Parthenophilie

Peter Altenberg (1859-1919)


Altenberg, wurde unter dem Namen Richard Engländer in Wien geboren. Er brach ein Rechts- und Medizinstudium ebenso ab wie eine Buchhändlerlehre. Erst spät, schon Mitte dreißig, verfasste er ab 1895 erste literarische Skizzen, die er mit Hilfe von Karl Kraus veröffentlichen konnte. Als ihm ein Arzt eine Berufsunfähigkeit wegen eines überempfindlichen Nervensystems attestierte,[1] führte er fortan ein Bohémien-Leben in den Wiener Kaffeehäusern. Trotz manchen Erfolgs blieb er von Spenden abhängig, zu denen unter anderem Kraus und der Architekt Adolf Loos aufriefen, der auch sein Taufpate war, als Altenberg sich 1910 taufen ließ, nachdem er zehn Jahre zuvor die jüdische Glaubensgemeinschaft verlassen hatte. Bis zu seinem Tod erschienen bei Fischer (und einmal Erich Reiss) in Berlin dreizehn Werke.[2]

Altenberg entwickelte einen ganz eigenen Stil. Er verarbeitete die Eindrücke aus der Wiener Gesellschaft zu impressionistischen Skizzen, die, wie mit wenigen Pinselstrichen gezeichnet, gleichwohl immer wieder ganz Charakteristisches einzufangen vermochten.

Auf einer Wiener Touristen-Webseite finden sich weitere Angaben über sein Leben. So verbrachte er mit etwa zwanzig Jahren einige Zeit in Altenberg – einem Örtchen in der Donaubiege nordlich von Wien – bei einem Schulfreund, dessen Vater[3] die wichtigste Wiener Zeitung, die ,Neue Freie Presse’ herausgab. Hier stieß er auf ein Verhalten, gegen das er sich auflehnte. Die drei Brüder hatten noch vier jüngere Schwestern, von denen die jüngste Bertha hieß:[4]

Die Brüder erwarteten, dass die Mädchen als ihre Dienerinnen fungierten, ihnen die Schuhe auszogen und die Mahlzeiten servierten, und dies alles für einige Groschen pro Woche. Nicht genug damit [...]. Ein junger Herr bedarf eines jungen Dieners, daher gaben sie ihren Schwestern männliche Spitznamen. Bertha wurde Peter genannt.
Der junge Altenberg war außer sich, dass den Mädchen durch die Männer um sie herum ihre Identität und ihr Geschlecht verweigert wurde. Er schrieb Gedichte voll zorniger Entrüstung.

Aus Solidarität mit den Mädchen nahm er den Namen Peter an und gab sich den Nachnamen Altenberg – auch wenn das Pseudonym offiziell erst siebzehn Jahre später bei seiner ersten Veröffentlichung erschien.

Altenberg wurde später ein Unikat, er legte keinen Wert auf gepflegte Anzüge, sondern erfand gleichsam schon damals die ,Freizeitkleidung’, bezeichnete sich einmal als ,Kenner sämtlicher Spazierstöcke in den Wiener Geschäften’. Das Café Central in Wien wurde sein Stammhaus, in das er sich sogar seine Post schicken ließ. Hier schrieb er, hier entstand sein einzigartiger ,Telegrammstil’, von dem Egon Friedell schrieb:[5]

Nur im Zeitalter der Telegraphie, der Blitzzüge und der Automobildroschken konnte ein solcher Dichter erstehen, dessen leidenschaftlichster Wunsch es ist, immer nur das Allernötigste zu sagen. [...] Es kommt ihm niemals darauf an, etwas möglichst schön zu sagen, sondern es möglichst präzis und kurz zu sagen.

Die Wahrheit aber ist, dass diese Kürze im Gegensatz zum Einbruch der Technik voller Seele ist. Altenbergs Skizzen, die wir an anderer Stelle noch ausführlich kennenlernen werden,►7,11 sind Meisterwerke von Momentaufnahmen, die intensiv Stimmungen einfangen. Darin gleichen sie nicht den ,Blitzzügen’, sondern, ganz im Gegenteil, den japanischen Haikus – und es ist kein Wunder, dass Altenberg die japanische Kunst, Wesentliches einzufangen, tief bewunderte.[6]

In einer Antwort an Arthur Schnitzler schrieb Altenberg mit geistvoller Selbstironie im Juli 1894:[7]

Meine Sachen haben das Malheur, daß sie immer für kleine Proben betrachtet werden, während sie leider bereits das sind, was ich überhaupt zu leisten im Stand bin.

Schnitzler verkehrte in den Wiener Caféhäusern ebenso wie Hugo von Hofmannsthal, Richard Beer-Hofmann,[8] Hermann Bahr[9] und ,Bambi’-Dichter Felix Salten. Später stellt Altenberg seine ,Entdeckung’ durch Schnitzler in der Skizze ,So wurde ich’ so dar:[10]

Ich saß im 34. Jahre meines gottlosen Lebens. [...] ich saß im Café Central, Wien, Herrengasse, in einem Raume mit gepreßten englischen Goldtapeten. Vor mir hatte ich das „Extrablatt“ mit der Photographie eines auf dem Wege zur Klavierstunde für immer entschwundenen fünfzehnjährigen Mädchens. Sie hieß Johanna W. Ich schrieb auf Quartpapier infolgedessen, tieferschüttert, meine Skizze „Lokale Chronik“.►11 Da traten Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr ein. Arthur Schnitzler sagte zu mir: „Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie dichten!? Sie schreiben da auf Quartpapier, vor sich ein Porträt, das ist verdächtig!“ Und er nahm meine Skizze „Lokale Chronik“ an sich. Richard Beer-Hofmann veranstaltete nächsten Sonntag ein „literarisches Souper“ und las zum Dessert diese Skizze vor. Drei Tage später schrieb mir Hermann Bahr: „Habe bei Herrn Richard Beer-Hofmann Ihre Skizze vorlesen gehört über ein verschwundenes fünfzehnjähriges Mädchen. Ersuche Sie daher dringend um Beiträge für meine neugegründete Wochenschrift ,Die Zeit’!“ Später sandte Karl Kraus, auch der Fackel-Kraus genannt, weil er in die verderbte Welt die Fackel seines genial-lustigen Zornes schleudert, um sie zu verbrennen oder wenigstens „im Feuer zu läutern“, an [...] S. Fischer, Berlin W., Bülowstraße 90, einen Pack meiner „Skizzen“,[11] mit der Empfehlung, ich sei ein Original, ein Genie, Einer, der anders sei, nebbich. S. Fischer druckte mich, und so wurde ich![12]

