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Makarenko
Anton S. Makarenko (1952): Ein Buch für Eltern. Berlin 1960, dort entnommen aus: Werke, Vierter Band. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
In Bezug auf die DDR schrieb Sigusch: ,Psychologie und Pädagogik wurden auf Pawlow und Makarenko eingeschworen.[1] Und auf den letzteren, also den Pädagogen,[2] wollen wir nun näher eingehen – sein ,Buch für Eltern’ (1952) spiegelt das sozialistische Erziehungsideal wieder.
Makarenko (1888-1939) absolvierte nach der Schule einen einjährigen pädagogischen Kurs und arbeitete schon mit siebzehn als Lehrer, später studierte er noch fünf Jahre. 1920 begann er mit dem Aufbau eines Arbeitsheims für straffällig gewordene Jugendliche (die spätere ,Gorki-Kolonie’), 1927 gründete er die Kolonie F. E. Dserschinski. Makarenko entwickelte eine Kollektiverziehung mit dem Ziel einer allseitig entwickelten Persönlichkeit auf der Grundlage von verinnerlichter Disziplin, Selbstverwaltung und nützlicher Arbeit. ,Die Autorität des Erziehers beruhte auf seiner Achtung vor dem Kind, seiner absoluten Aufrichtigkeit gegenüber den Zöglingen und auf festem Vertrauen in den Menschen.’[3] Auf Wikipedia heißt es weiter:
Makarenko hielt sich bei den kollektiv gefällten Urteilen zurück und griff nur mäßigend und immer zu Gunsten des Delinquenten ein, wenn es ihm notwendig erschien. Die Jugendlichen bekamen regelmäßigen Schulunterricht, arbeiteten in den Werkstätten und auf dem Feld und bewirtschafteten so selbstständig die Kolonie. Die Erzieher lebten alle in der Kolonie, jedoch in von den Schlafräumen für die Jugendlichen getrennten Zimmern. Sie aßen mit den Jugendlichen dieselbe Kost im gemeinsamen Speisesaal, arbeiteten am Bau der Häuser und in der Wirtschaft mit und gestalteten mit den Jugendlichen gemeinsam die Abende durch Spiele, Lesungen, Theateraufführungen und Gespräche. Makarenkos Erziehungsprinzip lautete: „Ich fordere Dich, weil ich Dich achte“
In seinem sehr lesenswerten Buch schildert der Pädagoge atmosphärisch und ausführlich verschiedenste fiktive und reale Lebenssituationen, die Gefühl und Einsicht in Bezug auf das jeweilige seelisch-sittliche Innenleben der Akteure entstehen lassen. Als Grundstimmung hebt sich aus seinem Buch – gerade im Kontrast zu manchem Beschriebenen – ein edles Menschentum heraus, das sich seiner Verantwortung voll bewusst ist und das Sittlich-Gute auch wahrhaft liebt.
Bis in feine Verästelungen macht er dabei das Versagen elterlicher Führung erlebbar – die kleinen und größeren Fluchten der Eltern, die Blindheit für so manches, auch Kleines, bis sich daraus unversehens, aber (für den sehenden Pädagogen) vorhersehbar große Probleme entwickeln. Und immer wieder weist er auf die Notwendigkeit der Selbsterziehung der Erzieher hin:[13]
Wenn in Ihrer Familie die erste „kindliche“ Verwirrung auftaucht, wenn mit den Augen Ihres Kindes ein noch kleines und schwaches, aber schon feindseliges Tierchen auf Sie schaut, weshalb blicken Sie da nicht zurück, warum prüfen Sie nicht Ihr eigenes Verhalten, warum fragen Sie nicht bescheiden bei sich selbst [...]? | Nein, Sie suchen sich unbedingt zu rechtfertigen...
