Parthenophilie

Sexualforschung nach 1945


Die Zerstörung von Hirschfelds Institut 1933 bezeichnete das Ende der deutschen Sexualwissenschaft. Erst 1988 erschien wieder eine ,Zeitschrift für Sexualforschung’![371][1]

Zunächst sei hier kurz auf die Situation in der DDR eingegangen. Wilhelm Reich war schon 1933 von der KPD ausgeschlossen worden. Aber auch für die proletarische Aufklärungsliteratur des Spanienkämpfers und Arztes Max Hodann aus den 20er Jahren gab es trotz Bemühungen des Verlegers Karl Dietz in der DDR keine Ansatzpunkte mehr.[489] Freuds Schule wiederum galt als ,Ausdruck imperialistischer Ideologie’.[490] Psychologie und Pädagogik wurden auf Pawlow und Makarenko[2] eingeschworen.[492] Zentral war schon 1952 der Beschluss zum ,planmäßigen Aufbau des Sozialismus’, in dem die Sexualität der Gemeinschaft verpflichtet wurde.[493][3]

1968 setzte jedoch eine erste Empirie ein,[4] 1972 wurde Abtreibung legalisiert, 1974 die Pille zugelassen.[499] Das 1966 in Leipzig gegründete Zentralinstitut für Jugendforschung führte unter Kurt Starke ohne Parteibeschluss auch Studien zum Sexualverhalten durch.[502f][5] Der Homosexuellenparagraf wurde zwar schon 1950 revidiert und 1968 gestrichen, dennoch wurden Homosexuelle weiter diffamiert. Bis 1987 erschien auch keinerlei Publikation zum Thema.[505] Vereine durften nicht gegründet werden, Lokale wurden geschlossen, die Szene polizeilich überwacht.[506]

Damit wenden wir uns dem westlichen Deutschland zu.

1949 eröffnete Hans Giese (1920-1970) in seiner Wohnung in Kronberg ein ,Institut für Sexualforschung’, das er nach Protesten von Nachbarn in die elterliche Wohnung in Frankfurt verlegte. Außerdem gründete er Hirschfelds ,Wissenschaftlich-humanitäres Komitee’ (WhK) neu.[392] 1950 organisierte er eine erste Tagung, wo die ,Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung’ (DGfS) entstand, deren erster Präsident Hans Bürger-Prinz,[6] Leiter der Psychiatrischen Klinik der Uniklinik Hamburg-Eppendorf wurde. Der Beirat bestand aus hochrangigen Mitgliedern des öffentlichen Lebens.[7]

Ab 1952 gaben Giese und Bürger-Prinz die ,Beiträge zur Sexualforschung’ heraus.[393] 1959 habilitierte Giese bei ihm mit der Studie ,Der homosexuelle Mann in der Welt’, und das Institut wurde dank Bürger-Prinz der Hamburger Universität angegliedert, aber nicht von dieser finanziert.[393] Bürger-Prinz lieh Giese seinen eigenen Assistenten, den Psychologen Gunter Schmidt, aus.

Das Klima der Zeit zeigt der Aufruhr um den Film ,Die Sünderin’ (1951), in dem eine kurze Nacktszene von Hildegard Knef zu sehen ist, worauf Katholiken drohten, Bomben zu legen.[396] Nach der Ermordung der Frankfurter Prostituierten Rosemarie Nitribitt 1957 stellte sich heraus, dass zu den Freiern namhafte Männer aus Wirtschaft und Politik gehört hatten. Mit den Kinsey-Reports (1948, 1953) brach auch für konservative US-Amerikaner ihr bisheriges Weltbild zusammen.[8] 1955 erschien ,Soziologie der Sexualität’ von Helmut Schelsky.[397][9]

Im gleichen Jahr erschien von Herbert Marcuse, Mitglied des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, ,Eros and Civilisation’, später bekannt geworden als ,Triebstruktur und Gesellschaft’ (1965), wo er zeigt, dass Freisetzung von Sinnlichkeit durchaus dazu dienen kann, die Individuen noch lückenloser einzubinden (,repressive Entsublimierung’).[400f][10]

Ab 1961 gab es die Antibabypille. Beate-Uhse-Sexshops eröffneten als ,Fachgeschäfte für Ehehygiene’.[402f] 1963 veröffentlichte die DGfS im Zuge der geplanten Strafrechtsreform den Sammelband ,Sexualität und Verbrechen’.[11] 1964 kam im Hamburger Institut der Mediziner Volkmar Sigusch zunächst als Doktorand hinzu, Giese erhielt den Titel ,außerplanmäßiger Professor’.[394]

1966 erscheinen die Forschungen von Masters und Johnson, die Sigusch 1967 auch in Übersetzung herausgibt.[461][12]
Die Pille wird jungen Mädchen bis Mitte der 80er Jahre von deutschen Ärzten verweigert.[402] 1967 begehren Schülerinnen und Schüler auf und gründen an vielen Schulen eine ,Sexfront’, angeführt von der ,Aktionsgemeinschaft unabhängiger sozialistischer Schüler’ und dem Soziologen Günter Amendt (1939-2011), der 1970 mit ,Sexfront’ ein wissenschaftlich basiertes, politisch reflektiertes Aufklärungsbuch publiziert. 1968 erscheint ,Sexualität und Klassenkampf. Zur Abwehr repressiver Entsublimierung’ von Reimut Reiche (geb. 1941, Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS).[403] Ab 1968 veröffentlicht der Journalist Oswalt Kolle Aufklärungsfilme.[402f]
1969 wehren sich in New York die Homosexuellen bei einer Razzia in einem Lokal in der Christopher Street. Drei Tage vorher waren in Deutschland freiwillige Akte zwischen volljährigen Männern entkriminalisiert worden.[408]
Ab 1969 werden die ,Beiträge zur Sexualforschung’ von Schmidt und Sigusch herausgegeben.[419][13] 1970 verunglückt Giese bei einer Bergwanderung an der Côte d'Azur.[394]