Sein ,eigentlicher Entdecker, wenigstens sein leidenschaftlicher Propagandist’ laut dem bedeutenden Journalisten Stefan Grossmann[13] war der hochbegabte, tief spirituelle Fritz Eckstein (1861-1939).[14] Und in Wirklichkeit hat Altenberg an seinem Durchbruch auch gehörig mitgearbeitet – der profaner verlief, als in seiner Skizze dargestellt.[15]

Zum engeren Freundeskreis Altenbergs gehörte auch der Maler Oskar Kokoschka.[16] Auch die weiteren Verbindungen Altenbergs im Wien der Jahrhundertwende sind sehr interessant.[17] In einem Buch über Altenberg heißt es:[18]

Altenberg wurde nicht verehrt, er wurde geliebt. [...] Selten jedenfalls hat es schönere Nachrufe auf einen Dichter gegeben, selten waren sich so unterschiedliche Geister wie Thomas Mann und Robert Musil, Alfred Kerr und Karl Kraus, Hugo v. Hofmannsthal und Erich Mühsam in ihrem Urteil über einen Kollegen so einig.[19]

Aber nicht alle – andere gaben aus hochmütigem Intellekt heraus vernichtende Kritiken ab. In seinem genialen ,Altenbergbuch’ schreibt Egon Friedell:[20]

Es ist vielleicht selten ein einfacher Aufzeichner kurzer [...] Impressionen so hemmungslos geliebt, verehrt, ja angebetet worden, und es ist selten ein so reiner und tiefer, wahrer und gütiger Mensch so gedankenlos mißschätzt, verkannt und verlacht worden. Alle, die den Dichter Peter Altenberg in sich aufzunehmen versuchten, waren vor die einfache Wahl gestellt, ihn unbeschreiblich liebenswert oder unsagbar abscheulich zu finden; aber alle, die dem Menschen jemals nähergetreten sind, waren dieser Wahl enthoben: den Menschen konnte man nur lieben, von welcher geistigen oder ethischen Richtung man auch herkam.

Und über seine Persönlichkeit:[21]

Über seine literarische Gesamtpersönlichkeit waren immer die abenteuerlichsten Vermutungen in Umlauf. Die [...] Kunstgourmets sahen in ihm einen „genießerischen Ästheten“, und zwar ganz fälschlich: denn er war ein Natürlichkeits- und Naturfanatiker wie wenige seiner Zeit; die Philister nannten ihn einen [...] Aphorismenjongleur, was noch falscher war: denn er war ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher; und das dicke Gros des Publikums schließlich wußte von ihm nichts anderes zu sagen, als daß er den Typus des genialischen Großstadtbohemiens darstelle, und das war am allerfalschesten: denn er war eine ethisch-reformatorische Persönlichkeit von fast religiösem Charakter, etwa in der Art des Sokrates oder Paracelsus.

In einer deutschen Buchbesprechung hieß es:[22]

Und man freut sich, in unserer materiellen, fast möchte man sagen, darwinistischen Literatur die Stimme eines Sängers zu vernehmen, der zur reinen Schönheit, zu den platonischen Empfindungen zurückführt. [...] | [...] eine solche Welt, in der die verträumten süßen Leid- und Lustgefühle geheimnißvoll wie Pflanzen wachsen, ersteht mit ihren verborgenen und offenbaren Schönheiten vor unsern Augen.

Prophetisch schrieb ,Bambi’-Dichter Felix Salten 1909:[23]

Er ist jetzt fünfzig Jahre alt, ist in diesem heutigen Wien eine der interessantesten, subtilsten und ergreifendsten Existenzen, ist für alle Wissenden in Europa ein geliebter und bewunderter Dichter [...]. Eines Tages aber wird man Altenberg-Erinnerungen schreiben und Altenberg-Biographien. Die dann diese Bücher lesen, werden glauben, ganz Wien habe dieses Original verstanden, verehrt und gefeiert [...]. Eines Tages wird jemand beweisen, daß draußen, an den äußern Rändern des Alltags, durch das Wirken Altenbergs die Seele des Menschen an Terrain gewonnen habe. Dieser Beweis wird gelingen, weil es einfach wahr ist. Nur heute würde das niemand glauben wollen.

In diesen späteren Jahren riefen nicht nur Kraus und Loos über Annoncen zu Spenden für Altenberg auf, um seine Sanatorien-Aufenthalte zu finanzieren, sondern auch Hermann Bahr, Egon Friedell, Hermann Hesse, Max Reinhardt und andere.[24] Und Karl Kraus, obwohl er zu Altenberg oft auch kein einfaches Verhältnis hatte, betonte in seiner Grabrede am 11. Januar 1919 das Ur-Menschliche dieses Dichters:[25]

Sie ahnten nicht, daß die Narrenkappe, mit der Du sie spielen ließest, nur Deine Tarnkappe, Dich vor ihnen zu schützen [...], Du Narr, der uns Normen gab. [...] [...] wie von einer Urmenschheit her, von einem wahren Individuum Gottes, welches, noch nicht auf die engen Wirksamkeiten der Geschlechter verteilt, im Kreise der Schöpfung lebt und Kraft hat zum Schauen und Künden, mit der Ursprünglichkeit aller Eigenschaften [...].

                                                                                                                                       *

In seiner ebenfalls sehr kurzen ,Selbstbiographie’ schreibt Altenberg über sich:[26]

Jawohl, edelster, merkwürdigster aller Väter, lange habe ich dein göttliches Geschenk der Freiheit mißbraucht, habe edle und ganz unedle Damen heiß geliebt, bin in Wäldern herumgelungert, war Jurist, ohne Jus zu studieren, Mediziner, ohne Medizin zu studieren, Buchhändler, ohne Bücher zu verkaufen, Liebhaber, ohne je zu heiraten, und zuletzt Dichter, ohne Dichtungen hervorzubringen! Denn sind meine kleinen Sachen Dichtungen?! Keineswegs. Es sind Extrakte! Extrakte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufälligen Tages, in 2-3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tiegel! [...]
[...] Ja, ich liebe das „abgekürzte Verfahren“, den Telegramm-Stil der Seele!
Ich möchte einen Menschen in einem Satze schildern, ein Erlebnis der Seele auf einer Seite, eine Landschaft in einem Worte! Lege an, Künstler, ziele, triff ins Schwarze! Basta. Und vor allem: Horche auf dich selbst! Gibt deinen eigenen Stimmen in dir Gehör! Habe kein Schamgefühl vor dir selbst!