Makarenko verachtet all die Ausflüchte und Projektionen, die die ,Schuld’ misslungener Erziehung nach außen schieben – etwa auf den Kontakt mit ,Straßenjungen’. Es ist immer die Faulheit und Gewissenlosigkeit der Eltern, die nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten, welche innere Entwicklungen im Gang sind.[19][4]
Wesentlich für jede Erziehung ist es, dass die Eltern selbst stark, kräftig und sittlich im Leben und in der Gesellschaft stehen. Dass sie pflichtbewusst, im Denken folgerichtig, im Großen und Kleinen aufmerksam sind.[20] Da, wo etwa ein Sohn durch eine beleidigende Bemerkung seine Mutter kränkt, liegt bereits vieles im Argen:[22]
[...] denn es bedeutet, daß Sie Ihren Sohn sehr schlecht erzogen haben, schon von jeher und schon lange haben Sie ihn schlecht erzogen. Da muß die ganze Erziehungsarbeit von vorn begonnen werden, Sie müssen in Ihrer Familie vieles überprüfen, über vieles nachdenken und sich vor allem einmal selbst unter die Lupe nehmen. [...]
[...] Wenn Sie ein Kind [...] haben, so heißt das, daß Sie ihm für viele Jahre die ganze Kraft Ihres Denkens, Ihre ganze Aufmerksamkeit, Ihren ganzen Willen widmen müssen. Sie dürfen nicht nur der Vater und der Vorgesetzte Ihrer Kinder, Sie müssen auch der Organisator Ihres eigenen Lebens sein; denn losgelöst von Ihrer Tätigkeit als Staatsbürger und von Ihrem Selbstgefühl als Persönlichkeit können Sie auch nicht als Erzieher wirken.
Wer mit seinem sittlichen Empfinden nicht mehr auf die ganze Gemeinschaft hinorientiert lebt, der kann auch in den Kindern nur Egoisten heranziehen – deren Egoismus sich auch gegen ihn selbst richten wird. Die Gemeinschaft muss als sittliches Ideal im Einzelnen leben – dann wird dieser Einzelne wahre Menschen erziehen können.[5]
Das sittliche Bewusstsein ist dabei eine starke innere Realität – kein bloßes Reden von ,dem Guten’.[6] Und die Gemeinschaft beginnt schon mit der Familie. Makarenko bezeichnet die Ein-Kind-Familie regelrecht als ,Irrweg’, in der verwöhnte Egoisten herangezüchtet werden.[7]
Die für jede Erziehung notwendige Autorität muss bereits im Wesen des Menschen und seines Lebens liegen:[153]
Eine Autorität, die eigens für die Kinder zurechtgemacht wird, kann es nicht geben. Eine solche Autorität wird immer ein Surrogat sein und erfolglos bleiben.
Die Autorität muß in den Eltern selbst liegen, und zwar unabhängig von ihrer Beziehung zu den Kindern, aber sie ist durchaus kein besonderes Talent. Sie wurzelt immer an einer Stelle: im Verhalten der Eltern, das alle einzelnen Betätigungen oder besser gesagt das gesamte Leben des Vaters und der Mutter – Arbeit und Denken, Gewohnheiten, Gefühle und Streben – einschließt.
Autorität gründet im innerlichen Mitleben mit dem Kind. Erst dies wird einem die unbedingte Achtung des Kindes sichern – und zugleich die pädagogische Feinfühligkeit und Intuition für eine sehr differenzierte Art des jeweiligen elterlichen Handelns geben:[220ff]
Das Kind ist ein lebendiger Mensch. [...] Wenn wir an die Stärke seiner Gefühle, an die Unruhe und Tiefe seiner Eindrücke, an die Reinheit und Schönheit seiner Willensanstrengungen denken, so ist das kindliche Leben unvergleichlich reicher als das Leben der Erwachsenen. [...]
Nur wenn Sie dieses überquellende, leuchtende und zarte Leben sehen und erkennen, wenn Sie darüber nachdenken, wenn Sie daran teilnehmen – nur dann wird Ihre elterliche Autorität, nämlich jene Kraft, die Sie früher in Ihrem eigenen, persönlichen und gesellschaftlichen Leben gesammelt haben, wirksam und fruchtbar.
