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Dekadenz der Erotik
Was geschah durch die ,Sexuelle Revolution’ der Achtundsechziger-Generation wirklich? Die Sexualität wurde einerseits befreit – aber sie verlor andererseits auch den letzten Rest von Unschuld, den sie bis dahin noch hatte.
Es ist ein ungeheures Paradox, dass gerade eine Auffassung, für die Sexualität (zumindest vor der Ehe) als ,sündig’ galt, ebendieser Sexualität noch eine Unschuld bewahren konnte. Die Sexualität war verfolgt, war ein Opfer, durfte nur in dunklen Winkeln heimlich leben und sich zeigen. Sie hatte damit jene geheimnisvolle Weihe und Würde, die jedes unterdrückte Wesen hat, weil es in seinem Herzen weiß, dass es im Recht ist, dass es zu Unrecht Verfolgung erleiden muss.
Bei reinem Bewusstsein fühlen wir immer mit dem Unterdrückten mit – mit dem unschuldig Verfolgten, insbesondere dann, wenn das verfolgte Wesen diese Verfolgung wehrlos und demütig erträgt. Wir fühlen mit dem unschuldigen Opfer. Und diese Geste des Verfolgung und Unterdrückung ertragenden Wesens ist wiederum eine sehr weibliche. In diesem Sinne kann man also sagen: Die verfolgte, als ,Sünde’ verschrieene Sexualität war bis zum Ende ihrer Verfolgung ,weiblich’, war ein gewaltsam unterdrücktes Wesen, mit dem man aus heutiger Sicht unmittelbar Mitleid empfinden kann.
Dann befreite sich die Sexualität, emanzipierte sich, schwang sich zu selbstbestimmter Herrschaft auf – und wurde so gesehen ,männlich’. Sie erstritt sich ihr freies Recht auf sämtliche ,Spielarten’, machte sich selbst zur Norm ... und blickte am Ende auf alles herab, was nicht ihrem neuen Gesetz folgte. Mit anderen Worten: Aus einem verfolgten weiblichen Wesen war ein selbstherrlich dominierendes, patriarchalisches Wesen geworden, das nun seinerseits andere Wesen unterdrückte und verspottete – etwa die Keuschheit oder die geschlechtliche Unschuld.
Hatte vorher etwa die Keuschheit männlich geherrscht? Nein, die Keuschheit, die Unschuld, sie herrschen nie. Vorher hatte das Patriarchat die Keuschheit gefordert und durchgesetzt. Das Patriarchat hatte die Keuschheit auf einen Thron gesetzt, ob sie wollte oder nicht, und dafür die Sexualität unterdrückt. Auf diese Weise waren die Keuschheit und die Sexualität beide weiblich – die Keuschheit von ihrem Wesen her, die Sexualität durch ihr Verfolgtsein.
Indem die Sexualität die Herrschaft an sich gerissen hatte, wurde sie männlich, stieß die Keuschheit vom Thron, den sie nun selbst usurpierte – und verspottete und demütigte die Keuschheit, die ihr nie etwas getan hatte. Die Keuschheit hat ihre Schwester Sexualität immer nur ermahnt, nicht unkeusch zu werden. Alles, was die Sexualität erleiden musste, wurde ihr nicht von ihrer Schwester angetan, sondern vom Patriarchat. Und die Wahrheit ihrer Schwesternschaft zeigt sich darin – was das Patriarchat niemals anerkennen wollte –, dass es auch eine keusche Sexualität gibt.
Das herrschende Patriarchat hatte zwischen einem keusch sich hingebenden Mädchen und einem lustvoll hurenden Geschöpf keinen Unterschied gemacht – sie waren beide ,gefallen’. Die ,Unschuldsforderung’ des Patriarchats galt unbarmherzig und bedingungslos. Es ging nicht um den Unterschied zwischen unschuldiger Liebe und selbstischer Lust, sondern um das Eigentumsrecht des Mannes an seiner künftigen Frau einschließlich ihrer sexuellen Vergangenheit. Der Mann beherrschte die Sexualität so, wie er ihre Schwester, die Keuschheit, beherrschte. Beide waren seine Sklavinnen. Er setzte die Keuschheit auf den Thron, um die Sexualität zu demütigen und zu kontrollieren – beides bezogen auf die Frau und das Mädchen. Der Mann war es, der Sexualität und Keuschheit gegeneinander ausspielte. Und für sich selbst interessierte ihn die Keuschheit keineswegs, für sich selbst nahm er die Sexualität uneingeschränkt in Anspruch.
Keuschheit und Sexualität sind also Schwestern. Die Keuschheit ist die jüngere Schwesser der Sexualität – und zugleich ihre Hüterin. Sie wünscht sich nichts lieber, als dass auch die Sexualität immer in der Nähe der Keuschheit bleibt – und so ihr Weibliches nie verliert. Denn die unkeusche Sexualität ist bereits männlich. Sie hat ihre Unschuld verloren – und lebt nur noch ihrer Lust. Genau dies aber ist der entscheidende Punkt der Umwandlung von weiblich in männlich. Das Weibliche lebt nicht der Lust, sondern lebt in der Liebe. Die Lust kennt nur der Mann. Er leidet unter der Krankheit der genital geprägten Sexualität und der Getriebenheit durch die bloße Lust.
Die sogenannte ,Emanzipation’ der Frau ist also immer eine schleichende Vermännlichung – auch auf dem Gebiet der Sexualität. Eine Frau, die ihre Lust ,selbst in die Hand nimmt’, ist bereits keine Frau mehr, sondern ein weiblich-männliches Zwitterwesen. Sie ist nicht gefallen, weil sie die Sexualität zulässt, sondern weil sie den Sündenfall des Mannes nachgemacht hat – weil sie ihm hinterhergefallen ist, in die bloße Lust hinein, die Liebe verlassend, die bisher noch ihr Paradies gewesen war.
In Wirklichkeit hat sich die Austreibung aus dem Paradies erst da vollendet, wo auch die Frau ihr Recht auf die Lust in Anspruch nahm...
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Mit seiner ,Philosophie im Boudoir’ (1795) war der Marquis de Sade auf eine erschreckende Weise sehr modern:[1]
Mädchen, die ihr zu lange in den unsinnigen und gefährlichen Banden einer eingebildeten Tugend [...] gefangen gehalten wurdet, eifert der heißblütigen Eugénie nach, zerstört, zertretet ebenso geschwind all die lächerlichen Lehren, die blödsinnige Eltern euch einhämmerten.
Doch auf Wikipedia liest man, wohin die Lust bei de Sade führt:[2]
Die freigeistige Madame de Saint-Ange und ein Freund ihres Bruders, der Libertin Dolmancé übernehmen die Sexualerziehung des 15 Jahre alten Mädchens Eugénie. Der Unterricht umfasst die anatomische Erörterung der Sexualorgane und der erogenen Zonen, die praktische Überprüfung des Gelernten in konkreten Sexualhandlungen, sowie sittlich-moralische Betrachtungen über das Sexualverhalten der Geschlechter im Besonderen und über deren Sozialverhalten im Allgemeinen. [...]
Neben der Masturbation und dem normalen Geschlechtsverkehr empfehlen die Erzieher insbesondere den Analverkehr, um einer Schwangerschaft zu entgehen. [...]
Der Schülerin wird angeraten, sich von triebfeindlichen moralischen Konventionen zu lösen. [...]
Am Ende des Erziehungsprogramms wird nicht nur symbolisch die Abnabelung vom mütterlichen Vorbild eingefordert, sondern in einem Initiationsakt des Erwachsenwerdens im Beisein der Tochter der Mutter von der Hand des Libertins das Geschlechtsteil zugenäht. In de Sades [abschließendem, H.N.] Traktat Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt wird, nach Beseitigung der Monarchie, als weitere Anstrengung gefordert, sich nunmehr des Christentums zu entledigen[3] und somit auch sittlich-moralisch zu befreien. [...] Neben Meinungsfreiheit, generell milden Gesetzen und der Abschaffung der Todesstrafe fordert de Sade auch die Freiheit des Bürgers, seinen aggressiven Trieben nachzugehen. Statt Keuschheit und Treue solle eine allgemeine Promiskuität um sich greifen.
Das Pamphlet mündet in eine Verherrlichung der Gewalt als Konsequenz der naturgegebenen egoistischen Bestrebungen der Menschen, die in einen Kampf aller gegen alle ausarten.
Auch die ersten Seiten des Textes sagen bereits genug:[17f]
Ach, du kleine Hexe, welche Lust wird es dir sein, dieses Kind [...] zu verderben, in ihrem jungen Herzen alle Samen der Tugend und der Religion zu ersticken, die ihre Lehrerinnen dort pflanzten! [...] Es ist unmöglich, für dieses Vorhaben einen besser geeigneten Mann zu finden: Gottlosigkeit, Verruchtheit, Unmenschlichkeit, Libertinage fließen von Dolmancés Lippen [...]. Er ist der perfekteste Verführer, der verderbteste und gefährlichste Mensch...
Das Ziel ist die Vernichtung einer Seele. Sie soll auf jene Stufe der Verderbnis gezogen werden, die die anderen schon erreicht haben.[4] Und schon früh predigt Dolmancé den Kern seiner Philosophie:[59]
Hüten wir uns, das Quantum Empfindungsfähigkeit zu zersplittern, das wir von der Natur empfangen haben: Es ausdehnen, heißt es vernichten. Was gehen mich die Leiden der andern an! [...] Laßt den Herd dieser Empfindungsfähigkeit nur unsere Lust entflammen! Seien wir empfindsam für alles, was ihr dient, und unerbittlich allem anderen gegenüber! [...] Man kann nicht immer Böses tun. Wenn wir uns also dieses Vergnügen nicht immer zu verschaffen vermögen, so können wir doch dieses Gefühl durch die reizende kleine Boshaftigkeit ersetzen, niemals etwas Gutes zu tun.
Doch das ausgesuchte Mädchen ist letztlich gar kein Opfer: Die abgrundtief lüsterne Eugénie stimmt begeistert in alles ein. Sie ist ein Anti-Mädchen. Denn das Mädchen in seinem reinen Ur-Wesen zeichnet sich gerade durch tiefste Empfindungsfähigkeit aus, die durchdrungen ist von Empathie, Liebe und Mitleid...
Madame de Saint-Ange erklärt junge Mädchen zu Prostituierten und verkündet die Pornografisierung des Lebens als dessen Sinn:[63f][5]
Ist es nicht viel gefälliger, wenn ein junges Mädchen einwilligt, alle gücklich zu machen, die sie darum bitten, als wenn sie sich absondert und einzig ihrem Gatten hingibt? Das Los der Frau gleicht dem der Hündin[6] [...]: Sie gehört allen, die sie begehren. Es ist ganz offensichtlich eine Vergewaltigung der der Frau von der Natur auferlegten Bestimmung [...], sie an die Kette einer einsiedlerischen Ehe zu legen. [...]
