Parthenophilie

Mantegazza (1873)

Paul Mantegazza (1873): Die Physiologie der Liebe, übers. Dr. Karl Kolberg. Leipzig 1927. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

Wir kommen nun in den emotionaleren Süden – nach Italien, wo gegen das Ende des 19. Jahrhunderts hin ein Arzt und Anthropologe, eine schillernde Persönlichkeit, vielleicht zu dem Ur-Pionier der Sexualwissenschaft wurde, die aber hier noch ganz im Zeichen eines seelisch-erotischen Zaubers stand.

Die Mutter von Paolo Mantegazza (1831-1910), Laura Solera Mantegazza, war eine Freundin Garibaldis und eine der ersten Sozialreformerinnen Italiens. Sie gründete die erste Tageskrippe für die arme Bevölkerung und eine Art Berufsschule für Frauen. In Monza bei Mailand geboren, studierte Mantegazza Medizin und praktizierte zunächst einige Jahre in Argentinien und Paraguay. Hier wurde er auch ein Pionier der Drogenforschung. 1860 wurde er nach Pavia berufen, wo er das erste Institut für allgemeine Pathologie in Europa gründete. 1870 wurde er Professor der Anthropologie in Florenz. Er hatte einen regen Briefwechsel mit Darwin und wurde als Atheist immer wieder von der Kirche angefeindet. Zehn Jahre lang war er Deputierter in der Abgeordnetenkammer und ab 1876 Senator, was ihm wegen seiner Werke über die Liebe den Namen ,Il Senatore erotico’ einbrachte.[1] Er erkannte bereits die prägende Wirkung der frühesten kindlichen Erfahrungen.[2]

Im Folgenden wollen wir nur seine ,Physiologie der Liebe’ (1873) kennenlernen. Schon der Übersetzer schreibt:[8]

[...] daß dieses in seiner Art einzig dastehende Werk ein [...] Buch ist, das – wie der Autor selbst mit bestem Wissen und Gewissen behauptet – nicht nur jedem Erwachsenen, sondern auch jedem unschuldigen Mädchen mit Nutzen in die Hand gegeben werden kann.

Zunächst wendet sich Mantegazza der Natur zu und schreibt in der ihm eigenen Begeisterung:[24][3]

Wie viele Schätze von ästhetischen Kräften sind in einer Lilie und einer Rose vereinigt! Und diese ganze Pracht[,] um die Liebe eines Tages, einer Stunde zu feiern! Der ganze Aufwand eines Hochzeitskleides, das tausendmal schöner als jenes ist, das je die menschliche Kunst hat weben können,[4] um den jungfräulichen Kuß eines Staubbeutels und eines Stempels zu verschleiern.

Und:[32]

Der Mensch kann wahrlich den Schmetterling beneiden, der mit seiner poetischen Liebe unsere tierischen Umarmungen beschämt. Zwei Geschöpfe sind sie, nackt und doch bekleidet, glühend und doch keusch, sie lieben nur einmal und ein einziges Wesen, sie küssen sich auf Erden und vereinigen sich im Himmel [...].

So geht es noch viele Seiten, bis er im dritten Kapitel zum Menschen kommt: ,Die Dämmerung der aufgehenden Liebe, die guten und schlechten Quellen der Liebe’. Da heißt es:[42f]

Die Liebesdämmerung bricht, ohne von der vorzeitigen Verderbtheit der Bücher und Mitmenschen eingeladen zu sein, von selbst an, sie entsteht aus eigenem Triebe im Herzen der reinsten Unschuld, sie glänzt wie die ruhigen heiteren Strahlen eines Lichtes, das später glühend und sinnesberückend wird [...]. Die gemeine, große Böswilligkeit wiederholt tagtäglich eine Blasphemie, wenn sie behauptet, daß keinem Kinde die Liebesgeheimnisse fremd sind. Die kindliche Unschuld ist wahrer, aufrichtiger und tiefer als man glaubt, und sie verbleibt auch dann hell und glänzend, wenn der Kot der Verderbnis einige ihrer Spritzer darauf hingeschleudert hat.

Und wie zart kann sich ein Junge das erste Mal noch ganz unbewusst in ein Mädchen verlieben! Denn:[43]

Bei dem kindlichen Treiben [...] bemerkt plötzlich ein Knabe unter hunderten und tausenden irgend ein Mädchen, und gleich verwebt eine augenblickliche Sympathie das Rosenband einer namenlosen Zuneigung, einer unschuldigen unbewußten Liebe [...].

Dieses Mädchen kann auch wesentlich älter sein:[43][5]

Die schönsten Mädchen, die von der gütigen, grausamen Natur bestimmt wurden, bei jedem Lebensschritt Sehnsucht und Seufzer zu erwecken, wissen oft nicht, daß unter der Schar ihrer Anbeter sich auch winzige Knaben befinden, die die aus ihrem Busen gefallenen Blumen im geheimen küssen, die verstohlen [...] in das von ihrem Engel bewohnte Zimmer eilen, um das Bett zu küssen, um auf den Teppich zu knien, wo die Füße jenes Weibes ruhen, das sie über alle übrigen Geschöpfe stellen, ja, die sie mit ihrer eigenen Mutter zu vergleichen wagen.

Die Liebe ist unschuldig und ein seltsames Wunder:

Wenn wir den Knaben fragen, warum er ein Mädchen liebt, so wird er aus Scham davonfliehen, wenn wir dies jedoch dem Mädchen sagen, so wird es ganz rot und uns eine kecke Antwort geben. Beide lieben ... und wissen nicht warum! [44]

Und warum zieht der Knabe jenes Mädchen unter allen anderen vor? Und warum läßt du dich, niedliches Mädchen, nur von den Lippen jenes braunen, schlimmen Buben küssen? [45]

Dabei ist das Mädchen noch viel unschuldiger:[46]

Und wenn ich fast nur vom Weibe gesprochen, so geschah dies, weil es keuscher, zurückhaltender und weit mehr liebesbedürftig ist als wir, weil die Frau das die Erscheinung der neuen Gottheit verkündende Erbeben tiefer empfindet und in ihrer Natur und Schüchternheit dessen Natur nicht kennt und fürchtet.[6] Dem Manne gewährte die Natur Hilfsmittel, die dem Weibe fast unbekannt bleiben, und leider macht ihn das vorzeitige Laster oft eher mit der Sinnlichkeit als mit der Liebe bekannt.

Mantegazza wendet sich dann gegen all jene Schwüre ,ewiger Liebe’, die sich nur allzu schnell als Lüge erweisen können. Selten sei die erste Liebe die wahre – wie auch das erste Werk eines Dichters selten schon der wahre Ausdruck seines Geistes sei. Aber die unschuldige Liebe genüge doch völlig sich selbst, ohne dass es einen Schwur brauche![49][7]

Er kommt nun auf die ,einzige, wahre Liebesquelle’ zu sprechen, zugleich ,das schönste Wort der menschlichen Sprache’ – die Sympathie:[51]

Die schnellsten und glühendsten Sympathien entstehen aus der Bewunderung der Gestalt, das heißt aus der Empfindung des Schönen, die sich mit dem begehrten und zu liebenden Gegenstand zufrieden gibt. [...]
Auch die Frau wird plötzlich von der Schönheit männlicher Formen gerührt, und kann einen Mann nur deshalb lieben, weil er schön ist, aber bei ihr erweitert sich das Feld der Sympathie bis zu höheren Sphären, und Charakter und Geist verführen sie öfters als uns.

Der Mann kann aber ebenfalls von der ,echt weiblichen Gestalt eines Charakters oder eines Geistes’ angezogen werden, wo er:[52]

[...] die innigen weiblichen Tugenden liebt, und zwar: entweder die Anmut der Zärtlichkeit, das leibliche Verständnis des Herzens, die unüberwindliche Klugheit der Zuneigung oder die kokette Art eines frischen, bescheidenen Geistes.

Dazu gehört auch die weibliche Scheu und anmutige Zurückhaltung:[53]

Der Mann hat schon hundertmal mit den Blitzen seiner Augen der Frau gesagt: „Ich bete dich an“, während die erbebende Frau kaum zu lispeln wagt: Vielleicht werde ich dich lieben.“

Da die Anziehung zwischen Mann und Frau immer auch erotisch ist, sind wirklich bloße Freunschaften sehr selten.[55][8]
Der Mann ist das aktive Geschlecht, die Frau das passive, eher abwehrende. Dennoch kann sie auch aus Mitleid nachgeben.[9] Ein Mann, dem die gleichsam erbettelte Liebe jedoch nur auf diese Weise gewährt wird, ist ,wie eine milde, verkappte Form eines Eunuchen’.[57]

Im Gegensatz zur Sympathie ist die Wollust die Quelle gemeinster, niedrigster Liebe:[59]

Die nackte, von den prachtvollen Kleidern der Phantasie und des Herzens beraubte, vom saftigen Fleische, das ihr der Schönheitssinn verleiht, entblößte Liebe beschränkt sich auf ein Gerippe, das Sinneslust heißt und von vielen als Liebe betrachtet wird. Armseliges, mitleiderregendes Ding, eine Reihenfolge gemeiner Geschlechtsbefriedigung!

Welch wahres Wort – erst recht in unserer Zeit, in der die Sinneslust nur immer weiter gesteigert wird und oft selbst die Fantasie nur dazu dient, der Wollust neue Steigerungen zu bringen, statt den Anderen zu idealisieren und zu verehren! So wird sogar die Fantasie vergewaltigt...

Und doch ist die Liebe eine solche Zauberin, daß sie mitunter die Wundertat vollbrachte, aus der Wollust zu entstehen oder in der Wiege des Freudenhauses geboren zu werden.[59]

Was jedoch im Zeitalter der Pornografie, das das Seelische sowohl verachtet als auch gar nicht mehr besitzt, vollkommen unmöglich wird.

Im vierten Kapitel behandelt Mantegazza ,Die ersten Waffen der Liebe. Die Verführung’.[10] Hier beschreibt er die verschiedenen ,Rollen’ beider Geschlechter im Spiel der sexuellen Annäherung. Aufgabe des Mannes sei es:[64]

[...] die Bollwerke, Barrikaden, [...] den ganzen Befestigungsapparat umzustürzen, den die Frau zu ihrer Verteidigung, oder besser gesagt, zum Zweck einer langsamen, keuschen Eroberung ihm entgegensetzt. Der Frau hat hingegen die Natur eine schwierigere, grausamere Rolle zugeteilt. Sie muß ihre Wünsche verleugnen und gegen die sie erfüllende Wollust[11] kämpfen; sie muß den zurückstoßen, den sie liebt, dort Opfer verlangen, wo sie nur Küsse haben möchte, sie muß geizig sein, während alles sie zu Großmut drängt [...].

Wunderbarer hat es wohl nie jemand in Worte fassen können! Natürlich wird man heute sagen, die ,Kultur’ habe diese Rollen ,zugeteilt’. Dennoch wird jede sexuelle Annäherung armselig, die lieber heute als morgen beidseitig den ,Sex’ anpeilt. Auch die Frau verschenkt damit das einzigartige Erlebnis, begehrt und ,erobert’ zu werden. Natürlich kann man sich auch mit wirklicher Liebe heute sehr schnell auf sexuelle Zärtlichkeiten und Handlungen einigen – und doch muss ja selbst die Liebe erst einmal wachsen. Und meist will der Mann tatsächlich viel schneller etwas von dem schönen weiblichen Wesen, als dieses sicher sein kann, wirklich auch geliebt zu werden. Die ,Rollen’ sind also keineswegs so künstlich, wie man heute meint. Es sei denn, auch die Frau will nichts weiter als bloßen Sex, das gibt es auch...

[...] allein, die Frau sucht nicht bloß einen Befruchter, sondern will in ihrem Genossen den Verteidiger der nachkommenden Kinder, den Beschützer ihrer Schwäche haben, sie will über die Tiefe der Leidenschaft ihres angeblichen Geliebten versichert sein, sie will die Abgründe des Herzens und der Seele genau sondieren. Der Mann wird das Nest bauen müssen, ist er aber ein Baumeister? [65]

Mantegazzas Formulierungen sind immer wieder ein tiefer Genuss – weil sie so sehr in die Seele der Sache treffen. Man kann all dies heute ablehnen – aber nur, weil man die Tiefe der Begegnung der Geschlechter nicht mehr kennt, oder auch ohnehin abgeschrieben hat, sich an irgendjemanden auf länger binden zu wollen. Diese traurige Seelentragik kann man jedoch wohl kaum höher stellen wollen als die innigen Gesetze keimender Liebe, die Mantegazza hier beschreibt.[12]

Für die anderen ein Löwe, für mich ein Lamm, so will die Frau den Mann haben [...]. Und wenn die Anmut die Kraft besiegt, so fühlt sich die Tochter Evas vollkommen; und wenn der Mann die rauhe Hülle seiner [...] Natur von den weichen Falten eines Frauenkörpers liebkosen fühlt, so wird er ebenfalls doppelt gekräftigt. [...]
Welche sind nun die Elemente, die eine verführerische Frau über alle anderen erheben? Schönheit, Anmut und Gefühl. Und welche sind die Tugenden, die den Zauber eines Mannes über den aller übrigen erheben? Kraft, Mut und Verstand.[70]

Sein nächstes Kapitel ist der Keuschheit gewidmet. Mantegazza gesteht, dass er früher gedacht habe, sie entstehe als selbstständiges Gefühl – später aber zu der Überzeugung gelangt ist, dass sie ,erst gelehrt und dann erlernt wird’.[72] Dies ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn alles, was den Menschen über die bloße Tierstufe hinaushebt, wird erst im menschlichen Miteinander, also sozial und kulturell erworben. Dennoch schreibt er auch sehr grundsätzlich:[75]

Die Keuschheit ist [...] eine dem eigenen Körper bezeugte Ehrerbietung und eine der erhabensten psychischen Erscheinungen.

