im Weibe, das Weib in dem Manne fast immer zuviel von dem allgemeinen Charakter des anderen Geschlechtes und zu wenig von dem Individuellen. Im praktischen Leben schadet das den Männern weniger als den Frauen. Die soziale Stellung der Frau ist zumeist deshalb eine so unwürdige, weil sie in vielen Punkten, wo sie es sein sollte, nicht bedingt ist durch die individuellen Eigentümlichkeiten der einzelnen Frau, sondern durch die allgemeinen Vorstellungen, die man sich von der natürlichen Aufgabe und den Bedürfnissen des Weibes macht. Die Betätigung des Mannes im Leben richtet sich nach dessen individuellen Fähigkeiten und Neigungen, die des Weibes soll ausschließlich durch den Umstand bedingt sein, daß es eben Weib ist. Das Weib soll der Sklave des Gattungsmäßigen, des Allgemein-Weiblichen sein. Solange von Männern darüber debattiert wird, ob die Frau „ihrer Naturanlage nach“ zu diesem oder jenem Beruf tauge, solange kann die sogenannte Frauenfrage aus ihrem elementarsten Stadium nicht herauskommen. Was die Frau ihrer Natur nach wollen kann, das überlasse man der Frau zu beurteilen. Wenn es wahr ist, daß die Frauen nur zu dem Berufe taugen, der ihnen jetzt zukommt, dann werden sie aus sich selbst heraus kaum einen anderen erreichen. Sie müssen es aber selbst entscheiden können, was ihrer Natur gemäß ist.
Im Gegensatz zu seinem Umfeld war Rudolf Steiner ganz und gar der Überzeugung, dass die Frau ebenso wenig wie der Mann ein Gattungswesen ist – und dass es um die Individualität des Menschen geht, selbstverständlich auch bei den Frauen. Sie müssen ,selbst entscheiden können, was ihrer Natur gemäß ist’.
Und nun also doch viele Bände darüber, was das Wesen des Mädchens ist? Und eine weitere Widerlegung dessen durch Astrid Lindgrens ,Pippi Langstrumpf’ (1944) – die all dem ins Gesicht pustet und zeigt, dass sich ein Mädchen an keinerlei Rollenbilder zu halten braucht, sondern einfach seinen Weg gehen kann, allen ,Prusseliesen’ dieser Welt mit ihren konventionellen Vorstellungen und Dogmen eine lange Nase zeigend? Oder wie es bei Wikipedia heißt: [7]
Pippi Langstrumpf gilt als literarisches Vorbild für die Frauenbewegung und den Feminismus, zeigt es doch entgegen tradierten Rollenbildern ein Mädchen, das mit seiner gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrolle bricht und „stark, verwegen, ungehemmt, lustig, rebellisch und unbeeindruckt von Autoritäten“ ist. So habe das Buch „Generationen von Mädchen ermuntert, Spaß zu haben und an die eigenen Fähigkeiten zu glauben.“
Aufgrund des rebellischen und nonkonformistischen Verhaltens von Pippi und ihres Umgangs mit Autoritäten werden ihr gelegentlich auch anarchistische Züge zugeschrieben, dementsprechend ist sie auch Bezugspunkt für anarchistische Strömungen. „Eine Rotzgöre im Lumpenlook mit ritzeroten Zöpfen, die in einer maroden Villa haust und sämtliche Autoritäten ignoriert! Pippi ist eine Autonome und Anarchistin, lange bevor die Jahreszahl 1968 eine Bedeutung bekam [...].“
Ganz genau! Wenn wir Pippi Langstrumpf zu Ende denken, erweist sich unsere ganze Gesellschaft als komplett von Normen dominiert und beherrscht – und revolutions-, Pippi-Langstrumpf-bedürftig. Man denke nur an das Schulwesen, die Schulpflicht, überhaupt jegliche Pflichten, man denke an die Normierung der Bananenkrümmung, an jegliche äußere Bestimmungen, die der Freiheit und Individualität des Einzelnen, wie er etwas machen würde, entgegensteht. Pippi Langstrumpf ist weit mehr als nur ein Menetekel[8] für jedes tradierte Mädchenbild – sie ist ein Menetekel für unser herrschendes Gesellschaftsbild. Pippi Langstrumpf ist ein offener Aufruf für den ethischen Individualismus, den Rudolf Steiner in seiner ,Philosophie der Freiheit’ vertrat.
Der Mensch braucht keinen Vormund – und alles, was heute in dieser Weise wirkt, ist gegen die Individualität des Menschen gerichtet, damit also reaktionär und rückwärtsgewandt.
Auch hier wieder entscheidende Sätze Rudolf Steiners, die als ,soziologisches Grundgesetz’ bekannt geworden sind, und die Folgerung daraus: [9]
Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.
Nun handelt es sich darum, aus dieser geschichtlichen Tatsache die Folgerungen zu ziehen. Welche Staats- und Gesellschaftsform kann die allein erstrebenswerte sein, wenn alle soziale Entwicklung auf einen Individualisierungsprozeß hinausläuft? Die Antwort kann allzu schwierig nicht sein. Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig wie diese Herrschaft ausgeübt wird [...]. Sieht sich der Staat nicht mehr als Selbstzweck an, sondern als Mittel, so wird er sein Herrschaftsprinzip auch nicht mehr betonen. Er wird sich so einrichten, daß der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt. Sein Ideal wird die Herrschaftlosigkeit sein. Er wird eine Gemeinschaft sein, die für sich gar nichts, für den Einzelnen alles will.
Hiervon sind wir heute noch weit entfernt – teilweise weiter als wir es schon einmal waren. Die Zentralisierung schreitet voran, die Bevormundung auch. [10] Die Überwachung wächst. Der Konformismus vielfach ebenfalls. Der Staat ist keineswegs dabei, sich selbst aufheben zu wollen und die Individualität zu fördern – im Gegenteil: Institutionen und Bürokratie haben eine inhärente Tendenz, alles zu vereinheitlichen und das Besondere zu unterdrücken.
Hinzu kommen die heute alles dominierenden Strukturen des Wirtschaftslebens. Überall geht es um Macht. Das kann in einem System, das auf Konkurrenz basiert (basiert!), auch gar nicht anders sein. Der heutige Kapitalismus ist auf den pseudo-darwinistischen[11] Grundgedanken reduziert: Der Stärkere überlebt. Die Großen fressen die Kleinen. Das bedeutet: Unser Wirtschaftssysstem basiert auf ... Unmenschlichkeit, denn das Menschliche ist gerade – ja, was eigentlich? Wenn man den Begriff ,menschlich’ in sich erklingen lässt, finden wir alles, was mit den großen christlichen und humanistischen Grundwahrheiten zusammenklingt. Wir finden Liebe, Mitleid, Empathie, Brüderlichkeit, wir finden Verständnis, Harmonie, Erkennen, Gegenseitigkeit...