Wenn Ihre Autorität aber wie ein angemalter und unbeweglicher Popanz neben diesem kindlichen Leben steht, wenn das Gesicht Ihres Kindes, seine Mimik, sein Lächeln, seine Gedanken und seine Tränen spurlos an Ihnen vorübergehen, wenn im Antlitz des Vaters nicht das Antlitz des Bürgers zu erkennen ist, dann ist Ihre Autorität keinen Groschen wert [...]. [...]
Größtenteils entstehen die Launen als natürlicher Protest gegen die elterliche Despotie, die sich immer wieder in einem Mißbrauch der Macht und jeder Art von Maßlosigkeit äußert, in der Maßlosigkeit der Liebe, der Strenge, der Zärtlichkeit, der Ernährung, der Reizbarkeit, der Blindheit und der Weisheit. [...]
Nicht Despotismus, Zornausbrüche, Geschrei, Bitten oder Flehen [...], sondern die ruhige, ernste und sachliche Anordnung. Weder Sie noch Ihre Kinder dürfen daran zweifeln, daß Sie das Recht haben, eine solche Anordnung zu geben, weil Sie die älteren und bevollmächtigten Glieder des Kollektivs sind. Jeder Elternteil muß lernen, Anordnungen zu geben, muß imstande sein, konsequent darauf zu beharren, darf weder in Trägheit verfallen noch sich hinter Gründen des Familienfriedens verstecken. Dann wird die Anordnung zu einer alltäglichen, gewohnten [...] Form, und dann werden Sie lernen, die feinsten Nuancen in den Ton der Anordnung zu legen: Bald wird sie wie eine Direktive, bald wie ein Ratschlag oder Hinweis, bald wie Ironie oder Sarkasmus, wie eine Bitte oder Anspielung klingen. Wenn Sie dann noch lernen, die wirklichen von den eingebildeten Bedürfnissen der Kinder zu unterscheiden, dann werden Ihre elterlichen Anordnungen unbemerkt zu einer wertvollen und angenehmen Form der Freundschaft zwischen Ihnen und dem Kinde werden.
Erst in diesem ganzen Zusammenhang stehen dann auch Makarenkos Gedanken zur Sexualerziehung:[229]
In der menschlichen Gesellschaft [...] kann sich die sexuelle Erziehung nicht auf das Physiologische beschränken. Der Geschlechtsakt darf nicht von den gesamten Errungenschaften der menschlichen Kultur, von den Lebensbedingungen des sozialen Menschen, vom Weg der Geschichte zum Humanismus und vom Sieg des Ästhetischen losgetrennt werden. Wenn sich Mann oder Frau nicht als Glied der Gesellschaft fühlen, wenn sie sich nicht verantwortlich fühlen für das Leben, die Schönheit und Vernunft der Gesellschaft, wie können sie dann einander lieben? Auf welche Weise sollen sie zur Selbstachtung gelangen, zum Vertrauen auf ihren eigenen Wert, der doch viel höher ist als der Wert des bloßen Männchens oder Weibchens?
Isolierte sexuelle Aufklärung ist immer entwürdigend:[231]
[...] ergab sich, daß die Eltern selbst bei dem gewissenhaftesten Bemühen und mit der wissenschaftlichsten Mimik ihren Kindern schließlich immer nur das gleiche erzählen konnten wie die „schrecklichen Jungen und Mädchen“, denen gerade die elterliche Aufklärung zuvorkommen sollte. Es wurde offenbar, daß das Geheimnis der Zeugung nicht zwei Varianten hat.
Man muss nach Makarenko gar nicht aufklären, weil es niemals den Fall gegeben habe, wo junge Leute ,beim Eintritt in die Ehe nicht eine genügende Vorstellung vom Geheimnis der Zeugung gehabt hätten’.[231][8] Wesentlich aber ist, diesem Geheimnis innerlich mit Ehrfurcht gegenüberzustehen – dies ist von den Eltern zu veranlagen und zu hüten. So sagt an einer Stelle ein Vater zu seinem Sohn:[239]
Vergiß nicht, daß ich dir glaube; ich werde es nicht nachprüfen. Ich bin überzeugt, daß du ein Mann bist und keine ... hohle Seifenblase.