Warum? Weil man sich einfach ,wegwirft’ oder der bloßen Lust folgt, wenn man sich so schnell wie möglich ,anbietet’ – oder gar dem Erstbesten. Es ist also eine Heiligung des Leibes und des heiligen Prozesses der Liebe überhaupt. Und die Führerin ist hier die Frau:[75]

Die Frau ist die Vestalin[13] der Keuschheit und die Meisterin ihrer gewähltesten Formen, und wenn sie jungfräulich und kristallrein ist, dann besitzt sie den ganzen unversehrten Schatz der zartesten Keuschheit.

Mag auch die Keuschheit zuerst gelehrt worden sein – sie geht in das ganze Wesen eines Mädchens über:[76]

Selbst mitten im galantesten, zügellosesten Leben, sogar im Miste der Prostitution, sehen wir mit Erstaunen manchen Edelstein funkeln, den das Feuer der Sinnlichkeit nicht verbrennen und der Kot der verliebten Lust nicht verdunkeln konnte. [...] Bis [= solange wie, H.N.] dem Weibe eine Scholle heiliger Erde verbleibt, in der eine einzige, wenn auch kümmerliche Keuschheitsblume wächst, ist die Tugend nicht ganz abgestorben und die Auferstehung noch immer möglich. Beuget euch vor dieser Blume, ihr spöttischen Verneiner jeder weiblichen Tugend [...], reißt nicht jene armselige, letzte Blume aus dem Garten, den ihr gröblichst durchwühlt und mißhandelt habt!

Das Menschliche muss gelehrt werden, damit das sich inkarnierende geistige Wesen sich erinnert. Hat es dies aber einmal getan, ist unter anderem seine Würde unantastbar – und kann ihm dem Wesen nach nie wieder genommen werden. So ist es auch mit der Unschuld... Auch die Keuschheit ist eine heilige Vestalin und Zauberin, sie ist ein inneres Phänomen:[76][14]

Des Leinens und Kleides nicht bedürftig, vermag diese holde Zauberin den nackten Leib mit einem solchen Mantel umzuhüllen, daß er der Sinnlichkeit undurchsichtig und undurchdringlich wird, als Hüterin und Priesterin der Liebe folgt sie ihr auf Schritt und Tritt, und indem sie ihren Blick nach oben richtet, erhebt und heiligt sie die Liebe.

Dennoch geschieht die Verschmelzung dieser Unschuld mit dem Wesen der Seele nicht von selbst:[77]

Wir müssen unseren Knaben, aber besonders unseren Mädchen, die Keuschheit rechtzeitig lehren und sie verfeinern und ihnen dieselbe anerziehen, so daß sie ein aufrichtiges, zartes Gefühl werde und nicht zu einer konventionellen Heuchelei herabsinke.

Dann nämlich wird es wirklich nur noch ,Rolle’!

Mantegazzas sechstes Kapitel gilt der Jungfrau. Und großartig ist nun der dritte Absatz, den wir hier im Ganzen zitieren wollen:[78f]

Indem die Natur die menschliche Jungfrau geschaffen, hat sie uns eines der dunkelsten, schwierigsten Rätsel aufgegeben. Es genügte nicht, daß sechzehn lange Jahre notwendig waren, aus einem Kinde ein Weib zu machen, es war nicht genug, daß alle moralischen Bollwerke, die uns vom Tempel der Liebe entfernt halten, nur durch lange, blutige Kämpfe fallen sollten, es reichten die Strategie und Taktik der Verteidigung und die undurchdringlichen Schleier der Keuschheit noch nicht hin, um die ungedulige Begierde bis zur Raserei zu treiben. Alles dies schien der geizigen, grausamen Natur noch zu wenig zu sein. Und wenn eurem Ja ein anderes Ja antwortet, wenn Basteien und Bollwerke gefallen, wenn die fortgesetzte Koketterie des Widerstandes ermüdet und die errötende Keuschheit in eine Ecke sich zurückzieht, um die Wonne einer ersehnten Niederlage durchzukosten, dann verwehrt uns – gerade am Eingang des heiligen Tempels – ein fürchterlicher Engel mit flammendem Schwerte den Eintritt und sagt: „Hier befindet sich eine Jungfrau.“ Die Rose ist den Lippen nahe, zwar geschlossen, aber schön und duftend wie die Morgenröte des Lenzes und in der keuschen Hülle ihrer hundert Blättchen eingezogen, aber um darauf einen Kuß zu drücken, müssen die Lippen bluten, denn die Jungfrau ist der Dornstrauch einer Rose. Unergründliches Geheimnis!

Was er hier ausdrückt, ist nichts anderes als das von ihm tief empfundene Heilige der Jungfräulichkeit eines ... Mädchens! Dabei spürt er tief die Einheit von körperlicher und seelischer Jungfräulichkeit:[86f]

Sie kennt keine Unzüchtigkeit und weiß nicht die Kunst, das Laster unter dem glänzenden Firnis der Tugend zu verbergen, sie errötet ebenso vor einem unkeuschen Wort wie vor einer zu kühnen Gebärde und einem unverschämten Händedruck. [...] Sie ist weiß wie Alpenschnee, den kein Marderfuß oder Insektenflügel je berührt, sie ist so rein wie eine Quelle, die vom Felsen hervorquillt [...]. Sie ist jungfräulich, weil sie keusch, und keusch, weil sie jungfräulich ist, und ist jungfräulich und keusch, weil sie ein Weib ist.

Darum kann dieses Wunder auch ein ewiges sein – weil es sein Wesen innerlich hat:[87]

[...] saget ihnen, daß sie beim ersten Kusse sämtliche Schätze und nicht einen einzigen Edelstein unversehrt halten müssen, und daß die Zukunft ihrer Liebe in der Erhaltung der hundert Jungfräulichkeiten besteht, die in der gewöhnlichen Jungfrau eingeschlossen sind. [...] Wir müssen die physische Jungfrau in eine hohe Region von Reinheit und Größe erheben, so daß sie uns wie ein heiliger Engel vorkomme [...].

Dies ist nichts anderes als tiefer Idealismus und reinste Verehrung des eigentlichen Wesens des Mädchens.

Im siebten Kapitel wendet Mantegazza sich der Eroberung und der Wollust der Liebe zu und schreibt:[89ff]

Ohne Wollust gibt es keine Liebe, allein die bloße Wollust ist keine Liebe [...][15] [...]
Die Wollust ohne Liebe sinkt auch in ihren reinsten und einfachsten Arten zur Lüsternheit herab [...]. Mit der Liebe vereinigt, ist auch die Wollust eine Tugend, und die gelehrte Kasuistik der Theologen ist weit unkeuscher als der feurigste Kuß, den sich je zwei in der Kunst der Liebkosungen erzogene Geliebte gegeben haben. [...]
[...] Die Wollust ist ein Licht, das alle Gegenstände vergoldet und um dieselben eine himmlische Strahlenkrone webt. Nicht allein die Liebesumarmung, sondern jede Berührung rauschender Kleider und flatternder Haare, jedes Reiben der Haut, jedes Zittern der Sehnen, jede Innigkeit des Fleisches ist Wollust. [...]
Es gibt keinen größeren Feind der Wollust als die Lüsternheit, und keine treuere Schwester als die Keuschheit. [...]
Ihr Liebende, die ihr euch liebt und besitzet [...], vergesset [...] nicht, daß die Wollust nicht das Brot, sondern der Wein der Liebe sein muß, und daß, wenn ihr ewig durstige Lippen haben wollt, ihr eine keusche, reine Wollust haben müsset; ihr sollet in der Welle schwimmen, aber nicht ertränken, zittern, aber in keinen Krampf geraten [...].

Was Mantegazza hier beschreibt, ist nichts anderes als die Polarität von grober Lust und Zärtlichkeit, von grober und zärtlicher Erotik. Genau darin liegt der Gegensatz zwischen auch erotischer Zärtlichkeit und ... Pornografie, bloßer Sinneslust. Die Frage ist, ob alles von einer innersten Unschuld durchdrungen ist – oder nicht. Selbst die feurige Liebe zwischen Romeo und Julia ist absolut unschuldig, weil sie zugleich so zutiefst seelisch ist. Sie ist nicht lüstern, sondern innig. Das ist der heilige Eros...

Im nächsten Kapitel geht es darum, ,Wie die Liebe erhalten werden und wie dieselbe aufhören soll’. Hier weist er darauf hin, dass die männliche Begierde nach einer Frau ,nach jeder Befriedigung abstirbt’,[94] dass aber, wenn es tatsächlich nur um die ,Lust nach der Gestalt’ geht, die Liebe ,bis zu einer Frage der Hygiene’ herabsinkt – nämlich zu bloßen physiologischen Erregungs- und Befriedigungszuständen.[97]

Aber es gibt noch andere Begehren, die nicht nur an das Sinnliche geknüpft sind – also idealische. Es ist das innere Bild, das man von dem weiblichen Wesen und dem Wesen des Weiblichen hat. Jenes ,edle, zarte Geschöpf’, das:[100]

[...] mit uns denkt und fühlt, und weiblich denken und fühlen und in uns den Anblick der Dinge vervollständigen soll, von denen wir nur die Hälfte sehen, und was im Kampf ums Dasein jenes kostbare Element bringt, das nur die Tochter Evas gewähren kann.

Die Geschlechter als ewige heilige Ergänzung füreinander! Und dieses Weibliche beinhaltet eben auch, das es die wahre Priesterin für das Hüten der Liebe ist:[101]

Die Erhaltung der Liebe ist eines der heiligsten Rechte oder eine Pflicht, die der Frau zukommt, wenn auch wir Männer daran tätigen Anteil zu nehmen ungestraft nicht verzichten können.

Dazu gehört eben gerade das Geheimnis der weiblichen Zurückhaltung und Abwehr – und Mantegazza ruft seine Leserinnen geradezu dazu auf, und wenn sie dem Buch nur dieses eine entnähmen, so würde er sich:[101]

[...] glücklich schätzen, für das Glück der teuersten Menschenhälfte nicht umsonst geschrieben zu haben. Mit dem Rechte, das lange Erfahrung und ein tiefes, unermüdliches Studieren des menschlichen Herzens verleihen, bitte und beschwöre ich sie, mit ihren niedlichen Händen und rosigen Lippen die Lippen des Mannes zu verschließen, der ungestüm nach Liebe verlangt. [...] Jedes Opfer wird hundertfach ihnen wiedervergolten werden.

Denn auf diese Weise werden die Frauen zu den Erzieherinnen der männlichen Seele, die immer vor der Gefahr steht, rein körperlich zu begehren – und irgendwann satt zu werden! Vor dieser Gefahr stehen heute allerdings beide Geschlechter, die sich in der sexuellen Begegnung ,keinen Zwang antun’. Da, wo man sich nichts versagt, da versagt irgendwann die Liebe selbst ihre heilige Begleitung – und die Seelen stehen vor den Scherben ihres rein körperlichen Begehrens...

Ebenso wichtig wie körperliche Keuschheit ist auch die seelische:[102]

[...] so sind Keuschheit der Gefühle und Gedanken und eine gewisse Zurückhaltung im Umgang für die Erhaltung der höheren Liebe ebenso unentbehrlich.

Beide sollen einander nie einfach nackt sehen, sondern:[102]

Schleier und Nebel, Blätter und Blumen sollen in die Sinne, Gefühle und Gedanken des Mannes und des Weibes einen Schatten werfen. Das Unendliche ist das Einzige, was der Mensch zu lieben, betrachten und studieren deshalb nicht aufhört, weil es unwägbar und unmeßbar ist. Ebenso verhält es sich mit der Liebe; das Schöne, Wahre und Gute des geliebten Wesens müssen uns unendlich erscheinen, da wir sie weder ganz sehen, noch abwägen oder messen dürfen.