Das ist die Wahrheit. Und die Wahrheit ist – wir haben dies alles noch lange nicht erreicht und sind durch die heute dominierenden Strukturen davon weiter entfernt, als wir vielleicht denken. Geopolitik und Konkurrenzkampf sind Lügen. Es sind Konzepte, die nichts anderes wollen, als dass dieser Kampf stattfindet. Man denke an die USA, die alle großen internationalen Abkommen hintertreiben – nicht erst seit Trump oder Bush. Man denke an Russland oder China, die auf ihre Weise mächtige Interessenpolitik betreiben. In der heutigen Welt geht es um Macht. Um das Gegenteil von Frieden – und um das Gegenteil des Individuums.
Es geht nicht nur um die Mädchen, es geht um weit mehr.
*
Aber zurück zu den Mädchen. Ich glaube, dass das Wesen der Mädchen, wie es in diesen Bänden und auch in meinen anderen Büchern zu erleben wäre, wann immer der gute Wille da ist, gerade die Heilung wäre, die Rettung. Denn – und vielleicht wird dies jetzt offensichtlich – das Wesen der Mädchen ist das Gegenteil all dessen.
Wir leben in einer Welt der Macht – das Mädchen verzichtet auf alle Macht, besitzt gar keine. Wir leben in einer Welt der Interessen – das Mädchen hat keine eigenen Interessen. Aber was hat es dann? Und warum hat es keine eigenen Interessen? Hier nun kommen wir wirklich zum Wesen des Mädchens, berühren wir seine Essenz.
Das Mädchen hat keine eigenen Interessen, weil es das Menschliche in sich tiefer wahrgemacht hat als alle anderen Menschen. Das Mädchen ist Mensch – und alle anderen Menschen sind es noch nicht. Nichts anderes wollen die hier vorliegenden Bände erlebbar machen. Das Mädchen soll nicht selbstlos und damit verfügbar sein – es ist selbstlos und sprengt damit alle Verfügbarkeits-Gedanken, beschämt sie, hält ihnen einen Spiegel vor: Schau mich an, du Egoist. Du willst mich benutzen, du willst mich dominieren? Nur zu, tue es – aber spüre und erkenne, was du tust... Werde Mensch – wie ich...
Was kann man an dem Mädchen erleben? Man kann erleben, dass das Mädchen die eigentliche Christus-Trägerin ist. Sie trägt Seine Kraft und so auch Sein Wesen in sich. Denn Christus selbst war es, der auf alle Macht verzichtete, noch als Gotteswesen. Christus ging wie ein bloßer Mensch zu den Sündern und Ausgestoßenen, er wusch seinen Jüngern die Füße – auch seinem Verräter – und ließ sich zwischen zwei Verbrechern kreuzigen.
Da sprach Pilatus zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich loszugeben, und Macht habe, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre. (Joh 19,10-11).
Da aber Christus und der Vater eins sind, hätte nichts von allem geschehen müssen – es geschah alles nur, weil Christus selbst es zuließ. Er hat sich selbst hingegeben – obwohl niemand Macht über ihn hatte. Das ist das wahre Geheimnis. Und gerade dies ist auch das wahre Geheimnis der Mädchen – kein anderes.
Das Mädchen gibt sich nicht hin, weil es muss, sondern weil es will. Weil es die Hingabe gewählt hat. Hier liegt das innerste Heiligtum der Mädchen. Das Mädchen ist das Lamm Gottes – weil es dies sein will. Und alle übrigen Menschen – was wollen sie sein...?
Nun ist deutlich: Es geht nicht um Rollenmodelle, es geht um die letzten Fragen. Die höchsten Fragen, die heiligsten. Jene Fragen, die für diejenigen Menschen gar nicht existieren, die ,keine Fragen haben’. Es geht hier um Fragen, die überhaupt erst beginnen, wenn man unter Spiritualität mehr verstehen kann, als über das Wort müde zu lächeln. Was ist ein Mädchen?
Man kann auch fragen: Was ist ein Mensch? Und man kann an jene eine Stelle aus dem Römerbrief des Paulus denken:
Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit [...] doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. (Röm 8,18-22).
Was also ist der Mensch? Dies sind die letzten Fragen. Und der Mensch ist noch gar nicht offenbar geworden. Er ist noch nicht in die Offenbarung getreten. Wir sind noch mitten auf dem Weg. Und doch gibt es ein Wesen, das unendlich viel von dem offenbart, was dieses Wort ,Kinder Gottes’ bedeutet: das Mädchen.
,Kinder Gottes’ ist ein esoterischer Begriff, der nur missverstanden werden kann, wenn man ihn nicht unendlich tief nimmt und bis ins Innerste seines Herzens spürt. Das Gleiche gilt für den Begriff ,Mädchen’. Nimmt man es aber ernst, macht man sein Herz aber empfänglich, so nahen sich diese Begriffe einem in ihrer ganzen Hoheit und mit ihrer ganzen heiligen Tiefe. Und dann erkennt man, dass das Mädchen eine Offenbarerin, eine Botin dieses anderen Begriffes ist: der ,Kinder Gottes’.
Dieser esoterische Begriff bezeichnet eine Hierarchie, die einst noch über allen Engeln stehen wird, weil sie die Liebe kennt – nicht wie die Engel, die nicht anders können, weil es ihr Wesen ist, sondern weil sich die ,Kinder Gottes’ aus Freiheit, aus freiem Willen, mit der Liebe vereint haben werden, sich mit ihr durchdrungen haben werden. Weil ihre freie Tat ... die Hingabe sein wird. ,Und ein Mädchen wird sie führen...’ [12]
Aber wo bleibt die Freiheit, wenn Mädchen schon ,von Natur aus’, von ihrem Wesen aus reine Engel sein sollen, wie diese Bände es nahezulegen scheinen?
Für eine Antwort muss man sich wirklich zu spirituellen Realitäten erheben können. Was ich hier fortwährend beschreibe, ist im Mädchen angelegt – so wie es in jedem Menschen angelegt ist, dasjenige zu offenbaren, von dem Paulus spricht. Und doch kann jeder einzelne Mensch daran vorbeileben – und genau dies ist die andere Hälfte seiner Freiheit. Ich behaupte nichts anderes – aber auch nichts Geringeres –, als dass diejenigen Mädchen, die nicht daran vorbeileben, sondern dasjenige offenbaren, was in diesen Bänden lebt, ernst machen mit den ,Kindern Gottes’ und das Heilige an erste Stelle setzen, weil sie sich innerlich damit vereinen, aus ihrem eigenen, tiefsten Willen heraus. Diese Mädchen machen ihren eigenen Willen am tiefsten wahr – und sie lieben das Heilige und Gute, nicht das Vergängliche und Oberflächliche. Diese Mädchen sind bereits Kinder Gottes – aber aus eigenem Willen. Rollenbilder haben für sie überhaupt keine Bedeutung mehr – es geht ihnen nur noch um ihren eigenen Weg, und diesem folgen sie, mit aller Bedingungslosigkeit und zarten Leidenschaft, die ... nur ein Mädchen haben kann.