Und etwas später sagt der Junge zu einem anderen:[241f]
Weißt du, er hat gesagt: Es gibt eben im Leben etwas Verborgenes und Geheimnisvolles. Und weiter: Alle Menschen wissen es, Männer wie Frauen, und es ist daran nichts Häßliches, aber man spricht nicht darüber. Alle wissen es. Genügt das nicht? Sie wissen es, aber sie reden nicht vor allen davon. Das ist Kultur, sagte er. Und weiter sagte er: und ihr Grünschnäbel habt es erfahren, und eure Zunge ist wie ein Kuhschwanz. [...] Der Mensch soll seine Zunge für vernünftige Dinge gebrauchen, ihr aber jagt die Fliegen damit. [...] | [...] Ihr wollt etwas anderes daraus machen ... und ihr unterhaltet euch, nein, ihr redet wie betrunkene Strolche darüber. Ihr braucht keinen Puschkin, sagte er, ihr wollt nur auf Zäunen herumschmieren...
Auf diese Weise entsteht Ehrfurcht und sittliches Empfinden in der Seele – und das andere Geschlecht bleibt ein heiliges Geheimnis. Und ein Junge kann noch spüren:[246]
Nadja bekommt Besuch von ihren Freundinnen aus der 10. Klasse, die ebenso zarte Mädchen wie sie sind, mit verwirrenden Augen, mit weichem Kinn und welligem [...] Haar und jenen körperlichen Besonderheiten, über die man am besten nicht nachdenkt und von denen man auch nicht träumt. [...] Ihn verwirrt die besondere Sicherheit der Mädchen, in der er irgendeine weise Kraft sieht. Sie steht in reizvollstem Gegensatz zu ihrer scheinbaren Schwäche und der Naivität ihrer Bewegungen. Sie können nicht einmal einen Stein werfen, wie es sich gehört, aber als Klawa Borissowa Alexanders Gesicht einmal in ihre weichen, warmen Hände nahm und sagte: | „Dieser Junge wird einmal ein hübscher Mann sein“ – da ergriff ihn ein stürmisches und nie gekanntes Gefühl, es schnürte ihm die Kehle zu, hielt seinen Atem an und überwältigte ihn. [...] Da ahnte er, daß hier irgendwo in der Nähe der Weg zum menschlichen Glück vorbeiging. Abends im Bett dachte er ganz ruhig daran, und wenn er die Augen schloß, erschienen ihm die Mädchen wie hohe weiße Wolken.
Heute mag eine solche Schilderung allzu vielen als absolut unrealistisch und übertrieben romantisch erscheinen – aber sie ist von einem Sozialisten geschrieben! Es geht nicht um rettungslose Romantik, sondern um die heilige Realität der Geschlechter und einer vollen, tiefen Achtung voreinander. Diese Achtung und dieses Mysterium kann dann die Profanisierung oder gar den Zynismus vollkommen entschlossen abwehren. Alexander hatte durch Worte seines Vater ein tiefes Empfinden dafür bekommen, was eigentlich ein ,Mann’ ist – nämlich der, der die weiblichen Wesen tief achtet:[252f]
Nach jenem Gespräch mit dem Vater tauchte dieses Wort jetzt häufig auf. Es hatte etwas Starkes, Ernstes, Nachhaltiges und sehr Geheimnisvolles. Dann verwischte sich auch dieses Bild, und die heimlichen Gedanken an etwas Schamloses, die schlüpfrigen Erzählungen Ilja Komarowskis und der unentwegte Zynismus Wolodja Uwarows drängten sich ihm ganz offen auf. Doch diese Gedanken verschwanden, und wieder glänzten am klarblauen Himmel die hohen weißen Wolken und lächelten reine, zärtliche Mädchen.