Wer irgendwann ,alles’ gesehen hat, ist an einem Gipfel angekommen, von dem aus es nur noch einen ,Abstieg’ geben kann – in die Niederungen der Gewohnheit. Was Mantegazza dagegen formuliert, ist reinster Idealismus im Geiste von Novalis![16]
Und schöner noch als die bloße Schönheit ist für Mantegazza die Anmut.[102] Warum wohl? Weil Anmut wiederum die innere Schönheit, die Schönheit innerer Unschuld ist.

Im neunten Kapitel über ,Die Tiefen und Höhen der Liebe’ singt er ein weiteres Hohelied auf das Weibliche:[109]

Die Frau vertieft und erhebt sich mehr als wir in die Regionen der Liebe; ihr verweigert die Gesellschaft fast immer das Feld der Tätigkeit, und es bleibt ihr eine unendliche Zeit, um die Tiefen des Herzens zu ergründen. Wie oft hat ein unschuldiges, des Schreibens vielleicht kaum kundiges Mädchen einen Kuß lange hindurch[17] geküßt, der nur eine Sekunde gedauert hatte. Wie oft hat es während der ganzen Nacht einen kalten Gruß oder ein unhöfliches Wort bitter nachgekostet!

Das Mädchen hat eine unendliche Seelentiefe – eine unfassbare Empfindungsfähigkeit des Herzens. Mantegazza trifft in so vielem den innersten Kern auch all der hier vorliegenden Bände.

Ein sehr wesentlicher Gedanke ist auch, dass diese Seelentiefe wohl nur dem Entzug des äußeren Lebens zu danken ist – denn wie soll sich die Seele vertiefen, die mitten in einer Welt ... des Hässlichen und der Konkurrenz, des Sich-bewähren-Müssens, des Betrugs, der Oberflächlichkeit, des falschen Scheins und so viel anderer Realitäten stünde? Diese Welt wurde den Mädchen jahrhundertelang verweigert, und so waren sie zugleich ... geschützt. Vielleicht hätte es nie das Wunder der Mädchen gegeben, wenn das Mädchen aus Sicht der heutigen Emanzipation nicht jahrhundertelang ,unterdrückt’ worden wäre, sondern sich die Emanzipation gleich ,mit Adam und Eva’ ereignet hätte.

Vielleicht war die ,Unterdrückung’ also nicht nur eine Verhinderung äußerer Bewährung und Gleichberechtigung, sondern auch die einzige Möglichkeit zur Herausbildung einer einzigartigen Seelentiefe – zur Ausbildung der Seele des Mädchens. Denn eines ist offensichtlich: Dieses Wesen verschwindet wieder... Die Emanzipation lässt ihm keine Chance. Freche Mädchen sind keine Mädchen mehr – oder man bezeichnet als ,Mädchen’ auch junge weibliche Wesen ohne jede seelische Tiefe und Unschuld, dafür aber mit um so mehr Selbstbewusstsein und Egoismus! Das kann der Mann besser...[18]

Mantegazza konnte noch über die Frau schreiben:[109]

Sie ist eine Priesterin des Idealen, des Unendlichen und des Unermeßlichen, und sie wird auch noch viele Jahrhunderte religiös bleiben, nachdem der Mensch [also der ihn so unglüclich repräsentierende Mann, H.N.] seine letzte Gottheit wird begraben haben.

Und jetzt kommt auch er zu der Frau als helfende Erlöserin des Mannes:[110]

Ihre äußerst empfindsame, der Entzückung zugängliche, der poetischen Wärme neigende Natur treiben sie mit unwiderstehlichem Drang immer höher [in das Idealische, H.N.], und dorthin hätte sie uns auch entführt, hätten wir nicht aus ihr eine süße Konkubine oder eine gute Wirtin [Hausfrau, H.N.] gemacht. Die Frau fühlt das Ideale, strebt nach jeder Höhe, aber sie hat nicht den Mut und die Kraft zu steigen, wenn sie nicht von den starken Armen des Geliebten gestützt wird [...]. Die Natur hatte ihr die Aufgabe erteilt, uns das Ziel nach der Höhe zu weisen, uns aber die, sie zu begleiten und zu stützen. [...]

Eindrücklicher kann man es kaum sagen! Ich habe das Erstere, das Weibliche als Weiserin, ja als Führerin, in meinem Buch ,Der Weg des Mädchens’ (2017) tief erlebbar gemacht.

Nichts ist ansteckender als die Begeisterung, nichts ist entzückender, unwiderstehlicher als die Begeisterung der Frau. Ohne Argumente, um zu glauben, ohne Kraft, um zu hoffen, und nur von der Liebe aufrechterhalten, ist sie stets voll Vertrauen für das Große und Schöne, und bei jedem Schritt scheint sie uns, bald mit erhabener Unvorsichtigkeit, bald mit jugendlicher, rührender Begeisterung zu sagen: „Vorwärts, vorwärts!“ [110f][19]

Wo sind diese Frauen heute? Der wahren Mädchenseele aber ist dies alles noch so unendlich eigen![20]

Die Liebe ist ein zweiter Geruchssinn,[21] die Frau sieht daher die Dinge von einem Gesichtspunkt aus, der dem synthetischen Blick des Mannes fast immer entgeht; sie entdeckt viele verborgene Elemente der Dinge, die wir aus zu großer Eile oder zu großem Stolze nicht sehen, und indem sie uns ihren Liebesblick leiht, läßt sie uns in den Kern jeder Frage, und überhaupt in die Kenntnis der menschlichen Natur tiefer eindringen. [111]

Man kann auch sagen: Man sieht nur mit dem Herzen gut – und nur das Mädchen hat noch wirkliches Herz...

Und noch höher erhebt sich Mantegazzas Lob und seine Schau des Mädchenherzens:[111f]

Die Eva kann dem Skeptiker den Glauben,[22] dem Entmutigten den Ehrgeiz, allen die Kraft verleihen; bescheiden an sich, ist sie ehrgeizig, mutig, und wenn nötig, auch stolz für den Geliebten; Throne und Stellungen, bürgerliche und kriegerische Auszeichnungen und Ehrungen der Kunst und Wissenschaft wurden schon durch einen von der geliebten Frau entlehnten Ehrgeiz errungen. In der Zeit der Helden und Ritter wurde dies ausposaunt und berühmt, heute aber [...] ist es Sitte geworden, zu erröten, wenn man einer Frau den Ruhm verdankt, und das ritterliche Element ist leider [...] spurlos verschwunden. [...]
Die Liebe erhebt uns um so mehr in die Regionen des Idealen, je mehr sie den sie an das Land festhaltenden Ballast von sich wirft. Dieser Ballast besteht ganz aus Wollust und Eigenliebe, und es ist die Aufgabe der Frau, uns behilflich zu sein, ihn aus dem Schiffbruch zu entfernen.

Der Mann und sein Egoismus als Schiffbruch des Menschlichen! Die Frau, heute nur noch das Mädchen, als Retterin der ganzen Menschheit aus einem kollektiven Schiffbruch!

Die absolute Unschuld ist die wahre Erlöserin – sogar die der Wollust:[112f]

Die innige und reine Gemeinschaftlichkeit der Gedanken und Gefühle, die vom Sinnigen nichts anderes hat, als zwei sich fassende Hände und vier ineinander sich schmelzende Pupillen ist gewiß eine der höchsten Wollustarten der Geschlechtswelt [...]. Dann, nur dann thront die weibliche Natur mit dem ganzen Strahlenglanz ihres himmlischen Lichtes, nur aus dieser Quelle der Dichtung kann der Geist seine größte Energie schöpfen, hier verfeinern sich die groben Sitten, in dieser reinsten Luft wird [...] jeder menschliche Schmutz gewaschen. Ihr Frauen, benützet jene dahineilenden Augenblicke, um die menschliche Familie neu zu beleben [...]! [...] Bringet das Raubtier zum Schweigen, und indem eure niedlichen Finger mit der zerrauften Mähne spielen, beschwöret die heilige Energie, die edle Begeisterung, dies sehnsüchtige Ideale aus der Tiefe. Wir wollen nur für euch groß sein [...]. [...] Eure Liebe soll ein Preis sein, der höher und teurer als jeder Ehrgeiz anzuschlagen ist.[23]

Im nächsten Kapitel – ,Die erhabenen Kinderreien der Liebe’ – bringt er Beispiele für diese Hingabe des Mannes, etwa: ,Eine Wissenschaft, eine Kunst oder eine Sprache erlernen, um ihr eine halbstündige Überraschung zu bereiten.’ Oder: ,Heldentaten ausführen, in der Hoffnung, ihr Herz zu rühren.’[119] Und:[116]

Wer erinnert sich nicht an die Anbetung eines Rosenstrauches, aus dem sie eine Blume gepflückt, einer Blume, die sie gerochen; wer erinnert sich nicht an die [...] mannigfachen Reliquien der Liebe?

Nichts anderes sind ,Andenken’ aller Art. Die hier erwähnten Reliquien sind aber viel mehr – denn sie sind einem wahrhaft heilig, weil sie in Berührung waren mit dem, was einem unsagbar heilig ist ... mit ihr... Doch welche männliche Seele ist heute noch so tiefer Empfindungen fähig?

Im elften Kapitel wendet Mantegazza sich der ,Liebesgrenze’ der verschiedenen Sinne zu, etwa dem intimen Wesen und damit der erotischen Bedeutung der Berührung:[122f]

Nicht umsonst erbebt und sträubt sich die Frau gegen jede, wenn auch unschuldige Berührung. Jede Empfindung des Gefühls ist in der Liebe eine zwischen Mein und Dein verschwindende Grenze, sie ist gleichsam ein verlorenes Eigentum.[24]
[...] Auch beim Gefühl hat die Liebe vor Erreichung des Zieles nur zwei Stationen, nämlich den Händedruck und den Kuß.

Aus diesem Grund gelten in anderen Kulturen bereits ein Händedruck[25] und erst recht ein Kuß als etwas zutiefst Intimes! Möglicherweise hat sich so mancher amerikanische GI gewundert, wenn eine Asiatin sich ihm ,so leicht’ hingegeben hat – doch wenn sie sich bereits hatte küssen lassen, waren alle Grenzen der Intimität überschritten...

Das Auge des Liebenden schaut nie, ohne zu idealisieren – und es kommt auf diese Weise nie zu Ende, erschöpft nie, was es immer neu entdecken kann:[124f]

Wenn das Auge betrachtet und erobert, so ladet es zu dem entworfenen Naturbild alle Sinne, Leidenschaften, Gedanken und sämtliche psychische Kräfte zu Gaste. Kein zweiter Sinn besitzt dieses Riesenvermögen, uns in die höchsten Regionen des Idealen zu erheben [...]. [...]
[...] [...] allein, wer ein schönes Geschöpf liebt, geht ohne alles gesehen, betrachtet und bewundert zu haben, zugrunde. Im letzten Tage seines Lebens gibt es noch immer eine „unbekannte Gegend“, die das Auge noch nicht entdeckt oder genügend durchforscht hat.

Dies ist kein Widerspruch zu Mantegazzas Rat, sich einander nie nackt zu zeigen. Auch dann würde wahrer Idealismus theoretisch nie zu einem Ende kommen – doch wird ein solcher durch die ,nackten Tatsachen’ geradezu gelähmt. Es geht nicht darum, dass es nichts mehr zu entdecken gäbe, sondern dass man dann nichts mehr entdecken will, weil die Flügel des Idealismus gelähmt wurden, die Seele am Boden bleibt – und dann tatsächlich nichts mehr entdeckt. Das Verhüllende spart also nicht nur immer wieder neu zu Entdeckendes auf, sondern darüber hinaus bereits die echte Fähigkeit dazu. Die bloßen ,nackten Tatsachen’ ertöten nur allzu leicht die Fantasie-, die Idealisierungs- und die Verehrungskräfte und stoßen ins bloß armselig Sinnliche, das seine Kräfte schnell erschöpft...

Wie aber kann das Auge immer wieder Neues entdecken? Hier kommt auch die Zartheit der kleinsten Erotik ins Spiel, und für den Liebenden ist alles erotisch:[125]

Eine verführerische Mousselineschürze kann ein neues Kontinent darstellen [...]. Der Mann, der eine schöne Frau liebt, lächelt mitleidig über den Pascha, der in hundert Frauen die hundert Reize der menschlichen Venus suchen muß, während die schöne Frau, durch das Arsenal ihrer Kleider, den Zauber ihres Lächelns und die tausend Wellenbewegungen ihres Schlangenkörpers in den Augen ihres Geliebten nicht hundert, sondern tausend Frauen hervorzaubert, deren jede eine andere Schönheit zeigt.