Menetekel – die gegenwärtige Menschheit wird als ,zu leicht befunden’. Sie ist ihrem Untergang geweiht, wenn sie nicht umkehrt. Wenn dies nicht geschieht, wird sich der Konkurrenzkampf verstärken und schließlich ein Mensch den anderen vernichten. [13] Die Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, sind so groß, dass jede Diskussion um angebliche ,Rollenbilder’ geradezu von erschreckender Lächerlichkeit ist. Dennoch muss das, was hier versucht wird, erlebbar zu machen, ja verstanden werden. Es darf nicht als ein ,Rollenbild’ missverstanden oder aber böswillig falsch auf diese Weise umgedeutet werden.
Wenn ich hier das sanfte Wesen der Mädchen offenbare, so geschieht dies nicht gegen Pippi Langstrumpf und für eine Restaurierung der alten Welt – in der Mädchen im Extrem wehrlose Opfer jedes beliebigen schmutzigen Mannes waren. Wenn mit diesem Urbild des Mädchens Pippi Langstrumpf ,abgelehnt’ wird, dann um so mehr jene Welt, die sich an diesen ,wehrlosen’ Mädchen vergangen hat – aber ebenso um so mehr jene Welt, die auch heute noch sich an der ,wehrlosen’ Individualität jedes Menschen überhaupt vergeht, um ihre eigenen Strukturen und Mechanismen der Macht an deren Stelle zu setzen. Heute werden nicht mehr die Mädchen vergewaltigt, sondern die Individualität selbst – oder mit anderen Worten: nach wie vor beide.
Es ist gegen die Individualität gerichtet und bedeutet ihre Vergewaltigung, wenn eine Schulpflicht besteht. Wenn das Eigentum längst durch Erbschaften verteilt ist – und der eine Grund und Boden besitzt, während die anderen hohe und immer höhere Mieten zahlen müssen. Wenn Konkurrenz und Profit die menschlichen Zusammenhänge dominieren, wenn man seine ,Arbeitskraft’ zu Markte tragen muss, um überhaupt leben zu dürfen. Wenn eine Gesellschaft so phantasielos und gewalttätig ist, dass der Einzelne nicht seine individuellen Fähigkeiten einbringen kann, sondern den ,Job’ nehmen muss, der sich eben noch bietet, und sei es Callcenter oder Küchenhilfe. Es ist gegen die Individualität gerichtet, wenn der Profitkampf zum Gott wird und hier weltweit gegeneinander konkurriert wird, in einer Abwärtsspirale der zunehmenden Selbst- und Fremdausbeutung. Jeglicher Krieg, jeglicher bewaffnete Konflikt, jegliche Rüstung, jegliche Waffenexporte sind gegen die Individualität gerichtet. Immer geht es um Macht und Unterdrückung – im Wirtschaftsleben, im Schulwesen, in der Geopolitik, überall. Wir sind im Zeitalter der Individualität noch überhaupt nicht angekommen.
Das Mädchen ist dort angekommen. Nicht Pippi Langstrumpf, sondern – der Engel. Der sanfte Engel lässt alle gelten und dominiert niemanden. Seine Liebe und Treue offenbaren jedem Einzelnen, was Menschsein bedeutet würde, und unbeirrbar und sanft geht das Mädchen seinen Weg...
Pippi Langstrumpf ist ein Zwischenstadium. Sie ist die Botin des individualistischen Zeitalters. Sie verkörpert die Anarchie, in der der Selbstbezug einen Höhepunkt erreicht – ohne den anderen zu dominieren. Pippi ist kreativ, eigensinnig, ideenreich, sie veranstaltet sprühende Geburtstagsfeiern, aber sie macht immer, was sie will. Noch genauer gesagt: Sie macht – sehr modern und gleichsam mehrere Jahrzehnte vorwegnehmend[14] – immer genau das, worauf sie Lust hat. So gesehen folgt sie einem hedonistischen[15] Prinzip, und dies mit Betonung auf Spontanität, Spaß und ,Fun’.
Die moderne ,Spaßkultur’ hat das, was Pippi noch positiv vorgelebt hat, in die Dekadenz hineingeführt. Hier wird ,Spaß’ immer mehr die einzige Kategorie, die alles dominiert. Bei Pippi waren Spaß, echte Lebensfreude und echte Kreativität noch gleichberechtigt. Kreativität brachte diese Freude – und ,Spaß’ im modernen Sinne gab es eigentlich noch gar nicht. Es war noch nicht ein abgetrenntes Abstraktum, das um seiner selbst willen gesucht wurde. Wo aber im Gegensatz dazu nur noch ,Spaß’ gesucht wird, verliert die Seele sich selbst. Denn sie ist nicht mehr kreativ, sie kennt nicht mehr die aufrichtige Lebensfreude, sondern sie macht sich abhängig von einer Kategorie, die vom Leben und von der Tiefe gleichermaßen abgeschnitten ist – weil die Seele selbst das Oberflächliche gewählt hat.
Pippi ist in gewisser Weise ,autistisch’, weil sie primär immer ihren momentanen Ideen folgt – und doch ist dies positives Durchgangsstadium in einer fremdbestimmten Welt. Pippi trägt noch Leben in sich. Sie ist mit sich selbst eins. Sie jagt dem Spaß nicht hinterher – sie bringt kreativ hervor, was ihr Spaß macht. Das ist ein Riesenunterschied. Pippi ist von niemandem abhängig und lebt nur aus eigener Phantasiekraft heraus. Sie braucht kein Kino, keinen Alkohol, keine Bildschirme, keine Konservenmusik – sie hat Spaß an dem, was ihre eigene Kreatitivät hervorbringt.
Dies verkennen jene ,Mädchen-Emanzen’, die sich ihr verwandt fühlen und doch nur ein Recht auf ,Party, Bildschirm und Walkman’ propagieren. Diese ,modernen’ Mädchen folgen zwar scheinbar auch einem individualistischen Weg, aber sie sind letztlich leider nur wieder moderne Gattungswesen geworden: Mädchen, die uniform und immer gleich auf Spaß und Genuss aus sind. Sie übersehen völlig, dass die ,moderne’ Konsumkultur selbst eine Gattungskultur ist, die von einigen wenigen, immer gleichen Elementen dominiert wird. Es macht keinen Unterschied, dass jeder seinen angeblich eigenen Musikgeschmack hat, sich ein winziges bisschen anders schminkt als die anderen, nicht immer auf die gleichen Partys geht. Die Grundelemente sind gleich und machen das angeblich moderne Individuum zur Massenware, ohne dass es dies merkt, denn es hat ja ... ,seinen Spaß’. Aber mit diesem Begriff arbeiten auch die Orwellschen Welten völliger Fremdbestimmung, nach dem Motto: Gebt der Masse Spaß und sie denkt, sie sei individuell.