Und in dieser Selbstbiografie wird nun seine Frauen- und Mädchenliebe bereits sehr deutlich. Denn er schreibt dann weiter:[27]

Mein Leben war der unerhörten Begeisterung für Gottes Kunstwerk „Frauenleib“ gewidmet! Mein armseliges Zimmerchen ist fast austapeziert mit Akt-Studien von vollendeter Form. Alle befinden sich in eichenen Rahmen, mit Unterschriften. Über einer Fünfzehnjährigen steht geschrieben: „Beauté est vertue“. Schönheit ist Tugend. Unter einer anderen: „Es gibt nur eine Unanständigkeit des Nackten – – – das Nackte unanständig zu finden!“
Unter einer anderen steht geschrieben: „So erträumten dich Gott und die Dichter! Aber die schwächlichen Menschlein erfanden das Schamgefühl und verhüllten dich, sargten dich ein!“

Dann schildert er, wie er als Kind die sagenhafte Schönheit der Bergwiesen kennenlernte und zugleich die seine Kindheit prägende Vorstellung hatte, ein geliebtes Mädchen von dem Biss einer Kreuzotter erretten zu können – jedoch nie eine einzige Kreuzotter lebend erblickte:[28]

Als Knabe hatte ich eine unbeschreibliche Liebe zu den Berg-Wiesen. Die Berg-Wiese, in Sonnenglut heißen Duft dampfend, aushauchend, mit Käfern und Schmetterlingen besät, berauschte mich direkt. Ebenso Wald-Lichtungen. An sumpfigen besonnten Stellen sitzen Schmetterlinge, blau-seidene kleine und schwarz-rote Admirale, und man sieht den Huf-Abdruck der Hirsche. Berg-Wiesen aber liebte ich einfach fanatisch, ja, hatte Sehnsucht nach ihnen. Unter den weißen heißen Steinen vermutete ich überall Kreuzottern, und dieses Tier war überhaupt das Märchen-Mysterium meiner Knabenjahre. [...] Der wunderbare zarte grau-schwarze Leib der Kreuzotter kam mir als das Schönste, Vornehmste vor, und als ich ein kleines Mädchen liebte, dachte ich mir immer und immer wieder nur eines aus: „Eine Kreuzotter bisse sie in den Fuß während einer Bergpartie, und ich söge ihr die Wunde aus, um sie zu retten!“ [...]
Immer dachte ich es mir aus: die Geliebte wird gebissen, oberhalb des Fußknöchels. [...] Immer, überall wartete ich auf Kreuzottern. Niemals kamen sie.

Und dann gipfelt sein kurzer Text in dem Bekenntnis, dass sein ganzes Leben und sogar sein ganzes Schreiben letztlich nur diesem einen diente – einer innerlichen Hingabe an die Schönheit des im Grunde zutiefst idealisierten Weiblichen:[29]

Mit 23 Jahren liebte ich ein wunderbares 13jähriges Mädchen abgöttisch, durchweinte meine Nächte, verlobte mich mit ihr, wurde Buchhändler in Stuttgart, um rasch Geld zu verdienen und für sie sorgen zu können später. Aber es wurde nichts aus alledem. Nie wurde etwas aus meinen Träumen.
Ich habe nie irgend etwas anderes im Leben für wertvoll gehalten als die Frauenschönheit, die Damen-Grazie, dieses süße, kindliche.[30] Und ich betrachte Jedermann als einen schmählich um das Leben Betrogenen, der einer anderen Sache hienieden irgendeinen Wert beiläge!
Opfere dem unerbittlichen Tage und der harten Stunde, aber wisse es und fühle es, daß deine heiligen und wahrhaften Augenblicke nur jene sind, da dein gerührtes und erstauntes Auge die schöne sanfte Frau erblickt! Wisse es, Verführter des Lebens, daß du ein Taglöhner, ein Kärrner, ein Gefangener, ein Rekrut bist, ein Selbst-Betrüger und Betrogener des Lebens, und daß nur durch die „heilige schöne Frau“ du ein Adeliger und ein Kaiserlicher werden könntest!
Meinen kleinen Sachen, die ich schreibe, lege ich nur den Wert bei, den Mann, welchen seine tausend Pflichten erschöpfen und aushöhlen, ein bißchen aufzuklären über dieses liebliche, zarte und mysteriöse Geschöpf an seiner Seite. [...] Ich selbst habe nur Leid erfahren an diesen Herrlichen, für welche ich mein verlorenes und unnötiges Dasein hingebracht habe. Dennoch glaube ich ein wenig mitgewirkt zu haben, daß ein Hauch von griechischem Schönheits-Kultus in die vom Leben bedrängten Jünglinge komme! Aber auch das mag nur eine Utopie sein.

1896 gab es in Wien im Tiergarten Schönbrunn eine einjährige Ausstellung eines ,Negerdorfes’, 1910 wurde im Prater ein weiteres gezeigt. Beide Male knüpfte Altenberg durch häufige Besuche engere Kontakte zu den Ashanti-Frauen. Es entstehen seine Prosaskizzen ,Ashantee’ – die er ,meinen schwarzen Freundinnen, den unvergesslichen „Paradieses-Menschen“ Akolé, Akóshia, Tioko, Djôjô, Nāh-Badûh’ widmet.[31] Und er schreibt:[32]

Körperlich geht es mir entsetzlich, geradezu unerträglich. Aber meine geliebte kleine schwarze Freundin bringt mich in Welten, wo es keine Leiden gibt, sondern nur seeliges Genießen. Wenn ich sie bei mir behalten könnte, sie kaufen, sie erziehen außerhalb der Convention, in ihrer süßen Wildheit, ihrer Grazie.[33] Sie ist die heiligste Anmuth und Humor, wundervolle Einfälle. [...] Sie wendet sich in allen schwierigen Situationen an mich, gibt mir ihr Geld zum Aufheben, beklagt sich bei mir über die Leute, welche sie ununterbrochen sekiren [= verspotten, belästigen, H.N.] und sie wie ein Thierchen behandeln.

Sein Zimmer im Graben-Hotel, das er ab 1913 bewohnt, nennt er die ,Galerie der Schönheit’, überall hängen, wie bereits erwähnt, wunderschöne Aktstudien. Auf manchen Fotos stehen Huldigungen wie: ,Kind-Mädchen, ich liebte Dich unermesslich!’, ,Märchen meines Lebens, holdeste Fee, allerzarteste Vierzehnjährige!’, ,Eine Unbekannte. Mein äußerstes Ideal, 1906’, ,Die absolut idealen Beine! Die 13-jährige Evelyn, 1916’. Und Altenberg sagt von sich:[34]

Mädchen habe ich von meinem frühesten Kindheitsalter unter bitteren Tränen verehrt wegen nichts.