Das Institut veröffentlichte 1968 die Studie ,Studenten-Sexualität’ von Giese und Schmidt. Bis 1975 erscheinen auch 31 Bände in der Reihe ,rororo sexologie’.[394] Vor allem aber werden in den 70er Jahren zahlreiche weitere Studien veröffentlicht.[431][14] 1969 hält Sigusch vor Tausenden von Ärzten und Studenten Plädoyers für eine sexualitätsbejahende Medizin und veröffentlicht ,Sieben Thesen zur kritischen Reflexion des Verhältnisses von Medizin und Sexualität’.[460f][15] Die desolaten Kenntnisse und Einstellungen von Studenten und Allgemeinärzten wurden empirisch nachgewiesen, worauf Kollegen Sigusch und Mitarbeiter beschimpften und der Ärztekammerpräsident gar den Entzug der Approbation androhte.[461f]

1971 beschloss der Fachbereich Medizin der Universität Frankfurt unter einer sehr günstigen politischen Konstellation eine selbstständige sexualwissenschaftliche Professur mit Abteilung.[433][16] Nun erst genehmigte 1972 auch Hamburg eine echte Abteilung für Sexualforschung und berief 1974 Eberhard Schorsch als Direktor. Volkmar Sigusch erhielt die Lehrbefugnis und wurde nach Frankfurt berufen. Damit war die Sexualwissenschaft ein Jahrhundert nach ihrer Begründung als selbstständiges Universitätsfach anerkannt.[434f]

1972 erschien das weltweit erste Buch mit ,Sexualmedizin’ im Titel.[17] [459] 1975 konnte in Frankfurt eine Poliklinik mit Ambulanz eröffnet werden,[436] und Sigusch veröffentlichte ,Therapie sexueller Störungen’.[465] Ein systematischer Studiengang ,Sexualwissenschaft’ oder ,Sexualmedizin’ blieb weiter ein Wunschtraum.[436]
Die Institute in Frankfurt und Hamburg arbeiteten bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auch zusammen.[437f][18] Mit Instituten in Kiel[19] und Berlin war dies nicht möglich.[438]

1971 beginnt mit einem Film von Rosa von Praunheim[20] der Emanzipationskampf der Homosexuellen,[440] der wesentlich von dem späteren Sexualwissenschaftler Martin Dannecker beeinflusst wurde.[441] Die erste Schwulendemonstration findet 1972 in Münster statt, 1973 geht das ,Lesbische Aktionszentrum Berlin’ an die Öffentlichkeit.[441]
Auch der Kampf um die Abtreibung beginnt 1971. Das Bundesverfassungsgericht stoppt 1974 die Fristenregelung. 1976 tritt eine bloße ,Indikationsregelung’ mit Straffreiheit bei bestimmten Notlagen in Kraft.[441]

1974 beschließt Nordrhein-Westfalen die ersten Richtlinien für Sexualerziehung. 1975 wird der Pornografie-Tatbestand auf Kinderpornografie beschränkt.[440] Mitte der 70er Jahre bildet sich eine Protestbewegung gegen sexuelle Gewalt, auch in der Ehe.[442] 1978 verklagt die von Alice Schwarzer geleitete ,Emma’ den ,Stern’ erfolglos wegen ,pornografischer’ Titelbilder, und das Bundesverfassungsgericht anerkennt das Recht der Schulen auf Sexualerziehung.[440]

In Hamburg legte Eberhard Schorsch (1935-1991), seit 1970 Direktor des Hamburger Instituts, die Grundlagen ,einer verstehenden, psychodynamisch orientierten Sexualforensik im Nachkriegsdeutschland’.[478][21] Er nahm den Resozialisierungsgedanken tief ernst und erwarb sich sehr bald den Ruf herausragender Kompetenz.[480][22] Jahrzehntelang hielt er diversesten Anfeindungen stand,[481][23] und maß die Humanität der Gesellschaft daran, ,wie sie mit ihren Gescheiterten umgeht’.[482][24] In einem mehrjährigen Projekt erforschte er die Möglichkeiten individuell differenzierter psychoanalytischer Behandlung, leitete aber auch den Landesverband Pro Familia (1978-82) und hielt sogar im Rundfunk viele wichtige Vorträge zu aktuellen Ereignissen.[484]

1976 ruft der Heidelberger Universitätsgynäkologe Wolfgang Eichler ,Fortbildungstage für praktische Sexualmedizin’ ins Leben, 1978 entsteht eine entsprechende Gesellschaft.[465][25]
1977 veröffentlicht Sigusch in einem Leitartikel wesentliche Grundsätze einer ganzheitlichen Sexualmedizin:[471ff][26]

Solange nicht einmal Psychosomatik und Sozialmedizin, schwer behindert, Bedeutung und Würde in der Körpermedizin erlangen können, so lange blebit die Sexualmedizin [...] homöopathisch wirksam, ansonsten ein buntes Allerlei, ein bißchen Balint, ein bißchen Kinsey [...].

1979 bis 1986 geben Sigusch, Ingrid Klein und Hermann Gremliza sieben Hefte ,Sexualität konkret’ heraus.[424]

1981 formulierte Sigusch als DGfS-Vorsitzender einen Aufruf zur Streichung des Homosexuellen-Paragrafen 175 StGB, der von vielen Prominenten unterzeichnet wurde.[399][27] Dies scheitert vor allem an Helmut Schmidt persönlich.[408] Auch Anträge der Grünen blieben erfolglos – bis nach der Wende der Paragraf 1994 gestrichen wurde, weil es diesen in der DDR nicht gab.[409]

Ab 1982 baute in Bremen der Soziologe und Jurist Rüdiger Lautmann – einst Assistent von Schelsky und Luhmann und nicht zuletzt wegen seiner justizkritischen Haltung 1971 berufen worden – im ,Institut für empirische und angewandte Soziologie’ eine ,Abteilung zur Erforschung der Geschlechter- und Sexualverhältnisse’ auf, die er 1988 offiziell gründete. Die Finanzierung erfolgte vor allem durch DFG und VW-Stiftung. 2001 wurde Lautmann emeritiert, 2003 die Abteilung wieder geschlossen.[439]

1982 gründete der Exportunternehmer und Dolmetscher Rolf Gindorf in Düsseldorf die ,Deutsche Gesellschaft zur Förderung für sozialwissenschaftliche Sexualforschung’ (DGSS), in deren Zentrum die männliche Homosexualität stand.[28] Unter seiner Führung waren Ernest Bornemann (1982-86), dann Erwin J. Haeberle (1986-2002) Präsident, 2006 folgte Jakob Pastötter. Wissenschaftler wie der Sexualpädagoge Helmut Kentler (Präsident 1979-82)[29] oder Rüdiger Lautmann zogen sich jedoch bald zurück. [443f]

