Parthenophilie

Wedekind: Unschuld der Erotik


Frank Wedekind (1864-1918) war mit seinen gesellschaftskritischen Theaterstücken einer der meistgespielten Dramatikern seiner Zeit, auch wenn diese vielfach beschlagnahmt und mit Aufführungsverboten belegt wurden, da sie sich insbesondere auf sexuellem Gebiet gegen die bürgerliche Konventionen wandten. Am bekanntesten sind ,Frühlings Erwachen’ (1891) und ,Lulu’ (1913), letzteres eine Zusammenfassung aus ,Erdgeist’ (1895) und ,Die Büchse der Pandora’ (1902).[1]

In einem Erzählband[2] schreibt er in einem Aufsatz ,Über Erotik’ (1919),[3] dass sich der Leib die Geringschätzung und Entwürdigung des Fleisches durch den ,Geist’ auf Dauer niemals gefallen hat lassen. Demgegenüber gebe es auch eine andere Anschauung: ,Das Fleisch hat seinen eigenen Geist’ – und in diesem Sinne seien auch die Erzählungen seines Bandes geschrieben. Dieser Geist sei die Erotik.[4]

Tatsächlich ist die Anziehung der Leiber etwas sehr geheimnisvolles, das ohne das Wirken von etwas Geistigem auch gar nicht erklärt werden kann und das seine ureigene Unschuld hat. Wedekind steht immer wieder auf Seiten dieser Unschuld des Fleisches – und entlarvt die bürgerliche Heuchelei im Grunde als eigentliche geistlose Schmutzigkeit.

Er schreibt, die Familie habe die Jugend nicht über die Sexualität aufzuklären, sondern:[5]

[...] vor allem darüber aufzuklären, daß es in der Natur überhaupt gar keine unanständigen Vorgänge gibt, sondern nur nützliche und schädliche, vernünftige und unvernünftige. Daß es in der Natur aber unanständige Menschen gibt, die über diese Vorgänge nicht anständig reden, oder die sich bei diesen Vorgängen nicht anständig benehmen können.
Warum? Weil es ihnen an Bildung, an geistiger Freiheit fehlt.
Die Jugend wächst nicht in angeborener Dummheit und Blindheit heran. Ein wahnwitziges Verbrechen ist es hingegeen, die Jugend systematisch zur Dummheit und Blindheit ihrer Sexualität gegenüber [...] zu erziehen, sie systematisch auf den Holzweg zu führen.

Also nicht die Sexualität ist etwas ,Unanständiges’, sondern die Menschen können nicht anständig mit ihr umgehen – weil ihnen die geistige Freiheit fehlt. Wer die Sexualität unterdrückt, wird gerade am meisten von ihr bestimmt – in völlig verzerrter Weise.

Die Eltern vermeiden alle Gespräche über erotische Fragen deshalb, weil sie dazu unfähig sind, nie gelernt haben, ,ernst darüber zu sprechen’.[6] Sobald das Thema auch nur berührt wird, denkt man zum Beispiel schon, der Partner sei innerlich bereits auf Abwegen.[7] So wird alles Sprechen unterdrückt. Die prüde Angst vor dem Thema, die ,himmelhohe Schranke des Anstandes’ bewirkt eine ,offenkundige Vogel-Strauß-Politik’, in der man technische Maschinen bis ins Detail kennt, nicht aber die Mechanismen einer Ehe.[10][4]

Die sogenannte Tugend des Schamgefühls sei ,auf innigste verwand[t] mit geistiger Unklarheit, mit Schwäche und Unentschlossenheit’.[11][5] Über Sexualität zu sprechen, erfordert nichts weiter als Umsicht, Klugheit, kurzum ,eine gesteigerte Geistestätigkeit’, ihre Erörterung könne ,geradezu zu einer geistigen Schulung’ werden.[12] Man müsse über sie eben vorsichtiger als über Religion oder Politik sprechen.