Wer solche Empfindungen nie gekannt hat und nicht auch in ihrer Essenz, als Grundempfindung dem anderen Geschlecht gegenüber, in das Erwachsensein hinübergetragen hat, hat etwas Wesentliches versäumt und nie gekannt.
Makarenko stellt zusammenfassend fest:[257]
Kein Gespräch mit Kindern über die „sexuelle“ Frage kann dem Wissen, zu dem sie ohnehin zur gegebenen Zeit gelangen werden, etwas hinzufügen. Aber solche Gespräche verflachen das Problem der Liebe, sie bringen die Liebe um jene Zurückhaltung, ohne die sie zur Ausschweifung wird. Die Enthüllung des Geheimnisses, selbst wenn es auf eine sehr kluge Art geschieht, verstärkt die physiologische Seite der Liebe, sie erzieht nicht das sexuelle Gefühl, sondern die sexuelle Neugier und macht sie zu etwas Natürlichem und Zulässigem.
Die Kultur des Liebeslebens ist unmöglich ohne Hemmungen, die in der Kindheit anerzogen werden. Zur sexuellen Erziehung muß auch die Erziehung zu jener innerlichen Achtung vor den sexuellen Fragen gehören, die man Keuschheit nennt. Die Fähigkeit, sein Gefühl, seine Phantasie und die auftauchenden Wünsche zu beherrschen, ist außerordentlich wichtig, und ihre gesellschaftliche Bedeutung wird noch nicht genügend gewürdigt. [...]
Ich weiß aus meiner Erfahrung, daß eine spezielle, auf dieses Ziel [der ,Aufklärung’, H.N.] gerichtete sogenannte sexuelle Erziehung nur zu traurigen Ergebnissen führt.
Und weiter:[258f]
Wenn wir das sexuelle Gefühl gesondert erziehen, so erziehen wir noch keinen Bürger; wenn wir aber einen Bürger erziehen, so erziehen wir damit zugleich auch das sexuelle Gefühl, jedoch bereits veredelt durch die grundlegende Richtung unserer pädagogischen Aufmerksamkeit.
[...] Die Kräfte der „liebenden“ Liebe können nur in der Erfahrung einer nicht-sexuellen menschlichen Sympathie gefunden werden. Der junge Mensch wird seine Braut und seine Frau nie lieben, wenn er nicht auch seine Eltern, Kameraden und Freunde liebt. Und je weiter das Gebiet dieser nichtsexuellen Liebe ist, um so edler wird auch die Geschlechtsliebe sein.[9]
Ein Mensch, der sein Vaterland, seine Nation, seine Arbeit liebt, kann kein Wüstling werden, er sieht in der Frau nicht nur das Weibchen. [...]
Der sexuelle Instinkt [...] kann, wenn man ihn in seinem primitiven, „wilden“ Zustand läßt oder durch eine „wilde“ Erziehung noch verstärkt, nur zu einer für die Gesellschaft schädlichen Erscheinung werden. Aber gezügelt und veredelt durch die soziale Erfahrung, also durch die Erfahrung der Gemeinschaft mit den Menschen, der Disziplin und der Hemmung, wird er zu einer der Grundlagen der höchsten Ästhetik und des schönen menschlichen Glücks.
In einer lebendigen Familie wird auch ,die Entwicklung des sexuellen Instinktes bei den Kindern’ harmonisch vor sich gehen. Man braucht keine künstlichen ,Kniffe’, weil ,ein ganz selbstverständliches Zartgefühl und schweigendes Vertrauen herrschen’:[259]
Zweitens wird hier jedes Wort bedeutsam und weise sein, das zur rechten Zeit gesprochen wird, das sparsame und ernste Wort über Männlichkeit und Keuschheit, über die Schönheit des Lebens und seinen Wert, das Wort, das der Entstehung einer künftigen großen Liebe und einer schöpferischen Lebenskraft den Weg bereitet. [...]
Die künftige Liebe unserer Kinder wird um so schöner sein, je weiser wir mit unseren Kindern darüber sprechen und je weniger Worte wir machen.