Ein Sich-Hingeben an die materielle Kultur mit all ihren ,Segnungen’ kann nie wahrhaft individuell machen. Es kann immer nur darüber hinwegtäuschen, dass man sich einem vom Prinzip her unindividuellen Impuls übergeben hat: der Materie. Mag sie sich noch so ausdifferenzieren, sodass potenziell und theoretisch tatsächlich jeder sein eigenes Lieblingslied hören könnte etc. Es ist noch immer von anderen gesungen, es kommt noch immer aus den bei allen gleichen Apparaten – und es lähmt wie alles andere die eigene Kreativität und Offenbarung des eigenen Wesens. Die Illusion lautet, dass sich dieses eigene Wesen durch den eigenen ,Geschmack’ offenbare: in dem, was man hört, was man isst, trinkt, wie man sich schminkt, was man anzieht. Herrlich und wunderbar kann man sich durch dies alles ,ausdrücken’. Und was noch? Ist das dann alles? Vielleicht noch die Sätzchen, die man über SMS oder WhatsApp austauscht? Ja? Ist das dann ... das eigene Wesen? [16]
Schon Pippi brauchte von alledem nichts – und war damit individueller als all die ,individuellen’ Mädchen und Jungen, die heute herumlaufen. Und trotzdem folgte sie ihren jeweils spontanen ,Lustgefühlen und -ideen’, was heute auch wiederum bloße Massenkultur geworden ist. Pippi war noch individuell. Was ist, wenn ... alle kleine Pippis werden? Kommt man dann vielleicht zu der Überlegung, ob dies der Weisheit letzter Schluss ist? Ob dies bereits das letzte Geheimnis der Individualität ist?
Oder ist dies vielleicht nur die andere Seite der unüberwundenen Sackgasse? Ist die Spaßkultur nicht nur der Gegenpol der Unterdrückungs- und Machtkultur? Arbeit und Freizeit? Pflicht und Fun? Sieht man nicht, wie durch diese Polarität beides armselig wird und in eine hässliche Sinnlosigkeit gerät? Bei Pippi war es noch ein Gesamtimpuls – sie hat die bisherige Welt wirklich aufgesprengt, und zwar von innen, mit ihrem Wesen. Was man heute dagegen überall sieht, ist nur eine armselige Flucht in den kollektiven Konsum und in materielles Sich-unterhalten-Lassen, was man dann ,Spaß’ nennt.
Der völlige Gegensatz dazu ist das Mädchen. Es hat diese Sackgasse nicht nötig. Mit ihr konfrontiert, empfindet es sie in seinem ganzen Wesen als Sackgasse – und wendet sich gleichsam schaudernd ab. Und wie kann es das? Warum ist dieses Empfinden bei ihm so aufrichtig, so tief, so gesättigt, so bedingungslos, so klar?
Weil das Mädchen die Kategorie des ,Spaßes’ gar nicht kennt! Seine Kategorie ist eine viel höhere und darum erfüllendere, befriedigendere – in tiefstem Sinne, nämlich: den wahren Durst der Seele befriedende, mit einem heiligen Frieden erfüllende. Seine Kategorie ist die Freude. Und Freude ist nicht einfach nur das Substantiv zu ,fröhlich’, sondern Freude ist alles, was man gern tut. Freude ist alles, was man in Liebe tut – selbst da, wo es vielleicht schwer ist, sogar traurig. Es geht nicht um die äußerliche Freude, es geht um die innere Liebe zum eigenen Tun und zu allem, was damit zu tun hat. Es bedeutet Einklang mit sich selbst und mit dem, was man tut. Das ist die Freude des Mädchens. Es ist Einklang. Die vielleicht tiefste Kategorie seiner Seele.
Eine Seele, die ,Spaß’ sucht, ist nicht mit sich im Einklang, sie ist aus dem Gleichgewicht und sucht etwas – Spaß. Eine Seele, die Spaß hat, ist mit sich vielleicht im Einklang, aber auf oberflächliche Weise, denn sie ist auch mit dem ,Spaß’ im Einklang, und man kann fragen: Und weiter? Ist das alles für dich? Spaß? Geht es also darum...?
Das Mädchen ist anders. Nicht den Spaß sucht es, sondern das völlige Gegenteil, und zwar radikal. Aber was ist das Gegenteil von Spaß? Ernst – aber im tiefsten Sinne verstanden. Nicht äußerer Ernst, sondern innerer Ernst und damit: Tiefe. Das Mädchen sucht Tiefe. Und es sucht sie gar nicht, denn es hat sie schon. Aber in der äußeren Welt sucht es diese Tiefe, weil es sich nur dort beheimatet fühlt. Denn die Oberflächlichkeit ist ihm fremd. Wirklich fremd. Es kann sich mit Freundinnen auch einmal ausgelassen mit-freuen, aber seine wahre Heimat ist viel tiefer. Und warum? Weil es nie vergisst, worum es eigentlich geht.
Spaß ist Ablenkung. Es lenkt den Blick von den wirklichen Tiefen der Welt ab. Zu diesen gehört das Leid. Aber auch überhaupt tiefe Gefühle an sich. Die Spaßkultur kann nichts mehr wirklich empfinden. Ihre positiven ,Gefühle’ vewechselt sie mit Empfindungen, und was wirkliche Tiefe ist, weiß sie nicht einmal mehr im Ansatz. Das ist das eine. Das andere ist das wirkliche Leid in der Welt. Das Mädchen mit seinem reinen Herzen kann überhaupt nicht zufrieden sein, wenn andere noch leiden – und es leiden immer noch andere. Also verbietet sich der ,Spaß’ von selbst, denn wie sollte es Spaß haben, wenn sein Herz doch immer halb oder mehr als halb bei denen ist, die es nicht so gut haben? Seien es andere Menschen, seien es Tiere oder lebende Wesen überhaupt...
Das ist das Mädchen... Es ist kein Rollenbild. Jeder kann sein, wie er will. Aber so ist das Mädchen. Es ist auch, wie es will. Es will gar nicht anders...