Der Zauber der Schönheit geht so weit, dass er eine wahre Macht wird:[126]

Leider ist das Schöne in der Liebe ein so mächtiger Tyrann, daß es uns ihm unterwirft, und uns der Rechte zu höheren Bedürfnissen beraubt. Eine schöne, begehrenswerte Frau kann uns nur selten als leichtsinnig und herzlos vorkommen, der Schönheitszauber kann uns jedes Verbrechen verzeihen, die schändlichsten Abfindungen mit dem Gewissen machen und die lächerlichsten, linkischen Wahnideen annehmen lassen. [...] Die Natur schützt und verteidigt das Schöne über alles, vielleicht aus dem Grunde, weil es der Ofen ist, innerhalb welches das Wahre und das Gute zusammenschmelzen.

Dann der Zauber des Hörens:[127][26]

Es gibt einige Frauenstimmen, die ungestraft nicht gehört werden können, denn so sanft fallen ihre Töne in das Innere unseres Herzens, daß dasselbe, gerührt und bewegt, höher schlägt. Die Stimme mancher Frau gleicht einer mit dem Flügel eines Schwanes erteilten Liebkosung, und während sie uns entzückt, stört[27] und verwirrt, hält sie uns tief und lange gerührt. Indem Mann und Frau die Töne ihrer Stimme gegenseitig austauschen, entdecken sie sich wechselseitig in keuscher Weise ihr Geschlecht, dann schlägt das Herz ebenso stark wie in dem Busen einer badenden Jungfrau, die, bevor sie das Füßchen in die Welle taucht, beim Rauschen der Blätter um sich blickt. [...]
[...] Oft haben wir den Verführungen des Auges und der Gefahr des Gefühlssinnes Widerstand geleistet, aber die Stimme besiegt uns und überliefert uns mit gebundenen Gliedern einer geheimnisvollen Macht, die von uns die blindeste, jede Empörung vereitelnde Unterwürfigkeit gebieterisch fordert.

Im nächsten Kapitel geht es um die Grenzen der Liebe, um Eifersucht, aber auch um ihre Beziehung zu anderen Gefühlen. Zuerst weist Mantegazza darauf hin, dass die Liebe noch den größten Egoismus besiegen und so wahre Wunder vollbringen kann, ja selbst das größte Wunder ist:[133][28]

Oft verliebt sich ein in dem engherzigen Eigennutz erzogener und eingelebter Mann im späten Alter in ein armes Mädchen, und wird mit ihm mitteilsam, freigebig und vielleicht auch verschwenderisch [...].

An Eifersucht unterscheidet er vier Formen, die die gewöhnliche Seele in der Regel gar nicht differenzieren kann: den Schmerz einer Liebesbeleidigung; den Schmerz eines Vergehens gegen den ,Besitz’; Schmerz über beleidigte Eigenliebe; und schließlich gewohnheitsmäßigen, konstitutionellen Verdacht von Untreue, schwindender Liebe etc.[136][29] Gegen all diese Formen des ,gierigen Schmarotzers’ Eifersucht hilft nur eines: Tiefe und Aufrichtigkeit der Liebe.[138]

Das dreizehnte Kapitel widmet sich den Beziehungen der Liebe zu den Gedanken. So hat vor allem der Dichter eine tiefe Liebefähigkeit:[143]

Man kann fast nie ein großer Dichter und Künstler sein, ohne mächtig geliebt, ohne wenigstens eine große Liebesfähigkeit gehabt zu haben. Die auferlegte oder willkürliche Keuschheit kann die Liebe verbergen, aber in der Tiefe des Herzens herrschen einige, mehr einem Engel als einer Frau ähnliche Bilder,[30] die bei jedem Flug des Geistes, bei jedem Gesang der Leier oder jedem Pinselstrich entstehen und das heilige Feuer der Kunst beleben oder anfachen.

Manche Forscher fragen sich vielleicht nach den Ursachen plötzlicher Stiländerungen eines Dichters, die manchmal nur darin liegen, ,daß man sein Haupt auf den Busen einer blonden Freundin gelegt, oder daß man mit den Locken eines Schwarzkopfes gespielt hat.’[147f]

Viele patriarchalische Denker haben argumentiert, die Frau sei auch geistig schwächer und wandelbar – dies aber liegt auch oder sogar nur in ihrer tieferen Selbstlosigkeit:[148]

[...] weil sie uns inniger liebt. Sie bringt selbst die Eigenliebe gleich und gern der Liebe zum Opfer, während der Mann dies sehr selten und schwer tut. [...] „Wie kann der Sozialismus nicht heilig sein, wenn dieser seine Religion bildet?“ Der Mann hat in den Augen seiner Geliebten immer recht, weil sie ohne Achtung fast nie lieben kann, wir aber gestatten uns nur zu oft, Frauen wahnsinnig zu lieben, die wir nicht achten können [...]. Es würde dieser Unterschied den Beweis liefern, daß [...] die Frau in der Gefühlsästhethik uns ebensosehr überlegen ist, als wir sie in der Geistesentwicklung überragen.

Die Frau muss den Mann idealisieren, weil sie es unbedingt will. Sie will nur das Höchste lieben – also macht sie den Mann zu dem Höchsten. Der Mann liebt sich selbst irgendwo immer noch mehr – die Frau hat dies nicht nötig, sie liebt ihn. Sie ist nicht geistig schwach, sie setzt nur die Prioritäten anders. Was ist eine eigene geistige Auffassung wert, wenn man nicht mehr lieben kann!? Die Frau könnte sehr wohl selbstständig über Sozialismus und anderes nachdenken – aber sie verzichtet. Aus Liebe... Das hat wahrhaft die Größe eines Engels...

Ein kurzes, aber wesentliches Kapitel widmet sich noch einmal der ,Keuschheit in ihren Beziehungen zu der Liebe’.

,Die Keuschheit ist der Liebesschatten’,[151] so Mantegazza, im Sinne eines freundlichen Ausruhens von der Glut der Sonne. Und weiter:[151-153]

Die Keuschheit zweier Verliebten ist ein wahrer Tempel, in dem der Mensch sich sammelt und einen unbekannten Gott anruft, er möge aus ihm einen Engel machen; dadurch wird die Liebe verfeinert, von jedem Kot gesäubert, so daß sie sich in die höchsten Regionen des Idealen schwingt. Die von der Keuschheit ohne Gewalt aber entschieden gedämpfte Liebeslust senkt die Augenbrauen, beugt das Haupt und kniet vor der Statue der Liebe nieder [...] wie ein verliebter Schwan, der sich von der niedlichen Hand einer nackten aber keuschen Frau liebkosen läßt.
Habt ihr je zwei Geliebte gesehen, die auf einem einzigen Stuhl sitzend, mit vier Augen ein einziges Buch lesen, während ein Kind, die Frucht ihrer ersten Liebe, zu ihren Füßen jauchzend und plappernd sitzt? [...]
Keine Tugend ist gehässiger als die von dem unduldsamen, oft selbst nicht keuschen Priester gelehrte Keuschheit, keine Tugend ist erhabener als die von der Liebe und den edelsten Geistesgaben des Menschen gelehrte Keuschheit. Eine unkeusche oder wenig keusche Liebe mag einige Zeit glücklich sein, lächeln und kichern, sie mag sich vom Strudel der Wollust zum Hexentanz hinreißen lassen, sie ist aber stets eine berauschte Liebe, und der Rausch nimmt bald und fast immer ein schlechtes Ende. Die keusche Liebe dagegen ist eine feurige aber reine, eine stets bewaffnete aber friedliche Liebe [...]. [...]
Ihr Frauen, die ihr einen „Liebesverstand“ habt, lehret uns die Keuschheit, uns, denen diese heiligste Tugend schwieriger fällt. [...] den Wunsch stets rege und eine Blume eures Gartens stets jungfräulich zu erhalten, ist eines der kostbarsten Geheimnisse, um ewig zu herrschen und ewig geliebt zu werden.

Hat jemand die heilige Unschuld, die in einer weiblichen Seele leben kann, je schöner beschrieben?[31]

Das fünfzehnte Kapitel wendet sich ganz direkt den Unterschieden der Geschlechter in der Liebe zu:[154]

So lange auf der Erde ein Mann und eine Frau sein werden, wird die unschuldige, gegenseitige Klage ewig lauten: „Ach, du liebst mich nicht, wie ich dich liebe!“ Und [...] nie wird die Frau wie der Mann, und dieser nie wie jene lieben können.

Im finstersten Patriarchat, wo nur Muskelkraft und Gewaltherrschaft gilt, sinkt die Frau fast zu einem Haustier herab. Auch dort, wo Polygamie herrscht, zählt sie wenig. Aber:[156]

Allein auch bei uns hat die Frau in der Liebe nicht jenen Anteil, den die Natur ihr zugewiesen hat, und auch hier kann sie sich ohne Gewissensbisse unter die Bedrückten stellen [...]. [...]
Die Natur hat den größten Teil der Liebe der Frau gegeben, und wenn man diesen Unterschied mit Ziffern ausdrücken könnte, so möchte ich sagen, daß uns nur ein Fünftel, höchstens ein Viertel des Liebesgebietes zugestanden wurde. [...]
[...] Wehe uns, wenn wir der Evastochter ihr heiligstes Recht, das, zu lieben und geliebt zu werden, verweigern! Für die Frau bildet die Liebe das erste Bedürfnis, dasjenige, das alle anderen überwiegt, denn ihr ganzer Organismus und ihre Physiologie werden durch den Einfluß der Liebe umgeändert und umgestaltet. [...] Von der feurigen Umarmung des geliebten Mannes geht sie zu den Liebkosungen ihrer Kinder über, die Wonne ermüdet sie nicht, die Glut trocknet sie nicht aus, und auch die Leidenschaft langweilt sie nicht; sie ist vom Scheitel bis zur Sohle von Liebe durchtränkt, und dies ist der Saft, der in jeder Ader kreist und jede Faser befruchtet, so daß, wenn er ihr entzogen wird, sie einem vom Sturm entwurzelten Baum gleicht, der jedes Blatt welken, jede Blüte abfallen sieht.

Das Weibliche als das zur Liebe bestimmte Wesen! Im Zeitalter der Emanzipation kann man sagen, das sei kulturell bestimmt, ja erzwungen gewesen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Kann man sich vorstellen, dass der Mann hätte zu derartiger Liebe gezwungen werden können? Zur Liebe kann nie gezwungen werden. Im Grunde kann die Liebe nur verschüttet werden – und das geschah mit der Emanzipation, wo auch die Frauen die ... Selbstliebe lernten. Was Mantegazza schildert, war jahrhundertelang Wirklichkeit: Das ganze Reich der Frauen war ein Reich der Liebe.

Hören wir ihn weiter:[157f]

Wenn jedoch bei sehr vielen Männern die Wollust die ganze Liebe ausmacht, so ist erstere für die Frau, und wäre sie auch unter den sinnlichen Frauen die unzüchtigste, stets nur eine süße Nebensache. Und wer dieser kühnen Behauptung nicht glaubt, der sende durch die ganze Welt Herolde aus, der berufe alle die liebenden Männer und Frauen und [...] befrage sie alle, ob sie eine ewige und treue Liebe ohne Wollust mit einer Wollust ohne Liebe vertauschen möchten. Hundert Frauen werden für die Liebe stimmen, während kaum fünf bis zehn Männer für die erhabene Entsagung der Umarmung sich aussprechen werden.
Ihr alle, die ihr das Frauenherz in der Orgie oder im Bordellhaus studiert habt und der Meinung seid, eure Gefährtin durch Sinneslust, Gold und Kleider glücklich zu machen, vergesset nicht, daß die Frau vor allem lieben, von dem Hauch eines Mannes erwärmt werden, an den treuen Arm eines Mannes sich ganz stützen, sich dem Geliebten, über den sie stolz sein will, als unentbehrlich fühlen, nur für jemanden die allererste sein will. [...] Der Mann will geliebt werden, die Frau will vor allem lieben. Das sie verzehrende Gefühl ist bei ihr tätiger und ausdehnbarer als bei uns; sie verlangt nur wenig von ihrem Gefährten, denn sie ist zu reich und ihre Neigung ist zu stark, um bei den Lebenskämpfen zur Eigenliebe ihre Zuflucht nehmen zu müssen. [...] der Frau genügt oft der Ausruf: „Ich liebe“, dem Mann genügt sehr oft, sich in die Brust zu werfen und zu sagen: „Ich werde geliebt.“
Fraget die Frau nicht, warum sie liebt; sie bringt es fertig, solche häßliche, armselige und mißgestaltete Geschöpfe zu lieben, die uns stumm und schaudern machen. Wenn jenes Geschöpf nur ganz ihr gehört, so wird sie es mit den Blumen ihrer Phantasie zu schmücken und mit dem strahlenden Licht ihres Herzens zu erleuchten wissen. Die Frau zweifelt fast nie an der Erwiderung ihrer Liebe, wenn sie selbst liebt.