Bornemann veröffentlichte 1975 das Werk ,Das Patriarchat’, das umfassend die Wurzeln männlicher Dominanz schon im Griechen- und Römertum aufzeigen wollte.[30]

1982 begann die AIDS-Hysterie, ein Jahr später wurde das HIV-Virus entdeckt.[452][31] Erneut gab es massive Angriffe gegen Homosexuelle.[453f][32] Die DGfS trat dem mit der Erklärung ,Über den allgemeinen Umgang mit AIDS’ (1984) entgegen, und Martin Dannecker kritisierte öffentlich die Panikmache des ,Spiegel’.[454]

1988 wurde die ,Zeitschrift für Sexualforschung’ gegründet, im Thieme-Verlag verlegt und bis 2007 allein von Dannecker, Schmidt und/oder Sigusch redigiert.[455] Viele sexualmedizinische Werke setzten in den 80ern Standards.[468]
In den 90er Jahren ging es dann um Curricula, Zusatzbezeichnungen und die standes- und kassenrechtliche Anerkennung. 1993 ging aus der Heidelberger Gesellschaft eine ,Akademie für Sexualmedizin’ hervor, die 1997 ein Curriculum umzusetzen begann. Auch eine Kommission der DGfS legte Ende 1996 zwei Curricula vor, deren Umsetzung Anfang 1998 begann.[469]
In Leipzig entstand 1990 nach der Wende die ,Gesellschaft für Sexualwissenschaft’, die zunächst von dem Soziologen und Jugendforscher Kurt Starke geleitet wurde.[470]

Längst ist die Sexualmedizin als Fach wieder vom Verschwinden bedroht:[460]

Denn sieht es wieder so aus, als könnten sexuelle Probleme mit Hilfe von Medikamenten wie Viagra geheilt werden, also ohne Psychosomatische, Psychotherapeutische und Soziale Medizin, ziehen sich die tonangebenden großmedizinischen Fächer wieder in ihre somatoformen Fantasmata zurück, setzen wieder auf Stammesgeschichte, Weichenstellungen und Prägungen durch Gene, Hormone, Neurotransmitter usw. – und die nachgewachsenen Sexualmediziner der zweiten Generation erstarren in Konformität, wie leider zur Zeit zu beobachten ist.

Die Ideale hatten sich nicht erfüllt:[474f][33]

[...] dass im Medizinstudium nicht nur Fachkenntnisse vermittelt werden, sondern auch eine psychotherapeutische Kompetenz; dass bisher getrennt gehaltene oder noch gar nicht wahrgenommene Verstehensmöglichkeiten und Betrachtungsweisen in einer kritischen Sexualmedizin zusammengeführt werden. [...] | [...] Sexualmedizin hat sich im empathischen Sinn weder als Betrachtungsweise in den großen medizinischen Fächern durchgesetzt noch ist sie nach entsprechender Qualifizierung standes- und kassenrechtlich anerkannt worden.

2006 wurde Sigusch in Frankfurt emeritiert, und der Fachbereich entschied, das Institut nicht fortzuführen – gegen über viertausend Ärzte, Psychologen, andere Fachleute und die gesamte Presse.[475f][34] Auch die psychosoziale Medizin war dort bereits fast völlig abgebaut worden.[476]

Sigusch betont, dass auch Sexualmedizin die Sexualität nicht ,erfassen’ könne oder wolle:[517][35]

Die Wahrheit des Sexuellen liegt in der Unmöglichkeit, es zu definieren. Die Unwahrheit der Sexualität gründet in ihrer gesellschaftlichen Formierung. Der Sex ist die durchgesetzte Adäquanz, eine objektive Doppellüge, subjektiv und transsubjektiv.

Laut Sigusch existieren drei Sexualitätsbegriffe, die das Biologische, das Seelische und das Gesellschaftliche ins Zentrum stellen, wobei der erstere dominiert:[520f][36]

Das Gros der Sexuologen missversteht sozial-gesellschaftliche Tatbestände wie sexuelles Verlangen, Geschlechtsidentität oder Liebe als letztlich naturale Ereignisse [...]. [...]
[...] Der Blick in die Journals of Sex Research and Sexual Medicine ist nach wie vor geeignet, eine Gänsehaut zu erzeugen; denn sie leben alle: Galton und Lombroso, Steinach und Kegel[37] [...], die Scheidenpunkte und die Penesmesser, die chemische Theorie der Homosexualität und der Wille zur Veredelung, notfalls auch zur Beseitigung.

Und scharf entlarvt er den dahinter stehenden Trieb:[522]

Offenbar aber ist der Wille zur Reduktion des Komplexen, zur einfachsten Lösung, ja auch zur Endlösung so gewaltig, dass er die, die sich nicht an der Suche nach der Ursache oder der Noxe beteiligen, mit Erfolg als ungenau und unlogisch, letztlich unwissenschaftlich hinstellen kann: Die Kausalisten stehen dann als die wahren Forscher, die Hermeneutiker als Schwätzer, die kritischen Theoretiker als Ideologen da.
Weil reine Unmittelbarkeiten gesucht werden, letzte Gründe, desavouiert sich jedoch die Frage nach den Ursachen als idealistische Metaphysik und als somatologische Bemächtigungsphysik; denn der Boden der Relationen soll als Noxe dingfest und als Isolat ausgerottet werden.[38]

Und schließlich:[524]

Denn jede Theorie ist Machtausübung, wendet Formeln auf Formelloses an, die diesem äußerlich bleiben wie die Naturgesetze der Natur. Jede Sexualtheorie transferiert Sinnliches in Übersinnliches. [...]
Viele Sexuologen gehen dabei physikalischer als die Physik vor, indem sie jede Unschärferelation bekämpfen, obgleich keine ihrer Gleichungen [...] jemals aufging. Zum Gegenstand von Forschung und Theorie, von Fibeln und Gesetzesbüchern gemacht, ist der Chaos-Charakter des Sexuellen gebannt, ist das Sexuelle eingespeist in Systeme, die über es verfügen [...].

An dieser Stelle formuliert Sigusch dann auch den im besten Sinne menschlichen Ausgangspunkt einer (selbst-)kritischen Sexualwissenschaft:[527][39]

Die Prämissen kritischer Sexualwissenschaft sind: Aufklärung und soziale Bewegung; das sexuelle und geschlechtliche Elend beim Namen nennen, das sexuelle Unglück zum Sprechen bringen; in der Theorie radikal pessimistisch sein, um kritisch zu bleiben, in der Praxis aber radikal optimistisch sein, um selbst das Unmögliche nicht zu versäumen [...].