Es ist bemerkenswert, dass er in seiner Skizze ,Erinnerungen’, aus der dieser Satz stammt, die heiligste Entwicklung des Menschen und das Mädchen in einen unmittelbaren Zusammenhang bringt. Dort schreibt er:[35]

Erinnerungen? Ich [...] weiß, daß alles in meinem einfachen-vielfachen Dasein ganz gleichförmig war. Meine Uransicht, daß diese Maschinerie ,Mensch’ die Möglichkeiten in sich tief verborgen trage, irgend einmal ein gottähnliches Wesen zu werden, und daß Goethe, Schiller, Beethoven, Mozart, Schubert usw. nur Vorläufer oder eigentlich nur ,schöne, einleuchtende, ergreifende Beispiele’ einer solchen Möglichkeit, wenigstens nach einer Richtung hin, vorstellten [...], diese Uransicht hatte ich schon fast im Gymnasium. Und heute ist sie noch immer meine unzerstörbare Religion geblieben! [...] Also darin habe ich mich in nichts verändert und entwickelt. Womit also auftischen?! Mädchen habe ich von meinem frühesten Kindesalter an unter bitteren Tränen verehrt wegen nichts. Ich hob mir Haarnadeln aus ihren lieben, duftenden, verehrten Haaren auf, ich stahl Gläser, aus denen sie getrunken hatten, ich schrieb mir in einem Notizbuch auf, mit Datum: ,Heute sie gesehen, ¼11 Uhr vormittags, Ecke Spiegelgasse.’

,Wegen nichts’ – das mag bedeuten, dass er sich diese erschütternde Verehrung und Hingabe an die Schönheit der Mädchengestalt selbst nicht erklären konnte, zumal er gleichzeitig wahrnehmen musste, dass er mit der Tiefe dieser verehrenden Empfindungen allein stand. In dieser Gegenüberstellung liegt aber auch das tiefe Erleben, dass das Göttliche, das wahrhaft Schöne und Gute innig mit der tiefen Schönheit und Unschuld des Mädchens zu tun haben müsse.

Zugleich kam er keinem Mädchen zu nahe, wagte dies offenbar auch gar nicht – es reichte ihm die gleichsam heilige Verehrung mit dem liebenden Auge:[36]

Eine Frau ist immer zu alt, und nie nie zu jung!
Das Gesetz schreibt uns vor: von vierzehn an! Aber das Gesetz ist nicht von Künstlern entworfen. Unser Geschmack sagt: In jedem Alter, wenn du nur sehr schön bist! Freilich heißt es da wie in der Bibel: er hatte ein Auge auf sie geworfen! Aber wirklich nur das Auge, dieses ideale Lustorgan!

Mit ,ideal’ ist aber eben auch ,idealisierend’ gemeint – wobei nicht das Auge idealisiert, sondern die Seele. Und auch der Begriff ,Lust’ ist missverständlich – denn bei Altenberg geht es gerade nicht um den Pol der Lüsternheit, sondern den entgegengesetzten, gleichsam heiligen Pol der Verehrung. Seine Seele war tief der geradezu anbetungswürdigen Schönheit und Unschuld des Mädchenleibes und der diesem Leib Leben einhauchenden Seele hingegeben. Und, wie wir aus seiner ,Autobiografie’ wissen – er bedauerte jeden, der diese Schönheit nicht sah. Und niemand sah sie wirklich, der von ihr nicht in demselben Moment erschüttert wurde...

Das Wesen Altenbergs, das sich voller gütiger Liebe gerade auch den Dienstmädchen, Prostituierten, den armen und gefallenen Mädchen, aber auch den noch ganz unschuldigen, zuwandte, zeigt sich an einer Skizze wie der folgenden. Zunächst berührt er kurz die Oberflächlichkeit der reichen, schönen, jungen Damen, bevor er fortfährt:[37]

Da kam ich eines Abends in ein Café voll Rauch und lärmenden Menschen.
In der Cassa aber saß ein junges Mädchen, voll Ruhe und edler Haltung, mit unbeschreiblich menschlichen Augen, die so hinglitten über diese Versammlung ein wenig zu lärmender lustiger Männer, die tranken! [...] Sie war wie aus einem edleren besseren Reiche, aus einem Märchen-Lande von Zartheit und adeliger Ruhe!
Da wurde ich von namenloser Rührung ergriffen und wünschte es von ganzem, ganzem Herzen, daß es diesem edlen süßen feinen zarten Geschöpfe gut gehen möge in dieser brutalen grausam-harten Welt, und diese süß-menschlichsten Augen sich nie mit den Trhänen der Enttäuschung füllen nöchten.

Das ist ganz Altenberg! Tief empfindsam für das Edle, noch Unverfälschte, es verehrend, wo immer es auftritt. Und er ist zugleich dessen Sänger – mit dem innigen Versuch, auch die Mitwelt und deren Herzen dieses wahre Sehen zu lehren... Und denen, die ihm vorwarfen, er sei ,dekadent’, erwiderte er gleichsam, sie seien nicht empfindsam genug.[38]

1906 bis 1908 verehrte Altenberg das achtzehnjährige Mädchen Anita M., das ihm offenbar die Freundschaft schenkt.[39] 1912 verliebt er sich in einem Hotel auf dem Semmering in die zwölfjährige Klara Panhans, die Tochter des Besitzers, und bezeichnet dies als eine romantische ,Petrarca-Liebe’.[40] Auch mit dem Mädchen Albine Ruprich verbindet ihn eine Freundschaft, die sich dann 1914 vierzehnjährig ihm zuliebe nackt fotografieren lässt.[41] Ende 1915 liebt seine ganze Seele die zwanzigjährige Schauspielerin Annie Mewes (1895-1980).[42]

Altenberg hatte zeitlebens eine in gewisser Weise unschuldige Seele. Wie sehr dies der Fall war, zeigt die folgende Schilderung:[43]

Ich verstehe das alles nicht von der Kindheit, von diesem Gegensatze nämlich der Kindertage und der späteren. Das verstehe ich nicht. Denn hierin habe ich doch eine Kontrolle, da ich 49 Jahre alt bin und mit 9 Jahren nach Vöslau kam im Sommer. [...] Die Natur bot nirgends eine Pracht und Fülle, aber jede Eiche war bekannt und beliebt auf dem schütteren trockenen Wiesengrunde. [...] Bei der ,Waldandacht’ begann eigentlich erst für mich die Wildnis. [...] Immerhin war es eine Waldschlucht, die sich hinzog ins Unendliche. Der Name ,Merkenstein’, dort, wo das Tal endete, war wie der Name ,Ewigkeit’. In Vöslau selbst liebte ich alles, alles, jeden Gartenzaun, und die Blicke in die trostlose Ebene, wo das Bahngeleise war. [...] Nun, und siehe, mit 49 Jahren besuchte ich eine teuere Freundin, die dort zur Erholung weilte, im Sommer 1906. Und alle meine Kindheitsgefühle kamen wiederauferstehend zum Vorschein, wie Eingesargtes, das lebendig wird. Nichts, nichts, nichts, hatte sich verändert, nichts war verblaßt, alles wirkte wie einst! 39 Jahre waren spurlos an meiner Seele vorübergegangen und sämtliche Impressionen des Knaben erstanden in ungeschwächter Kraft. [...]