Das Gegenteil dieser behutsamen Haltung ist die Zote, die damals überall verbreitet war. Sie ist eine Entwürdigung der Sexualität – verbreitet vor allem bei jenen, ,die blinde Sklaven ihrer Triebe sind’.[13][6] Die ,rohen, zotigen Menschen’ seien die unversöhnlichsten ,Feinde einer ernsten ehrfurchtsvollen Ergründung erotischer Fragen’.

Im Folgenden führt Wedekind aus, dass eine Gesellschaft, die ,die ernste, künstlerisch wertvolle Erörterung sexueller Fragen’ (etwa in Gestalt einer Erzählung!) unterdrückt, während sie die öffentliche Zote bedenkenlos zulässt, sich einer schwereren Unsittlichkeit schuldig macht als ein Vergewaltiger oder Lustmörder, denn sie schafft und erhält die ,sexuelle Wirrnis’, die jene Handlungen erst herbeiführt und begünstigt.[15]

Der erste Schritt zu einer besseren Welt ist also ein klareres, unschuldigeres Verhältnis zur Sexualität selbst. Dann wird man auch klar ermessen können, was man den Kindern davon sagen kann und muss, ,die sich in ihrer Unwissenheit innig danach sehnen, ernst und ehrfurchtsvoll über ihre eigenen Uranfänge sprechen zu hören’.[16]

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In der ersten Erzählung, ,Der Brand von Egliswyl’[7] geht es um einen jungen Sträfling, der seine kurze Lebensgeschichte erzählt: Als völlig unschuldigem Bauernknecht wurden ihm von einem Mädchen schöne Augen gemacht, und schließlich war er der Liebling der schönsten Mädchen des Dorfes, was er unbefangen auskostete. Dann aber verliebte er sich in ein Mädchen.[8] Er will sparen und sie eines Tages heiraten. Doch dann weist sie ihn ab. Der Schmerz wütet so sehr, so existenziell in ihm,[9] dass er sein Dorf anzündet.

In der Erzählung ,Rabbi Esra’[10] erzählt ein Rabbi seinem Sohn, der ohne Erfahrung ein Mädchen liebt und heiraten will, wie er selbst einst zuerst die schönsten Mädchen begehrt habe, sich dann aber für ,ein Kind des Teufels’ hielt und stattdessen das dürre Mädchen Lea zur Frau nahm. Ihre sexuellen Begegnungen sind jedoch beiden wie bittere Medizin, auch seelisch-gedanklich kommen sie nicht zusammen, dennoch liebt er sie, aber sie stirbt vor der Geburt ihres Kindes. Der Rabbi flucht Gott und geht zu den Prostituierten. Aber je schöner eine Frau ist, desto weniger spürt er von Sünde, desto mehr können sie auch miteinander reden. Und er erkennt, ,daß die fleischliche Liebe nicht ist Teufelsdienst, wenn der Mensch die Pfade wandelt, die ihm der Herr gewiesen, weil er zwei Menschen hat füreinander geschaffen außen und innen, an Leib und an Seele.’[53]

,Die Fürstin Russalka’ handelt davon, wie die Titelfigur dazu kam, einen Sozialistenführer zu heiraten. Russalka war ein stolzes Kind, sehr gläubig und oft stundenlang im Zwiegespräch mit Gott. Als ihre Schwester ihr erzählt, wie die Kinder entstehen, ,da hätte ich sie erwürgen mögen’.[94] Um ihr zu beweisen, dass es keine unehelichen Kinder gibt, gibt sie sich mit ihren sechzehn Jahren einem zwölf Jahre älteren Herzog hin. Obwohl ihr zunehmend bange wird, wird sie tatsächlich nicht schwanger. Doch verliebt sie sich schließlich in ihn, und er heiratet sie. Noch immer bekommt sie kein Kind, die Liebe des Herzogs kühlt schnell wieder ab, und während ihre Cousine sie zu einer Atheistin werden lässt, hat er längst eine neue Geliebte geschwängert. Russalka wird, geschieden, eine Art emanzipierte Frau, lernt aber dann den Sozialistenführer kennen, der ihre Weiblichkeit beschwört und sie bittet, seine Frau zu werden. Trotz ihrer Liebe lehnt sie ab und ist dann so verzweifelt, dass sie sich umbringen will, aber gerettet wird. Schließlich wird sie auf seine innigen Bitten hin doch seine Frau, obwohl sie sich grenzenlos unwürdig fühlt. Und nun bekommt sie endlich ein Kind und findet ihr ganzes Glück.