[...] Ficke, mit einem Wort, ficke; dazu bist du auf der Welt [...]; jede Stunde, jeder Ort, jeder Mann diene deiner Wollust [...].[7]
Und während das ganze Buch hindurch ,gefickt’ wird, wird alles Moralische zertreten.[8] Der von Wikipedia erwähnte Traktat ist ein einziges Machwerk der Gehirnwäsche[9] – und ,begründet’ sogar die absolute Sexualisierung der weiblichen Wesen, auch gegen ihren Willen,[10] dafür dürfen auch sie mit Unzähligen Sex haben. Das ganze Werk strotzt vor inneren Widersprüchen und Gewaltverherrlichung.[11] Und der Wikipedia-Eintrag ist in seiner Harmlosigkeit geradezu eine Lüge.[12]
[...] Eugénie; fassen wir, um Ihrer Erziehung willen, alles, was [...] gesagt worden ist, zu dem einzigen Ratschlag zusammen [...]: Hören Sie niemals auf Ihr Herz, mein Kind; es ist der schlechteste Ratgeber, den wir von der Natur mitbekommen haben; verschließen Sie es mit größter Sorgfalt [...].[275f]
Das ist die Quintessenz von de Sade, dem Meister der seelenleeren. pornografischen Lust.[13]
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Und in welcher Zeit leben wir heute? Die emanzipierte Lust ist längst zur Normalität geworden, zu etwas Gewöhnlichem.
Man kann es in ein Bild bringen. Denken wir uns einen Jungen, der, weil es sich um ein völliges Tabu handelt, das irgendwo ausgeschnittene Bild eines nur halb bekleideten Mädchens wie eine heilige Kostbarkeit sorgsam unter seinem Bett versteckt, um es in kurzen Momenten des Tages voller Ehrfurcht zu betrachten. Das war die Vergangenheit. Und nun denken wir uns einen Jungen, der beliebigen Zugang zu Nacktheiten jeder Form haben kann – auf Papier, virtuell, auf Knopfdruck, egal. Es ist wertlos geworden. Er kann sich daran ,aufgeilen’, wenn er mag. Aber er hat letztlich alles verloren – denn er hat sein eigenes Herz verloren. Er kann es nicht mehr finden. Er weiß nicht mehr, was Liebe ist, was Ehrfurcht ist, was Anbetung ist, was tiefes Berührtwerden ist. Er hat nichts mehr – nur noch das Vollangebot obszöner Beliebigkeit. Das ist die Gegenwart.
Der Sexualforscher Gunter Schmidt berichtet,[14] dass in den USA bereits ein standardisierter Fragebogen zur Evaluierung sexueller Lustlosigkeit entwickelt wurde.[23][15] Der Sexualisierung der äußeren Welt entspreche eine innere Desexualisierung[25][16] und eine Flucht in die solitäre Selbstbefriedigung.[27][17] In einer Welt, die inzwischen alles bietet, werden nur die Wünsche knapp.[49][18] Die klassische Pubertät verschwindet.[54][19] Und mit Recht schreibt Schmidt:[55]
Nicht die „Natur“ machte den (männlichen) Trieb „allgewaltig“, sondern der Konflikt zwischen Wunsch und Verbot, durch den das sexuelle Verlangen [...] weggedrängt, zu einem fremden Teil wurde.
In einer Zeit aber, in der ,alles sein darf’ und Sex auf allen Fernsehkanälen zu finden ist, scheinen Liebe und Sehnsucht nacheinander geradezu verlorenzugehen. Sexualforscher Sigusch schreibt:[20]
[...] ein Hauch von Perversion ist der Garant andauernder normaler Sexualisierung in Paarbeziehungen. Ungewöhnliche, „schmutzige“ oder tabuisierte sexuelle Phantasien oder Praktiken [...] sind die Lava, die in die Adern gegossen werden muss, soll die Erregung immer wieder entflammen [...]. Ungewöhnlich oder tabuisiert müssen die Phantasien sein, weil jede Routine die Affekte drosselt.[21] „Schmutzig“ müssen die Phantasien sein, weil Reinheit, Sauberkeit, Gewissenhaftigkeit [...] die Gifte sind, die jede Erotik vertreiben; es sei denn, Reinheit selbst wird sexualisiert [...].
Mir ist nicht bekannt, dass die Erotik jemals so stark an das ,Schmutzige’ gekoppelt war wie in unserer Zeit. Siguschs Aussage ist also völlig zeitgebunden. Zuvor hat es für die Erotik immer gereicht, sich angezogen zu fühlen – und dafür war das ,Schmutzige’ überhaupt nicht nötig, pure Schönheit hat schon gereicht. Und das Reine und Keusche war schon immer erotisch,[22] hatte eine ganz besondere Anziehung, die alles ,Schmutzige’ weit übertraf...
Ein Vierteljahrhundert der ,Befreiung der Sexualität’ – ,auf allen Kanälen’ – war also ausreichend, um in eine ungeheure Leere hineinzuführen. Auch in einem die Geschichte der Erotik behandelnden Buch hieß es dann 1995:[14][23]
Für sehr viele [...] hat sich die erotische Lust mittlerweile in eine bestenfalls angenehme Nebensache verwandelt, die sich durch andere Vergnügungen ersetzen lassen kann. Was steht für den Abend auf dem Programm, neben den zahlreichen Angeboten im Fernsehen? Kino oder Cunnilingus, Fete oder Fick?
Und das bedeutet:[16]
Die zunehmend Lustlosen von heute sind frei, alles zu tun, was ihnen gefällt, wenn sie sich nicht selbst als verklemmt empfinden wollen. Was immer sie jetzt tun möchten, ist damit auch ziemlich belanglos geworden.
Dies hat jedoch eine gewisse Entsprechung zu der bereits zuvor schon nicht befriedigten Frau, die längst eine sexuelle Leere kannte, während die ,Herren des Patriarchats’ glaubten, sie wären ihre ,Beglücker’ – denn:[40]
Sie schien nur ein Loch oder ein Nichts zwischen den Beinen zu haben, einen zu füllenden Leerraum, den sie nur dann spürte, wenn ein zumeist unbeholfener Liebhaber ein paar hundert Sekunden darin herumstocherte.
Bis in die 70er Jahre hinein gestanden viele Frauen allenfalls ihren besten Freundinnen errötend, dass sie nur dann Lust erlebten, wenn sie sich selbst ,streichelten’.[54] Dann aber kam der völlige Umschlag – und die Frauen nahmen ihre sexuellen Geschicke selbst in die Hand. Dadurch kehrte sich das Drama aber nur um, oder besser gesagt, das Lieblose verdoppelte sich:[57,59]
Erst in dem Moment, in dem beide die Lust kontrollierten, fiel auf, daß es keine Hingabe mehr gab, da zuvor die Hingabe der Frau die Lust des Mannes garantieren sollte und seine Kontrolle ihre Lust. [...]
[...] Zum „auch seelisch befriedigenden Akt“ konnte es für die Liebhaber nicht werden, wenn die ununterbrochene Mithilfe ihrer Finger vonnöten schien.
Das Zeitalter der Lust war angebrochen, das Zeitalter der Hingabe hatte geendet. Was wäre die Rettung für die Liebe der Geschlechter zueinander? Nicht, dass auch die Frau noch ihre Hingabe aufgibt – sondern dass der Mann sie von ihr lernt. Doch von wem soll er lernen, wenn selbst die Frau sie verlernt hat?
Die Aufgabe des Mannes ist gewiss nicht, im ,Liebesakt’, in dem Körper und Seele ungetrennt und tief vereint anwesend sein sollen, ,kontrolliert’ zu bleiben und ,es ihr zu machen’, allenfalls erregt durch ihre Hingabe und seine eigene Selbstbefriedigung in ihrer Vagina. Sondern die liebende Vereinigung kann ein zutiefst seelisches Geschehen werden, das das ganze Erleben gefangennimmt und die Liebenden auf Wogen heiliger Erotik mit sich forträgt. Etwas Unbeschreibliches statt akrobatisch-krampfhafte Veranstaltungen im Dienste der Lustmaximierung. Bei dieser heiligsten Vereinigung zweier Liebender kann der Mann dennoch mehr der seiner selbst bewusst bleibende Pol bleiben, während die Frau sich (auch ihrem Erleben) völlig hingeben darf – das bedeutet nicht kalte ,Kontrolle’ über das Geschehen. Es bedeutet tiefste Liebe – und insofern eben auch Hingabe – des Mannes bei gleichzeitiger Zurücknahme eines bloßen ,Sichgehenlassens’. Die Frau darf sich voll hingeben – der Mann nur insoweit, dass sein Hauptsinnen das Glück der Frau ist. Ihre Hingabe, ihr Glück, ihre Klimax sind sein Glück, sind seine Klimax...
Alles Andere ist nicht Liebe, sondern nur gemeinsamer Sex und das war es dann. Um die Liebe kenennzulernen, führt kein Weg an der Hingabe aneinander vorbei. Die Frau trägt die Fähigkeit der Hingabe bereits tief in ihrem Wesen. Der Mann nur da, wo er die Frau wahrhaft liebt – und in dieser Liebe ihr Glück in den Mittelpunkt stellen kann. Seine Hingabe ist die hingebungsvolle Zärtlichkeit, mit der er sie glücklich macht und ihr seine Liebe schenkt. Ihre Hingabe ist jene, mit der sie diese Zärtlichkeit in tiefstem Glück und rückhaltlos empfängt...
Adorno (1903-1969) schrieb in seinen ,Minima Moralia’: ,Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.’[24] Man kann hinzufügen: Auch lieben tut man nur da, wo man schwach sich zu zeigen wagt. Hingabe ist immer ein Zeichen von Schwäche – insofern sie ausgenutzt werden kann. Sie ist aber zugleich immer ein Zeichen von Stärke, nämlich von Mut oder Vertrauen. Schwach ist jener, der dies auszunutzen wagt, denn er schwächt sein wahres Menschentum und seine eigene Würde.
Einst war auch wahr, was Adorno ebenfalls dort schrieb:[25]
Erster und einziger Grundsatz der Sexualethik: der Ankläger hat immer unrecht.
Heute aber gibt es gar keine Ankläger mehr, die Sexualität selbst ist der absolute Tyrann geworden. In derselben Schrift heißt es später:[26]
Liebe erkaltet am Wert, den das Ich sich selber zuschreibt. [...] Wenn Casanova eine Frau vorurteilslos nannte, so meinte er, daß keine religiöse Konvention sie daran hindere, sich herzuschenken; heute wäre vorurteilslos die Frau, die nicht länger an die Liebe glaubt, nicht übers Ohr sich hauen läßt, indem sie mehr investiert, als sie zurückerwarten kann. [...] Indem die Einrichtung des Lebens der ihrer selbst bewußten Lust keine Zeit mehr läßt und sie durch physiologische Verrichtungen ersetzt, wird das enthemmte Geschlecht selber desexualisiert.
Wo der Egoismus und das Rechnen existieren, gibt es keine Liebe mehr. Die Sexualität wird eine Kosten-Nutzen- und Leistungs-Rechnung – und damit selbst desexualisiert, jeglicher Erotik entkleidet. Wer nur noch ,auf seine Kosten kommen’ möchte, bleibt auf ihnen sitzen – aber er investiert ja auch gar nichts. Ein Nullsummenspiel: ,Ich gebe dir nichts, und du gibst mir nichts.’ Oder auch: ,Ich befriedige mich an dir und du dich an mir.’ Befreite Sexualität? Befreite Sinnlosigkeit, entfesseltes Einsambleiben. Die Revolution des Egoismus.
Aufklärung kann neue Abhängigkeiten schaffen – die Abhängigkeit von einem Wissen, das man lieber wieder vergessen möchte, um frei zu sein: frei für die Hingabe, frei für eine neue Unschuld.