In ungeschwächter Kraft! Nicht etwa als blasse oder sonstwie bloß wehmütige, nostalgische Erinnerungen, sondern ,nichts war verblaßt’, ,alles wirkte wie einst’. Vier Jahrzehnte waren ,spurlos’ vorübergegangen. – Solche Äußerungen muss man ernst nehmen, denn sie sind der Schlüssel zu der Frage, warum Altenberg mit einer so außerordentlichen Empfindsamkeit das Wesen der Mädchen lieben konnte. Man müsste die Antwort auf diese Frage selbst in größtmöglicher Zartheit zu empfinden versuchen. Etwas in Altenbergs Seele war nie gealtert, im Sinne von: verhärtet, abgestumpft, ins Gewöhnliche hinabgesunken. Sondern seine Seele hat sich immer in jener Sphäre gehalten, in der auch die Empfindung der Verehrung lebt, der Hingabe, des Idealismus überhaupt. Es ist eine Sphäre, in der das ursprüngliche Leben der Seele webt und atmet, in der die Seele wahrhaft ist, lebendiges Sein hat. Diese ur-lebendige Sphäre hat Altenbergs Seele nie verlassen...

Und so waren die große Liebe seines Lebens die Mädchen – die jene Sphäre auch nie verlassen, bis sie eines Tages aufhören, Mädchen zu sein...
 

Fußnoten


[1] In Wirklichkeit war dies immer wieder mit größten Schmerzen verbunden. Beispielhaft ist ein Brief vom 24.11.1895: ,[...] Hunderte würden bei den körperlichen Martern, welche mich bei lebendigem Leibe aufzehren, sich eher eine Kugel hineinbringen als im November-Walde vor Entzückung fast vergehen. Mein Leben zählt nicht mehr lange, da meine körperlichen Qualen entsetzlich werden. Ich ringe mir das Glück an der Welten-Schönheit keuchend ab.’ Leo A. Lensing: Die Selbsterfindung eines Dichters. Briefe und Dokumente 1892-1896. Göttingen 2009, S. 59.

[2] Wikipedia: Peter Altenberg. • Werke: 1896 ,Wie ich es sehe’, 1897 ,Ashantee’, 1901 ,Was der Tag mir zuträgt’, 1906 ,Prodromos’, 1908 ,Märchen des Lebens’ und ,Die Auswahl aus meinen Büchern’, 1909 ,Bilderbögen des kleinen Lebens’ (dies im Verlag Erich Reiss), 1911 ,Neues Altes’, 1913 ,Semmering 1912’, 1915 ,Fechsung’, 1916 ,Nachfechsung’, 1918 ,Vita ipsa’, 1919 ,Mein Lebensabend’. Fechsung bedeutet Ernte.

[3] Zacharias Konrad Lecher (1829–1905).

[4] Richard Engländer alias Peter Altenberg. www.viennatouristguide.at. Auch für das Folgende. • Berthas Schwester Emma heiratete den Nachbarn Adolf Lorenz, ihr Sohn wurde der berühmte Verhaltensforscher Konrad Lorenz.

[5] Egon Friedell: Peter Altenberg zu seinem fünfzigsten Geburtstag, in: Bilderbögen des kleinen Lebens. Berlin 1909, S. 207-218, hier 210f. • Auf einem heutigen Blog wird Altenberg treffenderweise auch als der ,Stammvater aller Blogger’ bezeichnet. derfuchsbau.wordpress.com, 25.9.2006.

[6],Die Japaner malen einen Blüthenzweig und es ist der ganze Frühling. Bei uns malen sie den ganzen Frühling und es ist kaum ein Blüthenzweig.’, heißt es in ,Der Besuch’, in: Wie ich es sehe. Berlin 4.1912, S. 112. Archive.org. • In einer anderen Skizze lässt er sich von einem imaginären Gesprächspartner mit dem berühmten Maler Hokusai vergleichen, beide hätten das ,pars pro toto’, das Erwecken einer ganzen Welt durch wenige Details, meisterhaft beherrscht. ,Ideal-Komplimente’, in: Mein Lebensabend. Berlin 1919, S. 162f. www.zeno.org. • Schon am 19.10.1894 schrieb er in einem Brief: ,Ich bin tief unglücklich verliebt in Japan. Dieses Buch [Perre Loti: Madame Chrysantheme, Paris 1888, H.N.] hat mir gezeigt, in welche Welt ich gehöre.’ Leo A. Lensing: Die Selbsterfindung eines Dichters. Briefe und Dokumente 1892-1896. Göttingen 2009, S. 24. • Am 30.10.1895 schrieb er über seinen Stil auch: ,Es gibt nur eine einzige wahre Auffassung meiner Sachen: Ein Radirer der Schreibekunst, ein Max Klinger derselben; ein [James McNeill] Whistler.’ Ebd., S. 50. Beide Künstler werden ab 1898 in der Wiener Secession starken Widerhall finden. Ebd., S. 150.

[7] Brief vom 12.7.1894, zit. nach Lensing, a.a.O., S. 23.

[8] Diese beiden werden wir im siebten Band noch näher kennenlernen als Dichter der ,femme fragile’.

[9] Hermann Bahr (1863-1934), Schriftsteller, Dramatiker und Kritiker, war einflussreicher Wortführer der damaligen Strömungen vom Naturalismus über Wiener Moderne bis hin zum Expressionismus. Er hatte persönlichen Umgang mit nahezu allen damaligen Größen wie den Brüdern Mann, Hauptmann, Wedekind bis hin zu Ibsen, Shaw und Zola, in Wien natürlich mit Viktor Adler, Altenberg, Burckhard, Friedell, Hofmannsthal, Herzl, Klimt, Strauss und Zweig. Wikipedia: Hermann Bahr.