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In ,Das Opferlamm’[11] wird eine schöne Münchnerin, die sich sehr bald als Prostituierte erweist, gefragt, wie sie ,hierher gekommen’ sei. Der Mann will ihr ihr ,Gefallensein’ und ihre ,Schuld’ so recht vor Augen führen:[106]

So genügte es ihm auch nicht, daß das seiner Menschenwürde beraubte, hübsche Mädchen einfach, unbefangen und mit leichtem Herzen sündigte, indem es sich seinen Begierden überließ. Er mußte es ihr erst noch speziell zu Gemüte führen, was sie tat, um sich dabei an dem letzten leisen Schmerz der armen verlorenen Seele zu weiden.

So stellt er ihr allerhand Fragen, die er ihr jeweils unterstellt: Ob der Hunger sie hergetrieben habe, ob sie böse Träume hatte, ihre Jugend genießen wollte, vor zu viel Arbeit geflohen sei – aber all das ist nicht der Fall. Und dann erzählt Martha ihre Geschichte, nachdem sie sogar extra noch das Licht ausgelöscht hatte. Sie war erst vierzehn, als sie schon in eine Schneiderlehre geschickt wurde. Mit sechzehn wird sie schon von allen Männern begehrt. Eines Abends muss sie ein Paket ausliefern, als sie in ein ungeheures Schneeunwetter gerät. Ein Herr hilft ihr, und von da an wird sie ihn nicht mehr los. Als jedoch auch sie seine Frage, ob sie ihn liebe, bejaht, fordert er Beweise.

Sie ist so unschuldig, dass sie gar nicht weiß, was man dann tut. Irgendwann aber gibt sie sich ihm doch hin. Sie gibt ihm auch Geld für seine kranke Mutter (wie er behauptet). Auch sie denkt, man könne unverheitatet keine Kinder bekommen. Als er nach Zürich versetzt wird, verführt ihn vor Marthas Augen eine andere Frau, bei der er schon in der zweiten Nacht bleibt. Sie (das Mädchen) und er dürften wegen der Polizei nicht zusammen wohnen, und während zwei Wochen besucht er sie an nur drei Tagen. Als sie fragt, ob er sie nicht mehr liebe, erwidert er, wie könne er, wenn er nicht mehr zu ihr komme. Sie ist so schockiert, dass ihr ,grün und blau vor den Augen’ wird und sie fortrennt. Ihre Liebe war zutiefst aufrichtig:[124]

Ich fühlte und dachte alles nur so, wie wenn ich gar nicht mehr auf der Welt lebte, wie wenn er und sonst niemand dagewesen wäre. Ich liebte ihn und liebte ihn immer noch, ich hätte mein ganzes Leben lang für ihn arbeiten können; und er konnte mich nicht mehr lieben, weil er nicht mehr zu mir kam.

Sie ahnt auf einmal, dass er von Anfang an nichts anderes als ihren Körper gewollt habe. Sie will sich ertränken, aber selbst das Wasser erscheint ihr als zu lieb:[125]

Ich mußte mich entwürdigen lassen, so tief, so tief wie es möglich war, dann spürte ich vielleicht nichts mehr von den Krallen, die mir das Herz abdrückten.