Hat jemand schöner die Liebe einer Frau beschrieben? Tiefer kann auch ein Mädchen nicht lieben – allenfalls unschuldiger. Und Mantegazza drückt noch einmal den ganzen Gegensatz der Geschlechter aus, indem er sagt:[159]

Die Frau trägt selbst die Wollust in die hohen Gefühlsregionen, der Mann erniedrigt selbst die Liebe in den Kot der Lüsternheit. [...] der Mann ist in seiner Liebe mehr Tier als Engel, die Frau mehr Engel als Mensch.[32]

Und dann fasst er die Polarität in typische Sätze, die tief das Wesen beider Geschlechter erfassen lassen:[159ff, in Auswahl]

     Adams Liebe                                             Evas Liebe
     Wie glücklich bin ich!                                 Bist du glücklich?
     Vergesset nicht, daß sie mir angehört.      Vergesset nicht, daß ich ihm angehöre.
     Wir müssen scheiden, die Vernunft muß   Ungeheuer! Ich verachte dich, es graut mich
     unsere Liebe töten.                                   vor dir ... aber ich liebe dich noch.
     Erhalte dich schön, und ich werde dich     Bleibe mein und ich werde dich stets lieben.
     stets lieben.
     Mache mich nicht lächerlich.                      Verrate mich nicht.
     Gib mir alles.                                              Gib mir dein Herz.
     Ich will es, gibst du nicht nach, so liebst     Und wenn ich dich liebe, warum verlangst
     du mich nicht.                                             du noch mehr?
     Ist sie meiner würdig?                                 Bin ich seiner würdig?
     Macht sie mich glücklich?                           Mache ich ihn glücklich?
     Ich denke zu viel an sie.                              Ich denke nicht genug an ihn.
     Bewahre mir die Treue                                Bewahre mir das Herz.
     Mit der Zeit wird sie mich schon lieben.       Ich werde ihn so sehr lieben, daß er mich endlich
                                                                         lieben wird.
     Die Frau kann die Treue nicht bewahren.   Der Mann kann nicht lieben.

Er ergänzt, dass dies manchmal auch umgekehrt gefärbt sein kann.[33] Und dann schildert er die ganze Unterdrückung der Frau durch das Patriarchat:[162]

Wir haben den Ehrgeiz, den Ruhm, die Wissenschaft und den unstillbaren Durst nach Gewinn für uns, wir haben dem Manne die ganze Kraft des Gefühls, alle Eroberungen des Geistes, alle Siege der Leidenschaft zugestanden; der Frau hingeben haben wir jede Nahrung des Herzens und Gefühls mit dem Hinweis geschmälert, daß sie nur zu lieben hat. Nachdem wir ihr jedes Feld menschlicher Tätigkeit geraubt, haben wir ihr als einzigen Besitz, einzigen Trost den Liebesgarten gelassen. Und als diese arme Gefangene mit der ganzen feurigen Neugierde ihrer Natur daran ging, die Blumen und duftigen Kräuter ihres Besitzes zu pflücken, dann sind wir auch dort dazwischengetreten, indem wir die Warnungstafeln ihrer einschränkenden Verordnungen und die Zäune unserer Gesetze aufgerichtet haben. [...] So schaffen wir uns eine Sklavin, die murrt und sich gegen uns verschwört; so haben wir uns selbst den Garten entlaubt und unfruchtbar gemacht, in dem ein stolzes und edles Burgfräulein uns hätte glänzend aufnehmen und von unserer ruhmreichen Arbeit Erholung schaffen können. So kommt es, daß wir, statt in den von Gold und Edelsteinen funkelnden Sälen einer Ebenbürtigen empfangen zu werden, nur eine Gefangene und Sklavin haben, die uns das Haupt aufs Knie setzt und weint.

Er ist hier nicht ganz konsistent, denn entweder die Sklavin murrt und verschwört sich – oder aber sie weint hilflos. Gemeint sind mit den Gesetzestafeln jedenfalls offenbar die von der Frau geforderte Treue und ,Züchtigkeit’, womit der Mann es sich sehr einfach macht, denn innere Seelenschönheit kann man nicht fordern, und äußerere Forderungen werden zu bloßer Heuchelei und töten die Liebe...

Das nächste Kapitel ist der Beziehung der Liebe zum Alter gewidmet. So schildert er den Idealismus der Jugend, der beim Erwachen der Liebe zur Treue führt:[170]

Mit zwanzig Jahren würde man physisch so viel Kraft in sich haben, um hundert Frauen lieben zu können, und selbst das keuscheste Mädchen findet auf jeden Schritt in der Luft einen Funken, der aus der Berürhung mit einem Mann sprüht. Allein trotz einer riesenhaften und fruchtbaren Möglichkeit der Polygamie sind sowohl der Mann als auch die Frau in der kräftigen Jugendzeit doch wesentlich monogam und glauben [...] an einen einzigen Gott.

Welchen Sinn sollte etwas anderes auch haben, wenn man wirklich liebt? Aber nun geht es weiter: Die Gesellschaft versagt die Liebe vor der Ehe – und die Ehe vor der Fähigkeit, sich und die Frau zu ernähren. Der Jüngling ist gezwungen, seinen Liebestrieb, ,die Liebe in Gefühl und Wollust’ zu zerlegen. So versucht er, das Herz rein zu halten – und geht nur für den Trieb zum Freudenmädchen.[171]

Dann geht Mantegazza auf den möglichen Altersunterschied ein:[173]

Die Frau frägt viel weniger als der Mann nach weißen Haaren und Taufschein, und wenn sie sich nur männlich geliebt fühlt, so vergißt sie an 10–15 Jahren Altersunterschied gern.

Und umgekehrt:[174]

Der reife Mann hat dagegen viele Rechte verloren, und verlangt mit mehr Bescheidenheit und mit einer zarten und anmutigen Zurückhaltung; er fleht mitunter mit so feuriger Zärtlichkeit und einem so bittenden Tone, daß es schwer wird, nein zu sagen.

Hier erkennt also auch Mantegazza das fast Weibliche der Liebe eines Mannes zu ... einem Mädchen! Und weiter:[174]

Der Erwachsene hat eine heftige Leidenschaft und niemand ist in der Liebe treuer als er; er ist unter sonst gleichen Umständen der beste Gatte, und nicht bloß aus Eigennutz sucht der Bräutigam eine Braut, die um einige Jahre jünger ist als er. Der Mann altert stets später, und zwei blutjunge, unerfahrene Menschen verehelichen sich nur selten, ohne sich den größten Gefahren auszusetzen.

Der alte Mensch kann schließlich noch immer sinnlich sein – und dies wird dann zunehmend ,Lüsternheit’[34] – oder:[175]

[...] nachdem [...] jedes Eroberungsrecht niedergelegt ist, erhebt sich die Liebe bis in die höchsten Regionen der idealen Welt und wandelt sich in eine erhabene Betrachtung weiblicher Schönheit um.

Das siebzehnte Kapitel beschreibt Temperamente und Liebesarten. Die zärtliche Liebe wird von Mantegazza dabei sehr abgewertet:[181]

Diese wird öfters von den sanften, süßen Männern gefühlt, die verschwommene Umrisse und wenige Hervorragungen aufweisen. [...] Sie ist eine evangelische, christliche Liebe, die die Liebkosung mehr als den Kuß, und die langen Küsse mehr als die plötzlichen Kämpfe gern hat. Ihre ästhetischesten Formen finden sich beim Weibe, dem man eine gewisse Schwäche verzeiht, die ohne lächerlich zu fallen, bestehen kann.[35]

Es folgt die nachsinnende Liebe:[180]

Ein hoher ästhetischer Sinn, ein unwiderstehlicher Hang zur Trägheit und spärliche Geschlechtsbedürfnisse setzen den Boden zusammen [...]. Sie ist eine hohe, zu hohe Liebe, die an das Mystische und Unnatürliche grenzt; der Verliebte stellt seinen Abgott viel zu hoch und kniet ehrfurchtsvoll vor ihm nieder [...].

Scheinbar meint er hier eine fast platonisch-mystische Verehrung, die für ihn ,auf der Grenze der Pathologie’ lebt.[182]

Die sinnliche Liebe ist für ihn:[182]

[...] die aufrichtigste und mächtigste Liebe, weil sie eines der natürlichsten und unwiderstehlichsten Menschenbedürfnisse befriedigt. Allein ihre Beständigkeit stützt sich auf einen zu sehr beweglichen Boden, nämlich auf die Schönheit, und ihre Glut wird von einer tiefen Note bezeichnet, nämlich von der Begierde. [...] Geboren in den Niederungen der tierischen Menschenwelt, erhebt sie sich nur selten in die hohen Sphären des Idealen, sie kennt keine Würde, keinen Zartsinn, keinen Heldenmut, sie ist vielmehr [unter Umständen, H.N.] bettelhaft bis zur Niedrigkeit und unsauber bis zum Ekel.

Es folgt die ,wilde’, geradezu über-leidenschaftliche Liebe; dann die stolze Liebe, die vor allem Eigenliebe ist; dann die ängstliche Liebe – die vermutlich ,unglücklichste aller Liebesarten’.[185] Mantegazza gibt selbst zu, dass dieser Entwurf ,armselig’ ist und diese Arten in der Wirklichkeit so eindeutig ohnehin selten vorkommen.[186] Seltsam bleibt dennoch, dass ein sonst so tief blickender Mann keinerlei Verständnis für die zärtliche und die verehrende Liebe hat. Man muss nur einmal auf den Minnesang blicken und wird sehen, dass diese Liebesart(en) eine ganze Kulturblüte herbeigeführt haben! Dabei hatte er zuvor doch die ,ritterliche’ Liebe so wunderbar erwähnt...

Ein nächstes Kapitel schildert die ,Liebeshölle’ – also etwa schleichende Zweifel, ob man noch wirklich geliebt wird, oder aber das Ertragenmüssen unerwünschter Liebe, wie in der Prostitution.

Das neunzehnte Kapitel handelt dann von der ,Liebesschande’, hier insbesondere von Impotenz und Prostitution – das eine Liebe ohne Wollust, das andere Wollust ohne Liebe.[203] Zutiefst verabscheut er die Selbstbefriedigung.[204][36] Die Prostitution sieht Mantegazza als notwendiges Übel heuchlerischer sozialer Verhältnisse:[209]

[...] die Liebe, die die moderne Zivilisation allen den hunderttausend Parias bietet, die das Stroh nicht finden können, um das Nest einer anständigen Familie zu flechten [...], die, da sie kein Keuschheitsgelübde ablegen können, ein unschuldiges Mädchen nicht verraten oder des Nächsten Frau nicht stehlen wollen.

Aber:[210]

[...] die erkaufte Wollust ist hundertmal besser als der häusliche Betrug, als der gewohnheitsmäßige Ehebruch und als eine Ehe, die zum Gegenstand des Kapitalienschachers und der freundlichen Beschattung der Vielweiberei gemacht wurde [...].

Also zum bloßen Deckmantel für gesellschaftlich anerkannte Seitensprünge – während den jungen Menschen, die noch unverheiratet sind, ihre unschuldige Liebe verweigert wird!

Die erste Liebeslehrerin darf nicht das Kammermädchen oder die Hure, sondern ein keusches, heiliges Mädchen sein; nur eine Frau darf uns die Liebe noch vor der Wollust lehren, und uns keusch in dem Gedanken erziehen, sie eines Tages als die unsrige machen zu dürfen. [...] Heute, wo wir einem Mädchen nicht gestatten, seine Augen auf einen sympathischen Jüngling zu richten, und unseren erwachsenen Söhnen nicht einmal das Recht zu wünschen und zu lieben einräumen, wird die Unschuld, die wir wie eine lächerliche Härte zu hüten glauben, in den Kot häuslicher Konkubinate [z.B. mit Kammermädchen, H.N.], einsamer Unzüchtigkeiten oder stinkender Prostitution hineingetaucht. [211]

Im Kapitel ,Der Liebe Sünden und Verbrechen’ kommt Mantegazza auch auf eine Sünde und ein Verbrechen gegen die Liebe zu sprechen, nämlich aus nacktem Standesdenken oder ähnlichen ,Gründen’ erzwungene Ehen.[214f][37]

Später behandelt er die Tendenz vor allem der Frau, ,eine erlöschende Liebe noch zu erhalten’, zunächst aus Mitleid, was aber schnell zu völliger Heuchelei werden kann: ,Die Lüge war anfangs barmherzig, später wird sie zur Gewohnheit und wird endlich in ein Verbrechen umgewandelt.’[217]

Auch könne man stets nur einen Menschen mit Leib und Seele lieben.[217f][38] Im weiteren wendet Mantegazza sich nochmals gegen das Schwören ,wahrer Liebe’, es sei denn, im Bund der Ehe. Am schlimmsten jedoch sei der Ehebruch mit der Frau eines anderen – ein ruchloses Verbrechen, das, schlimmer als Mord, dennoch:[219]

[...] von der Gewohnheit liebgewonnen und von unseren ruchlos heuchlerischen Sitten gefeiert, dem Kerker und dem Galgenstrick entgeht, wenn es nur die leichte und einfache Vorsicht gebraucht, als Ehebruch nicht bezeichnet zu werden.