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Die Evolutionsbiologie zeigt, dass es ein stabiles Gleichgewicht zwischen zwei Strategien gibt: Treue und Seitensprünge. Weibchen suchen sich ein treusorgendes Männchen – und verteilen ihre Gene zusätzlich, indem sie sich darüber hinaus den stärksten freilaufenden Männchen hingeben.[27] Natürlich werden sich die Gene der so Handelnden am meisten ausbreiten, wenn nicht andere Mechanismen entgegenstehen. Aber – wir sind nicht unsere Gene, und jeder einzelne Mensch ist von neuem frei, nach seinen Idealen zu handeln und nicht nach dem ,evolutionär erfolgreichsten Programm’. Ein treuloser ,Frauenheld’ verteilt seine Gene möglicherweise ebenfalls – aber er enttäuscht die Frauen immer wieder und wird ihren Hass auf sich laden. Und wenn diese Frauen Kinder von ihm haben werden, werden sie diese ganz anders erziehen. Niemand ist das Produkt seiner Gene. Wer aber nicht die Seele in den Mittelpunkt stellt, verliert durch eigene Schuld das eigentlich Menschliche.
Das Buch, aus dem ich hier zitiere, behauptet:[135]
[...] Ideale frage nicht danach, was sie in der Wirklichkeit anrichten. Sie stecken in den Köpfen der Menschen, und die Menschen meinen, nur glücklich zu sein, wenn sie ihre Ideale umzusetzen vermögen. Daß sie dabei stets scheitern und so das allgemeine Elend produzieren, hat uns die Psychoanalyse en detail gelehrt.
Das möchte ich bezweifeln. Ideale können elend machen, aber sie können das Leben auch zutiefst beleben, bereichern, ihm Licht verleihen – der Liebespartnerschaft und auch allem übrigen Leben. Demgegenüber möchte ich behaupten, dass ein Großteil des Elends auf der Welt dadurch entsteht, dass Menschen keine Ideale mehr haben – oder nicht nach ihnen handeln. Dass allenfalls von anderen Ideales erwartet wird, ohne das eigene Innere zu verwandeln. Ideale sind das Lebensblut des Menschlichen. Sie sind die Glut und das Feuer, die den traurigen ,Realismus’ oder sogar ,Pragmatismus’ verbrennen und etwas anderes an ihre Stelle setzen. Der Realist rechnet und wägt ab, der Idealist nicht. Mag er auch einmal betrogen werden – irgendwann werden die sogenannten ,Realisten’ begreifen, wie armselig ihr Leben ist. Idealisten sind in aller Regel glücklicher. Selbst ihr Leiden ist glücklicher – so paradox muss man es sagen. Ein Idealist leidet nie völlig. Er trägt immer auch noch etwas anderes in seinem Herzen – jenes Geheimnis, das die ,Realisten’ niemals begreifen werden.
Weiter heißt es dort:[142][28]
Romantische Liebe im Sinne von Idealismus, Verschmelzen und Schenken ist nach klinischen Kategorien asozial, unproduktiv (Liebende sind alles andere als arbeitsfähig!), befördert Ängste und ist als regressiv einzustufen.
Soweit sind wir also schon gekommen: Soweit, dass die romantische Liebe pathologisiert wird. Und zugleich sehen wir, woher diese ,klinischen’ Urteile kommen – aus einer Leistungsgesellschaft, die meint, auf zwei unschuldig Liebende nicht verzichten zu dürfen, auch sie in ihren sinnlosen Malstrom mitreißen zu müssen, trotz Millionen von Arbeitslosen! Hier grinst die Fratze einer Orwellschen Welt mitten aus den Zeilen. Alles wird hier Neusprech.
Romantische Liebe befördert keine Ängste, sie gibt Mut. Die moderne Lieblosigkeit befördert Ängste. Romantische Liebe ist auch nicht regressiv, kein ,Zurück in den Uterus’ – sie ist ein ,Voraus in eine heilige Zukunft’. Das Zertrümmern der romantischen Liebe ist reaktionär, getrieben von Hass und Nihilismus, die sich als ,Vernunft’ und ,Aufklärung’ tarnen, sich in Wirklichkeit aber nicht einmal über ihre eigene innere Leere und irrationalen Aggressionen aufklären können. Man spricht von ,Illusionen’ und verwechselt dies mit dem Wesen von Idealen, weil man ihre wahre Natur nicht versteht. Man lebt in der Illusion, ohne Ideale ein menschenwürdiges Leben führen zu können, weil man gar nicht weiß, was ein Mensch wahrhaft ist. Ein Mensch ohne Ideale ist das armseligste Geschöpf auf Erden – und er weiß es noch nicht einmal.
Percy Shelley (1792-1822) dichtete 1821 für die von ihrem Vater in einem Convent gefangengehaltene neunzehnjährige Contessina Teresa Emilia Viviani della Robbia:[29]
Spouse! Sister! Angel! Pilot of the Fate
Whose course has been so starless! Oh, too late
Beloved! Oh, too soon adored, by me!
For in the fields of immortality
My spirit should at first have worshipped thine,
A divine presence in a place divine;
Or should have moved beside it on this earth,
A shadow of that substance, from its birth;
But not as now: – I love thee; yes, I feel
That on the fountain of my heart a seal
Is set, to keep its waters pure and bright
For thee, since in those tears thou hast delight.
[...]
Our breath shall intermix, our bosoms bound,
And our veins beat together; and our lips
With other eloquence than words, eclipse
The soul that burns between them, and the wells
Which boil under our being’s inmost cells,
The fountains of our deepest life, shall be
Confused in passion’s golden purity,
As mountain-springs under the Morning Sun.
We shall become the same, we shall be one
Spirit within two frames, oh! wherefore two?
One passion in twin-hearts, which grows and grew,
Till like two meteors of expanding flame,
Those spheres instinct with it become the same, [...]
One hope within two wills, one will beneath
Two overshadowing minds, one life, one death,
One Heaven, one Hell, one immortality, [...]
In dem wunderbaren Stück ,Der gute Mensch von Sezuan’ (1940) von Bertolt Brecht sagt die Prostituierte Shen Te, die gerade dieser gute Mensch ist:[30]
Ich will mit dem gehen, den ich liebe.
Ich will nicht ausrechnen, was es kostet.
Ich will nicht nachdenken, ob es gut ist.
Ich will nicht wissen, ob er mich liebt.
Ich will mit ihm gehen, den ich liebe.
Dies ist die Einstellung der Hingabe, die die Liebe immer hat. Liebe ist das Gegenteil von Berechnung – und wo berechnet wird, ist die Liebe schon nicht mehr. Erschütternderweise wird dies heute überhaupt nicht mehr begriffen.[31]
Und die Sexualität? Sie ist überhaupt nicht notwendig mit der Liebe verbunden. Früher galt übermäßige Sexualsucht als Krankheit (,Nymphomanie’). Heute aber gilt ein Mangel ,sexueller Motivation’ unter Umständen bereits als Krankheit (,inhibited sexual desire’, ISD, oder ,hypoactive sexual desire disorder’, HSDD, veraltet ,Frigidität’).[161][32]
Wichtig ist Hilfe immer da, wo Betroffene leiden. Und in diesem Zusammenhang interesant ist, dass Masters und Johnson 1970 in ihrem Buch ,Human Sexual Inadequacy’ den Ansatz einführten, Menschen mit sexuellen Problemen durch reale, speziell ausgebildete ,Surrogatpartnerinnen’ zu helfen – ihnen also ganz real-praktisch andere sexuelle Erfahrungen möglich zu machen.[173ff][33]
Was die Sexualisierung unserer Welt allerdings für die Jugendlichen bedeutet, ist kaum zu überschätzen:[214]
Was sie sexuell so alles machen könnten, haben die Jugendlichen jetzt möglicherweise schon gesehen, bevor sie Lust dazu haben, überhaupt irgend etwas zu machen.
Damit aber gehen Unschuld und Romantik radikal verloren. Nichts, was man tun könnte, ist privat – es ist alles schon veröffentlicht, in Ratgebern, Videos und mehr. Der Erfolgsdruck steigt, Zärtlichkeit und Unbefangenheit schwinden. Man ist nicht alleiniger Entdecker eines heiligen Terrains, man wird überflutet von Medienprodukten, die Sex in allen Varianten zeigen. Jacques Lusseyran sprach schon 1972 von einer ,Verschmutzung des Ich’. So voll wie die Meere von Plastik, so voll sind inzwischen die Köpfe von einem Wissen, das mehr den Müllbergen ähnelt, als heilsam und hilfreich zu sein. Wir leben längst in einer Diktatur der Information. Das Geheimnis, das Nichtwissen, das heilige, scheue, unschuldige Entdecken ist abgeschafft – denn es ist fast nicht mehr möglich.
Jedes Mädchen und jeder Junge müsste ein Recht darauf haben, das Gebiet körperlicher Liebe ganz für sich zu entdecken – ohne all den weltweiten Müll, der sich in der Seele ablagert wie das Plastik noch im Inneren der Arktis-Tiere.
Einige Fakten allein über die Porno-Industrie: Etwa ein Viertel aller Internet-Anfragen betreffen Pornografie. 70 % des Internetkonsums findet zu den Bürozeiten statt, jeder fünfte Mann und jede siebte Frau konsumiert solche Inhalte auf der Arbeit. Deutschland ist mit 12,4 % weltweiter Spitzenreiter im Pornotraffic. Zu den häufigsten Ursachen zählen Einsamkeit und ein fehlender Lebenssinn. Der Erstkonsum findet im Durchschnitt mit elf Jahren statt, 40 % der Kinder suchen nach entsprechenden Inhalten.[34]
Schon 2008 konsumierte mehr als jeder zweite ältere männliche Jugendliche mindestens einmal in der Woche Pornos, jeder fünfte sogar täglich.[35] Mancher junge Mann ist süchtig – und die Bilder gehen dann nicht mehr aus dem Kopf.[36] In einer breiteren Altersgruppe gaben eine regelmäßige Nutzung jedoch nur 8 % aller Jungen und 1 % aller Mädchen an.[37] Eine Studie von ,Pro Familia’ zeigte, dass gegenüber ,harter’ Pornografie (Gewalt, bizarre Praktiken) Jungen zu 94 %, Mädchen zu 99 % über alle Altersstufen hinweg ablehnend reagieren. Bei ,softer’ Pornografie (Akte, Striptease, Petting, Koitus) waren es nur 8 % der Jungen und 52 % der Mädchen, hier mit dem Alter stark abnehmend.[38]
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2007 hatte ein ,Stern’-Artikel die ,Pornografisierung’ der Jugend stark dramatisiert,[39] einschließlich Hinweis auf den ,Porno-Rap’.[40] 2008 folgte ein Buch mit dem Titel ,Deutschlands sexuelle Tragödie’.[41] Ein Sammelband von Experten mit dem entsprechenden Titel ,Sexuelle Verwahrlosung’ zeigt jedoch eine deutlich andere, beruhigendere Realität – dieser sei in der Folge in seinen wichtigsten Aussagen referiert.[42]
Gleich zu Beginn stellen die Herausgeber fest:[10]
Das Interesse der Öffentlichkeit [...] an der behaupteten Gefahrenlage wird durch die immergleichen Diskursstrategien herzustellen versucht, etwa die selektive Auswahl von Fallbeispielen, das Jonglieren mit möglichst großen Betroffenenzahlen, durch extrem moralisierende Zuschreibungen und die Fokussierung auf Schuldfragen oder auch durch den Einbau von beliebten Alltagsmythen in das aktuelle Deutungsmuster.