[10] In: Semmering 1912. Berlin 1913. Projekt Gutenberg. • Zeitlich käme frühestens Altenbergs 35. Jahr in Frage, 1894 wurde ,Die Zeit’ von Bahr und anderen gegründet. Ins selbe Jahr fällt obiger Brief, der auf einen ganz frühen Brief Schnitzlers antwortet. Aber noch Ende 1895 wurden Altenbergs Beiträge von der ,Zeit’ zurückgewiesen (siehe Fußnote Seite 210). Bahr äußerte sich erst im Februar 1896 sehr positiv gegenüber Altenberg, worauf der ihn auf die ,Lokale Chronik’ hinwies, die Bahr also offenbar nicht gekannt hatte. Lensing, a.a.O., S. 62 & 65.

[11] Siehe auch: ,Später schickte er hinter meinem Rücken die in Nachtkästchen, Tischlade, Kleiderkiste etc. etc. verstreut liegenden Manuskripte meines ersten Buches „Wie ich es sehe“ an den ersten Verleger Deutschlands in modernibus, S. Fischer, in Berlin.’ Wie ich mir Karl Kraus „gewann“, in: Vita ipsa. Berlin 1918, S. 165f. Archive.org. • Fischer wiederum wurde von seiner Frau gewonnen, die damals die Lektorin war: ,Auf Peter Altenberg bin ich stolz, denn ich habe ihn ,entdeckt’. [...] Gleich beim ersten Lesen hatte ich ein gutes Gefühl für die kleinen, locker gefügten Skizzen: Jugend, Liebe und der Zauber des alten Österreich lagen darin... Mein Mann fand mich in Tränen über dem Manuskripte, und das war die beste und wortloseste Empfehlung zur Annahme.’ Zitiert nach Hans Christian Kosler (Hg.): Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt am Main 1984, S. 242.

[12] Die Selbstironie Altenbergs lässt ihn bei aller ihm oft nachgesagten ,Egozentrik’ stets demütig bleiben – hier endet er mit den Worten: ,Alle zusammen jedoch haben mich „gemacht“. Und was bin ich geworden?! Ein Schnorrer!’ • Später, 1911, schreibt er an anderer Stelle in Bezug auf einen Kritiker, der ihm jegliches Talent absprach: ,Ich habe mich mein ganzes Leben lang redlich geplagt, gar nichts zu leisten, und jetzt will man mich nicht einmal für ein Genie halten, das geht nicht, irgend etwas muß man doch vorstellen [= darstellen, sein, H.N.] in einer geordneten Gesellschaft.’ Egon Friedell (Hg.): Das Altenbergbuch, Leipzig/Wien 1922, S. 390. Archive.org. • Dieses auf Hilfe angewiesene ,Schnorrertum’ wurde zu seinem Markenzeichen und stand ihm hundertmal besser als das von sich selbst überzeugte verkannte Genie um 1892 bis zu seinem Durchbruch. Nicht mit geistvollen Essays, sondern mit seinen unverwechselbaren Skizzen wurde Altenberg der, der er war – und als prophetisch-mahnender Seelenrufer. Und in diese Mahnungen durfte er dann wiederum seine ganze Überzeugung legen. Sie dienten nicht mehr seinem Bekanntwerden, sondern nur den verkündeten Wahrheiten selbst.

[13] Stefan Grossmann: Ich war begeistert. Berlin 1930, zitiert nach Hans Christian Kosler (Hg.): Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt am Main 1984, S. 116.

[14] Eckstein wurde durch Franz Hartmann in die Theosophie eingeführt. 1886 erhielt er eine von Helena Petrovna Blavatsky unterzeichnete Stiftungsurkunde für die Wiener Loge der Theosophischen Gesellschaft, die er 1887 gründete. Er war mit Gustav Meyrink befreundet und verkehrte mit Rudolf Steiner, der ihn sehr schätzte. Mit seiner 1898 geheirateten Frau führte er in Baden bei Wien einen Salon, in dem Altenberg, Schnitzler, Kraus und Loos verkehrten. Bei literarischen Stammtischen in Wiener Cafés traf Eckstein auch Salten, Hofmannsthal, Werfel, Rilke, Musil, Trotzki und Bruckner, dessen Schüler und späterer Mäzen und Privatsekretär er war. Ecksteins Schwester Emma erhielt durch Freuds Freund Wilhelm Fließ eine katastrophale Nasenoperation und ging als Irma in die Geschichte der Psychoanalyse ein. Wikipedia: Fritz Eckstein.

[15] Ricarda Dick: Peter Altenbergs Bildwelt. Göttingen 2009, S. 15-20. Demnach begann Altenberg im Dezember 1891 mit schriftstellerischen Versuchen, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur ersten Wiener Aufführung von Hauptmanns ,Einsame Menschen’, das ihn grenzenlos begeistert. Er wendet sich mit seinen Versuchen offenbar an verschiedene Persönlichkeiten, will gegenüber Bahr z.B. Hauptmann und Ibsen streichen, die dieser nicht mag. Seine [fünf Jahre jüngere, H.N.] Freundin ,Ännie’ Holitscher, mit der er sich brieflich immer wieder austauscht, setzt sich ebenfalls für ihn ein. Anfang 1892 habe ihm Friedrich Schik, der Theaterkritiker der ,Wiener Rundschau’, überragende Begabung attestiert. Schik wendet sich an Friedrich Michael Fels, einen Mitarbeiter der ,Modernen Rundschau’, der sich im November 1892 ,sehr günstig’ äußert. Schließlich weist Schnitzler Hofmannsthal am 11.1.1893 auf einen Aufsatz Altenbergs über Ibsens ,Baumeister Solness’ hin, den Schik ihrer Aufmerksamkeit empfehle. Schon Anfang 1894 arbeitet er noch ohne Verleger an seinem Buch ,Wie ich es sehe’, das dann im April 1896 bei Fischer erscheint und das Altenberg bis in den Zeilensatz hinein betreute. Bahr bespricht es enthusiastisch in ,Die Zeit’. Noch im November 1895 hatte Altenberg sich bei Ännie Holitscher beklagt, dass seine Beiträge von der ,Zeit’ abgewiesen werden. Am 21.1.1896 erscheint als erster gedruckter Text von ihm die schon erwähnte ,Locale Chronik’ in der kurzlebigen Wiener Zeitschrift ,Liebelei’. • Eine Dokumentation früher Briefe bringt weitere Details:
● Leo A. Lensing: Die Selbsterfindung eines Dichters. Briefe und Dokumente 1892-1896. Göttingen 2009. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. Ohne Zweifel zirkulierten Altenbergs Skizzen schon 1893 im Kreis der Jung-Wiener (Beer-Hofmann, Hofmannsthal u.a.).[176] Das Manuskript von ,Wie ich es sehe’ schickte Kraus im Sommer 1895 an S. Fischer.[141] Im Oktober erfolgt das Layout.[36,42] Noch vor dem Buch erschien dann wie erwähnt die Skizze ,Lokale Chronik’, offenbar von Kraus vermittelt,[177] elf Tage später die Skizze ,Hutschen’.[41]

[16] Kokoschka malte zum Beispiel ein Porträt der englischen Tänzerin Bessie Bruce (1886-1921), die er 1909 gemeinsam mit Loos in einem Sanatorium besuchte, als sie mit einer Tuberkulose ihre Karriere aufgeben musste. 1913 war sie mit Loos, Altenberg und Kraus in Venedig. Loos und Altenberg hatten sie 1905 in Wien gesehen, beide verehrten sie, aber sie wandte sich Loos zu – wie 1902 schon Lina Loos, Schauspielschülerin und Tochter eines Café-Besitzers. Hans Bisanz: Peter Altenberg: Mein äußerstes Ideal. Altenbergs Photosammlung von geliebten Frauen, Freunden und Orten. Wien 1987, S. 44 & 60.