Und ich habe schon geschrieben: Das Mädchen ist der eigentliche Mensch. Aber warum schreibe ich dann nicht über den Menschen? Weil es gerade das wunderbare Wesen des Mädchens ist, den Menschen so sehr zu offenbaren. Aber welches Mädchens denn, wenn kein Mädchen so ist, wie ich es hier beschreibe? Nun, auch wenn kein ,modernes’ Mädchen heute mehr so wäre, würde dies noch immer bedeuten, dass es tief im Wesen des Mädchens veranlagt ist, dies zur Offenbarung zu bringen. Und im Jungen nicht? Nein, im Jungen nicht – im Mädchen liegt es tiefer veranlagt, reiner, kräftiger. Und warum sind selbst die Mädchen nicht mehr so? Weil die Gegenkräfte überhandnehmen. Die Mädchen haben es als letzte aufgegeben. Das gerade ist der Beweis für alles hier Geschriebene. [17]
Es ist nicht nur das ,Rollenbild’, auf das hin sie jahrhundertelang erzogen wurden. Es ist auch ihr eigenes Wesen. Die Mädchen wurden nicht nur zur ,Unschuld’ erzogen – sie sind auch viel unschuldiger als die Jungen. Wenn sie das selbst nicht mehr wahrhaben wollen, geschieht etwas unendlich Tragisches. Denn dann ist die Welt nicht mehr zu retten. Die Mädchen sind die einzigen, die den Anfang zu dieser Rettung machen und ihren Weg lehren können. Denn diese Rettung liegt in ihrer Sanftheit...
Um das unmittelbar zu verstehen, braucht man sich nur zweierlei vorzustellen: einen sanften Jungen und ein brutales Mädchen. Welcher Widerspruch ist wohl größer? Der sanfte Junge ist überhaupt kein Widerspruch. Er ist ein mögliches Bild des wahrhaft Menschlichen. Das brutale Mädchen dagegen ist nicht nur ein Widerspruch zu allem Menschlichen, sondern sogar schon ein Widerspruch in sich selbst. Das bedeutet nicht, dass Mädchen nie brutal wären oder dass es keine brutalen Mädchen gibt, aber es bedeutet, dass diese Mädchen bis zum Kern ihr wahres Wesen verleugnen – und verraten.
Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Sanftheit immer menschlich ist – aber bei den Mädchen ist es sogar ihr Wesen. Bei einem Jungen, der nicht sanft ist, fehlt etwas vom Menschlichen – bei einem Mädchen fehlt dessen Wesen. Ein vielleicht sehr unpassendes Beispiel, das aber dennoch etwas deutlich machen mag: Wenn in einem deutschen Haushalt der Hund fehlt, ist dies vielleicht seltsam, aber es erschüttert nicht unbedingt. Wenn aber in einer Sommerblumenwiese die Schmetterlinge und die Vögel fehlen[18] – dann ist etwas vernichtet, dann hat bereits eine Tragik begonnen, die nur die nicht erkennen, die nicht mehr in Wesenskategorien empfinden können.
Sich daran zu gewöhnen – an eintönige, leblose Sommerwiesen –, ist eigentlich etwas sehr Männliches, denn der Mann hat sein Wesen viel früher verraten als die Frau. Der Mann gewöhnt sich an alles – und betreibt es ja sogar: an Krieg, an Ausbeutung, an Erniedrigung anderer, an Konkurrenz, an Härte, an Mitleidlosigkeit, an die Abstumpfung der ganzen Seele. Das ist der Mann – seiner traurigen Perversion nach. Das Gegenteil ist das Mädchen. Das Mädchen gewöhnt sich zuletzt an alles – und das wahre Wesen des Mädchens gewöhnt sich nie. Das Mädchen gewöhnt sich an nichts. Es leidet immer, egal wie wenige außer ihm noch leiden. Das Mädchen kann sein eigenes Wesen nicht verraten – und würde es auch nie tun. Man könnte auch sagen: Das Mädchen ist das lebendige Gewissen der Menschheit. Oder auch: Es ist das fühlende Herz der Menschheit. Während der Mann Kopf ist – Kopf, der das Herz verleugnen kann –, ist das Mädchen Herz. Die emanzipierte Frau steht irgendwo dazwischen und die emanzipierten Mädchen auch. Das wahre Mädchen aber ist Herz – und verleugnet dieses niemals.
Hier haben wir die heilige Polarität von männlich und weiblich. Der Mann ist mehr Kopf, die Frau ist mehr Herz. Im Extremfall ist der Mann nur noch Kopf – und die Frau bloße Emotion. Wenn aber das Mädchen nur Herz ist, bedeutet dies etwas völlig anderes. Denn das Herz ist wie eine Sonne, die den ganzen Regenbogen hervorbringen kann. Das Herz ist weit mehr als Emotion – es ist die Quelle von Intuition, von Weisheit, von Liebe. Blaise Pascal schrieb in seinen posthum erschienenen ,Pensées’ (1670): Das Herz hat seine eigenen Gründe, die der Verstand nicht kennt. [19]
Natürlich kann das Mädchen auch denken, aber sein Denken wird von seinem Herzen geführt – während der Mann denkt und vielleicht, wenn es hochkommt, sein Herz ein bisschen mitsprechen lässt, oder auch nachher. Vielleicht schwankt er aber auch nur zwischen Denken und Lust, und die Mitte, das Herz, bleibt völlig außen vor. Beim Mädchen aber bleibt das Herz immer das Zentrale. Es denkt nie ohne Herz, und ,Lust’ hat es, wie wir bereits sahen, überhaupt nicht – es ist einfach keine Kategorie seines Wesens.
Das männliche Wesen denkt also vorrangig – und das weibliche Wesen fühlt vorrangig. In unserer rationalen Kultur hat das Männliche die völlige Herrschaft übernommen – und hat sich diese auch seit Jahrtausenden erobert.
Mit einer gewissen Richtigkeit gilt auch, dass die Emotionen der Vernunft folgen müssen. Aber: Der bloße Verstand darf sich nicht zur ,Vernunft’ hochstilisieren – und er darf das Herz nicht zu bloßen ,Emotionen’ abwerten. Längst ist der männliche Intellekt zum Unverstand geworden, er versteht nur noch sein hochmütiges Kreisen in sich selbst, das letztlich lauter Vernichtung hervorbringt. [20]
Es gibt zwei Wege, die der Menschheit im Positiven nun nur noch offenstehen und die rettend wären. Der eine Weg ist der des ,reinen Denkens’, genauer einer Spiritualisierung des Denkens – wie ihn Rudolf Steiner beschrieb und der zu einer wirklichen, realen Geist-Erkenntnis führen würde, mit einer Neubegründung von allem: der Pädagogik, der Medizin, der Landwirtschaft, dem sozialen Miteinander, einem freien Geistesleben, einem wahrhaft gleichen Rechtsleben und einem brüderlichen Wirtschaftsleben. Und der andere Weg ist der Weg des Mädchens.
Keiner der beiden Wege schließt den anderen aus, sie ergänzen sich vielmehr. Ich beschreibe in diesen Büchern den Weg des Mädchens, indem ich das Wesen des Mädchens erlebbar mache.