Und:[14]
Gerade heute ist jugendliches Sexualverhalten in hohem Maße in Liebe, Partnerschaft und sehr solide (bürgerliche) Moralstandards eingebunden. Das in der Öffentlichkeit gezeichnete Gegenbild ist aus wissenschaftlicher Sicht nichts weiter als ein Mythos.
Der erste Beitrag gibt dann eine historische Einordnung der ,Moralpaniken’.[43] Er weist darauf hin, dass Bernd Siggelkow, Autor von ,Deutschlands sexuelle Tragödie’ und Gründer des Berliner Kinder- und Jugendzentrums ,Arche’ theologisch bei der Heilsarmee ausgebildet wurde und enge Freundschaft mit Journalisten wie ,Bild’-Herausgeber und Chefredakteur Kai Diekmann pflege.[27] Paniken fänden sich auch bei Pestalozzi (1746-1827)[44] oder Johann Hinrich Wichern (1808-1881), dem Gründer des ,Rauhen Hauses’ in Hamburg.[28ff][45] Schon Nietzsche beschrieb das Christentum als eine Panik gegenüber der Natur, was den Menschen aber gerade erneut in deren Arme trieb.[46]
Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christentum gelungen, aus Eros und Aphrodite – großen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen ließ.[34] [...] Muß denn etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer böse heißen! Ist es nicht gemeiner Seelen Art, sich einen Feind immer böse zu denken! Und darf man Eros einen Feind nennen! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfindungen gemeinsam, daß hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohltut, – man trifft derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern! – Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen: der „Teufel“ Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, dank der Munkelei und Geheimtuerei der Kirche in allen erotischen Dingen: sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, daß die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist [...].
Dagegen erkannte August Aichhorn (1878-1949), der als Begründer der psychoanalytischen Pädagogik gilt, schon vor einhundert Jahren Aggression und ,Verwahrlosung’ als ganz konkretes Liebesdefizit.[47]
Die Paniken folgten gleichsam in jeder Generation mindestens einmal: In den 20er Jahren die Groschenhefte, die zum ,Schmutz- und Schundgesetz’ führten,[48] in den 50er Jahren Comics und Rock ’n’ Roll, in den 80er Jahren Video- und Computerspiele, 2007 dann Internet und Pornos.[233][49]
Vor der Porno-Diskussion beherrschte jahrelang das Thema ,Teenager-Schwangerschaften’ die Gemüter. Ein leichter Anstieg war hier in wenigen Jahren bis 2001[50] zu beobachten, 2008 war bereits wieder der Stand von 1996 erreicht – jährlich weniger als 0,7 % der 15- bis 17-jährigen Mädchen. Etwa 60 % machen eine Abtreibung.[121f][51]
Die Porno-Debatte ist ebenfalls völlig überzogen, wie zahlreiche Daten belegen.[52] Die entscheidende Frage ist, wie Jugendliche Pornobilder ,nutzen’ und inwiefern sie sich davon überhaupt nennenswert beeinflussen lassen. In Wirklichkeit stehen die Zeichen heute auf Liebe und Treue.[53]
Konrad Weller untersucht das Phänomen ,Porno-Rap’.[54] Rap ist Teil des HipHop, der in den 70er Jahren in der South Bronx entstand und der auch Breakdance und Graffitti umfasst. 1974 gründete DJ Afrika Bambaataa die Organisation ,Zulu-Nation’, die sich für Gewaltfreiheit einsetzte. Hier entstand die Idee des ,Battle’ – als Möglichkeit, Konflikte künstlerisch auszutragen.[212] Der ,Gangsta Rap’ entstand in den 80er Jahren in Los Angeles. Der Drogenkrieg im Ghetto-Stadtteil Compton führte zu härteren Texten, in denen sich die Protagonisten als hart und skrupellos stilisierten. Im Debütalbum ,Straight outta Compton’[55] von ,N.W.A.’ (Niggaz Wit Attitudes) ist fortwährend von ,fuck’ und ,motherfucker’ die Rede.[213] Die Rollenmuster des Gangsta-Rap sind zutiefst patriarchalisch – die Frauen sind im Prinzip sexuell hörige Schlampen – ,bitch’[56] –, daneben gibt es die Lady, die Queen, die Mütter. Weibliche Rapperinnen haben die Rolle der ,bitch’ in die einer selbstbestimmten Frau reformuliert.[214]
In Deutschland entwickelte sich der Porno-Rap erst um 2001. Damals wurde das Plattenlabel ,Aggro Berlin’ gegründet,[57] das 2009 wieder aufgelöst wurde. Ende 2009 waren etwa dreißig Rapper bzw. Bands und sechzig Titel indiziert.[215][58] Die Fans finden sich vor allem unter pubertären Jungen, Hauptschüler häufiger als Gymnasiasten.[217] Inzwischen ist dieser Rap Element einer Jugendsubkultur, das sich verselbständigt hat.[59]
In einem abschließenden Rückblick fragt Rüdiger Lautmann, ob die sich entgrenzenden Formen der Sexualität nicht gerade die ,Sexualität der Risikogesellschaft seien’ – einer Gesellschaft, in der der Einzelne grenzenlos flexibel seine Arbeitskraft zu Markte tragen muss: ,im Sexuellen verhält es sich nicht anders’.[60] So hält die angebliche ,sexuelle Verwahrlosung’ der kapitalistischen Gesellschaft einmal mehr ihren eigenen Spiegel vor.
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Dass Pornografie dennoch nicht einfach nur ein Element einer angeblich ,selbstbestimmten’ Gesellschaft sein kann, in der ,alles geht’ und jeder selbst entscheidet, was er konsumiert und auch praktiziert – sondern dass alles, was man tut und über die Sinne wahrnimmt unmittelbar auch die Seele in eine andere, entsprechende Konfiguration bringt, sollte jedem klar sein, der überhaupt weiß, was diese Seele ist – und dass sie nicht nur existiert, sondern zusammen mit dem Geheimnis des ,Ich’[61] das innerste Wesen des Menschen ausmacht.
Wer immer wieder die absolut entseelten Bilder purer, sich aufdrängender, Sexualhandlungen, im Grunde angesammelter Koitusse aufnimmt, dessen Wesen entseelt sich selbst. Zumindest die Sexualität wird immer mehr mit etwas Entseeltem konnotiert. Und falls dies etwa bei Jugendlichen noch nicht in vollem Umfang geschehen sollte, dann wie durch ein Wunder – und nicht, weil Pornos etwa harmlos wären, sondern entgegen deren brutaler Wirkweise. Jugendliche Menschen sind in gewisser Weise noch geschützt, weil sie noch Seele haben, einen echten Überschuss an Seele. Nicht umsonst ist dies auch die Zeit der hereinleuchtenden Ideale. Und doch wandeln auch Jugendliche, die Pornos konsumieren am Rande eines Abgrundes...
Jeder weiß heute im Grunde, dass Pornografie abhängig machen kann. Wie ein Heroinsüchtige hat der Pornokonsument zunehmend die Sucht nach dem nächsten ,Schuss’ – und immer mehr wird seine Seele durch das fortwährende Denken an die entseelten Bilder regelrecht getötet. Sie tötet sich selbst, weil sie sich mit diesen Bildern imprägniert – und letztlich nichts anderes mehr tun kann.
Dies kann sehr schnell so weit gehen, dass ,normale’ (also reale) Sexualität überhaupt nicht mehr befriedigt, ja dass man im realen Leben regelrecht ,impotent’ und ,dysfunktional’ wird. Schon unter Heranwachsenden hat jeder zweite ,sexuelle Probleme’.[62] Und viele Männer mit psychisch bedingter Impotenz geben exzessiven Pornokonsum an.[63]
Die Überstimulation der Lustzentren des Gehirns führt zu strukturellen und funktionellen Veränderungen, die direkt in eine Abstumpfung münden.[64] Offenbar schrumpft das sogenannte ,Belohnungszentrum’, und die ganze Wirkung des ,Glückshormons’ Dopamin wird behindert. Simone Kuhn vom Berliner Max-Planck-Institut spricht von einem ,Verschleiß der Belohnungsschaltkreise’ durch exzessiven Pornokonsum.[65] Letztlich werden immer ,härtere Sachen’ gesucht, zuletzt vielfach zum Beispiel auch Kinderpornografie.[66]
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Heute erleben wir an unendlich vielen Stellen eine ,Pornografisierung’ des Lebens. Dies beginnt schon bei jenen Fernsehserien, in denen es um die öffentliche Prostituierung des Privaten geht – man denke nur an ,Dschungelcamp’ (seit 2004), ,Bauer sucht Frau’ (seit 2005) und diverse andere Beispiele von ,Reality TV’. Mit Gewalt wird immer wieder das Sexuelle thematisiert, weil dies offenbar ,Quote macht’. Dass das Leben dabei immer nur leerer und leerer wird, merkt man offenbar nicht.
Die Pornografisierung setzt sich fort in der Musikbranche mit ihren Videos, wo es nicht selten ebenfalls nur noch darum geht, wer ,Gewagteres’ zeigt. Manche Videos sind nur noch pure Sexualisierung – und die Wirkung dessen kann man nur unterschätzen, vor allem wenn man nicht weiß, welche Bedeutung die Musikindustrie und damit auch solche Videos für Kinder und Jugendliche haben.
2013 landete in den USA die zwanzigjährige Miley Cyrus mit ihrem Video ,Wrecking Ball’ einen Nummer-Eins-Hit, indem sie splitternackt auf einer Abrissbirne schaukelte. Innerhalb von nur sechs Tagen hatte das Video hundert Millionen Klicks.[67] Das ist sexualisierte Fleischbeschau! Und mit Sicherheit kannte zur damaligen Zeit fast jedes Kind dieses unappetitliche Video.
Eine nochmalige ungeheure Steigerung fand ganz aktuell beim ,Grammy’ 2021 statt – mit der Performance zu dem Song ,WAP’ (Wet-ass pussy) von Cardi B und Megan Thee Stallion:[68]
Auf allen vieren pirschen sich die beiden Frauen aneinander an, treffen sich in der Mitte des überdimensionierten Bettes, drehen sich auf den Rücken, verschränken ihre Scham miteinander und bewegen sich rhythmisch. [...] Der Song und die Performance lassen sich als hypersexuell oder obszön beschreiben. Und doch findet der Auftritt keineswegs in den schattigen Porno-Ecken des Internets statt, sondern auf greller Bühne während der Verleihung der Grammys, die nicht nur die wichtigsten Musikpreise der Branche sind, sondern auch die populärsten. Mainstream pur.
Dass der Rap-Song die Aneignung der Sexualität auch durch die Frau thematisiert, macht es nicht besser. Es bleibt die absolute Entkernung des Lebens, um an dessen Stelle nur noch eines zu setzen: reinen Sex. Medial inszeniert in sich aufdrängenden, geradezu übergriffigen Bildern, die sich so lange ,ins Gehirn brennen’, bis man völlig abgestumpft ist – und allenfalls nur noch eine Sehnsucht hat: Wann hört das wieder auf?