[17] Eine der vielen Fotografien in seinem kleinen Zimmer im fünften Stock des Graben-Hotels zeigt Lilith Lang (geb. 1891), Tochter der Frauenrechtlerin Marie Lang, die 1899 mit Rosa Mayreder – beide wurden von Rudolf Steiner sehr geschätzt – den ,Wiener Frauen Club’ gründete, dessen Räume von Loos eingerichtet wurden. Liliths Bruder Erwin heiratete 1910 die Tänzerin Grete Wiesenthal, ihr Bruder Heinrich nahm sich 1904 wegen Lina Loos das Leben. Bisanz, a.a.O., S. 50. • Ein weiteres Foto zeigt die anmutige Gestalt von Clotilde von Derp (geb. 1892), einer auch von Rilke und Kolbe verehrten Pionierin des Ausdruckstanzes. Auf ihr Foto schrieb Altenberg Ende 1917: ,Äußerstes Ideal meines ganzen, Ideale suchenden, Lebens’. Ebd., S. 102.

[18] Hans Christian Kosler (Hg.): Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt am Main 1984, S. 7.

[19] Ricarda Huch schrieb ihm, sein Buch sei das erste deutsche Buch, das ihr tiefes Interesse errege – so Altenberg am 26.6.1896 an seinen Verleger Samuel Fischer, zitiert ebd., S. 119. • Am 29.10.1896 schreibt Schnitzler an Altenberg, gestern habe Gerhart Hauptmann ihm gesagt, ,seit Jahren habe kein Buch einen so starken Eindruck auf ihn gemacht als das Ihre’.[114]

[20] Egon Friedell (Hg.): Das Altenbergbuch. Leipzig/Wien 1922, S. 11. Archive.org. • Neben vielen Briefen Altenbergs selbst versammelt es auch Rückblicke von den Brüdern Mann, Bahr, Hofmannsthal, Salten und vielen anderen und manche Anekdote.

[21] Ebd., S. 12.

[22] J. S.: Wie ich es sehe. Frankfurter Zeitung, 8.6.1896.[94f] • Otto Stoessl schrieb: ,Seine Stimmungen sind wie die Lerchen, die so wunderbar und jubelnd in den Himmel steigen und plötzlich wie Steine herunterfallen. | Und auf einmal wird man atemlos. Man sieht auf den Grund der Dinge und ahnt das Verborgene. [...] | [...] Prosa, die selten, aber dann wunderbar tief sich auszuweiten und auszuatmen scheint, so daß die heutigen Worte, wie wir sie schon einmal nannten, diese Dienstboten des Verstandes und der Gefühle, plötzlich Königinnen werden.’ Otto Stoessl (1896): Peter Altenberg. Das Magazin für Litteratur 65(26), Sp. 812-818.[98,101f] • Und ein anderer: ,So mahnt denn Altenberg sehr stark an jene schimmernden Zeiten der Ritterherrlichkeit, wo Frauen-, Gottes- und Herrendienst das Hauptwerk des Edlen waren. [...] | Denn Peter Altenberg ist ein Meister der Andeutung. [...] In dieser Hinsicht ist er direkter Sprößling der Japaner und Präraffaeliten. Er giebt ein Wort, und es ist ein Satz. Er giebt einen Satz, und es ist eine Skizze. Er giebt eine kurze, zehn Zeilen lange Skizze, und es ist eine ganze, große, leuchtende Welt.’ Rudolf Strauß (1896): Peter Altenberg. Wie ich es sehe. Die Gesellschaft 12(Juni), 823-825.[104] • Tatsächlich zählte auch Altenberg die Bilder des Prärafaeliten Burne-Jones zu den ,Unvergesslichkeiten’. Brief vom 20.3.1896.[66]

[23] Felix Salten: Das österreichische Antlitz. Berlin 1909, zitiert in Hans Christian Kosler (Hg.): Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt am Main 1984, S. 212f. • Der Gegensatz zu Altenberg war der seelenlose ,moderne Kulturmensch’, so sagt es auch Stefan Grossmann: ,Eigentlich hat er niemals ein dauerndes Verhältnis zu jenem leeren, blutlosen Typus: moderner Culturmensch finden können.’ Stefan Grossmann: Ich war begeistert. Berlin 1930, zitiert in Kosler, ebd., S. 216.

[24] Kosler, ebd., S. 168, Abdruck einer in der ,Fackel’ vom 22.9.1910 erschienenen Anzeige. • Altenberg litt damals an einem schweren Nervenleiden.

[25] Ebd., S. 217 & Wikisource: Peter Altenberg (Grabrede von Karl Kraus). • Und Hermann Bahr schrieb: ,Wenn einst die ganze Literatur dieser Zeit vergessen ist, wird das unvergängliche Gedicht, das Peter Altenbergs Leben war, noch dankbaren Enkeln erglänzen.’ Egon Friedell (Hg.): Das Altenbergbuch. Leipzig/Wien 1922, S. 137.

[26] Selbstbiographie, in: Was der Tag mir zuträgt. Berlin 1901. Projekt Gutenberg.

[27] Ebd. • Sein ganzer, zarter Humor zeigt sich in folgender Stelle: ,Meine Mama war ehemals eine ganz zarte wunderschöne Dame mit edlen Händen und Füßen und schmalen Gelenken. Wie eine Gazelle. Einmal brachte mein Vater aus England ein wunderbares Mädchen mit. Er sagte zu Mama: „Dies, meine Liebe, ist Maud-Victoria. Es ist das schönste Mädchen Englands.“ Meine Mama sah, daß es wirklich das schönste Mädchen Englands sei, und sagte ganz traurig: „Wird sie nun bei uns bleiben müssen?!“ In Folge dessen war mein Vater so gerührt, daß er das „schönste Mädchen Englands“ wieder in die Heimat zurückschickte.’