Dieses zarte Schweigen ist eben keine Unterdrückung, sondern im Gegenteil – eine Veredelung. Wird dagegen das Sexuelle ,ans Tageslicht gezerrt’, geschieht gerade dadurch eine Unterdrückung – nämlich die des wahren Menschen und seiner vollen Sittlichkeit. Die wirkliche Sexualerziehung ist gerade Willenserziehung und Charakterbildung des ganzen Menschen. Und so setzt Makarenko unmittelbar fort:[259f]
Aber neben dieser Zurückhaltung muß das Verhalten des Kindes von uns ständig und regelmäßig beobachtet werden.[10]
Keine Philosophie und keine Wortweisheit bringen Nutzen, wenn es in der Familie keine richtige Lebensordnung und keine festen Grenzen für das Handeln gibt.
[...] Man hat es fertiggebracht, in dem ganzen Plunder der Boheme irgendeinen hohen und ästhetischen Sinn zu finden. In dieser Neigung steckte etwas von Anarchismus, von Dostojewski und von Christentum.[11] [...] Manche Zeitgenossen verachten in der Tiefe ihrer Seele auch heute noch Exaktheit und geordnetes Verhalten, ein zielstrebiges und den Kleinigkeiten gegenüber aufmerksames Dasein.
[...] In Exaktheit und innerer Sammlung, in strenger und sogar harter Folgerichtigkeit, im gründlichen Nachdenken über das menschliche Handeln liegt mehr Schönheit und Poesie als in jeder beliebigen „poetischen Unordnung“.[12]
Makarenko geht es um die Tatsache, dass Ideale in Bezug auf die Gesellschaft – der gemeinsame Aufbau einer besseren, einer echt menschlichen Gesellschaft – Kräfte in der Seele entbinden, die sie nirgendwo anders so tief finden kann: echtes Glück, echte Erfüllung, echte Freude.[13]
Die sogenannte Moral und Sittlichkeit im Kapitalismus besteht im Kollektivismus der ,gewöhnlichen Alltagssünde’, dem gewöhnlichen Egoismus, der sich meistens an die Grenzen des Strafgesetzbuches hält.[356] Dies ist eine passive Moral, die nur auf Reste moralischen Empfindens gebaut, im übrigen aber von Egoismen aller Art angekränkelt ist. Die kommunistische Moral dagegen ist ganz und gar auf der Idee der Solidarität aufgebaut:[356f]
Sie fordert von der Persönlichkeit die Ausschaltung der Habgier und die Achtung vor den Interessen und dem Leben der Mitmenschen, und darum fordert sie auch ein solidarisches Verhalten unter allen Umständen [...].
Aus den allgemeinen solidarischen Interessen ergibt sich die Idee der Pflicht, ergibt sich jedoch nicht unmittelbar die Erfüllung dieser Pflicht. Darum ist die Solidarität der Interessen noch keine sittliche Erscheinung. Sie wird es erst, wenn auch das Verhalten solidarisch ist.
Damit endet Makarenko. Der Solidaritätsgedanke allein kann, wie alle anderen Gedanken, tot und wirkungslos bleiben. Die Menschen können schöne ,Gedanken’ haben, aber dennoch Steuern hinterziehen, dem Mitmenschen gegenüber weitgehende Gleichgültigkeit empfinden, zu Hause seelentötende Serien, Talkshows oder gar Pornos gucken – und im übrigen ,brave Staatsbürger’ einer zerfallenden Gesellschaft sein.
Das Ideal der sozialistischen Gesellschaft und Pädagogik geht weiter – es möchte das sittliche Bewusstsein so kräftig in der Seele aufleben lassen, dass sie zu sittlichem Handeln kommt. Wie dies dann ganz natürlich auch auf dem Gebiet der Sexualität und der Liebe wirksam wird, haben wir im Vorangehenden erleben können.
Fußnoten
[1] Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, a.a.O., S. 492.