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,Cybergrooming’ ist ein weiteres großes Problem, das ungezählte Kinder und Jugendliche einem entsprechenden Missbrauch ausliefert. Nahezu jeder Jugendliche ist heute ,am Netz’.[69] Schon 2007 gaben 38 % aller Minderjährigen an, im Internet bereits ungewollt nach sexuellen Dingen gefragt worden zu sein, 11 % erhielten unaufgefordert Nacktfotos, 8 % wurden zu sexuellen Handlungen vor der Webcam aufgefordert.[70]
Thematisiert wird dieses Problem unter anderem in dem Fernsehfilm ,Das weiße Kaninchen’ (2016).[71]
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Die Soziologin Eva Illouz sagte in einem Interview: ,Liebe erwächst heute aus sexuellen Handlungen – und nicht umgekehrt.’ Selbst dieser Satz wäre schon hoffnungsvoll. Die Frage ist, inwieweit echte Liebe heute überhaupt noch wächst. Denn in demselben Interview sagt sie:[72]
Die Liebe ist wie das Licht eines erloschenen Sterns, der ja am Himmel strahlt, obwohl er lange nicht mehr existiert.
Die Utopie sei stärker denn je – aber immer mehr wüssten überhaupt nicht mehr, wie sie erreicht werden kann. Hoffnung würde es machen, wenn es mehr Menschen gäbe wie Ilouz’ Söhne – aber auch hier wird sehr deutlich, worauf es ankäme:
Meine Söhne sind sehr romantisch. Sie sind, wie ich, mit Märchen aufgewachsen, deshalb haben sie mit den Dating-Apps nichts zu tun. Außerdem sind alle drei Feministen.
Pornos vernichten die Seele, Dating-Apps reduzieren Menschen zu ,Artikeln’, die man anklicken und in den ,Warenkorb’ legen kann.[73] Das digitale Universum steigert die Anspruchshaltung und den Narzissmus ins Gigantische – und reduziert die eigene Hingabefähigkeit immer mehr auf ein Nichts. Auch Andere beschreiben dies:[74]
Das Schockierende daran finde ich, dass es keinen mehr schockiert. Auf Datingplattformen fühlt sich keiner mehr dem anderen gegenüber verpflichtet. Weil sie nur eine Gemeinsamkeit haben: Sie sind auf derselben App gelandet. [...]
Ich habe mit Anfang 20 angefangen, übers Internet zu daten, nach mehr als zehn Jahren habe ich ein Erschöpfungssyndrom. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich möchte endlich jemanden im echten Leben kennenlernen. Niemand will auf Datingapps abhängen. Eilmeldung: Wir alle hassen es dort zu sein. Jeder von uns wünscht sich, dass ein Mann uns entdeckt, während wir in einem Café in Soho sitzen und auf der Couch ein Buch lesen. [...] Mit dem Aufkommen der Apps hat sich etwas verschoben: Die Menschen sind für solche Begegnungen nicht mehr offen. es passiert keinem meiner Freunde in London mehr.
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Märchen dagegen sind Nahrung für die Seele. Sie sind ,keine Märchen’, sondern tiefe Wahrheiten – aber mit dem Verstand kommt man nicht dahinter. Märchen vermitteln die Wahrheit des Guten – und das wahre Wesen der Seele. Wer mit Märchen aufgewachsen ist und ihre Wahrheit noch immer in sich trägt, der kann sein wahres Wesen nie derart verlieren, wie jene, die das nackte Fleisch und die zur Schau gestellte potenzierte Wollust sehen müssen und nicht einmal bemerken, was das in ihrem Inneren anrichtet.
Die Liebe ist wie eine Sonne, die im Herzen neu geboren werden kann, wenn es sich endgültig von den Selbstoptimierungsstrategien der Dating-Apps, dem Schmutz und der völligen Seelenleere der Pornos und dem Nihilismus postmoderner Selbstzufriedenheit verabschiedet und wieder eintaucht in das wahrhaft menschliche Reich von Zuneigung, Sehnsucht, Idealisierung, Hingabe, Treue und Zärtlichkeit.
In einem Werk, dass zeigen will, dass die Leibfeindlichkeit nicht in der Bibel begründet liegt, heißt es:[75]
[...] die rigorose Forderung nach einem asketischen, streng normierten Sexualverhalten läßt den Menschen verkümmern und schädigt ihn in seiner psychischen Erlebnisfähigkeit. Die libertinistische Forderung nach unbegrenzter Lust- und Glückserfahrung verleugnet die Notwendigkeit der Verantwortung, aber auch die Möglichkeit des Scheiterns.
Das ist wahr, aber man muss ergänzen: Sowohl der Puritanismus als auch der libertäre Hedonismus lassen den Menschen verkümmern und schädigen ihn in seiner Erlebnisfähigkeit – denn auch der Hedonist wird nie die wahre Liebe und die tiefen, unendlich beglückenden Empfindungen von Zärtlichkeit kennenlernen. Auch er wird sterben und nur die Rumpferfahrungen der Sexualität gemacht haben, nicht aber ihre heiligen Tiefen und Höhepunkte...
Fußnoten
[1]● Marquis de Sade: Die Philosophie im Boudoir oder die lasterhaften Lehrmeister. Gifkendorf 2001, S. 5. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. • Siehe auch Wikisource französisch: La Philosophie dans le boudoir, Vorrede ,Aux libertins’.
[2] Wikipedia: Die Philosophie im Boudoir.
[3] Originalton: ,Läßt der gemeine Betrüger von Nazareth in euch irgendwelche großen Ideen entstehen? Regt euch seine dreckige und ekelhafte Mutter, die unkeusche Maria, zu irgendwelchen Tugenden an?’[201] • Man sieht, es braucht gewaltigste Blasphemie, um die Gehirnwäsche in Gang zu setzen.
[4] Ein ähnliches Phänomen schildert Charles Calitri: Eros der Frühreifen. Zürich 1960. Hier gründen in einem amerikanischen Internat Schüler einen ,Erotischen Club’, in dem Pornos geschaut werden und neue Mädchen als Initiation sich vor allen anderen von jedem Jungen beschlafen lassen müssen. Nur der neue Dekan Walter Davis wagt entschlossen die Konfrontation, um die Jugend zu retten.
[5] Diese ,Umwertung aller Werte’ hatte sie bereits vorbereitet, als sie die Prostituierten als Königinnen der (eigenen) Lust bezeichnete: ,glückliche und ehrenwerte [...] von der Wollust bekrönte Geschöpfe’.[34]
[6] Bloch hatte die Schamhaftigkeit der Frau noch aus der vor dem Hund weglaufenden Hündin ,abgeleitet’. Bataille hatte die Ekstase der Frau mit einer Hündin verglichen. Hier nun ist die Hündin Bild des allgemein und jederzit verfügbaren Sexualobjekts!
[7] Madame de Saint-Ange sagt, sie sei in zwölf Jahren ,vielleicht von mehr als zehn- oder zwölftausend Männern gefickt worden’.[79]
[8] So lästert Dolmancé Gott, an den er nicht glaubt, und Christus und bezeichnet Maria als ,jüdische Hure’.[50] Die in sich bewegte Materie erschaffe allein alles.[48] Nächstenliebe ist sinnlos, sterbende Arme lösen das Problem der Überbevölkerung.[57] Tugenden, Laster und Verbrechen nennt er rein lokal kontextbedingte Konstrukte, huldigt also dem absoluten Relativismus und Nihilismus.[60] Selbst Elternmord werde woanders gepriesen, während man Sanftmut und Aufrichtigkeit als Untaten ansehe.[61] ,Wer einen Mord begeht, wandelt nur Formen ab.’[96] Ohne Rücksicht solle man auch den Schmerz eines anderen zum Lustgewinn nutzen.[122] Grausamkeit sei ohnehin nur der erste Instinkt, den die Natur Tier und Mensch eingeprägt habe.[124] Und ,ist nicht von Anbeginn an jeder des anderen Feind [...]?’[174] • Zugleich wird das ganze Buch über in wunderbarer Eintracht und Eintönigkeit ,gefickt’, immer und immer wieder, endlos und absolut armselig... Konsequenterweise gibt es keine Liebe, sondern nur Begehren, und das Begehren nach jemand Bestimmtem hat nur da Sinn, wo man ihn für die Lust besitzen kann, andernfalls sind alle Männer, alle Frauen einander ähnlich, jeder kann die gesuchte Lust spenden.[177] Die ,Liebe’ wird nach kurzem langweilig, die Lust (angeblich) nie.[178]
[9] So behauptet es zunächst ganz vorsichtig und lügenhaft: ,Menschlichkeit, Brüderlichkeit, Barmherzigkeit sollen uns [...] unsere Pflichten vorschreiben, und wir wollen sie individuell mit dem Grad Entschiedenheit erfüllen, den die Natur uns in diesem Punkt verliehen hat, ohne die zu tadeln und [...] zu bestrafen, die, kälter [...] als andere, in diesen gleichwohl so ergreifenden Banden nicht alle die Annehmlichkeiten verspüren [...].’[221] • Wenig später heißt es dann, auch der Mörder empfange eben nur ,von der Natur die Impulse, die eine solche Handlung entschuldigen’.[222] Das Gesetz dagegen nicht, darum sei eine gesetzliche Todesstrafe oder Strafe gerade Unrecht.[222] Später sagt Dolmancé ausdrücklich über die Natur: ,Wir sind nur die blinden Werkzeuge ihrer Eingebungen, und gäbe sie uns ein, das Universum in Brand zu stecken, so bestünde das einzige Verbrechen darin, sich zu weigern [...].’[309] • Weiterhin sei dem ,republikanischen’ Staat ein unmoralischer Zustand als ,Zustand unaufhörlicher Unruhe’, ja an der Grenze zum Aufruhr, gerade dadurch notwendig, weil nur dadurch genug Widerstand gegen all die von Hass und Missgunst erfüllten Nachbarstaaten existiert.[230f] Mit anderen Worten: Ein friedlicher Staat ist seiner Umgebung schutzlos ausgeliefert, ein innerlich fast selbst zerfallender Staat besser geschützt! • Die Schamhaftigkeit wird verleumdet, indem behauptet wird, schon Lykurg und Solon hätten junge Mädchen gezwungen, sich nackt auf dem Theater zu zeigen.[232] • Weiterhin sehe eine ausschweifend lebende Frau ,viel prächtiger und frischer’ als eine enthaltsame aus.[245] Auch galt ,Unzucht bei keinem klugen Volk der Erde jemals als Verbrechen’ – als Beweis werden sich prostituierende Tartarinnen und die Peruaner, die ihre Mädchen und Frauen fremden Reisenden ausliefern würden, genannt.[247] Inzest sei geradezu staatsfördernd, weil es die egoistischen Familienbande lockere.[247]
[10],Den reinen Gesetzen der Natur zufolge kann sich [...] eine Frau nicht jemandem, der sie begehrt, unter dem Vorwand verweigern, sie liebe einen andern [...]. Nur einen unbeweglichen Gegenstand oder ein Tier kann man sich aneignen, niemals aber ein Wesen, das uns gleicht [...]. | Wenn also unbestreitbar ist, daß die Natur uns das Recht verliehen hat, ausnahmslos alle Frauen zu begehren, so ist gleichfalls unbestreitbar, daß wir das Recht haben, sie zu zwingen, uns zu Willen zu sein [...]. [...] | Es ist unbestreitbar, daß wir das Recht haben, Gesetze zu schaffen, die die Frau zwingen, dem zu Willen zu sein, der sie begehrt [...]. Und hat die Natur nicht bewiesen, daß wir dieses Recht haben, als sie uns die nötige Kraft mitgab, Frauen gefügig zu machen?’[237f] • Dies gilt unabhängig vom Alter auch für Mädchen: ,[...] man kann das Alter nicht festlegen, ohne die Freiheit dessen einzuschränken, der ein Mädchen dieses oder jenes Alters begehrt. Wer das Recht hat, die Frucht eines Baumes zu essen, kann sie doch zweifellos reif oder grün pflücken, wie es seinem Geschmack entspricht. [...] [...] sobald man den Anspruch auf Genuß zugibt, ist [...] es gleichgültig, ob der Genuß dem Wesen, das genossen wird, zum Nutzen oder Schaden gereicht. Habe ich nicht bereits bewiesen, daß es legal ist, den Willen einer Frau in dieser Hinsicht zu brechen, und daß sie, sobald sie Begehren erregt, dieses Begehren ohne jede Rücksicht auf ihr egoistisches Gefühl befriedigen muß?’[240] ,Und was soll man außerdem dem Mädchenschänder erwidern, wenn er antwortet, daß [...] er das von ihm mißbrauchte Wesen nur ein wenig früher in den Zustand versetzt hat, in den es die Ehe oder die Liebe ohnehin demnächst gebracht hätte?’[249] • Es gilt also das absolute Recht auf Befriedigung – und das (weibliche) Opfer hat keinerlei Recht, sich zu verweigern, es wäre ,egoistisch’, selbst seine Gesundheit ist irrelevant. Selbst ,Liebe zu einem anderen’ darf sie nicht anführen, denn dann würde jemand anders sie (allein) ,besitzen’, und das ist unzulässig. Man darf also eine Frau nicht nur nicht besitzen – auch sie selbst darf ihre Liebe niemandem ausschließlich schenken, sondern muss als Lustobjekt jedem Beliebigen zur Verfügung sein. • Entschädigt werden sie, indem auch sie sich in Häusern Ausschweifungen hingeben können, wo ,ihnen Menschen beiderlei Geschlechts für ihre Lust zur Verfügung gestellt’ werden.[243] Die Frage ist nur, wo diese herkommen, vermutlich aus einem neuen Sklavenhandel oder aus dem Nichts? • Übrigens beweise die Schwäche der Frauen nicht nur das Recht des Mannes auf ihre Unterwerfung – und jeder potente Mann wünsche sich, das Objekt seiner Lust irgendwie zu quälen –, sondern ,beweist unwiderleglich [auch] ihren Willen, der Mann, der dann mehr als je seine Macht genießt, möge sie mit all der Gewalttätigkeit ausüben, die ihn gutdünkt, ja, er möge das Weib zu Tode quälen, wenn er will.’[285] Die Schwäche der Frau beweise also ihren Willen, lustvoll zu Tode vergewaltigt zu werden...