Weil sie von ihrem Geliebten gehört hatte, dass es in Zürich Frauen gebe, ,die junge Mädchen zu sich nähmen, um sie zu verkaufen und bis aufs Blut auszusaugen’, fragt sie einen Polizisten, ,wo solch eine Frau wäre’, und behauptet, sie sei schon einmal dort gewesen. So kam sie hierher...[125]

Der Mann ist von ihrer Unschuld fürs Leben erschüttert:[127]

Er war sich nie so klein erschienen; er war sich aber auch selber nie so gut erschienen.[12] [...] Als er am Abend hinging, hatte er die Maske des Bußpredigers angenommen. Jetzt war es ihm, als hätte er selbst dem Bußprediger gelauscht: Er hatte an Unschuld glauben gelernt, wo er es am wenigsten gesucht. Er mußte sich selbst verachten, wenn er an das Mädchen zurückdachte. Sie hatte nie etwas Böses gewollt und das schwarze Los gezogen. Er hatte nie in seinem Leben etwas Gutes gewollt und war noch nicht gänzlich verlassen; das fühlte er. Der Eindruck blieb ihm fürs Leben.

Wedekind zeichnet hier die Engelsnatur des Mädchens – nicht nur dieses Mädchens, sondern des Mädchens überhaupt. Im Grunde ist selbst seine ,Lulu’ von ähnlicher Unschuld, und die Männer sind es nie.

Und ganz nebenbei leistet Wedekind einen erschütternden Beitrag zur Aufklärung einer tiefgreifenden psychologischen Frage. Es wird heute psychoanalytisch oft davon gesprochen, dass Jungen und Männer Aggressionen meist nach außen richten, Mädchen und Frauen jedoch oft nach innen, gegen sich selbst. In Wedekinds Erzählung wird jedoch sehr deutlich, dass es sich um etwas grundsätzlich Anderes handelt.

Die Eltern, die ihre Kinder prügeln, wollen unbewusst sicherlich wirklich oft im Grunde ihren Partner prügeln. Ein Mädchen, das seine Eltern hasst, kann die Aggression gegen sich selbst wenden und sich zum Beispiel ,ritzen’. Aber was liegt bei diesem Mädchen vor? Versuchen wir noch einmal, aufrichtig und tief mitzuempfinden, was sie empfindet:

Ich mußte mich entwürdigen lassen, so tief, so tief wie es möglich war, dann spürte ich vielleicht nichts mehr von den Krallen, die mir das Herz abdrückten.

Am Anfang stehen Krallen, die ihr das Herz abdrückten. Da ist keinerlei Aggression – da ist nur das, was ihr Geliebter ihr angetan hat. Die Folgen seiner Tat – sie wirken nun weiter in ihrem Herzen, bohren sich wie Lanzen in ihr wehrloses Herz, das den Schmerz nur erleiden kann, ohne ihm etwas entgegenzusetzen. Und erst recht, ohne ihm etwas entgegensetzen zu wollen. Da ist nicht ein Hauch von Aggression gegen jenen, der sie so zutiefst verletzt und enttäuscht hat. Mit anderen Worten: Der Mann quält und hasst – das Mädchen liebt und leidet. Wie ein Urphänomen: Der Mann kennt Agressionen – das Mädchen kennt sie nicht.

Das Mädchen greift nun nur deshalb zu selbstzerstörendem Verhalten, um den Urschmerz nicht mehr empfinden zu müssen, weil sie den vom Geliebten verursachten Schmerz nicht ertragen kann. Jeden anderen Schmerz kann sie leichter ertragen als diesen. Weil aber dieser so tief und unauslöschlich ist, muss sie in den tiefsten Abgrund geraten, um ihn vielleicht eines Tages nicht mehr fühlen zu müssen. Die einzige Hoffnung ist, etwas zu finden, was genauso schlimm sein kann – um dann dies zu spüren und nicht mehr das andere...