Im einundzwanzigsten Kapitel ,Der Liebe Rechte und Pflichten’ wiederholt er, dass man verlorene Liebe nicht zurückzwingen kann, dass aber jeder Liebende das Recht hat, nicht verraten zu werden, indem man ihm Liebe bloß noch vorheuchelt.[221][39] Über Rechte und Pflichten aber dürfte gar nicht gesprochen werden – wer über Liebe und Treue zu verhandeln beginnt, hat sie schon selbst nicht mehr:[223]

Die Aufrichtigkeit und die Treue [...] dürfen von zwei Verliebten geradeso nie erörtert werden, wie man aus dem Wörterbuch der Liebe die Ausdrücke Recht und Pflicht streichen müßte.

Dabei sei die Sünde der Untreue auf Seiten der Frau, die so sehr zur Liebe bestimmt und fähig ist, ungleich größer:[223-226]

Die Gesellschaft fordert vom Manne hundert verschiedene, alle schwer zu erfüllende Tugenden; der Mann muß sein Blut dem Vaterland und den Schweiß seiner Stirn der Arbeit, der Familie und Gesellschaft hergeben, er soll stark und ehrgeizig sein, und sich weder vom Golde, noch von den Verführungen der Eitelkeit bestechen lassen. [...] Ihr [der Frau, H.N.] verzeihen wir es, wenn sie die hohe Stufe des Geistes fast nie erreicht und bis zur durchschnittlichen Höhe der großen Talente viel seltener als wir gelangt, wir übersehen bei ihr den großen Mangel eines Gewerbes und die Unfähigkeit, das Brot der Arbeit zu verdienen. Von ihr verlangen wir nur eines: die Treue; nur eine einzige Tugend: die Treue. Sagte mir nun gefälligst, meine anmutigsten, göttlichen Genossinnen, nach welcher Seite hin schlägt die Wage aus? Gewiß nicht nach der unsrigen.
[...] Sie [...] sei die Heldin des Gefühls, geradeso wie wir die Helden aller Lebenskämpfe sind. [...] [...] unser harren hundert Gefahren, ihrer nur eine, nämlich die der Verführung [...]. Sind wir also Tyrannen oder zu anspruchsvoll mit denen, die wir so sehr lieben, für die wir alles tun, [...] denen wir alle unsere Gedanken, unsern Ruhm, unsere Träume und unsern Schweiß weihen? [...]
[...] Er [der Mann, H.N.] kann, ohne die Liebe einzubüßen, eine blitzschnelle Laune haben, die nach dem Verschwinden nicht einmal ein Häufchen Asche zurückläßt. Ich lobe und verteidige diese [...] vorübergehende Untreue keineswegs, sondern ich beschreibe sie nur, weil ich sie in der unverschämten Angreifernatur des menschlichen [männlichen, H.N.] Geschlechts häufig vorfinde. [...][40]
Nicht umsonst hat die Natur das Weib jungfräulich geschaffen, während sie uns die schmerzliche Gabe der Jungfräulichkeit versagte.

Doch die Frau kann von der Gesellschaft geradezu in die Untreue hineingetrieben werden:[228]

Nein, die Gesellschaft verlangt von euch die festeste Treue und die makelloseste Tugend mit vollem Rechte, sie muß aber euch das Recht zu lieben einräumen, und euch nicht wie eine afrikanische Sklavin auf dem Negerschiff einer ruchlosen Ehe Hände und Füße zuschnüren. Wie heute die Liebesverträge stehen, die aus der Ehe eine beeidete Prostitution[41] machen, hat heute niemand das Recht, gegen euch den ersten Stein zu schleudern. Eure Sünde ist sehr groß [...], aber die wahren Sünder sind die Menschen, die abscheuliche Gesetze geschaffen und euch das erste und letzte Liebesrecht, die freie Wahl verweigern.

Das folgende Kapitel behandelt ,Die Liebesverträge’ und führt dann eine ganze Reihe ,Lehrsprüche über die Ehe’ auf. Zunächst wendet er sich voller Abscheu gegen bloße Liebschaften (,Konkubinat’) des Mannes.[233][42] Dann tritt er erneut mit aller Klarheit für die freie Liebeswahl des Mädchens ein – die bisher höchstens heuchlerisch vorgegaukelt werde:[236]

Umgeben wir ein offenherziges, unerfahrenes Mädchen mit der ganzen feierlichen Rüstung der väterlichen und mütterlichen Autorität, der religiösen und kindlichen Pflichten, schneiden wir ihm alle Rückzugswege ab und treiben wir es täglich und stündlich dorthin, wohin wir es führen wollen, und dann sagen wir, daß es ihm frei steht, abzulehnen, was man ihm auferlegt und zu tun beschwört; sagen wir dann, daß das schüchterne Nein, das aus der Tiefe seines Herzchens kommt, bei dem Chor von Ja, das ihr von aller Welt geschrien, gesungen und in allen Tonarten verkündet wird, noch vernommen werden kann!

Und selbst wenn die Eltern an sich ,freie Wahl’ ließen, haben sie diese doch niemals wahrhaft ermöglicht:[236f]

Wie kann man denn wählen, ohne unterscheiden, und wie unterscheiden, ohne zu wissen? Unsere Tochter hat noch nicht mit zehn jungen und schönen Männern, die sie lieben könnten, gesprochen. Ihr wurde gesagt und tausendmal wiederholt, daß die Liebe eine Sünde wäre, und es wurden um ihre keuschen Wünsche herum derartige Leichengerüste von Verbrechen und unerhörten Sünden aufgerichtet, daß sie kaum zu wünschen und einem [...] Mann ins Antlitz zu blicken wagt. Und wenn sie in sittsamer Kühnheit gewillt war, den Männern ins Gesicht zu schauen, was hätte sie von ihnen kennengelernt? Nichts anderes als die äußere Hülle. [...] [...] wann haben wir sie mit den allmächtigsten Waffen ihrer Unschuld allein gelassen, um den Kampf mit der wahren Liebe oder der Heuchelei, mit der echten Leidenschaft oder der Sinneslust aufzunehmen? Und wir behaupten noch, daß sie wählt und man ihr die freie Wahl überläßt?

Man hat den Mädchen also nicht zugetraut, dass sie ihre Unschuld bewahren, sondern hat sie künstlich eingemauert – und irgendwann direkt in den Hafen der Ehe gesteuert. Heute ist es umgekehrt: Auch die Mädchen dürfen immer mehr ,alles’ – aber was innere Unschuld ist, weiß in der Welt kaum noch eine Seele. Nicht die Heuchelei hat gesiegt, aber die Profanisierung – die Entheiligung der Begegnung der Geschlechter.[43] – So gesehen war die Abschirmung der Mädchen zwar künstlich, sicherte aber durch ihre Unerfahrenheit zumindest ihre Unschuld – allerdings zu einem viel zu hohen Preis, nämlich der Dominanz liebloser Ehen. Die einzige Alternative wäre gewesen, beide Geschlechter aufrichtig zur Unschuld der Liebe zu erziehen und sie dann freizulassen. Heute lässt man sie frei, aber ohne alles.

Es gibt keine Alternative zu der Erziehung eines Idealismus, eines Wissens um die Heiligkeit der Liebe und was es bedeutet, einander zu schenken... Und so äußert sich auch Mantegazza in diesem Sinne. Den Liebenden sei Geduld aufzuerlegen, um ,die flüchtigen Wünsche zu zerstreuen und die wahre Liebe zu bestärken’. Bei den Töchtern seien ohne Heuchelei Keuschheit und persönliche Würde zu erziehen, dann werden sie das Richtige tun, das Falsche nicht zulassen.[238]

Mantegazza geißelt es auch, ein Mädchen in völliger Unmündigkeit und Bildungslosigkeit zu erziehen – denn so wird sie nie eine Gefährtin werden können.[239f][44] Und er tritt gegen die herrschende katholische Auffassung für die Möglichkeit der Scheidung ein.[240][45] Unter den über fünfzig folgenden ,Lehrsprüchen’ findet sich dann auch der Rat:

Die Frau soll, bevor sie dem zukünftigen Mann den Namen eines Gatten beilegt, ihn wenigstens einmal nach dem Mittagsmahl gesehen, und ihn im Zorn beobachtet haben.
Der Mann soll, bevor er eine Frau auf ewig zu der Seinen macht, dieselbe wenigstens einmal im Hemd gesehen haben, und sollte er dabei sich auch so erniedrigen, durch das Schlüsselloch zu gucken.

Solche Ratschläge zeugen von einer tiefen Lebenserfahrung. Wie sich ein Mann gesättigt nach dem Mittagsmahl und im Zorn verhält, offenbart seinen gesamten Charakter. Und da für den Mann das Anziehende der wahren Gestalt so wesentlich ist, muss er wissen, ob die Frau durch allerlei Hilfsmittel nur so tut, als sei sie schön. Wie könnte er ihr sonst ein Leben lang treu bleiben und sie wahrhaft lieben?

Ein letztes Kapitel bringt dann noch ,Bruchstücke eines Gesetzbuches über die Kunst zu lieben und geliebt zu werden’. Von diesen einhundertdreiundsechzig Bruchstücken seien nur einige wenige zitiert. Eines beschreibt noch einmal den wirklich unglaublichen Einschlag der Liebe bei einem Mädchen.[46] Weitere bilden Aphorismen, die die Dinge gleichsam ins Ewige heben:

Eine Stunde lieben ist allgemein tierisch, einen Tag lieben ist allgemein menschlich, das ganze Leben lieben ist himmlisch, das ganze Leben ein einziges Wesen lieben ist göttlich.[254, XIV]

Der tierische Mann ist polygam, der menschliche Mann aber monogam.[254, XV]

Die Natur hat den Mann polygam erschaffen; die erhabene Mission der Frau besteht darin, ihn monogam zu machen.[254, XVI][47]

Die geliebte Frau ist stets ein Engel, möge sie Mutter, Schwester, Tochter oder Gattin heißen. [...] [255, XXVIII]

Von dem Moment an, als Mann und Frau den lieblichen Satz: „Ich liebe dich“ zusammen ausgesprochen haben, werden sie unbewußt zu Priestern eines Tempels, in dem sie das heilige Feuer der Sehnsucht aufbewahren müssen. Es durch zu viel Brennmaterial nicht zu ersticken oder durch zu wenig Luft oder zu viel Kälte zu verlöschen, bildet das große Geheimnis der ewigen Liebe.[255f, XXIX]

Das bedeutet: In der Liebe das Unendliche wachhalten, das nur im Idealischen möglich ist – und das allein das ewige Leben der Sehnsucht und damit der Liebe ermöglicht.

Die Sinneslust ist zuweilen die Mutter der Liebe, aber öfters ist sie deren Henker.[256, XXXI]

Niemand ist bedeckter als die mit bloßem Hemd verhüllte Unschuld, niemand ist nackter als die mit zwanzig Leinen- und Seidenhüllen angezogene Buhlerin.[259, LIX]

Um einen Mann zu erobern, genügt eine sehr mittelmäßige Schönheit oder ein gewisser Körperbau, es kann sogar genügen: eine Frau zu sein. Um eine Frau zu erobern, muß man ihr vor allem gefallen.[261, LXX][48]

Die allerletzte Kammerzofe kann den Apoll von Belvedère oder einen gekrönten König in fünf Minuten erobern, während Apoll von einer Dirne abgelehnt werden kann. Darin besteht die wahre Größe der Frau.[261, LXXII][49]

Die zwei Geschlechter erteilen sich mit rührender Wechselseitigkeit Liebesunterricht. Der Jüngling erlernt die Liebe von der dreißigjährigen Frau, und der vierzigjährige Mann lehrt dieselbe dem Mädchen.[270, CXXXVIII]

Mit dieser schönen, zeitlosen Wahrheit, die so sehr das Geheimnis der Parthenophilie berührt, verlassen wir Mantegazza – der selbst mit vierundzwanzig in Argentinien ein fünfzehnjähriges Mädchen geheiratet hatte.[50] Er hat über die Liebe in einer Höhe gedacht, die heute noch überhaupt nicht wieder erreicht, ja vielfach unrettbar verlorengegangen ist.[51] Dass er nicht dem heutigen ,Frauenbild’ entspricht – auch nicht dem Selbstbild der ,emanzipierten’ Frauen, ist evident. Jede Zeit muss auf ihre Weise glücklich werden. Die Frage ist nur, ob sie es ohne Liebe kann – und ob die Liebe nicht auf der Strecke bleibt, wenn Unschuld und Hingabe ihr Haupt verhüllen müssen, weil sie kein Herz mehr finden, um darin zu wohnen...
 