[11] Dolmancé beruft sich in allem, was mit Lust und Trieb zu tun hat, auf die Natur – aber sie hat dem Menschen auch das Herz gegeben! • Bei der Rechtfertigung des ,Sexualkommunismus’ heißt es, man könne nur ein Tier in Besitz nehmen. Aber töten darf man Menschen schon, ,ist es doch ein ebenso großes oder kleines Übel, ein Tier oder einen Menschen zu töten, und der Unterschied findet sich nur in den Vorurteilen unseres Hochmuts [...].’[257] ,Wenn aber in der Natur ewiges Leben der Individuen unmöglich ist, wird Zerstörung der Individuen zum Naturgesetz.’[258] Man dient der Natur also geradezu, wenn man Menschen umbringt – und es ist wie erwähnt nur Formwandel.[259] • Der Lust aber dürfe nichts entgegenstehen – ihre Form ist also das, was sich ewig erhalten soll! Und wiederum würde sich in der Natur nicht das Geringste ändern, selbst wenn die ganze Menschheit ausgerottet wäre,[262] aber andererseits soll sich der republikanische Staat gegen seine angeblich neid- und hasserfüllten Nachbarn wehren! • Schon die Römer hätten in Gladiatorenschauspielen ihren Mut gestählt (wohl eher ihre Lust), und im kraftvollen Sparta ,jagte man Heloten wie wir in Frankreich Rebhühner. Je mehr ein Volk den Mord schätzt, desto freier ist es’.[264] • Geradezu aus ,Mein Kampf’ könnte der folgende Satz stammen: ,Die menschliche Gattung muß gleich in der Wiege gereinigt werden; [...] man muß aus dem Schoß der Gesellschaft herausschneiden, was ihr voraussichtlich nie nützlich sein kann [...].’[269] • Das der Lust dienende Wesen ist Dolmancé völlig gleichgültig. In der Lust wünsche man sich, dass alles ,sich nur um uns kümmert’, was nicht möglich ist, wenn die anderen selbst auch Lust haben.[283] Es sei falsch, ,daß man Lust gewänne, wenn man anderen Lust bereitet’, der Schmerz des anderen bereite sogar mehr Lust. Dennoch besteht das ganze Buch aus fortwährend möglichst gleichzeitigen Orgasmen aller Akteure![284]
[12] So wird Eugénies Mutter nicht bloß ,im Beisein der Tochter’ das Geschlechtsteil zugenäht, sondern dies geschieht, nachdem ein Diener seine Syphilis in sie ejakuliert hat, ,damit das giftige Naß stark konzentriert bleibt’,[313] und es ist Eugénie selbst, die die mütterliche Vulva zunäht, während zugleich mit ihr und um sie herum eine ,Fick’-Orgie stattfindet.[313ff]
[13] Und an einer Stelle offenbart Dolmancé, wie er wurde, was er wurde – nämlich durch die Schlechtigkeit anderer Menschen: ,Ihre Undankbarkeit war es, die mein Herz austrocknete, ihre Falschheit, die in mir diese unheilvollen Tugenden zerstörte, für die ich vielleicht wie Sie geschaffen war.’[279] (Er spricht mit dem Chevalier, der noch ein Rest an Menschlichkeit besitzt). • Mit anderen Worten: Er gibt zu, dass die Natur (!) auch ihn offenbar für die Tugenden geschaffen hatte – er sie aber in sich sterben ließ, weil er zu wenig (Gegen-?)Liebe empfing. Den aktiven Anteil seiner eigenen Verhärtung weist er wieder von sich und stellt es als Automatismus dar: ,…die mein Herz austrocknete’. Als sei er gar nicht beteiligt oder verantwortlich – obwohl man seine Rachgefühle noch unmittelbar zu spüren meint.
[14]● Gunter Schmidt: Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral. Reinbek bei Hamburg 1998. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[15] Watt JD & Ewing JE (1996): Toward the development and validation of a measure of sexual boredom. Journal of Sex Research 33(1), 57-66. • Es gibt auch Diagnostik-Codes: ICD F52.0 (Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen), F52.1 (Sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Befriedigung) etc.[64]
[16] Und es sei ein Mythos, ,eine nennenswerte Anzahl von Männern ließe sich heute von der Pornographie mehr als eine noch gerade maschinell registrierbare Erregung, einen Anflug von Erektion entlocken’.[26] • Schmidt bringt auch sonst geistreiche Formulierungen und Zitate, zum Beispiel das eines Internet-Nutzers: ,Real Life’ sei ,nur ein Fenster mehr, und nicht einmal das beste’. Sherry Turkle: Life on the Screen. Identity in the Age of the Internet. New York/London 1995.[32] • Und Leonore Tiefer habe schon 1993 bei einem Symposium ,Orgasmus’ spöttisch definiert als das ersehnte Signal dafür, dass man nun ,endlich aufhören’ könne.[34]
[17] Ein Mann berichtet, da könne er ,anfangen, wann ich will, kommen, wann ich will, aufhören, wann ich will; ich brauche keine Präliminarien, keine Kerzen, keine Zärtlichkeiten hauchen, nicht erspüren, was ich vielleicht will, nicht hinterher darüber diskutieren, wie es war, kann einschlafen, wann ich will.’[27] • Es geht also um den Verlust von Zärtlichkeit, echter Empathie, liebevoller gegenseitiger Begegnung. Vorgezogen wird der Autismus.
[18] Schmidt zitiert Helmut Dahmer, wonach die Verzichtmoral längst durch ihr Gegenteil, ,eine Art hedonistischer Propaganda’, ersetzt wurde.[49] Und den Soziologen Zygmunt Baumann: aus Befriedigungssuchern sind ,Erregungssammler’ geworden. Zygmunt Bauman: Philosophie der Fitness. taz, 25.3.1995.[50] • Schmidt erwähnt auch das abartige Eingehen heutiger Eltern auf jeden noch nicht einmal geäußerten Wunsch ihrer Kinder, was im Grunde eine zunehmende Leere wachsen lässt.[51f] • Auch der Philosoph Günther Anders schrieb, der moderne westliche Mensch werde nicht mehr um das tägliche Brot beten, sondern um den täglichen Hunger. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Band 2: Über die Zerstörung des Lebens in der dritten industriellen Revolution. München 1980.[52] • Sexualität wird bloße Unterhaltungs- und Erlebnisware oder -währung, wie alles andere auch. Schmidt erwähnt eine Kampagne der Bundesregierung: ,Kinder machen Spaß’.[56] • Damit geht auch eine Entpolitisierung einher. Für Günther Anders geht ,die Freiheitsberaubung [...] als Lustlieferung vor sich’. Op. cit., S. 179.[59] Und der legendäre Aldous Huxley sagt: „In der ,Schönen Neuen Welt’ werden die Menschen dadurch kontrolliert, daß man ihnen Vergnügungen zufügt.’ Aldous Huxley: Wiedersehen mit der Schönen Neuen Welt. München 1987, S. 33.[58]
[19],[...] das Erleben des plötzlichen Triebeinbruchs, der Kampf gegen sexuelle Impulse und Versuchungen [...] und die [...] rührenden Sublimationsversuche wie Schwärmereien, gefühlsgeladene Tagebücher, Gedichte usw. Die Sexualität erscheint immer mehr Menschen, auch Jugendlichen, als eine Lustmöglichkeit, die man aufsuchen kann [ergänze: oder auch nicht, H.N.], als eine Möglichkeit des Vergnügens [...].’[54]
[20] Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt am Main 2005, S. 80.
[21] Eine andere Alternative zur Routine ist heute offenbar nicht mehr bekannt. Ich beschreibe diese Alternative – im Prinzip Novalis’ magischer Idealismus – in meinem Roman ,Erinnerungen einer Volljährigen’ (2018).
[22] Eine ,Sexualisierung’ ist gar nicht nötig, weil Eros, das heilige Reich der Anziehung, immer schon unsichtbare Fäden auch zum Reich der Sinnlichkeit und der geschlechtlichen Anziehung hat. • Mit anderen Worten: ,Sexualisierung’ ist nur da nötig, wo das Eigentliche, viel Umfassendere, überhaupt nicht mehr erlebt wird.
[23]● Gottfried Lischke & Angelika Tramitz: Weltgeschichte der Erotik, Band 4: Von Marilyn bis Madonna. München 1995. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[24] Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 1951. Link bei Wikipedia. Aus Aphorismus 122.
[25] Ebd., aus Aphorismus 29.
[26] Ebd., aus Aphorismus 107.