Selbstaggression ist bei einem zutiefst unschuldigen Mädchen also nicht sublimierte Fremdaggression – kann es gar nicht, denn das Mädchen ist ja in seiner ganzen Seele unschuldig –, sondern es ist die verzweifelte Suche nach einer Rettung vor der unauslöschlichen Folge der Aggression des untreuen, schäbigen Geliebten, den sie so zutiefst aufrichtig geliebt hatte und sogar immer noch liebt. So ist selbstzerstörerisches Verhalten Folge tiefster Treue, Folge des eigenen Nicht-lieblos-sein-Könnens. Diese abgrundtiefe Gutheit des eigenen Herzens macht die Seele zutiefst und unendlich verletzlich, der Schmerz, der erlitten wird, wird grenzenlos, denn man hat selbst grenzenlos geliebt und vertraut.

Dieser Schmerz ist nicht zu ertragen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ihn doch irgendwie zu überleben: Die eigene Liebe abtöten – diese Möglichkeit scheidet aus, denn dafür ist das eigene Herz zu treu. Es könnte niemals aufhören zu lieben. Lieber hört es nie auf zu leiden. Und die zweite Möglichkeit: Sich selbst vernichten. Das zu tun, was der Geliebte auch schon getan hat. Man übernimmt sein Urteil. Man richtet das Schwert selbst gegen sich – dann muss man nicht mehr das Schwert des Geliebten fühlen...

Selbstaggression des Mädchens ist also nicht ein Nach-innen-Richten einer unbewusst nach außen strebenden Aggression, sondern ein ,Harmonieren’ mit und Verdoppeln der vom Anderen ausgehenden und erlebten Aggression.

Wedekind ist der geniale Beschützer und Offenbarer der wahren Mädchenunschuld – die bis heute so wenig begriffen wird.

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Mit der Erzählung ,Die Liebe auf den ersten Blick’ verurteilt Wedekind seine Gesellschaft, die Frauen immer nur als schöne ,Begleitumstände’ des Mannes betrachtete – und beweist er, dass ein Mann eine Frau auch wahrhaft erkennen kann.[13]

Ein junges Mädchen empfindet es als Zumutung, das ein Mann, der sie nur einen Abend gesehen hat, am anderen Tag um ihre Hand anhält – zumal ihr Vater als Millionär gilt. Doch der Mann bekennt:[132]

Sie halten mich für eingebildet, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich Ihr ganzes Wesen, Ihr ganzes Fühlen und Denken, Ihre Art zu lieben, zu leiden und sich zu freuen, aus Ihrer Erscheinung gestern abend erkannt, als das erkannt, was ich seit Jahren in dieser Welt suche und was ich so leicht nicht noch einmal wiederfinden werde.[14]

Sie erwidert, sie werde ihm ,wenig Kurzweil für ein ganzes Leben bieten’ können, wenn er sie ,schon nach drei Stunden so vollständig durch und durch erkannt’ habe.[132f] Er aber sucht weder Kurzweil noch eine Frau, die für ihn arbeiten kann (wie ein Bauer), noch die bloße ,Erhöhung der eigenen Persönlichkeit’ durch das Verständnis und die Anbetung der Frau. Sondern der wahrhafte Mann sucht eine Frau, ,die selber etwas ist’, die selbst zur Entfaltung kommt.[133] ,Würden Sie jemals einen Mann lieben können, der sich mit weniger begnügt, als Sie selber sind?’[134]

Sie fragt ihn, woher er denn wisse, ob sie all die schönen Eigenschaften habe, an die er denkt. Er erwidert, man könne einen Menschen schon an seiner Art zu gehen erkennen. Wenn man die Frau dann überholt und ihr ins Gesicht schaut, wird man in vielen Fällen finden, dass man sich getäuscht habe – aber nur, weil man ,an ein rasseloses Geschöpf geraten’ ist, das einen auch weiterhin täuschen würde.[137] Bei Menschen mit echtem Charakter ist es dagegen so:[138]

[...] daß sie einheitlich sind in Seele und Leib, in Kopf und Gliedern, so daß sich aus einer Bewegung der Hand – wie Sie sie jetzt machen – das Gefühl im Herzen erraten läßt, daß sie aus einem Gedanken heraus geschaffen sind, daß sie Kunstwerke sind in dem Sinne, wie es jede große Kunstschöpfung sein soll. [...] Ich habe Sie gestern abend im Verkehr mit mindestens zwanzig verschiedenen Personen gesehen. Diese Menschen entziehen sich schließlich auch nicht meiner Beurteilung, und ich will Ihnen sagen, wenn Sie es wünschen, was Sie von jedem halten. Dann mögen Sie entscheiden, ob ich Ihre innere Natur, von der ich, wie Sie glauben, nichts ahne, richtig zu schätzen weiß oder nicht.