[2] Pawlow war Verhaltensforscher, nach ihm wurde der ,Pawlowsche Reflex’ benannt, das Ergebnis ,klassischer Konditionierung’. Ein Hund, der bei der Futtergabe jedes Mal ein akustisches Signal hört, sondert schließlich Speichel auch bereits nur bei diesem Signal ab. Er ist buchstäblich konditioniert worden. Wikipedia: Iwan Petrowitsch Pawlow.
[3] Wikipedia: Anton Semjonowitsch Makarenko. Auch für den folgenden Absatz.
[4] Er zählt die üblichen Ausflüchte auf: ,Ein schrecklicher Junge!’, ,Ein hoffnungsloser Typ!’, ,Wir sind machtlos!’, ,Unverbesserlich!’, ,Wir haben es aufgegeben!’, ,Er braucht eine besondere Zucht!’ Und er schreibt mit Bezug auf Lombroso, der vom angeborenen kriminellen Charakter ausging: ,Lombroso kann nur durch ein Mittel restlos erledigt [= widerlegt, H.N.] werden, durch die große praktische Arbeit an der Erziehung des Charakters. Aber diese Arbeit ist gar nicht so leicht, sie erfordert Anspannung, Geduld und Beharrlichkeit. [...] Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem ein vollwertiger Charakter ohne gesunde Erziehungsverhältnisse entstanden ist oder umgekehrt ein verdorbener Charakter trotz einer richtigen Erziehungsarbeit.’[64]
[5] Makarenko selbst schreibt noch aus dem heiligen Stolz des Proletariats heraus, das das zaristische Russland und dessen dekadentes Nichtstun überwunden hat, und nun durch Millionen einzelner Arbeiter, Ingenieure, Lehrer, Ärzte usw. eine ganz neue Gemeinschaft aufbaut. Seine Gedanken bleiben aber für jede Gemeinschaft zeitlos gültig. Jede Gemeinschaft kann nur leben, wenn der Einzelne sich für sie einsetzt und wenn er sie als ein Ziel und Ideal im Bewusstsein trägt. • Auch die Idee des Kommunismus als einer brüderlichen Gemeinschaft (,Jeder nach seinen Fähigkeit, jedem nach seinen Bedürfnissen’) bleibt zeitlos gültig. Obwohl es ,noch nie gesehene Formen der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit, der Zuverlässigkeit, der Vernunft, des Vertrauens und der Reinheit der sittlichen Persönlichkeit des Menschen voraussetzt’[35f], ist es doch nicht utopisch, denn all diese wahrhaft menschlichen Kräfte liegen im Menschen – und können da lebendig werden, wo eine wirkliche Gemeinschaft erlebt wird oder zunächst als Ideal im Herzen lebt.
[6] Das scheinheilige oder bloß theoretische Gute ist gerade tief lähmend: ,Als wir jung waren, haben uns die Popen zum Guten angehalten, Philosophen schrieben über das Gute, Wladimir Solowjow hat dem Guten ein dickes Buch gewidmet. [...] Dort, wo das Gute die Welt mit seinen sanften Flügen beschattete, erlosch das Lächeln, erstarb die Energie, hörte der Kampf auf, allen wurde übel davon [...].’[84]
[7],Umgeben von der Liebe, von der Sorge und dem Glauben der Eltern, die ausschließlich ihm galten, konnte Viktor sich gar nicht irren: er war der Mittelpunkt der Familie, ihr ein und alles, ihre Religion. [...] Die Eltern umkreisten ihn wie willenlose Trabanten.’[105] • ,Die Konzentration der elterlichen Liebe auf ein einziges Kind ist ein Irrweg.’[111] • ,Wenn ich persönlich Fälle von hemmungslosem Egoismus beobachtete, der nicht nur das Glück der Eltern zerstörte, sondern auch den Erfolg der Kinder selbst, so handelte es sich fast ausschließlich um einzige Söhne oder Töchter.’[111] • Für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ist dies dagegen geradezu natürlich und typisch: ,Kalte Härte des Charakters, getarnt durch formelle Höflichkeit, schwache Sympathiegefühle, eingefleischter Egoismus, zielbewußtes Strebertum und moralische Wendigkeit, dazu Gleichgültigkeit gegenüber der gesamten Menschheit’.[111] • Wenn nur ein Kind da ist, rät Makarenko dringlichst zur Aufnahme eines Waisenkindes: ,Tuen Sie dies unbedingt, wie schwierig Ihre materielle Lage auch sein mag.’[151]
[8] Dies stimmt nicht, da noch bis zur Jahrhundertwende nicht aufgeklärte Mädchen teilweise dachten, schon ein Kuss würde ein Kind bringen.