[27] Siehe ,The Selfish Gen’ (,Das egoistische Gen’, 1976) von Richard Dawkins, ,domestic-bliss-strategy’ und ,he-man-strategy’. Gentests zeigten, dass bis zu 40 % der Jungen scheinbar monogamer Vogelarten nicht vom ständigen Partner stammen. In einer kanadischen Stadt waren es 20 % der Kinder, was der Ehemann ,meist nicht einmal ahnte’.[119] • Eine große englische Studie fand, dass in festen Partnerschaften lebende Frauen besonders in ihrer fruchtbaren Zeit und besonders, wenn sie gerade mit ihrem Partner geschlafen haben, einen Seitensprung wagen.[125]
[28] Ähnliches behauptet auch Van Ussel: ,Die Liebe ist, wie GIESE und SCHMIDT in ihrer ,Studenten-Sexualität’ nachgewiesen haben, zum neuen Repressionsmittel geworden. Auch die Untersuchungen von HERTOFT in Dänemark, von ZETTERBERG in Schweden sowie die Studie ,Sex in Holland’ bringen klar zum Ausdruck, daß die Mehrzahl der Bevölkerung am romantischen und irrealen Liebesideal, das von Film und Presse suggeriert wird, festhält.’ Jos van Ussel: Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Reinbek bei Hamburg 1970, S. 215. • Der damals noch geltende ,Zwang zur Ehe’ und die starre Ideologie mancher Medien ist das eine, doch ein Ideal ist etwas völlig anderes. Wie kann Liebe jemals ,Repressionsmittel’ sein? Ist nicht jeder Mensch frei, einem anderen Ideal nachzustreben? An die Romantik und die Liebe nicht zu glauben und stattdessen die bloße Lust oder eine kurze Lebensabschnittspartnerschaft oder was auch immer zu suchen? • Etwas anderes ist die berechtigte, scharfe Kritik Van Ussels an der bleibenden Gesellschaftsstruktur, weit über die sexuelle Frage hinaus: ,Die Gesellschaft ist immer noch Ausbeuterin, sie bleibt Konkurrentin und androzentrisch, prostitugen und pathogen.’ Ebd., S. 218. • Und man muss eben auch sehen, dass der Kapitalismus nicht nur die Triebunterdrückung brauchte, sondern dass die neue Triebentfesselung den dem Kapitalismus inhärenten Egoismus in anderer Weise genau wieder reproduziert – und etwas im Grunde zutiefst Heiliges zur Konsum- und Massenware, zum Billig-, ja Wegwerfartikel degradiert. • Immerhin betont auch van Ussel, der Mensch müsse wieder ein Wesen werden, ,das den Mut hat, sein Gefühlsleben freimütig zu äußern, [...] und es wagt, glaubwürdigere und wesentlicher Kontakte mit anderen Menschen zu haben.’ Ebd., S. 225. • Warum aber sollte dann die romantische Liebe eine Illusion sein? Sie kann doch nur an unromantischen Menschen scheitern – woran denn sonst?
[29] Epipsychidion. Verses Addressed to the Noble and Unfortunate Lady Emilia Viviani, Now Imprisoned in the Convent of St. Anne, Pisa. Verse 130-141, 565-577, 584-586. www.bartleby.com.
[30] In dem Stück wollen drei Götter in der chinesischen Provinz Sezuan beweisen, dass auch gute Menschen auf der Erde leben. Sie finden Shen Te – aber selbst diese muss schließlich in der Maske des imaginären Vetters Shui Ta mit Härte agieren. Als diesem das Verschwinden von Shen Te als Mord zur Last geworfen wird, wird sie vor Gericht gestellt, gebildet von den drei Göttern, die aber kein Urteil fällen. Wikipedia: Der gute Mensch von Sezuan. • Es ist offensichtlich, dass nur die äußeren Bedingungen sie zwingen, nicht immer gut zu handeln, auch wenn ihr Herz gut ist. Das ist das Entscheidende.
[31] So fand ich die Webseite eines Diplompsychologen, der auch Sachverständiger in Gerichtsverfahren ist und der angesichts der Worte ,Ich will nicht wissen, ob er mich liebt’ davon spricht, dies drücke ,eine typisch eigensüchtig und ungesund schizoide Liebeshaltung aus’. Es ist unfassbar, wie absolut blind diverse psychologische Schulen bereits geworden sind. Vernagelt mit eigenen Begriffen sehen sie nur noch, was sie sehen wollen – und können. Denn hier spricht nicht etwa eine narzisstisch-autistische Persönlichkeit, sondern eine Frau, die nicht erst nach Gegenleistung fragt, bevor sie liebt. Die pathologisierende Interpretation sieht jedoch vergewaltigend das Gegenteil! • Nach der weiteren Textstelle ,Keinen verderben zu lassen, auch nicht sich selber / Jeden mit Glück zu erfüllen, auch sich, das / Ist gut’ folgen sofort die ,Experten-Diagnosen’: ,Helfersyndrom’ und Symptome von dependenter Persönlichkeit, Seelenschwäche, Hörigkeit etc. Der gute Mensch von Sezuan. www.sgipt.org. • Brecht würde sich im Grabe umdrehen! Diese heutigen Diagnostiker haben ein pathologisches Problem – sie leiden unter hoch pathologischer Empathielosigkeit, unter vielleicht irreversiblem Verlust des eigentlich Menschlichen.
[32] Verschiedene Kritiker werfen dem diagnostischen Leitfaden DSM vor, die Asexualität nun genauso zu pathologisieren wie zum Beispiel die Homosexualität in den Jahren 1974 bis 1987. Wikipedia englisch: Hypoactive sexual desire disorder.
[33] Wikipedia: Surrogatpartnerschaft / Sexual surrogate. • Masters und Johnson ,nahmen Abstand von diesem Programm, nachdem der eifersüchtige Ehemann einer Surrogat-Therapeutin Anzeige erstattet hatte.’[173]
[34] Anne Röttgerkamp: Internet Pornografie – Zahlen, Statistiken, Fakten. www.netzsieger.de, 16.5.2018.
[35] Für die Studie ,Sexualverhalten in Deutschland’ der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) von 2008 wurden unter anderem 6.500 männliche Jugendlichen zwischen 16 und 19 Jahren befragt. Philipp Woldin. Wieso schaust du anderen Frauen zu? FAZ.net, 16.3.2014.
[36] Jakob Pastötter, Präsident der DGSS: ,Immer mehr Männer, vor allem junge, entwickeln eine habituelle Impotenz, weil sie auf die natürlichen Reize der Frau nicht mehr reagieren.’ Ebd.
[37] Bravo: Dr. Sommer-Studie 2009. München 2009, S. 99. Die ,Bravo’-Studie befragte Elf- bis Siebzehnjährige. Hier hatten unter den Dreizehnjährigen schon 69 % der Jungen und 43 % der Mädchen Pornos bereits gesehen. Ebd., S. 97. • In einer Onlinebefragung von 352 Jugendlichen (16-19 Jahre) gaben 93 bzw. 61 % an, pornografische Darstellungen bereits gesehen zu haben. Die wichtigste Quelle bei Jungen ist das Internet (89 %) vor Softerotik im Fernsehen (81 %), bei Mädchen das Fernsehen (55 %). Die meisten Jungen, aber nur ein Viertel der Mädchen fühlten sich nach dem ersten Pornofilm zumindest ,eher gut’, doch nur 15 % der Mädchen gaben negative Reaktionen an. Nur 14 bzw. 9 % glauben, Pornografie stelle menschliche Sexualität realistisch dar. Mathias Weber: Die Nutzung von Pornografie unter deutschen Jugendlichen. Forum Sexualaufklärung und Familienplanung 2009(1), 15-18. forum.sexualaufklaerung.de.
[38] Christine Altstötter-Gleich: Pornographie und neue Medien. Eine Studie zum Umgang Jugendlicher mit sexuellen Inhalten im Internet. Pro Familia, Mainz 2006, S. 27-30. • Siehe auch Konrad Weller, Explizite Lyrik, im folgenden Sammelband von Schetsche/Schmidt, S. 210.
[39] Walter Wüllenweber: Voll Porno! Stern.de, 5.2.2007.
[40] Sido mit ,Arschficksong’ (2005): ,Es fing an mit 13 [...] Kathrin hat geschrien vor Schmerz [...] Ihr Arsch hat geblutet und ich bin gekomm’n’. • Bushido mit ,Gangbang’ (2004): ,Ein Schwanz in den Arsch | Ein Schwanz in den Mund | Ein Schwanz in die Fotze | Jetzt wird richtig gebumst.’ • Noch schlimmer der Berliner Rapper ,Frauenarzt’ mit ,Gang Bang’ (2005). genius.com. • Siehe auch Wikipedia: Frauenarzt (Rapper) & King Orgasmus One. | Johannes Gernert: Verbales Mutterficken. taz.de, 9.7.2007.
[41] Bernd Siggelkow & Wolfgang Büscher: Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist. Aßlar 2008.
[42]● Michael Schetsche & Renate Berenike Schmidt (Hg.): Sexuelle Verwahrlosung. Empirische Befunde – Gesellschaftliche Diskurse – Sozialethische Reflexionen. Wiesbaden 2010. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[43]● Christian Niemeyer: Deutschlands sexuelle Moralpaniken, in: Op. cit., S. 27-50.
[44] Pestalozzi schrieb über Rousseau, er sei ein Träumer gewesen, ,der in den Armen der Frau von Warrens das Pflichtgefühl für ein ordentliches Leben und einen häuslichen Beruf in sich selber verdunkelte’. Ein Schweizer-Blatt, Nr. 40, 3.10.1782.[32] • Rousseau hatte 1762 in seinem ,Émile’ vertreten, die Erziehung müsse nur das bewahren, was im Kinde angelegt ist, der erste Satz lautete: ,Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles entartet unter den Händen des Menschen.’ Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Leipzig o. J. Zeno.org. • Kant dagegen vertrat: ,Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.[32] [...] Es ist Niemand, der nicht in seiner Jugend verwahrloset wäre, und es im reiferen Alter nicht selbst einsehen sollte, worinn, es sey in der Disciplin, oder in der Kultur, (so kann man die Unterweisung nennen) er vernachlässigt worden.’ Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803, S. 11f. Deutsches Textarchiv. • Erziehung, so Niemeyer, habe Pestalozzi als Kunst der ,Verstümmelung’ gesehen.[32] • Dieser Hinweis ist allerdings selbst eine größte Verstümmelung Pestalozzis. Denn dieser wies darauf hin, dass der Mensch als gesellschaftliches Wesen in Bezug auf seinen Naturzustand verstümmelt wurde, dass aber die weitere individuelle Entwicklung zu einem sittlichen Wesen eine Erhöhung bedeutet: ,Die allgemeine Schiefheit der Menschen in allen bürgerlichen Verhältnissen und ihre allgemeine Verhärtung im gesellschaftlichen Zustand ist eine Folge der innern Verstümmelung der Naturkräfte unseres Geschlechts in diesem Stand.’ Johann Heinrich Pestalozzi (1797): Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts. Nürnberg 1922, nach der letzten Ausgabe von 1821. Projekt Gutenberg. • Weiter sagt er: ,Der gesellschaftliche Zustand ist in seinem Wesen eine Fortsetzung des Krieges aller gegen alle, der im Verderben des Naturstandes anfängt und im gesellschaftlichen nur die Form ändert, aber um deswillen nicht mit weniger Leidenschaft geführt wird, im Gegenteil, der Mensch führt ihn in diesem Zustand mit der ganzen Schiefheit und Härte seiner verstümmelten und unbefriedigten Natur.’ Tatsache sei, ,daß mir in diesem Zustand als solchem beides, die Harmonie meiner tierischen Kraft und diejenige meiner sittlichen Veredlung gleich mangelt’. Ebd.