Und dann beweist der Mann, das er von ihr schon immer ein Ideal in der Seele getragen hat und sie deshalb so tief erkennt:[139][15]

Geliebt habe ich nur Sie, mein Fräulein, lange schon ehe ich Sie kannte; ich wäre sonst wohl nicht sechsunddreißig Jahre alt geworden, ohne mich zu verheiraten.

Und sie, die einen Moment mit den Händen vor dem Gesicht sich offenbar besonnen hatte, ,erhob sich in ihrer ganzen Größe’, schlang dem Besuch ,ihren Arm um den Nacken und küßte ihn’.[140]

Immer wieder erweist sich Wedekind in seinen Erzählungen als Verteidiger der Unschuld der Liebe – und insbesondere der weiblichen Liebe und des weiblichen Wesens, der Frau und des Mädchens.

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Die absolute Polarität von Unschuld und ihrem Gegensatz schildert Wedekind in seinem Gedicht ,Die Keuschheit’ (1897), wo ein wüster Verführer die Liebe eines Mädchens gewinnt und sie danach ungerührt zugrunde richtet.[16] Nur einige Zeilen mögen die Seele des Mädchens zeigen:[17]

Und sie bat, daß Gott ihr helfe,
Doch sein Odem war so warm,
Und dieselbe Nacht um elfe
Lag sie schon in seinem Arm.
Weidlich hat er sie belogen,
Hat das Hemd ihr ausgezogen;
Sie ward rot für ihr Geschlecht,
Doch das war ihm grade recht.
Als sie nun die Schmach erlitten,
Ward dem Ungeheuer klar,
Daß sie engelrein von Sitten
Und ihm zu gefühlvoll war. [...]
Und er war wie umgewandelt,
Als ihr nun die Liebe kam;[18]
Hat sie so infam behandelt,
Daß sie schier verging vor Scham [...].
Auf dem Vorplatz unter Tränen
Zog sie sich die Strümpfe an [...].
Ist’s nicht wirklich ein Entsetzen,
Daß es solche Männer gibt,
Die sich nicht mal mehr ergötzen,
Wo ein andrer kindlich liebt.
Weil sie ihre Liebe suchten
Bei den H-, den verfluchten,
Ist der Seele Klang verdumpft,
Ihr Empfinden abgestumpft.

Als das Mädchen am Ende trotz seiner Demütigungen noch immer nicht von ihm weicht, fordert er sie auf, sich zu erschießen, was sie tut, ,tät noch ihren Mörder segnen’:

Und nun hat sie ausgelitten,
Diese Maid, die treu geliebt,
Dabei engelrein von Sitten,
Wie es keine zweite gibt.
Alle möge Gott verfluchen,
Wenn sie seine Gnade suchen,
Denn sie liebten nur das Fleisch;
Diese starb im Herzen keusch.

Hier ist so klar wie nur möglich beides erlebbar gemacht – die Unschuld und das vollkommen andere. Die rein körperliche Lust versinkt zuletzt in Leere, Nichtigkeit und Zynismus, ja Grausamkeit. Die seelische Liebe heiligt alles, bleibt zutiefst aufrichtig und eins mit sich selbst, auch wenn sie noch so gequält wird.
 

Fußnoten


[1] Wikipedia: Frank Wedekind.