[28] Ebd.

[29] Ebd.

[30] Dies ist mitnichten eine Absage an die Emanzipation, sondern eine tiefste Verehrung von Unschuld in all ihren Formen! Diese wird heute gar nicht mehr gekannt, nur abstrakt. Altenberg aber hat sie geliebt, mit der ganzen Hingabe seines Wesens. Und ebendies ist das Grundgefühl der Parthenophilie. Übrigens haben deswegen die Mädchen und Frauen auch ihn geliebt... Dasselbe Phänomen fanden wir bei Kilvert.

[31] Wie ich es sehe. Berlin 4.1912, S. 295-332, hier 295.

[32] Brief vom 11.8.1896 an Annie Holitscher. Hans Christian Kosler (Hg.): Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt am Main 1984, S. 164.

[33] Heute würde die postmoderne ,politische Korrektheit’ auch dies wieder als ,Exotisierung des Anderen’, als eine ,Zuschreibung als Fremdes’ etc. verurteilen, als eine Form des Rassismus und Sexismus. Dieses reflexartige Urteil, das selbst nur noch Standardschubladen kennt, verkennt, dass jeglicher Eros auf dem ,ganz Anderen’ beruht – und es keinerlei Eros mehr gibt, wo alles der politisch korrekte Klon des eigenen Selbst wäre. Altenberg wertet die ,süße Wildheit’ und die noch so unglaublich natürliche ,Grazie’ aber nicht einmal im Ansatz ab, sondern sie ist ihm gerade ein höchster Wert in einer Zeit und Umgebung, die all dies so sehr verloren hat. Sie hat für ihn auch nicht musealen ,Bestaunungswert’, ist auch nicht bloß das Klischee des ,edlen Wilden’, sondern er meint zutiefst, was er sagt – er erlebt dies. Nicht bewundert er sentimental dasjenige, dem er sich andererseits in abgeklärter ,Höherentwickeltheit’ gegenüberstellt, sondern für ihn ist diese Wildheit und Grazie nicht nur Vergangenheit, sondern auch Zukunft. • Daher meint er mit ,Erziehen’ auch keinesfalls ,Kultivieren’, sondern – davon kann man ganz sicher ausgehen –, den Versuch, dieses Kostbare, was er wie einen rohen Diamanten ganz unmittelbar wahrnimmt, mit der so völlig anderen europäischen Kultur so vereinbar zu machen, dass sich das Ureigene der jungen Ashanti-Frauen dabei nicht verliert. Gelänge dies, so wäre es möglich, die europäische Kultur mit diesem kostbaren Ureigenen, das noch so lebendig und unverfälscht ist, zu befruchten. • Die Formulierung ,süße Wildheit’ wiederum, die andeutet, das Männliche stelle sich dennoch offen darüber, kann bei Altenberg ebenfalls nur tief missverstanden werden. Rein kräftemäßig ist das Männliche dem Weiblichen überlegen und daher physisch dominant. Das Weibliche wird für das Männliche daher immer jene unsägliche Anmutung haben, die gerade mit den Begriffen ,Anmut’, ,Süße’ oder ,Zauber’ angedeutet ist. Diese Wildheit ist also gerade keine zerstörerische, sondern eine geradezu heilende – und ,süß’ ist hier nicht der Gegensatz zu ,ernstzunehmen’, sondern zu ,barbarisch’ oder ,dominant’. Sie ist auch berührend – weil sie in der den völligen Gegensatz bildenden europäischen Kultur zum Untergang verurteilt ist. Es sei denn, sie kann durch helfendes Eingreifen irgendwie bewahrt und beschützt werden – und genau das ist Altenbergs Anliegen. Er will den Ashanti-Frauen bewahren, was sie haben, nicht, sie anpassen. Und er würde es als den größten Verlust betrachten, würden sie sich eines Tages selbst anpassen wollen...

[34] Richard Engländer alias Peter Altenberg. www.viennatouristguide.at (mit unter anderem den beiden letztgenannten Bildern). Auch für den ganzen Absatz.

[35] Christian Wagenknecht (Hg.): Peter Altenberg. Auswahl aus seinen Büchern von Karl Kraus. Frankfurt am Main 1997. Projekt Gutenberg, Kap. 11.

[36] Ebd., Kap. 9.

[37],Sommertage, Herbsttage in Gmunden, 1903’, in: Hans Christian Kosler (Hg.): Peter Altenberg. Leben und Werk in Texten und Bildern. Frankfurt am Main 1984, S. 57f.

[38],Dekadenz. Eine junge Dame war bereits so dekadent, daß, als sie auf dem Nach-Hause-Wege ein Fiakerpferd malträtieren gesehen hatte von einem rohen Kutscher, sie zu Hause das Essen erbrechen mußte. Infolgedessen machte ihr verzweifelter Gatte die Anzeige beim Tierschutzverein. Infolgedessen werden wegen Dekadenz der Nerven künftig die Tiere nicht mehr mißhandelt werden! | Man wird es einfach nicht mehr aushalten können.’ Pròdromos. Berlin 1906, S. 104. Wikisource. • Das wäre die wahre Menschlichkeit: wenn man dies nicht mehr aushielte, wenn also das fühlende Herz diese Quälereien beenden würde. Wahre Dekadenz ist, dass man gar nicht mehr weiß, was wahres Menschentum ist – und erst recht so gar nicht mehr empfinden kann.

[39] Egon Friedell (Hg.): Das Altenbergbuch. Leipzig/Wien 1922, S. 233-250.

[40] Richard Engländer alias Peter Altenberg. www.viennatouristguide.at. • Und er dichtet in einer Notiz: ,Klara, heilige 12-jährige. Ach, melde mir den Tag, die Nacht, da Dich Natur zum Weibe macht. Auf dass ich Abschied nehme von Deinen Göttlichkeiten.’ Ebd. • Göttlich ist für ihn also gerade und nur der Mädchenleib.

[41] Zwei verschiedene Aktbilder sind über Suchmaschine zu finden.

[42] Friedell, Altenbergbuch, a.a.O., S. 30-44. ,Nie, nie, nie wird je ein Mannes-Herz [...] diese Gefühle zehrendster melancholischer Verehrung aufbringen wie ich von dem Tage an, da ich Sie [...] tiefst geführt bewundernd Leib, Anmut, Stimme, Talent und Antlitz, erschaute, nein, als das mir zugehörige, von Gott gesandte Ideal erkannte.’ Ebd., S. 42.

[43] Erinnerung, in: Märchen des Lebens, Berlin 3.1911, 7-8.1924, S. 61-63.