Fußnoten


[1] Wikipedia: Paolo Mantegazza. • Seine Werke über die Liebe erschienen in Mailand: 1854 ,Fisiologia del piacere’ (Physiologie des Genusses, Leipzig 1928), 1873 ,Fisiologia dell'amore’ (Die Physiologie der Liebe, Berlin 1924), 1877 ,Igiene dell'amore’ (Die Hygiene der Liebe, Leipzig 1927), 1886 ,Gli amori degli uomini. Saggio di una etnologia dell'amore’ (Die Geschlechtsverhältnisse des Menschen, Berlin 1925), 1887 ,Le estasi umane’ (Die Ekstasen des Menschen, Jena 1888, jeweils zwei Bände), 1893 ,Fisiologia della donna’ (Die Physiologie des Weibes, Berlin 81911). Ebd.

[2],Die ersten Eindrücke, welche wir in den ersten Jahren der Kindheit erhalten, drücken sich in unserm weichen Fleisch ab und bleiben bis zum letzten Athemzug.’ Paolo Mantegazza (1877): Die Hygiene der Liebe. Berlin 1887, S. 72, zitiert nach Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt/New York 2008, S. 131.

[3] Die Physiologie der Liebe ist wirklich ein tiefstes Mysterium. Sie beginnt schon auf den untersten Stufen des Lebens – bei der geheimnisvollen Anziehung zwischen weiblichen und männlichen Zellen. Ernst Haeckel schreibt: ,So wunderbar ist die Liebe und so unendlich bedeutungsvoll ihr Einfluß auf das Seelenleben [...], daß gerade hier mehr als irgendwo die „übernatürliche“ Wirkung jeder natürlichen Erklärung zu spotten scheint. Und doch führt uns trotz alledem die vergleichende Entwicklungsgeschichte ganz klar und unzweifelhaft auf die älteste Quelle der Liebe zurück: auf die Wahlverwandtschaft zweier verschiedener erotischer Zellen: Spermazelle und Eizelle (Erotischer Chemotropismus). Ernst Haeckel: Anthropogenie oder Entwicklungsgeschichte des Menschen: Zweiter Teil: Stammesgeschichte oder Phylogenie. Leipzig 1910, Nachdruck Norderstedt 2013, S. 875.

[4] Vergleiche Paul Gerhardts Lied ,Geh aus mein Herz und suche Freud’ (1653): ,Narzissus und die Tulipan, / Die ziehen sich viel schöner an, / Als Salomonis Seide.’

[5] Man fühlt sich an den wunderbaren Film ,Der Zauber von Malèna’ (2000) erinnert. Dort verliebt sich der Junge Renato in die schöne, mutmaßliche Kriegswitwe Malèna und wird ihr heimlicher Beschützer gegen alle Verleumdungen. Malèna wurde gespielt von Monica Bellucci, damals Mitte dreißig.

[6] Hier ist also die früher verbreitete Überzeugung von der ,Sinnlichkeit des Weibes’ bereits völlig verlassen.

[7] Mantegazza folgt hier keineswegs der wechselhaften Moral eines Casanova, denn nur eine Seite später fährt er fort: ,Die Lektüre der übrigen Seiten wird [...] zeigen, daß niemand mehr als ich die Liebe in die höchsten Regionen des Idealen zu tragen beabsichtigt [...].’[50]

[8],Kann es unter der Sonne einen Mann und ein Weib geben, die sich gerne sehen, lieb haben und nie den Wunsch gehegt haben, sich nicht einmal gegenseitig zu küssen? Allerdings; nun denn, diese zwei Engel sind Freunde, und ich nehme die psychologische Erscheinung einer zwischen zwei geschlechtlich verschiedenen Personen geschlossenen Freundschaft als möglich an.’[55] • Hier ist Mantegazza ganz korrekter Wissenschaftler! Berücksichtigt werden muss selbstverständlich auch, dass zwei solche Menschen ihre erotischen Empfindungen, einschließlich des Wunsches, einander vielleicht auch einmal zu küssen, ins Unterbewusste verdrängen können!

[9],Die Frau wird leicht gerührt, sie kann ungestraft nicht leiden sehen und gibt oft nicht aus Sinneslust, sondern aus Mitleid nach [...].’[56]

[10] Mantegazza meint auch hier keineswegs den berufsmäßigen Verführer. Das Kapitel endet: ,Ohne Liebe ist die Verführung nur ein Wollustraub oder ein Handel mit stachelnder Eitelkeit, sie ist ein Verbrechen oder ein Laster.’[71] • Mit anderen Worten: mehr oder weniger Vergewaltigung oder bloße Trophäenjagd.

[11] Hier ist dieses Wort weit unschuldiger gemeint als zuvor, siehe auch Seite 211.

[12] Natürlich kann auch die Frau heute ,erfolgreiche Managerin’ sein, finanziell selbstständig oder sogar Alleinverdienerin. Die Frage ist nur, ob das alles erotisch noch irgendwie befriedigt... Natürlich kann man sehr ,emanzipierten Sex’ miteinander haben, nebenbei Gütertrennung oder natürlich gar nicht erst geheiratet. Die Liebe fehlt dann völlig – man kann es nur wiederholen. Die Zeiten des emanzipierten Sex werden seelisch immer leerer – das Ende dieser Entwicklung ist noch lange nicht erreicht.

[13] Die Vestalinnen waren die jungfräulichen Priesterinnen der Vesta, ,die im Alter von sechs bis zehn Jahren für eine mindestens dreißigjährige Dienstzeit berufen wurden. Ihre Hauptaufgabe war es, das Herdfeuer im Tempel der Vesta zu hüten, das niemals erlöschen durfte, und das Wasser aus der heiligen Quelle der Nymphe Egeria zu holen, das zur Reinigung des Tempels verwendet wurde. [...] Eine unkeusche Vestalin wurde aus der Priesterschaft entfernt und konnte lebendig begraben werden.’ Wikipedia: Vestalin. • Eine Vestalin im übertragenen Sinne hütet also in heiligem Ernst und heiliger Unschuld eine heilige Flamme – im obigen Zitat die Keuschheit selbst!

[14] Mit anderen Worten: Selbst die Prostituierte hat einen Glanz, den der Freier vielleicht niemals wahrnehmen wird. Die Unschuld ist auf ihrer Seite... Man denke auch an Christus und die Ehebrecherin!

[15] Gemeint ist die elementare körperliche Anziehung und das entsprechende Begehren nach dem Anderen. Dahinter aber steht das Geheimnis des Eros als gemeinsamer Quell von sinnlicher und seelischer Liebe.

[16] In jenem seiner ,Fragmente’, das gleichsam seinen magischen Idealismus ganz und gar ausdrückt, schreibt er: ,Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.’ • Der Mensch ist ein unendliches Wesen – aber selbst der Leib erhält einen unendlichen Schein, wenn er nie ganz gesehen wird. So bleibt das Begehren und die Erotik immer lebendig, denn ihr heiliges Geheimnis besteht nicht in der Nacktheit, sondern in der Verhüllung, in der Sehnsucht nach dem Verborgenen, nach dem gerade dadurch so unendlich (!) Anziehenden...

[17] Das heißt: in der lebensvollen Erinnerung immer wieder.

[18] Und es gäbe nur eine Vestalin – das betone ich in meinen Büchern immer wieder –, die ihn und die ganze Welt davon erlösen könnte: das Mädchen. Das wirkliche Mädchen, das all diese Egoismen weder nötig hat noch versteht, weil es in dem ganz anderen lebt: in den heiligen Tiefen einer unschuldigen Seele, einer Mädchenseele. • Selbst ,freche Mädchen’ haben noch etwas vom Mädchen, solange man den Hintergrund spürt. Das Wort ,frech’ hebt sich ja von etwas ab – und dies ist das Eigentliche. Ein Mädchen darf ,frech’ werden – und nähert sich dann dem Männlichen, damit auch dem Egoistischen, Kühlen. Aber es nähert sich nur – und es bleibt immer ein Hintergrund. Dies ist das Mädchen in Wahrheit. Und selbst freche Mädchen verlieren diesen Hintergrund nicht – und wo sie es tun, sind sie wirklich nur noch ,zufällig weibliche Wesen’, nur noch das. • Jungen und Männer, die das allzu Selbstbezogene ablegen, sind dagegen keineswegs nur noch ,zufällig männliche Wesen’. Hieran sieht man, dass es das männliche Geschlecht ist, das immer schon dabei ist, das Menschliche ein Stück weit oder sogar sehr weitgehend zu verlieren – und das die Mädchen und Frauen, wenn sie ihm folgen, ihr Weibliches noch viel schneller verlieren, aus einem einzigen Grund: weil sie gerade die Bewahrerinnen des zutiefst Menschlichen waren und sind. Der Junge und Mann muss es von ihnen lernen. Wenn sie dagegen vom männlichen Geschlecht ,lernen’, verkehrt sich alles, weil dann der Weg des Abstiegs und Verlustes für beide Geschlechter nur fortgesetzt wird.

[19] Man vergleiche hier das berührende Langgedicht ,Die Kinder der Lilith’ (1928) von Isolde Kurz, das genau dies tief lebendig schildert: die begeisternde, dem Himmel nahe Lilith und den trägen Adam.►6

[20] Möglicherweise meint Mantegazza ja teilweise noch das Mädchen. Er nennt ja das sechzehnjährige Mädchen bereits ,Jungfrau’ und ,Weib’. In diesen Bänden nenne ich das Mädchen jedes weibliche Wesen von der Geschlechtsreife an bis zum Verlust der inneren Unschuld. Auch eine ,Frau’ Anfang zwanzig kann in diesem besten Sinne noch ein Mädchen sein. Es geht um die heilige Jugendkraft schlechthin, um eine ursprüngliche Reinheit des Herzens.

[21] Im Sinne eines Empfinden des Wesentlichen, das nicht an der Oberfläche bleibt, vielmehr noch die feinsten Nuancen spürt und empathisch mitempfindet.

[22] Dies habe ich unter anderem in meinem Roman ,Wintermädchen’ (2018) erlebbar gemacht, wo ein Großvater seiner Enkelin den Glauben an sich selbst, sie ihm aber den Glauben an Gott schenkt...

[23] Mit anderen Worten: Der Mann soll dahin kommen, dass er nicht den selbstbezogenen Ehrgeiz kultiviert und eigenen (Ruhmes-)Früchten nachstrebt, sondern dass er alles zu Ehren einer Frau vollbringt, in Sehnsucht nach ihrer Liebe, ihrer Anerkennung und in Sehnsucht nach dem Idealischen überhaupt.

[24] Dies beginnt schon bei zu großer Nähe. Mit Hilfe einer spirituellen Menschenkunde kann man hier von dem Eindringen in die Aura eines anderen Menschen sprechen. Der Lebens- und der Empfindungsleib (anthroposophisch: ,Ätherleib’ und ,Astralleib’) gehen beide über die physischen Körpergrenzen hinaus!

[25] So vermeiden viele orthodoxe Juden im Alltag den Händedruck beim anderen Geschlecht. Jehoschua Ahrens: Darf ich Ihnen die Hand geben? Jüdische Allgemeine, 23.11.2015.

[26] Der Zauber einer zutiefst weiblichen, das heißt sehr femininen oder mädchenhaften Stimme, ist wirklich unbeschreiblich. Sie kommt der schönsten Gestalt gleich und ist für das Wahrnehmen von ,Schönheit’ und ,Weiblichkeit’ absolut unverzichtbar. Denn man denke einmal an die wundervollste Gestalt ... die plötzlich eine hässliche oder gar eine tiefe Männerstimme hätte!

[27] Im Sinne von: aus unserer Alltäglichkeit auf-stört und ab-lenkt.

[28] Wer hier nur eine Art ,späten Begehrens’ sieht, ist wirklich blind für das Eigentliche, für das seelische Mysterium. Von Begehren oder gar Antasten steht hier nicht das Geringste. Gewiesen ist auf die Liebe, auf das Berühtwerden vom Wesen des Mädchens.

[29] Die ,Liebesbeleidigung’ dürfte eine echte Kränkung eines aufrichtigen Gefühls meinen; dann gibt es das schlichte kalte ,Besitzdenken’ und dessen ,Schädigung’; weiterhin die beleidigte, also narzisstische Eigenliebe und schließlich konstitutionell-pathologisches Misstrauen.

[30] Statt ,mehr einem Engel als einer Frau ähnlich’ könnte man auch sagen: Mädchen ... obwohl natürlich auch Frauen Engeln gleichen können.