In diesem Zusammenhang kann auch der Kapitalismus nicht nur kritisiert werden, jedoch erweist sich dieser als hoch ambivalent:[533][40]

Das Widersprüchliche [...] ist, dass er Freiräume eröffnete, im Kopf und als reale Möglichkeit im Leben, von denen die vorausgegangenen Generationen nicht einmal träumen konnten. [...] nicht nur unterdrückt und nein sagt, sondern auch [...] Freude schafft, Wissen ermöglicht, Diskurse produziert und: den Aufstand gegen sich selbst. Die Bourgeoisie hat mit der Zangengeburt des bürgerlichen Individuums, dem deren Gewalt eingebleut ist, die Idee der individuellen Geschlechtsliebe als einen historisch neuen sittlichen Maßstab in die Welt gesetzt [...]. [...] [...] Vereinzelung und Vergesellschaftung, Befreiung und Unterdrückung [...].

Auch der Feminismus hätte nicht Recht mit einer Polarisierung:[533f]

Das, was [...] gewalttätig als „männliche“ Sexualität daherkommt, ist so beschädigt und tot gestellt wie das, was mystifiziert als in sich selbst intakt und lebendig von Gefühlsfeministinnen als „weibliche“ Sexualität fantasiert wird. Die Vorstellung, ein ganzes Geschlecht hätte im kulturellen Egoismus altruistisch überwintern können, [...] friedfertig Wärme bewahren können, ist eine voluntaristisch-naturalistische Illusion. Real verstümmelt sind alle, und angenehm oder schön machen weder Aggressivität noch Unterdrückung, weder Impotenz noch Frustration. Es kann also nur darum gehen, im Zustand der allgemeinen, aber nach dem Geschlecht different sich auswirkenden Adäquanz Gegenbilder zu entwerfen und Gegenrealitäten zu leben, suchend, irrend, verzweifelt und unbeirrt.

Hier sind wir bei dem Thema aller hier vorliegenden Bände: Das Mädchen, als Urbild, ist das Gegenbild genau jener ,Verstümmelung’ des Menschlichen.[41] Denn es hat den kulturellen Egoismus nicht mitgemacht – und ein Begreifen dieser Tatsache, ein inneres Sichverbinden mit diesem Wesen kann auch dem eigenen Wesen wieder Wärme-Kräfte schenken, die einen neuen kulturellen Frühling begründen können – jenseits aller Verstümmelung. Natürlich kann man dies alles unmittelbar zurückweisen – noch bevor man es überhaupt verstanden hat. Das Mädchen zwingt niemanden – und diese Bände auch nicht. Sie wollen nur etwas erlebbar machen. Ob es tatsächlich erlebt wird, liegt bei jedem Einzelnen. Die inneren Verstümmelungen des Menschenwesens sind kein Naturgesetz. Sie können wieder geheilt werden. Diese Bände behaupten jedoch, zu wissen, wer die Heilerin ist. Das Mädchen ist die Heilerin. Man kann jedoch auch verstümmelt bleiben wollen. Lieblos, friedlos, getrieben von Zerrissenheit.

Sigusch beendet sein Werk mit den Worten:[538f]

Fielen Begehren und Lieben nicht auseinander, kämen Dauer und Intensität, Harmonie und Erregung zusammen, [...] scherten wir uns doch um wissenschaftliche Erörterungen überhaupt nicht, hielten wir doch Sexual-Wissenschaft für so irrsinnig wie sie tatsächlich ist. Sexuelles, das in sich ruhte, schwiege glückselig. Und wenn es doch nach etwas riefe, dann gewiss nicht nach Scientia sexualis, sondern nach Ars erotica [...].

Damit aber sind wir wieder bei Mantegazza, der dem Geheimnis der Liebe zwischen den Geschlechtern noch viel näher gewesen war.[42]

Mit Siguschs Emeritierung und der Schließung seines Instituts 2006 hat die Sexualmedizin einen unwiderbringlichen Verlust erlitten – um nicht zu sagen: ist sie als fortschrittliche, humane wissenschaftliche Richtung wieder abgeschafft worden. Der traurige Zustand der Sexualmedizin in Deutschland zeigt sich in nichts so knapp und deutlich wie in folgender Bemerkung eines aktuellen Zeitungsartikels:[43]

Die Sexualwissenschaft [...] beschäftigt sich inzwischen, soweit sie überhaupt noch an den Universitäten zu finden ist, vor allem mit kassentechnisch abrechenbaren individuellen "Störungen" und bedrohlichem Verhalten.

Dies offenbart vollkommen, wie sehr einer kapitalistischen Gesellschaft das Wohl ihrer Menschen wirklich wert ist – es beschränkt sich auf die ,Bürokratie des Notwendigsten’.

Sigusch starb im Februar 2023. Seit 2014 hat Heinz-Jürgen Voß die Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg inne – für den einzigen sexualwissenschaftlichen Studiengang Deutschlands.[44]
 

Fußnoten


[1]● Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt/New York 2008. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

[2] Sexuelle Erziehung führe ,nur zu traurigen Ergebnissen’. ,Die Kultur des Liebeslebens’ sei ,unmöglich ohne Hemmungen, die schon in der Kindheit anerzogen werden’ müssten. Anton S. Makarenko: Ein Buch für Eltern. Berlin 1952, S. 246. Der sexuelle Instinkt werde jedoch ,gebunden und veredelt durch soziale Erfahrung, also durch die Erfahrung der Gemeinschaft mit den Menschen, der Disziplin und der Hemmung, [...] zu einer der Grundlagen der Ästhetik und des schönsten menschlichen Gefühls’. Ebd., S. 247. ,Die künftige Liebe unserer Kinder wird umso schöner sein, je weiser wir mit unseren Kindern darüber sprechen und je weniger Worte wir machen’. Ebd., S. 248.[492] • Siehe ausführlich Seite 399-406).