So, wie der Weg des reinen Denkens auf einer heiligen Erkraftung des Denkens beruht, das sich aufgrunddessen von seiner Abhängigkeit vom phychischen Gehirn losreißt, um sich über-sinnlich ins wahrhaft und rein Menschliche zu erheben, so beruht der Weg des Mädchens auf einer tiefen, wahrhaftigen und radikalen Wiederbesinnung auf das Herz, auf ein real-existenzielles Wiederfinden dieser Sphäre, die ebenfalls über-sinnlich ist. Auch der Weg des reinen Denkens ist ohne das Herz gar nicht zu gehen. [21] Dennoch ist sein Ziel zunächst übersinnliche Erkenntnis. Der Weg des Mädchens dagegen ist unmittelbare Liebe und Verantwortung gegenüber der Welt – sowohl der sinnlichen als auch der übersinnlichen.
Beide Wege gehen ineinander über, denn Erkenntnis ohne Liebe wäre nutzlos, und Liebe ohne Erkenntnis wäre hilflos. So, wie der Weg des Denkens durch moralische Vertiefung ein Weg der Liebe werden muss, so muss der Weg des Mädchens, sobald und wann immer die Frage nach dem über die Liebe selbst hinaus Rettenden auftaucht, in den Weg der Geist-Erkenntnis übergehen und sich von diesem befruchten lassen.
Gegenseitige Befruchtung – das Zauberwort. Nicht jeder Geistesforscher muss die Liebe besitzen, seine Erkenntnisse auch wirklich in die Welt hineinzutragen. Und nicht jedes Mädchen muss selbst die Erkenntnisse erringen können, wie etwas getan werden muss, um wirklich im Einklang mit dem großen Ganzen zu sein. Zugleich aber hat das Herz auch seine eigene Vernunft und tiefe Weisheit – und das Mädchenherz erkennt Wahrheit, wo auch immer sie sich offenbart.
Gerade das Mädchen folgt willig allem, was Andere erkannt haben, und unterscheidet gar nicht zwischen ,mein’ und ,dein’, sondern ihm liegt nur am Tun des Guten. Und davon besitzt nun wiederum das Mädchen so viel, nämlich ein Herz groß wie die Welt – und man kann nur hoffen, dass die Anderen von ihm so viel zu lernen bereit sind, wie es von Anderen jederzeit gerne annimmt. Das Mädchen will überhaupt keine Lehrerin sein, denn jeder Hochmut und schon jedes Wissen um die eigene Bedeutung ist ihm fremd, liegt doch gerade darin die erschütternde Selbstlosigkeit des Mädchens. Aber das Mädchen ist eine Lehrerin – gerade dadurch. Es ist die sanfteste Lehrerin von Hingabe und Liebe, durch sein ganzes Wesen.
Und nun muss noch eines hinzugefügt werden – weil die Einwände der ,Rollenbilder’ ja doch bleiben werden.
Ist nicht trotzdem die Frau diese ganze lange Zeit unterdrückt worden? Waren nicht einst Frauen Königinnen, Priesterinnen, Amazonen? Waren sie nicht all dies – mächtig, weise, kämpferisch? Ist der Rückschritt zum sanften Mädchen, um nicht zu sagen ,sanften Püppchen’, nicht noch immer katastrophal?
Wer so denkt, hat noch immer nichts begriffen – und wird es auch schwer haben. Sicherlich will er (sie) es ja auch gar nicht begreifen – und dann ist es auch gut. Es geht hier nicht um normative Vorgaben, sondern um die Frage, was die Welt retten wird – und auch um die Frage, worin der Sinn der Entwicklung lag, die sich ereignet hat. Ich glaube kaum, dass ein emanzipierter ,Männerhass’ die Welt besser machen wird. Auch die Eroberung von ,Männerdomänen’ mit letztlich männlichen Mitteln wird die Welt nicht retten, da es den meisten Frauen auf diese Weise nur um ein ,Stück vom Kuchen’ geht – sie sind dann genauso blind wie die Männer. Die wichtigste Erkenntnis wäre, dass die Welt überhaupt gerettet werden muss – und dass dies über die unterdrückten Frauen weit hinausgeht. Diese Erkenntnis kann man nur fühlen. Manche Männer fühlen das, viele Frauen sicher auch, aber am aufrichtigsten fühlen dies die Mädchen. Die Welt ist wirklich bedroht, zutiefst.
Die Männer sind für die weibliche Hälfte der Welt und für die übrige Welt selbst ein ungeheures Problem geworden. Die bloße Emanzipation wäre nur ein egoistischer Akt, denn damit hätten sich die Frauen befreit, die übrige Welt wäre aber noch immer der Zerstörung anheimgegeben – und die emanzipierten Frauen würden ähnlich wie die Männer abstumpfen und dies nicht einmal zur Kenntnis nehmen, geschweige denn, davon berührt sein. Allenfalls noch intellektuell, wie die Linke, die sich allzuoft für das Gute einsetzt, aber nur vom Kopf her, nicht mehr auf der Basis wirklicher Empfindungen.[22]
Wirklich retten kann nur das Herz. Wer aber hat dieses Herz wirklich, wer hütet dessen Kräfte? Das Mädchen.
Aber wäre, wenn die Amazonen und Priesterinnen ihre Macht nicht verloren hätten, das alles denn nicht gar nicht geschehen? Das ist richtig. Aber dann hätte sich auch das moderne Bewusstsein nicht entwickelt – denn das menschliche Bewusstsein in den mutterrechtlichen Ur-Kulturen ist dem unsrigen eben nicht vergleichbar. Dumpf im Vergleich zu diesem heutigen Bewusstsein war der Mensch unter Führung der Frauen mit den Naturkräften und den göttlichen Wesen verbunden, war mit ihnen im Einklang und hat sich nach ihnen gerichtet. Fruchtbarkeit und Sexualität waren geheiligt – und nach den Lebenskräften wurde alles gestaltet. Und das war es.
Es fehlte auch etwas. Und das entwickelte sich nun, als die männliche Herrschaft begann. Es begann das Heraufdämmern des klaren Bewusstseins – beginnend mit der griechischen Philosophie, aufblühend in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in dem leuchtenden Versuch, das Christusereignis zu erfassen, noch einmal in der mittelalterlichen Scholastik, im Ringen um das übersinnliche Wesen des Menschen, [23] dann sich entfaltend in die Naturwissenschaft – und hier schließlich auch ersterbend.