[31] Und zugleich schreibt er gegen die Nonnenkeuschheit an. Diese ,ist eine maskierte Form der Onanie, oder aber eine Krankheit, eine Wahnidee, sie ist das Geständnis, daß dem Menschen etwas fehlt, oder aber eine gewaltsame Amputation, eine grausame Verstümmelung.’[152] • Und: ,Es gibt [...] eine [...] vom Ehrgeiz einer schlecht verstandenen Tugend, oder vom Egoismus auferlegte, absolute Keuschheit [...], die sich im Grunde auf eine Selbstanbetung, auf eine tolle Konzentrierung von Kräften beschränkt, um erhabene oder lächerliche Zwecke zu erreichen. Der vom menschlichen Willen daraus gezogene Nutzen steht fast immer unter unseren Wünschen und Hoffnungen, denn die Natur rächt sich über ihre Beleidiger in mannigfachster Weise. In vielen Fällen jedoch ist die wahre, aufrichtige, vom eisernen Willen auferlegte Keuschheit bewunderungswürdig und unter die kostbarsten und seltensten Dinge der Museen zu verlegen. Nicht eine von hundert jener von der Geschichte verehrten Keuschheiten verdient die Huldigung, die man ihr darzubringen pflegt, denn viele unter ihnen sind falsch oder durch Unvermögen leicht auszüben [...].’[153]

[32] Vergleiche Victor Hugo, der schrieb: ,Der Mann steht, wo die Erde endet, die Frau, wo der Himmel beginnt.’ Und: ,Der Mann ist ein Genie, die Frau ist ein Engel.’ (L'homme et la femme). • , L'homme est placé où finit la terre; La femme où commence le ciel’. ,L'homme est un génie, la femme un ange.’ Quelle fraglich.

[33],Zuweilen lieben jedoch die, einen männlichen Charakter aufweisenden Frauen in männlicher Weise, und die mit einem sanften Gemüt begabten Männer bieten in ihrer Liebe eine solche Zärtlichkeit, Schwäche und derartige Liebesbilder, die man nur bei einer Frau beobachten sollte.’[162] • Diesem herabsetzenden ,sollte’ muss man erwidern, dass sich die Dinge spätestens dann völlig ändern, wenn ein Mann sich der Liebe zu einem Mädchen hingibt. Ich habe dies in mehreren Romanen geschildert. Das liegt zum einen daran, dass sich der Mann der Unschuld eines Mädchens und der Liebe zu dieser Unschuld zutiefst hingeben kann, darin geradezu selbst eine neue Unschuld gewinnend. Und zum anderen daran, dass er gegenüber einem verehrten Mädchen einen sehr unsicheren Stand hat – nicht er kann das Mädchen jederzeit verlassen, sondern sie ihn. Damit wird auch seine Rolle sehr verletzlich und sehr ,weiblich’. Gegenüber einem Mädchen kann ein Mann so sanft und buchstäblich liebe-voll werden wie niemals sonst.

[34],[...] und bis zum letzten Seufzer entlauben sie mit ihren, bis zum Skelett abgezehrten Händen die Rosenbüsche und erkaufen ein „Ich liebe dich“ [einer Prostituierten, H.N.], das eisiger als Schnee und falscher als ein Jesuit ist, zu einem sehr teueren Preise.’[175] • Aber auch ein alter Mann kann ebenso wie jeder andere sinnlich lieben und begehren, ohne ,lüstern’ zu sein. Siehe meinen Roman ,Wintermädchen’ (2018).

[35] Er fügt hinzu: ,In dieser Weise lieben die Blonden mit feiner, rosiger Haut, die Deutschen (?) und die Skrofelsüchtigen [= Skrofulose, H.N.].’ • Das Fragezeichen ist vermutlich vom Übersetzer, denn dieser fügt in einer Fußnote hinzu: ,Gegen diese, die totale Unkenntnis deutscher Gemütsart verratende, lächerliche Behauptung müssen wir energisch protestieren.’ • Das Zärtliche galt damals also sowohl für den leidenschaftlichen Italiener als auch für den Deutschen als lächerlich! Beide waren sich nicht bewusst, dass es auch eine männliche Zärtlichkeit gibt, geben kann und geben muss – allein schon deshalb, weil viele Mädchen (!) sich eine solche wünschen. Und mit vollem Recht, und auch der Mann wird einem Mädchen gegenüber unmittelbar von selbst zärtlich. Er empfindet das Mädchenwesen ... und seine eigene tiefste Liebe zu diesem...

[36],Während er vor sich selbst errötet und sich und die Liebe verflucht, die ihn zu einer täglichen Niedrigkeit verurteilt, errötet er noch mehr vor dem Weibe, dessen er [...] stets weniger würdig wird. Er vergieftet die Liebeswoge schon bei ihrem ersten Hervorquellen, und wenn ihm auch später das Lieben gelingt, so hat er die Reinheit seines Geschmacks und seiner Sehnsucht verdorben [...]. | Die Liebe ist die höchste Errungenschaft, die freudigste aller Freuden, die Wonne aller Wonnen; ihr entsagen und sie mit einer Schande ersetzen, ist mehr als ein Verbrechen, es ist eine Ruchlosigkeit. Hundertmal besser ist die Keuschheit mit ihren erhabenen Foltern, hundertmal besser ist die Prostitution, mit dem ihr anhaftenden Kot.’ • Während Kant das Verwerfliche in der Verweigerung der Fortpflanzung des Menschengeschlechts (= Pflicht) sah, sieht Mantegazza es in einem Verrat an der Liebe – welch ein Unterschied!

[37],[...] wenn man einem Mädchen die Liebe wie eine Pflicht auf-erlegt, und statt der Liebe der Haß, statt der Neigung die Verachtung emporschießt, so bemerke ich, daß die Liebe zu einer bestimmten Stunde wie eine Mahlzeit – nicht befohlen werden kann, und daß, wenn aus den unzüchtigen Verbindungen des Goldes und der Eitelkeit Ruchlosigkeit und Bastarde geboren werden, die Liebe damit nichts gemein hat, denn sie war abwesend; wer ein Alibi nachweisen kann, wird bekanntlich selbst vom grausamsten, weitblickendsten Staatsanwalt gleich freigesprochen.’[214f]

[38],Lieben heißt, einem einzigen ganz anzugehören; geliebt werden heißt, der lebendige Teil eines andern geworden zu sein. Die Lüge fängt dann an, wenn man mit zynischer Liederlichkeit den Mann oder das Weib in zwei Teile trennt, deren einer dem Körper, der zweite (wie man zu sagen pflegt) der Seele gegeben wird. Die Liebe bildet ein Ganzes, das man, ohne es zu zerstören, nicht teilen kann, man kann und soll daher [...] nicht zwei menschliche Wesen mit jenem Gefühl zugleich lieben, das, ob seiner alle Neigungen überragenden Eigenschaft, „Liebe“ heißt, ausgenommen, wenn man beide Wesen verraten will.’[217f]

[39],Besser ist, den Liebesbecher aus der Hand entreißen und ihn in tausend Scherben zerschellen, als das Gift des Verrats oder den Wermut der Gleichgültigkeit im geheimen hineinzuschütten.’[221]

[40] In Wirklichkeit erweist sich die Sünde der Männer als viel größer, da sie das Liebe-Wesen der Frau derart schändlich verführen und missbrauchen!

[41] Ein grandioser Ausdruck, der aber nicht von Mantegazza selbst ist, da er später schreibt: ,Der Ehevertrag ist heutzutage (wie ein berühmter Schriftsteller gesagt) eine beeidete Prostitution, er ist ein Schacher von Kapitalien und Adelswappen bei den oberen Zehntausenden, und eine im großen Stil angelegte Proletarierfabrik bei den unteren Volksschichten.’[234] • Überall, wo es nicht um Liebe geht, geht es um Prostitution, denn alles andere als Liebe ist bereits ihre Schändung. Mantegazza sieht dieses Problem vor allem in Italien und Frankreich: ,Allein nicht alle europäischen Gesellschaften sind wie die unsrige (italienische) und die französische derartig verdorben, und die Ehe hat um so mehr Ansehen, desto weniger Heuchelei und Schacher ihr anhaftet.’[225]

[42],Und wenn ihr wirklich liebt diejenige, mit der ihr die traurige Mühe des täglichen Lebens, das Brot und das Bett teilet, warum gebet ihr ihr nicht die Würde einer Gattin?’[233]

[43] So gesehen war die Abschirmung der Mädchen zwar künstlich, aber sie sicherte durch ihre Unerfahrenheit zumindest ihre Unschuld – allerdings zu einem viel zu hohen Preis, nämlich der Dominanz von Ehen, die nicht auf Liebe gebaut waren. Die einzige Alternative wäre gewesen, beide Geschlechter aufrichtig zur Unschuld der Liebe zu erziehen und sie dann freizulassen. Heute lässt man sich frei, aber ohne alles.

[44],[...] wir beten sie an, wenn sie nur ein angenehmes, anmutiges und unterhaltendes Kätzchen ist. [...] Wir haben sie nur zum Hervorbringen von Blumen auferzogen, und dann beklagen wir uns, daß sie uns keine Früchte geben kann. [...] [...] allein das niedliche Kätzchen wurde für diese [...] Dinge nicht erzogen und antwortet unsern Wünschen weinend: „Ich weiß nicht, ich kann nicht.“’[239f]

[45],Wir verlangen die Scheidung, weil wir eine zu hohe Achtung vor der Ehe und der menschlichen Würde hegen; wir wollen sie haben, um den geschworenen Bund zwischen Mann und Frau noch inniger zu schließen.’[240] • ,Nur die moralischesten, einen hoheren Begriff von der Freiheit und der menschlichen Verantwortlichkeit habenden Nationen sind diejenigen, die in ihren Gesetzen die Scheidung aufgenommen haben, und doch benutzen dieselbe nur äußerst wenige Menschen [...].’[241]

[46],Die Mutter [...] hat mit ihm geatmet, geschlafen und schmerzvolle Nächte gewacht; mit ihm allein hat sie in den Freudentagen des Lebens gejauchzt. Mutter und Tochter haben sich durch alle in dem fünften Teil eines Jahrhunderts laufenden Millionen von Minuten Herz an Herz, Gedanke an Gedanke, Körper an Körper gedrückt. Wohlan, eines Tages begegnet jener rosige, zwanzigjährige Engel einem schwarzen, von einem paar Hosen herumgetragenen Schnurrbart auf seinem Lebensweg, und jener Schnurrbart und jene Hosen machen aus einer Liebe von zwanzig Jahren tabula rasa.’[252] • Dass ein ,Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen’ wird (Gen 2,24), mag noch angehen, aber derselbe Vorgang bei einem Mädchen, das so viel enger mit seiner Mutter verbunden ist (bzw. früher war), zeigt erst die ganze, fast unvorstellbare Allmacht der Liebe...

[47] Das bedeutet, es ist die Aufgabe der Frau, den Mann erst wahrhaft menschlich zu machen! Dies ist ein Gedanke, den große Geister immer wieder erkannt haben – siehe Goethes Wort im Faust: ,Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.’

[48] Das Mysterium ist, dass die schöne Frau dem Mann sehr oft bereits an sich gefällt, sie mag zunächst noch so dumm (Hintergrund der ,Blondinenwitze’) oder sogar böse sein. Um der Frau zu gefallen, braucht der Mann aber etwas Inneres.

[49] Und wieder zeigt sich: Status der Frau zählt für den Mann überhaupt nichts. Zeus hatte neben sich die höchste Gattin, Hera, und trotzdem war er ständig auf Seitensprüngen, weil er überall von Schönheit angezogen wurde. Aber auch die Frau hat ihre eigene Würde und schaut nicht auf Status – und ein Mädchen kann einen Gott zurückweisen...

[50] Tochter des Senators der Stadt Salta im Norden. Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt/New York 2008, S. 121.

[51] In voller Wirklichkeit hat Mantegazza eine Seelen-Wissenschaft entfaltet, die ihresgleichen sucht – und weder Vorgänger noch Nachfolger hatte. Denn Mantegazza dogmatisiert und fordert nicht, er beobachtet – und tut dies mit einer idealischen Begeisterung der Seele, ohne die jede Seelen-Wissenschaft zu einer Objekt-Wissenschaft würde, damit aber nicht mehr menschlich wäre. Sie wäre nur noch kühl-äußerlich beschreibend – Mantegazza aber erkennt noch. • Was also aus heutiger Sicht dogmatisch wirkt, weil es angeblich alte ,Rollenbilder’ bestätigt, ist ein Durchdringen zum Wesen. Und die heutige Zeit muss sich eingestehen, dass sie insbesondere mit dem Wesen der Mädchen und Frauen nicht mehr viel anfangen kann – und dass sie es dahin gebracht hat, dass selbst Mädchen und Frauen dieses ablegen wollen. Damit aber werden diese Zeit und ihre Vertreter immer wesenloser. Denn das Wesen der Liebe und das Wesen der Empfindung, beides tief und radikal verstanden, wird dann von niemandem mehr verkörpert, bewahrt, gerettet und auf sanfte Weise gelehrt. Es ist und es geht verloren.