[9] Auch Rudolf Steiner betonte, dass die Geschlechtsreife nur ein Spezialfall der ,Erdenreife’ und der damit verbundenen, umfassenden Liebe mit ihren Idealen etc. ist. • Ebenso betonte Steiner die ,natürliche Autorität’ und das innerliche Mitleben mit dem Kind. So haben Makarenkos Anschauungen einen tiefen Zusammenhang mit dem, was auch der Waldorfpädagogik zugrundeliegt – beides ist ,Erziehungskunst’ und beruht ganz und gar auf der Selbsterziehung des Erziehenden.
[10] Dies bedeutet keineswegs die systematische Überwachung, wie sie im ,Kampf gegen die Onanie’ propagiert wurde, sondern ein tiefes Bewusstsein für das Leben des Kindes und seines jeweiligen inneren Seins, Denkens und Tuns. Nicht um Überwachung geht es hier, sondern um die volle Verantwortung des Elternseins, aus der man sich nicht herausstehlen kann.
[11] Wie diese Kritik gemeint ist, zeigt sich im Folgenden. Einem wahren Christentum sind Makarenkos Anschauungen zutiefst verwandt. Beides trifft sich im dem Mysterium des wahren Menschentums, das nicht tief genug gedacht werden kann und von Makarenko bereits sehr tief gedacht wird.
[12] Die Bohème war natürlich auch eine Gegenbewegung gegen ein erstarrtes, heuchlerisches Bürgertum und gegen den Obrigkeitsstaat. Dennoch sammelten sich hier vor allem jede Menge gescheiterte Existenzen. Und selbst Künstlernaturen sind zwar im Ausleben ihrer Kunst willensstark, im Übrigen jedoch nicht. Makarenko stellt dem den auf allen Lebensgebieten verantwortlichen, verantwortungsbewussten und sich selbst wahrhaft beherrschenden Menschen entgegen – der vor allem auch gesellschaftlich wirklich noch leuchtende Ziele vor Augen hat. Also nicht ,Carpe diem’ oder ,In-den-Tag-Leben’, sondern arbeiten, eine Art heiliger Wille zu gesellschaftlich notwendiger und fruchtbarer Arbeit.
[13],Freude! Welch ein seltsames, altmodisches Wort! Bei Puschkin ist dieses Wort von naiver, bezaubernder Schönheit und ist nie von „Wonne“ und „Jugend“ getrennt. [...] Wer konnte vor der Revolution dieses Wort auf die Tätigkeit, die Arbeit, den Dienst beziehen!’[308] • ,Wir brauchen keine Menschen, die durch das schweigende Heldentum der Mütter erzogen werden, die unter unendlicher Aufopferung großgezogen werden …, Kinder, deren Erziehung auf den Opfern der Mutter beruht, kann man sich nur in einer Gesellschaft von Ausbeutern denken. | [...] Die Arbeit und das Leben unserer Mütter darf nicht von einer blinden Liebe geleitet werden, sondern von dem großen vorwärtsstrebenden Gefühl der sowjetischen Bürgerin. Solche Mütter schenken uns schöne und glückliche Menschen, und sie werden selbst bis an ihr Lebensende glücklich sein.’[312] • Man braucht nicht gleich an Dogmatismus oder gar Indoktrination zu denken, sondern kann einmal zu empfinden versuchen, auf was für eine Wahrheit hier gewiesen ist.