[45] Wichern ist auch Erfinder des Adventkranzes. Sein Ansatz war ein tief christlich-humanistischer. Siehe Wikipedia: Johann Heinrich Wichern. • Niemeyer, der ihn seltsamerweise als ,1. Akt’ sogar vor Pestalozzi (2. Akt’) anführt, zitiert aber unter anderem: ,Zerstören wir nicht Sodom und Gomorrha, so zerstört Sodom und Gomorrha uns’ oder: ,Diese Schlangenbrut der heimlichen Hurerei ist keine der geringsten Brutstätten der roten Republik’. Johann Hinrich Wichern (1851): Ein Votum über das heutige Sodom und Gomorrha, in: Sämtliche Werke, Band 2. Berlin/Hamburg 1965, S. 214-225, hier 225 & 216.[29]
[46] Friedrich Nietzsche (1881/21887): Morgenröte. Werke in drei Bänden, Band 1. München 1954, S. 1062f, Erstes Buch, Kap. 76 ,Böse denken heißt böse machen’.
[47],Typisch für jeden Verwahrlosten ist die geringe Fähigkeit, Triebregungen unterdrücken und von primitiven Zielen ablenken zu können, sowie die ziemliche Wirkungslosigkeit der für die Gesellschaft geltenden sittlichen Normen; dazu kommt für den weitaus größten Prozentsatz [...] ein offener Konflikt mit der Gesellschaft als Folge eines in der Kindheit unbefriedigt gebliebenen Zärtlichkeitsbedürfnisses. In Erscheinung tritt sehr gesteigerter Lusthunger, primitive Form der Triebbefriedigung, Hemmungslosigkeit und verdecktes, aber desto größeres Verlangen nach Zuneigung.’ August Aichhorn (1925): Verwahrloste Jugend. Bern 101987, S. 130, zitiert nach Norbert Myschker & Roland Stein: Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart 82018. Google Books, o. S.
[48] Wikipedia: Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften. • Das Gesetz existierte 1926 bis 1935.
[49] Birgit Menzel: Verwahrlosung und die Legitimation sozialer Ungleichheit, in: Op. cit., S. 233-240, hier 233.
[50] Worauf der Spiegel mit Zitaten von Pastötter einen langen Artikel brachte: Andrea Stuppe: Die unaufgeklärte Nation. Der Spiegel 39/2002, Spiegel.de, 21.9.2002.
[51] Silja Matthiesen & Gunter Schmidt: Jugendschwangerschaften – kein Indikator für sexuelle Verwahrlosung, in: Op. cit., S. 119-143, hier 121f.
[52] Siehe zum Beispiel Konrad Weller: Wie nutzen Jugendliche Pornografie und was bewirkt sie? pro familia Magazin 01/2009, S. 9-13. • Eine kroatische Studie fand keinen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Pornokonsums von Vierzehnjährigen und ihrer Sexualität. Stulhofer A, Busko V & Landripet I (2010): Pornography, sexual socialization, and satisfaction among young men. Archives of sexual behavior 39(1), 168-178. • Negative Befunde könnten zudem entweder Kausalitäten oder bloße Korrelationen sein (etwa dass sexuell ,verwahrloste’ Jugendliche zu Pornokonsum neigen – statt umgekehrt). • Auf ,harte’ Pornografie reagieren Jungen und Mädchen fast durchgehend ablehnend. Christine Altstötter-Gleich: Pornographie und neue Medien. Eine Studie zum Umgang Jugendlicher mit sexuellen Inhalten im Internet. Pro Familia, Mainz 2006, S. 29.
[53] So fasst Frank Herrath, Pädagoge vom Institut für Sexualpädagogik (ISP), zusammen, ,dass die großen aktuellen Jugendsexualitätsstudien der BZgA und der Bravo ein eher beruhigendes Bild bieten: Hohe Verhütungsvernunft, zunehmende Empathie gegenüber dem anderen Geschlecht bei gleichzeitig entwickeltem Selbstbewusstsein, Zugewandtheit gegenüber den vielen Sexualaufklärungsangeboten und klassische, romantische Liebesbeziehungsideale.’ Sind Jugendliche gefährdet, durch Medieneinflüsse sexuell zu verwahrlosen? Vortrag am 24.4.2008, Kassel. www.verbund-kassel.de.
[54]● Konrad Weller: Explizite Lyrik – „Porno-Rap“ aus jugendsexuologischer Perspektive, in: Op. cit., S. 207-230.
[55] Bekannt wurde vor allem der gleichnamige Film von 2015, eine Biografie der Gruppe. Wikipedia: Straight Outta Compton (Film). • Die Texte richteten sich teilweise auch gegen den Rassismus der Polizei (,Fuck tha Police’). Dieser Song veranlasste das FBI zur der Bitte, das Album zurückzuziehen. Wikipedia: Straight Outta Compton (Album). • Der Song ,Cop Killer’ von Ice-T für die Band ,Body Count’ (1992) wurde von Präsident Clinton als staatsgefährdend angesehen.[213]
[56] Der Begriff bezeichnet ursprünglich eine läufige Hündin! Wikipedia. • Eine ,bitch’ definiert sich über ihren Körper und ihre Sexualität – bzw. wird von der männlich-patriarchalen Welt so definiert.[214]
[57],In Hamburg saßen die Partychaoten, in Stuttgart die politisch korrekten Gesinnungssprechgesängler. In Berlin entstand die harte Straßenvariante.’ Johannes Gernert: Verbales Mutterficken. taz, 9.7.2007.
[58] Die Hälfte davon (28) allein 2007, dem Jahr der ,Verwahrlosungsdebatte’.[217]
[59] Tarek von der Gruppe K.I.Z. sagt, wenn sie ,pornografisch würden, dann immer witzig und völlig überdreht. „Das Make-up deiner Mutter macht mein Sack zum Regenbogen.“ Es geht ums Battlen, um Gegnervernichtung. [...] „Tour zu Ende, ich bring dir dein Mädel zurück, Fotze ausgeleiert, Arsch zerfleddert, Schädel gefickt.“ | „Das ist Neandertalerdenken“, sagt Tarek, man treffe den Mann, indem man seiner Frau schade. „Dumm und lächerlich, aber so ist das eben im Battle-Rap.“’ Ebd. • Weller kommentiert zudem: ,Die raue Schale ist vielleicht sogar Beleg für die Pazifizierung [...], der verbale Sexismus ist provozierende Reaktion auf Sexual Correctness, hat eine Ventilfunktion angesichts ihrer Allgegenwärtigkeit.’[225] So wäre er kein Symptom der Verwahrlosung, sondern ihres Gegenteils. • Weller führt weiter aus, dass Porno-Rap allenfalls bereits vorhandene Einstellungen und Handlungstendenzen verstärkt.[227] Frauenfeindliche Texte (,sie ficken unsre Köpfe mit sinnloser Kacke, von ihrem scheiß Gelaber krieg ich eine Macke’) können sogar Abwehr eigener, tief sitzender Minderwertigkeitserlebnisse gegenüber den verbal und intellektuell überlegenen Mädchen und Frauen sein.[221f]
[60] Rüdiger Lautmann: Der Topos ,Sexuelle Verwahrlosung’: Münze im Handel zwischen den Generationen, Geschlechtern und Mileus, in: Op. cit., S. 259-277, hier 275.
[61] Gemeint ist hier das wahre oder ,höhere’ Ich, nicht das Schein-Ich, als das sich jeder Mensch zunächst erlebt und das meist nur die Essenz des Selbstbezugs realisiert, dem wahren Wesen des Menschen also in tiefer Weise widerspricht. Der Mensch ist bei weitem noch nicht das, was er zu werden vermag und in seinem wahren Wesen andererseits auch schon ist, allerdings oft tief verschüttet.
[62] Sullivan LFO et al. (2014): Prevalence and characteristics of sexual functioning among sexually experienced middle to late adolescents. Journal of Sexual Medicine 11(3), 630-641. • Die Studienteilnehmer waren 16-21 Jahre alt.
[63] Park BY et al. (2016): Is internet pornography causing sexual dysfunctions? A review with clinical reports. Behavioral Sciences. 6(3): 17.
[64] Zur Erforschung der Veränderungen im Gehirn siehe zum Beispiel Kühn S & Gallinat J (2014): Brain structure and functional connectivity associated with pornography consumption: The brain on porn. JAMA Psychiatry 71(7), 827-834.
[65] Pea brain: watching porn online will wear out your brain and make it shrivel. www.dw.com, 5.6.2014. • Siehe auch: Lassen Pornos Hirnkerne schrumpfen? www.aerztezeitung.de, 21.7.2014.
[66] Karen Franklin: Why are these men downloading child pornography? forensicpsychologist.blogspot.de, 21.5.2017. • Sie weist auch darauf hin, dass allein die Seite ,Pornhub’ 2016 damit warb, dass schon über 91 Milliarden Videos konsumiert wurden, mehr als zwölf pro Erdenbewohner. Ebd.
[67] Wikipedia: Miley Cyrus.
[68] Sebastian Herrmann: Alles geht, nichts läuft. Süddeutsche Zeitung, 30.4.2021. • Siehe YouTube: ,Cardi B and Megan Thee Stallion Wap/Up Grammys Performance 2021’ [Szene bei 3:40 min].
[69] Nach der JIM-Studie 2019 besitzen 93 % ein Smartphone, 65 % einen Computer/Laptop. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM-Studie 2019. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. PDF, 64 S., S. 7. www.mpfs.de. • 2018 waren die Zahlen mit 97 % und 71 % sogar leicht höher. Schon in der Altersgruppe 12-13 Jahre haben 44 % einen Computer/Laptop und 76 % uneingeschränkt WLAN. Ebd., S. 8.
[70] Catarina Katzer: Gefahr aus dem Netz. Bullying und sexuelle Viktimisierung von Kindern und Jugendlichen (Diss.). Köln 2007, S. 25. kups.ub.uni-koeln.de.
[71] Wikipedia: Das weiße Kaninchen.
[72] Barbara Nolte: Warum haben die Menschen immer weniger Sex? Interview mit Eva Illouz. Tagesspiegel, 7.6.2019. Auch das folgende Zitat.
[73],Je mehr Möglichkeiten es gibt, desto kritischer werden diese begutachtet. Schon schwirren Begriffe wie „Tinder Fatigue“ oder „Dating Burnout“ durch die Öffentlichkeit. Zu viele Optionen senken die Zufriedenheit mit einer getroffenen Entscheidung – wenn sie denn überhaupt getroffen wird.’ Sebastian Herrmann: Alles geht, nichts läuft. Süddeutsche Zeitung, 30.4.2021.
[74] Dolly Alderton im Interview: Romantik in Zeiten von Tinder: „Niemand will auf Dating-Apps rumhängen“. Tagesspiegel.de, 8.2.2021.
[75] Herbert Haag & Katharina Elliger: „Stört nicht die Liebe“. Die Diskriminierung der Sexualität – ein Verrat an der Bibel. Olten 1986, S. 38.