[3] Sexuelle Kräfte wirken roh und blind, daher ist ihre Normierung unerlässlich. Sexuelle sind primär soziale Beziehungen und müssen von der Gesellschaft sanktioniert werden. ,Schmutzige’ Formen wie Homosexualität haben ihre Wurzeln in kapitalistischen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnissen und sind als Relikte zu bekämpfen.[493] • Prostitution wurde zunächst ohne Rechtsgrundlage unter Strafe gestellt. Später wurde sie zur Leipziger Messe etc. toleriert. Infektionszahlen blieben bis zur Wende rein intern. Auch strafrechtliche Verurteilungen wurden nicht nach Delikten differenziert. Nacktbader lieferten sich bis Ende der 60er Jahre Scharmützel mit der Volkspolizei, Aktfotografie fristete ein Schattendasein. Noch 1973 musste sich Wolfgang Mattheuer für sein Bild ,Liebespaar’ rechtfertigen.[494f] • Erst in den 80er Jahren lockert die SED-Führung die Restriktionen für Darstellungen.[496] • Der um 1960 tonangebende Rudolf Neubert warnte Jugendliche sogar vor Petting als ,grober Unsitte’.[497]

[4] Heinrich Brückner: Das Sexualwissen unserer Jugend. Berlin 1968. • Siegfried Schnabl: Intimverhalten. Sexualstörungen. Persönlichkeit. Berlin 1972.[499]

[5] Kurt Starke: Junge Partner. Tatsachen über Liebesbeziehungen im Jugendalter. Leipzig u.a. 1980. | Kurt Starke & Walter Friedrich: Liebe und Sexualität bis 30. Berlin 1984. | Kurt Starke: Schwuler Osten. Homosexuelle Männer in der DDR. Berlin 1994. (Monografien der Studien ,Partner I-III’, durchgeführt 1972-74, 1979-82, 1990.[499] • Auch in der DDR drängte die Sexualität nach Ausdruck: ,Liebe und Sexualität werden immer vorbehaltloser von den jungen Menschen in ihrer glücks- und aktivitätserzeugenden Form erkannt, akzeptiert und verwirklicht.’ Starke & Friedrich 1984, S. 348. Anders gesagt: Sexualwissenschaft und die jungen Menschen selbst unterliefen die vorgegebene Sexualmoral.[504]

[6] Bürger-Prinz trat 1933 in die NSDAP und die SA ein. Als ehrenamtlicher Richter am Erbgesundheitsgericht entschied er über die Zwangssterilisation als erbkrank eingestufter Personen. Wikipedia: Hans Bürger-Prinz. • Bis in die 70er Jahre hielt er die Legende aufrecht, durch seine guten Beziehungen seien Patienten nicht sterilisiert oder ermordet worden.[427] • Giese war seit 1941 NSDAP-Mitglied.[391] • Gieses Vergangenheit deckte erst Barbara Zeh 1988 in einer von Sigusch betreuten Dissertation auf. So kooperierte er auch mit Regisseur Veit Harlan (,Jud Süß’) oder dem Doktorvater von Josef Mengele. Weitere Arbeiten deckten die Beteiligung von Bürger-Prinz an NS-Verbrechen auf.[428] • Diese Vergangenheiten sind nichts ,Besonderes’, sie betreffen die gesamte Bundesrepublik in ihren Nachkriegsjahren, trotz aller vorgeblicher und wirklicher ,Entnazifizierung’. • Siehe auch ausführlich: Moralist und Aktivist. Der Ex-Nazi, der für die Rechte monogamer Schwuler kämpfte. www.queer.de, 26.6.2020.

[7] In den nächsten Jahren unter anderem Franz Xaver Arnold (Professor der Katholischen Theologie, Rektor der Universität Tübingen), Hans Bolewski (Pastor, Ordensprior, Direktor der Loccumer Akademie), Herbert Jäger (Strafrechtler und Kriminologe) und Elisabeth Müller-Luckmann (Psychologieprofessorin in Braunschweig).[417] • E. Müller-Luckmann war 1970 bis 1975 auch Präsidentin, gefolgt von Gunter Schmidt (1975-78), Volkmar Sigusch (1978-82), Eberhard Schorsch (1982-85), Martin Dannecker (1985-91), Margret Hauch (1991-94), G. Schmidt (1994-97), V. Sigusch (1997-2000), Hertha Richter-Appelt (2000-03), Wolfgang Berner (2003-07), Ulrike Brandenburg (2007-10), Peer Briken (2010-16), M. Dannecker (2016-19), Katinka Schweizer (seit 2019). Wikipedia: Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung.

[8] Aber auch Giese kommentierte noch, diese wiederholten ,nur in einem monströsen Ausmaß’, was ,wir bereits bedachten. Diese sexualwissenschaftliche Forschungsmethode ist bei uns mit Hirschfeld abgeschlossen worden’. Die Sexualität des Menschen. Stuttgart 1955, S. V.[430]

[9] Schelsky war mit Bürger-Prinz eng befreundet, beide wiederum mit dem Anthropologen Arnold Gehlen, bei dem Schelsky habilitiert hatte. Auch Schelsky war Mitglied von SA und NSDAP.[397]

[10] Erich Fromm wiederum kritisiert 1968 Marcuse scharf in einem zunächst nicht veröffentlichten Manuskript. Siehe ,Der angebliche Radikalismus von Herbert Marcuse’, Ebook 1990. www.irwish.de.

[11] Herausgegeben von dem als Ankläger von NS-Verbrechern engagierten hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Bürger-Prinz, Giese und Herbert Jäger.[423] • Der Band enthält unter anderem Adornos berühmten Essay ,Sexualtabus und Recht heute’.[424] • Ein Symposium der DGfS zur Strafrechtsreform Ende 1967 stand unter Schirmherrschaft des Bundesjustizministers und späteren Bundespräsidenten Heinemann. Auch danach wirkten Schorsch, Sigusch und Schmidt weiter als Sachverständige in Anhörungen des Bundestages und Bundesverfassungsgerichts.[424]

[12] William H Masters & Virginia E Johnson: Human Sexual Response. Bronx 1966. Die sexuelle Reaktion. Frankfurt/Reinbek 1967.