[2]● Frank Wedekind: Feuerwerk. Erzählungen von Frank Wedekind. München 1919, Nachdruck Berlin 2015. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

[3] Über Erotik (Vorwort), in: Op. cit., S. 3-16.

[4],Die Familie ist ein Bündnis, in dem aus purer Angst, daß es scheitern könnte, über die Gefahren, die ihm drohen, immer erst dann offen gesprochen werden darf, nachdem es daran gescheitert ist.’[8] • ,Das Schlimmste aber ist, wenn sich Eltern einbilden, daß sie ihrer Kinder wegen zusammenbleiben. Die armen Kinder erhalten dann alle Prügel, die sich die Eltern gerne gegenseitig verabreichen möchten.’[11] • Eine sehr weise tiefenpsychologische Beobachtung!

[5] Wedekind verwirft hier falsche Prüderie – an deren Stelle er eben wahren Anstand setzen möchte, der aber erst aus geistiger Freiheit hervorginge.

[6] Im Stück ,Hidalla’ wies Wedekind darauf hin, dass die Zote dem Fluch auf religiösem Gebiet entspricht, was er hier nochmals erwähnt.[14]

[7] Op. cit., S. 17-39.

[8],Als ich ging, fühlte ich es hier, wo die Brust ist, da tat es weh, ich wußte nicht, was das ist, weil ich niemals krank gewesen war.’[31]

[9],Ich hatte kein Gefühl in Händen und Füßen. Und dann fühlte ich es hier oben, hier an der Kehle, als hätte ich einen Strick darum und würde gehenkt. Und vorn auf der Brust und im Rücken fühlte ich es, und dazwischen war es, als würde alles ausgerissen.’[34]

[10] Op. cit., S. 51-54.

[11] Op. cit., S. 103-127.

[12] Das heißt, geläutert – von ihr!

[13] Op. cit., S. 129-140.

[14] Auch in manchen meiner Romane ist die männliche Hauptperson schon viele Jahre lang auf der Suche nach solch einem Mädchen gewesen, siehe etwa, aus der Sicht des Mädchens, ,Unmöglich, sagten sie’ und die Fortsetzung ,Erinnerungen einer Volljährigen’ (2018).

[15] Eben dies gilt auch für die Begegnungen meiner Romane – auch wenn es sich nicht um starke, selbstbewusste, sondern empfindsame, unschuldige Mädchen handelt. Auch diese haben ihre eigene Stärke. Siehe erneut ,Erinnerungen einer Volljährigen’.

[16] Trotz schmachvollster Behandlung kehrt sie zu ihm zurück, möge er sie auch nur als Dienstmagd nehmen. Eine Hure schneidet ihre Haare ab, sie muss diese und ihn entkleiden und ihnen beim Sex zusehen. ,Immer tiefern Höllenschmerz / Bohrend in des Kindes Herz.’ • Hier hat Heuer absolut Unrecht, wenn er schreibt: ,Das geheimste Geheimnis der Keuschheit ist ihre Hoffnung, von der Sünde überwältigt zu werden. [...] Dieses Gedicht [...] stellt die [...] masochistischen Zwangsvorstellungen eines keuschen Herzens dar, es zeigt, was keusche Herzen eigentlich wünschen.’ Heuer, a.a.O., S. 56. • Bräuchte es noch eines Beweises, so wäre es das nächste Gedicht in der Sammlung, ,Das arme Mädchen’, in dem ein genauso keusches Mädchen auf einen ebenso moralischen Mann trifft – und darum hier eine wirkliche, beidseitige Liebe entsteht.

[17] Frank Wedekind: Werke in drei Bänden, Band 2. Berlin/Weimar 1969, S. 457-462. Zeno.org.

[18] Mit anderen Worten: Der begehrende Verführer hatte in dem unschuldigen Mädchen eine zarte Sinnlichkeit entzündet – und als er ihr die physische Unschuld geraubt hatte, war sein Begehren schon wieder erkaltet – während ihre unschuldige Seele von der Sinnlichkeit zur Liebe aufstieg...