Die menschliche Intelligenz ist eigentlich zu Allerhöchstem bestimmt – nämlich zu der heiligen Erkenntnis aller Geheimnisse des Kosmos. Von ihrem Wesen her ist sie die dem Menschen überantwortete kosmische Intelligenz und Weisheit. In der bisherigen Geistesgeschichte hat der Mensch sie zunächst ganz auf das Irdische gewendet und selbst irdisch gemacht. Damit aber ist ein geistiger Sündenfall eingetreten, nicht der Endpunkt der Entwicklung erreicht – es sei denn, der Mensch kann diese Tendenz nicht mehr umkehren, was auf dem Weg des Denkens und dem Weg des Mädchens aber geschieht. Auf diesen beiden Wegen wird die kosmische Intelligenz gerettet – und damit die Welt überhaupt.
Die Priesterinnen und Amazonen mussten das Szepter an den Mann übergeben bzw. verlieren, weil die Intelligenz irdisch-menschlich werden sollte. Und weil der Mann derjenige war, der dies tun konnte – bis in den Tod hinein. Die Intelligenz starb genauso wie Christus, der selbst das Logos-Wesen, also die Quelle der kosmischen Intelligenz ist. Jetzt ist es an der Zeit, diese Intelligenz mit Auferstehungskraft zu durchdringen. Das ist die Aufgabe der beiden Wege, die die Welt retten werden.
Die Amazone musste sterben, damit ... das Mädchen geboren werden konnte. Und das Mädchen musste geboren werden, damit es ... den Mann retten kann. Der Mann konnte und kann durch keine Amazone gerettet werden, denn dies gäbe nur einen nie endenden Kampf der Geschlechter. Warum aber kann der Mann durch das Mädchen gerettet werden? Weil er sich ihm, dem Mädchen, einst freiwillig beugen wird – in tiefster Liebe... Das Mädchen wird der Mann lieben, weil er gar nicht anders können wird.
Was ist das Mädchen? Es ist die höchste Evolutionsstufe der Sanftheit und Hingabe. Das Mädchen ist gleichsam Herz und Engel in menschlicher Gestalt. Es steht viel höher als die Amazone. Es ist kein Püppchen, es ist – und das muss man wirklich ernstnehmen – ein Engel. Es nimmt das allerhöchste Menschentum in seinem reinen, aufrichtigen Herzen gleichsam vorweg. Es offenbart etwas, wozu die übrigen Menschen erst in entfernterer Zukunft innerlich überhaupt fähig sein werden. Es offenbart Herzenskräfte, die überhaupt erst wieder langsam wachsen werden – aber auch wachsen müssen.
Denn nachdem der Bruder Verstand sich so großartig entwickelt hat, aber auch auf einen falschen Weg geraten ist, muss ihn seine Schwester, das Herz, erlösen – und nur sie kann es. Das Mädchen ist keine beliebige Frage, es ist eine notwendige Erscheinung. Die Welt braucht das Mädchen. Und am meisten braucht es der Mann, der die Welt so sehr gestaltet und dominiert hat. Das Mädchen und was in seinem Wesen liegt, ist die Erlösung des Mannes und der Welt.
Siehe – das Mädchen...
In Wirklichkeit ist das Mädchen Priesterin und Königin und Amazone in einem, nur in völlig verwandelter, ins Heilige gehobener Gestalt. Es ist Priesterin der Hingabe, Königin des Herzens und der Liebe – und Amazone einer leidenschaftlichen, unerschütterlichen, kämpferischen Sanftheit. Bis zuletzt wird es mit dieser Hingabe, dieser Liebe, dieser Sanftheit kämpfen – um die Erde. Um den Mann. Um seine Erlösung von den Dämonen und Gegenmächten.
Das ist das Mädchen. Es ist der Engel dieser Welt, der Seite an Seite mit Christus um die Menschenseele kämpft.
Fußnoten
[1] Dies bezieht sich auf die Bezeichnung der Griechen als ,Danaer’ und das Trojanische Pferd, mit dem sie Troja eroberten, weil sich in dessen Bauch die Krieger befanden. Es war ein vergiftetes Geschenk – man denke auch an den Apfel für Schneewittchen...
[2] Griech. ,dogma’ = Meinung; ,orthos’ = gerade/richtig; ,doxa’ = Glaube; ,on’ = Sein.
[3] Lat. consensus = Übereinstimmung, esse = sein, essentia = Wesen.
[4] Siehe Umberto Ecos weltberühmten Roman ,Der Name der Rose’. Dieser endet mit dem Zitat des mittelalterlichen Benediktinermönches Bernhard von Cluny: ,Stat rosa pristina nomine, nomina nuda tenemus’ (Die Rose von einst steht nur noch als Name, uns bleiben nur nackte Namen). Wikipedia: Der Name der Rose.
[5] Deshalb haben auch nur Menschen eine Biografie, einen einzigartigen Lebensweg. Siehe Rudolf Steiner: ,Wer über das Wesen der Biographie nachdenkt, der wird gewahr, daß in geistiger Beziehung jeder Mensch eine Gattung für sich ist. [...] [...], daß er in ihr etwas hat, was im Tierreiche der Beschreibung einer ganzen Art entspricht.’ Theosophie (1904), GA 9, S. 71.
[6] Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit (1893), GA 4, S. 238f, Kapitel ,Individualität und Gattung’.
[7] Wikipedia: Pippi Langstrumpf. • Die beiden Zitate: Tiina Meri: Pippi Langstrumpf: Schwedische Rebellin und Vorbild der Frauenbewegung. sweden.se, 12.4.2005 (erster Absatz). Anarchie unterm Limonadenbaum. Kölnische Rundschau, 24.9.2009 (zweiter Absatz).
[8] Vorzeichen kommenden Unheils oder Unterganges. Im Buch Daniel verkündet dieser nach einem Traum dem Chaldäer-König Belsazar (552-543 v. Chr.) die Bedeutung dessen, was eine übersinnliche Hand an die Wand des Palastes schrieb: ,So aber lautet die Schrift, die dort geschrieben steht: Mene mene tekel u-parsin. Und sie bedeutet dies: Mene, das ist, Gott hat dein Königtum gezählt und beendet. Tekel, das ist, man hat dich auf der Waage gewogen und zu leicht befunden. Peres, das ist, dein Reich ist zerteilt und den Medern und Persern gegeben.’ (Dan 5,25-28). Belsazar wurde noch in derselben Nacht getötet.
[9],Freiheit und Gesellschaft’, in: GA 31, S. 251-262, hier 255f, zuerst in: Magazin für Literatur 67(29f), 23.7. und 30.7.1898. • Zur Vertiefung siehe das bis heute grundlegende Werk von Dieter Brüll: Der anthroposophische Sozialimpuls. Ein Versuch seiner Erfassung. Schaffhausen 1984.
[10] Man denke nur an die Medien, die sich vom journalistischen Ideal selbstlos-sachlicher Berichterstattung teilweise radikal entfernt haben. Statt journalistischem Ethos haben wir heute ganz vielfach Meinungsjournalismus, der bestimmte Anschauungen in die Köpfe prägen will. Die berüchtigte ,Springer-Presse’ ist dabei nur die Spitze des Eisbergs.