[13] Nach scharfem Konflikt mit Giese und Bürger-Prinz, die einen Hypothalamus-Eingriff an einem Patienten durch Fritz Douglas Röder in Göttingen (1962) als ,Pioniertat’ feierten.[420] • Bis 2000 erschienen die ,Beiträge’ im Stuttgarter Ferdinand Enke Verlag, nach dessen Aufgehen im Thieme Verlag weiter im Gießener Psychosozial-Verlag, insgesamt mittlerweile über 100 Bände.[422]

[14] Etwa zur Wirkung psychosexueller Stimuli wie Filme etc. (Schmidt et al. 1969, Sigusch et al. 1970 etc.), über Arbeiter-Sexualität (Schmidt & Sigusch 1971), Jugendsexualität (Sigusch & Schmidt 1973), männliche (Dannecker & Reiche 1974) und weibliche Homosexualität (Schäfer 1977), Wirkung sexuell-aggressiver Filme (Ernst et al. 1975), sexuelle Sozialisation (Schlaegel et al. 1975), die Orgon-Hypothese Reichs (Demisch 1979) und anderes.[431] • Diese Studien können soziopolitisch sehr bedeutsam sein, etwa wenn Kinsey zeigte, dass Frauen durch Selbstbefriedigung sehr viel öfter einen Orgasmus erlebten als mit einem Mann.[432] • Siehe auch die umfassende Literaturstudie zum weiblichen Orgasmus von Sigusch 1970.[441]

[15]1. Die Medizingeschichte ist zugleich eine Geschichte des Kampfes gegen Sexualität. 2. Die Medizin begreift Sexualität am ehesten als Krankheit, Abnormität und Kriminalität. 3. Für die Medizin hat ,gesunde’ Sexualität vor allem eine reproduktive Funktion. 4. Die Medizin ignoriert die Lustfunktion von Sexualität. 5. Die Medizin will Anpassung und Beseitigung, nicht Emanzipation und Sensibilisierung von Sexualität. 6. Die Sexualmoral der Medizin ist traditionell-oppressiv. 7. Sexualforschung ist im Bereich der Medizin unerwünscht; es gibt noch keine Sexualmedizin.[461]

[16] Kultusminister Ludwig von Friedeburg hatte seine Doktorarbeit 1953 in den ,Beiträgen zur Sexualforschung’ veröffentlicht und war vor und nach seiner Amtszeit Leiter des berühmten Instituts für Sozialforschung. Dekan Otto Hövels hatte Verständnis für die revoltierenden Studenten, und der die Gründung vorantreibende Prodekan Peter-Axel Fischer hatte früher mit Giese zusammengearbeitet.[434]

[17] Volkmar Sigusch: Ergebnisse der Sexualmedizin. Arbeiten aus dem Institut für Sexualforschung an der Universität Hamburg. Köln 1972.

[18] In Hamburg Wolfgang Berner, Peer Briken, Margret Hauch, Hertha Richter-Appelt, Gunter Schmidt u.a., in Frankfurt Martin Dannecker, Reimut Reiche, Volkmar Sigusch u.a. • In Hamburg wurde unter anderem eine eigene Paartherapie entwickelt (die in Deutschland ihresgleichen sucht[444]), daneben zu Perversionen, Paraphilien und Sexualforensik geforscht, in Frankfurt zur Homosexualität, zur Geschichte der Sexualwissenschaft, einer kritischen Sexualmedizin etc.[438]

[19] In Kiel wurde 1971 am gerichtsmedizinischen Institut unter Wilhelm Hallermann (Leiter der DGfS 1966-69) eine ,Sexualmedizinische Forschungs- und Beratungsstelle’ eingerichtet, deren Leiter Reinhard Wille war.[463] • Für Sexualmedizin habilitierten sich 1994 Klaus M. Beier (der später an die Charité der Berliner Humboldt-Universität berufen wurde) und 1997 Hartmut Bosinski, der Wille ablöste.[469] • Bosinski und Wille gründeten 1994 eine Fachzeitschrift ,Sexuologie’ ohne Peer-Review-Verfahren, in deren Beirat der Ostberliner Endokrinologe Günter Dörner berufen wurde, der versprach, Homosexualität schon im Mutterleib ausmerzen zu können.[438]

[20],Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt’, gezeigt bei den Berliner Filmfestspielen. Das Drehbuch geht zurück auf Gedanken von Dannecker.[440]

[21] In Leipzig geboren, wuchs er in Bielefeld auf, wo sein Vater Chefarzt der Kliniken der Von Bodelschwinghschen Anstalten (Bethel) wurde. 1962 promovierte Schorsch in Münster, war ab 1963 Assistent bei Bürger-Prinz in Hamburg und wurde 1968 Facharzt für Nerven- und Gemütskrankheiten. Nach Gieses Tod wurde er kommissarisch Leiter von dessen Institut. Ende 1970 erhielt er die Lehrbefugnis für das Fach ,Psychiatrie und forensische Psychiatrie’, seine Habilitation erschien 1971 unter dem Titel ,Sexualstraftäter’. 1974 wurde er als Professor der inzwischen regulären Abteilung für Sexualforschung berufen.[478]

[22],Ein Gutachter, der vor den Konsequenzen seines Verstehens nicht davonläuft, wird automatisch vom Mob, der wir potenziell alle sind, mit Morddrohungen terrorisiert. Jeder verstehende Sachverständige hat in irgendeiner Ecke eine Sammlung perfider Niederschriften, aus denen die kochende Volksseele spricht [...].’[481]

[23] So äußerte er im Fall Jürgen Bartsch, der 1967 nach Ermordung von vier Jungen verurteilt wurde, selbst aber in seiner Kindheit größten Missbrauch erlebt hatte (von seinen Pflegeeltern in einen Kellerraum gesperrt, später in ein strenges Heim gekommen, dort missbraucht), dass bei seinem Gerichtsverfahren die Wissenschaft endlich nicht die ,moralische Verdammung’ und ,das gute Gewissen’ gleich mitgeliefert habe.[480] • Auch Alice Miller wendet sich in ,Am Anfang war Erziehung’ diesem Fall zu. Wikipedia: Jürgen Bartsch. • Bartsch starb infolge einer Kastration, da der Arzt zwei Narkosemittel verwechselte! Ebd.