[11] Darwin sprach von einem ,survival of the fittest’, dem Überleben der jeweils am besten an ihre Umwelt angepassten Individuen. Das müssen bei weitem nicht die stärksten sein. Man denke an Pflanzenfresser, an das Chamäleon, das Faultier, die friedlichen Seekühe. Man denke an die miteinander harmonierenden Blumen und Schmetterlinge, an die Bienen und unendlich viele andere Beispiele. • Vergleiche auch Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Entwickelung. Leipzig 1904. (Anderer Titel: ...in der Tier- und Menschenwelt. Original: Mutual Aid. A Factor of Evolution. London/New York 1902).
[12] Vergleiche Jes 11,6: ,Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten.’
[13] Die Anthroposophie kennt dies als einen künftigen ,Krieg aller gegen alle’. Siehe Anthrowiki: Krieg... • Vergleiche Thomas Hobbes in seinem Werk ,De Cive’ (1642), der dies sogar als ursprünglichen Naturzustand sieht. Wikipedia: Bellum omnium contra omnes. • Vergleiche auch meinen Roman ,Engel-Mädchen’ (2017), in dem die Hauptperson Marie diese (mögliche) Zukunft in schrecklichen Träumen immer wieder voraussieht.
[14] Für die Verfilmung (1969) gilt das ,Vorwegnehmende’ dann nicht mehr so sehr, da sie mitten in die 68er-Zeit fällt. • Entsprechend übrigens ist auch Pippi-Darstellerin Inger Nilsson im Mai 2019 sechzig Jahre alt geworden!
[15] Von griechisch hēdonḗ = Freude, Vergnügen, Lust, Genuss, sinnliche Begierde.
[16] In Wirklichkeit hat die Individualisierung ihren Höhepunkt bereits überschritten und ist einem hypertrophen Wachstum selbstbezüglicher Konsum- und Anspruchshaltung gewichen. Das ist nicht mehr Individualisierung, es ist ,Ego-isierung’ und ein Weichen und Abdämmern des Individuellen, das auf ganz anderer Ebene läge. Man vertiefe sich in die Blüte des Deutschen Idealismus (Schiller, Goethe, Fichte, Novalis) und man bekommt eine Empfindung von dem, was wahre Individualität wäre. Dies aber gibt auch erst eine wahre Empfindung davon, was heute als Dekadenz dessen zur Offenbarung kommt – die bloße Sucht nach Individualität, ohne diese auch in irgendeiner Weise zu verwirklichen. Als Surrogat dient dann der grenzenlose Konsum materieller Dinge und sinnloser Sinneseindrücke.
[17] Ja, Mädchen wurden auch zur Sanftheit, zum Guten und zum Liebevollen konditioniert – aber auch dies hätte nie so weitgehend und so lang andauernd geschehen können, wenn die Mädchen in ihrem Wesen nicht auch eine entsprechende Veranlagung – und tiefe, heilige Begabung – in sich trügen. Siehe auch das Folgende. • Bei Jungen wäre dies nie derart möglich gewesen und war es auch nicht, selbst da nicht, wo man es versucht hat.
[18] Vergleiche das Buch von Rachel Carson: Silent Spring (Der stumme Frühling). Boston/Cambridge 1962.
[19],Le coeur a ses raisons que la raison ne connaît point’. Andere Lesarten ,sa raison’ und ,ne connaît pas’. Wortspiel zwischen raisons und raison. Man kann auch sagen, das Herz hat sein eigenes Verstehen, das der Verstand nicht ergründen kann. Auch klingt an ,a raison’ (,hat Recht’). Die höheren Erkenntnisse des Herzens aber kann der Verstand nachträglich mit seiner Logik vielleicht auch nachvollziehen – aber nur bei gutem Willen, doch der gute Wille lebt im Herzen... Vgl. theistic-network.org > Das Buch > Blaise Pascal. • Das Zitat findet sich im Zweiten Teil, Kapitel 17 ,Verschiedene Gedanken über die Religion’, 5. Abschnitt: ,Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt; man fühlt es auf tausenderlei Weise. Es liebt von Natur das höchste Wesen und sich selbst, je nachdem es sich jenen Gründen hingiebt, und es verhärtet sich gegen das eine und das andre, nach seiner Wahl.’ Zeno.org.
[20] Dies deshalb, weil der Verstand, insofern er an das Gehirn gebunden ist, selbst auf Todeskräften beruht. Siehe hierzu die spirituelle Menschenkunde Rudolf Steiners. So ist unter anderem der Nerv die toteste Zelldifferenzierung im Körper – und muss fortwährend von außen mit Leben versorgt werden. Ganz ebenso müsste der Intellekt fortwährend das Leben des Herzens empfangen, nicht nur das physische Blut...
[21] Man denke an die Betonung der Devotion oder Verehrungskräfte ganz am Anfang von Rudolf Steiners ,Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?’ Die ,Philosophie der Freiheit’, die in das reine Denken hineinführen kann, kommt noch ohne diese Kräfte aus, führt aber auch noch nicht in die höheren Welten. Und selbst das reine Denken kann mit ihr nur gefunden werden, wenn man den von ihr gegebenen Weg des Denkens mit Herzblut gehen würde.
[22] Darüber hinwegtäuschen kann nur die Tatsache, dass bereits die richtige, ganzheitliche Einstellung eine harmonische, befriedigende Empfindung ergibt. Was ich hier aber meine, ist, dass das Herz wirklich auch das Leid konkret empfindet, aufrichtig und geradezu hilflos. Die Linken, die mit den ,Lösungen’ immer schnell bei der Hand sind, leben meist nicht in diesem Herzen, sondern im Kopf: Analyse, Strategie, Taktik, Lösungen. Das ist, wenn auch ,auf der richtigen Seite’, rein männlich. Das Mädchen mag hilfloser sein als dieser typische Linke, der die Lösungen fertig in der Schublade hat, aber es fühlt noch wirklich. Es ist schwer, diese Dimension erlebbar zu machen – besonders gegenüber jemandem, der überzeugt ist, dass das Mädchen ihm nicht das Geringste und schon gar nicht etwas Wesentliches voraus hat, allenfalls ein paar ,sentimentale Emotionen’. Das ist vom männlichen Intellekt, der diese Welt zerstört, kaum entfernt. Auf dieser Ebene kann der so gemeinte ,typische Linke’ seinem politischen Gegner geradezu die Hand reichen...
[23] Gegen den Arabismus, der die ewige Individualität des Menschen leugnete und ein bloßes Wiedereingehen und Sich-Auflösen in die Gottheit nach dem Tode vertrat. Siehe insbesondere die Auseinandersetzung zwischen Thomas von Aquin und Averroes (Ibn Ruschd). Wikipedia: Averroismus. Anthrowiki: Averroes & Arabismus.