[24],Eindrucksvoll konkretisierte Schorsch vor den Gerichtshöfen die Niederschläge der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Lebensgeschichten der von ihm Begutachteten, indem er die Einschnürung und Heuchelei, die Lieblosigkeit und Gewalt, denen ein „gescheitertes“ Individuum ausgeliefert war, [...] offen legte [...]. Auf diese beinahe einzigartige Weise hielt Schorsch „der“ Gesellschaft einen Spiegel vor, in dem sie ihr kollektives Versagen hätte erblicken können.’[482f] • In seinem letzten Buch zog er dann ein trauriges Fazit: ,Die Barbarei [...] wirkt fort, Schwerstgestörte zuhauf hinter Gittern. Die Fortschritte der Aufklärung, sofern sie schreitet, sind winzig.’ Eberhard Schorsch: Kurzer Prozeß? Ein Sexualstraftäter vor Gericht. Hamburg 1991, S. 5.[485]

[25] Die meisten Ärzte interessieren sich jedoch eher für Ultraschall-Fortbildungen, weil sie so in fünf Minuten dreimal soviel verdienen wie in einem halbstündigen psychotherapeutischen Gespräch.[465]

[26] Sigusch V (1977): Sexualmedizin: Auswurf oder Avantgarde. Sexualmedizin 6, 133-134. • Es gehe ,um die Wiedereinsetzung des Hausarztes [...] auf einem anderen Niveau.’ Wer Patienten beraten wolle, brauche nicht Spezialistentum, sondern müsse gerade verschiedene Betrachtungsweisen zusammenführen, auch die seelisch-soziale und historisch-gesellschaftliche Ebene. Er brauche Empathie, umfassende Grundkenntnisse und jahrelange Balint- oder Selbsterfahrungsgruppen. Sexualstörungen seien wie andere psychosoziale Erkrankungen behandeln, in diesem Sinne gebe es keine spezielle ,Sexual’-Beratung oder Therapie.[472f] • Die ,Sexualmedizin’ war 1972 als Ärztezeitschrift im Wiesbadener Verlag ,Medical Tribune’ gegründet worden, da es plötzlich ,um Geschäfte’ ging.[464] Die Hamburger Sexualforscher lehnten diese Spezialisierung sehr früh als Zumutung ab.[474]

[27] Pina Bausch, Beuys, Böll, Fassbinder, Grass, Habermas, Dieter Hildebrandt, Curd Jürgens, Knef, Lindenberg, Negt, Reich-Ranicki, Rinser, Jil Sander, Harry Valérien, Günter Verheugen, Martin Walser u.a.[399]

[28] Schon 1971 hatte er in Düsseldorf aus einem Arbeitskreis ,Homosexualität hervorgehend die ,Gesellschaft zur Förderung sozialwissenschaftlicher Sexualforschung’ (GFSS) gegründet, die sich nach einem Putsch gegen ihn 1982 auflöste.[443] Gindorf lebte seit 1977 mit einem festen Lebensgefährten, beide klagten mit ihrem Heiratswunsch bis zum Bundesverfassunsgericht, worauf das ,Lebenspartnerschaftsgesetz’ zustandekam und beide 2001 als erstes Paar heirateten. Wikipedia.

[29] Helmut Kentler (1928-2008) starb im Erscheinungsjahr von Siguschs Werk. Erst im Zuge der 2010 ausgebrochenen Debatte um den jahrelangen Missbrauch an der Odenwaldschule etc. wurde auch Kentler zum Beispiel für ein Projekt kritisiert, bei dem in den 70er Jahren in Berlin jugendliche Trebegänger von Päderasten aufgenommen wurden.

[30] Ernst Bornemann (1915-1995), in Berlin geboren, schloss sich schon 1931 Reichs ,Sexpol’-Organisation an, ging als Jude 1933 unter Decknamen als Austauschsschüler nach England, wo er seine spätere Frau Eva Geisel kennenlernte. 1940 wurde er als ,feindlicher Ausländer’ nach Ontario deportiert, wo er als Filmschneider arbeitete und Krimis schrieb. In den 50ern ging er nach England zurück, 1960 nach Deutschland, 1970 nach Oberösterreich. Mit dem ,Patriarchat’ wurde er 1976 in Bremen bei Gerhard Vinnai promoviert, in Salzburg konnte er seit den 70er Jahren Vorlesungen halten, ab 1978 als Titularprofessor. Er gründete 1979 die ,Österreichische Gesellschaft für Sexualforschung’ und war auch Ehrenvorsitzender der DGSS. 1987 starb seine Frau. Nach dem Scheitern einer Beziehung zu einer jüngeren Kollegin beging er Selbstmord. Wikipedia: Ernst Bornemann. • Sigusch ergänzt, er habe in der ,Neuen Revue’ in den 80ern Menschen in Not ,mit Rat-Schlägen abgefertigt’.[448] Siehe Volkmar Sigusch: Der Ratschläger oder Sexologie als Phrase, in: ders.: Anti-Moralia. Sexualpolitische Kommentare. Frankfurt am Main/New York 1990, S. 84-94. • Der Konflikt mit der Geliebten wurde öffentlich ausgetragen.[448] Siehe hierzu Eva Bornemann: Leichen am Legendenwegrand, in: Joseph Christian Aigner & Rolf Gindorf (Hg.): Von der Last der Lust. Sexualität zwischen Liberalisierung und Entfremdung. Wien 1986, S. 261-264. | Oliver Lehmann: Der Alte Mann, der Trieb und der Tod. Stern, 15.6.1995, S. 144f. • Seine Geliebte Sigrid Standow gab im Jahr seines 80. Geburtstags noch einen Sammelband heraus: Ein lüderliches Leben. Portrait eines Unangepaßten. Lörbach 1995.

[31] Nicht von Robert Gallo, sondern bereits vorher von Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier: Barré-Sinoussi F et al. (1983): Isolation of a T-lymphotropic retrovirus from a patient at risk for Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS). Science 220(4599), 868-871. Sie bekamen 2008 den Nobelpreis. Wikipedia: Robert Gallo.

[32] So schrieb Bayerns Kultusminister: ,Diese Randgruppe muß ausgedünnt werden, weil sie naturwidrig ist.’ Süddeutsche, 7.4.1987, S. 9. • Peter Gauweilers Tiraden ,Was tun gegen Aids?’ (1989) erschienen im selben Verlag, der auch die SS-Memoiren von Franz Schönhuber veröffentlichte.[453f]

[33] Indem eine ganzheitliche psychosoziale Sexualmedizin sich wieder in Psychotherapie/Psychoanalyse und nur symptom- und körperorientierte Somatik aufspaltet, ,ist der Riss, der durch die Medizin läuft, nicht überwunden, sondern auf höherem Niveau erneut installiert.’[474] • Überhaupt gilt: ,Eine Handvoll Sexualwissenschaftler [...] steht Tausenden von Internisten, Psychologen, Pädagogen, Gynäkologen, Juristen, Theologen, Soziologen, Andrologen, Urologen gegenüber. Ich gebe das noch einmal zu Protokoll.’ Sigusch V (1977): Sexualmedizin: Auswurf oder Avantgarde. Sexualmedizin 6, 133-134.

[34],[...] setzten sich die regierenden Körpermediziner mit ihrer offenbar unerschütterlichen Borniertheit durch, nach der sexuelle Störungen ohne eine Reflexion der seelischen, kulturellen und gesellschaftlichen Umstände erforscht, begriffen und behandelt werden können. Hinzu kam die allgemeine [...] Ökonomisierung der Medizin, nach deren Maßstäben wir weder genug Geld durch die Behandlung von Patienten noch gar durch Kungeleien mit der Industrie noch durch den Erwerb von Patenten erwirtschafteten.’[476] • Siehe auch Volkmar Sigusch: Der Kampf um das Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft Aufruf – Proteste – Beschlüsse. Frankfurt am Main 2006 (PDF-Dokument). web.psychosozial-verlag.de. Dem ist zu entnehmen, dass etwa der Universitäts-Vizepräsident Jürgen Bereiter-Hahn erklärt habe, die Finanzierung solle doch von Gruppierungen kommen, ,deren Sexualität nicht im Normbereich liegt’.

[35] Sigusch V (1988): Was heißt Sexualwissenschaft? Zeitschrift für Sexualforschung 1, 1-29, hier 13. • ,Ein Forscher, der sich bei sexuellen Fragen auf die Brust schlägt und versichert, „rein“ wissenschaftlich zu antworten, hat weder verstanden, was Wissenschaft ist, noch was Sexualität.’[530]

[36] Während er dagegen betont: ,In erster Hinsicht ist die sexuelle Frage eine gesellschaftlich-soziale Frage und damit eine politische, in zweiter Hinsicht ist sie eine psychische und erst in letzter Hinsicht ist sie eine medizinisch-therapeutische [...].’[530]

[37] Francis Galton (Rassenlehre), Cesare Lombroso (,Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte’), Eugen Steinach (Hodentransplantation bei Homosexuellen). Wikipedia jeweils dort.

[38] Mit anderen Worten: Die, die ihren Trieb nach dem Finden einer ,letzten Ursache’ nicht bezähmen können, sind die wahren Triebtäter, die gleichsam quasireligiös an jede Ursache glauben, wenn sie nur simpel und reduktionistisch genug ist.

[39] Schon die Existenz der Sexualwissenschaft beweist, dass eine Abstrahierung stattfindet – und unkritischer Wissenschaft hat sie daher nur eines voraus: ,sich nicht willentlich mit dem System gemein gemacht zu haben, sondern mit dem Aufstand der Geschlechts- und Sexualperversen solidarisch’.[528] • Also mit dem einzelnen Individuum.

[40] Letztlich sind es immer Impulse, die im Menschen selbst wirken: die wahrhaft menschlichen und die immer wieder ins Unmenschliche führen wollenden. Im Deutschen Idealismus wollte sich das Menschliche ans Licht ringen – und das will es immer noch. Ohne eine spirituelle Menschenkunde kommt man nicht aus. Siehe auch die Suche bzw. Sehnsucht nach diesem Menschlichen im nächsten Zitat.

[41] Man kann dies auch bequem als ,Phantasma’ abtun, aber ein Urbild ist kein Phantasma. Und je mehr man sich in Urbilder vertieft, desto mehr wird man dies gewahr. Sie sind eine Realität – und etwas von dem Urbild des Mädchens lebt sogar in jedem einzelnen Mädchen, in manchen jedoch so viel, dass es erschüttert. • Aber auch der Mensch ist nicht als das gedacht, als das er sich derzeit darlebt. Auch hier kann jeder Einzelne unmittelbar spüren, wie sehr noch ein ganz anderes ,Urbild’ darauf wartet, im Einzelnen leben zu dürfen – um auch ihn, den Einzelnen, in seinem wahren Wesen wahrzumachen. Wir sind nicht, was wir sind und sein sollen und im tiefsten Inneren sein wollen. Der Weg liegt noch vor uns. Und er führt, wie Novalis wusste, nach innen... Niemand ,muss’ ihn gehen, doch jeder kann dessen Wahrheit fühlen, ihr Leuchten spüren.

[42] Letztlich verliert der Sexualforscher Sigusch trotz allen guten Willens inmitten und hinter der Sexualität die seelisch-geistige und sogar transzendente Liebe. So schreibt er: ,Es gibt viele bedeutende Autoren und Schriftsteller, die die Liebe als ein Mysterium gesehen haben. Ich lese sie mit sehr viel Hingabe, setze aber den Akzent ein wenig anders. Die Liebe – und dazu gehört die Sexualität – ist ein irdisches Mysterium.’ Liberalisierung oder Revolution?, in: ders.: Anti-Moralia. Sexualpolitische Kommentare. Frankfurt am Main/New York 1990, S. 100-105, hier 102. • Dafür ist er bedingungsloser Kämpfer gegen jede Scheinheiligkeit und Heuchelei: ,Wer in dieser Kultur verbindlich sagt, was anständig und gesittet ist, verfällt in jedem Fall der Heuchelei. Nicht nur der verklemmte Kleinbürger mit dem sattsam bekannten Schaum vor der präfaschistischen Charaktermaske. Auch Alice Schwarzer. Die müßte begreifen, daß zunächst einmal der General im vollen Wichs pornografisch ist [Zitat Marcuse, H.N.], daß Monogamie und Promiskuität und Pornografie gleich weit entfernt sind von einem freien Sinnesleben. Unser Liebesheld ist ebenso Index des falschen Lebens wie unser Sexualstraftäter. Und noch schwieriger ist zu begreifen, daß das gesunde und glückliche und anständige Sexualleben in unserer Kultur seit Jahrhunderten die Ideologie seiner Verhinderung ist.’ Der antierotische Komplex, in: ders. Anti-Moralia, a.a.O., S. 144-159, hier 156.

[43] Die Ordnung des Ungeordneten. Tagesspiegel.de, 11.2.2021 (Besprechung des Buches von Bettina Stangneth: Sexkultur. Hamburg 2020).

[44] Heinz-Jürgen Voß: Geschlecht. Wider die Natürlichkeit. Stuttgart 4.2018, S. 2.