Parthenophilie

Balthus (1908-2001)


Balthasar Kłossowski de Rola,[1] in Paris geboren und später unter dem Namen Balthus bekannt, war ein berühmter französischer Maler, dessen Leben fast das gesamte 20. Jahrhundert abdeckte. Seine Eltern führten einen der wichtigsten Kunstsalons in Paris und später Berlin. Nach deren Trennung zog die Mutter (die Schwester des Malers Eugen Spiro) mit den Söhnen in die Schweiz, wo sie 1919 die letzte Geliebte Rilkes wurde, der auch der Patenonkel des Jungen wurde und ihm den Kosenamen Balthusz gab, woraus dann sein Künstlername entstand. Balthus entwickelte seinen eigenen Malstil,[2] der sich den zeitgenössischen Strömungen entzog und an italienischen Fresken orientierte.[3] Er war unter anderem mit Picasso, Miró, Dali, Giacometti und besonders Matisse befreundet. 1962 lernte er auf einer Japanreise die neunzehnjährige Setsuko Ideta (geb. 1943) kennen, die er 1967 heiratete und mit der er noch zwei Kinder bekam. 1976 erwarb er ein Chalet in der Schweiz, wo er zurückgezogen noch fünfundzwanzig Jahre bis zu seinem Tod lebte.[4]

Schon 1920, mit noch nicht dreizehn Jahren, illustriert Balthus einen chinesischen Roman.[5] 1921 veröffentlicht Rilke mit einem Vorwort dessen gemalte Bildergeschichte der ihm zugelaufenen und wieder verschwundenen Katze Mitsou. 1924 besucht Balthus Akademie-Kurse und zeigt seine Werke Pierre Bonnard und Maurice Dennis, die ihm raten, Poussin im Louvre zu kopieren. 1926 kopiert er in Arezzo und Florenz Fresken von Piero della Francesco und Masaccio, 1927 gestaltet er Fresken in der Kirche auf dem Beatenberg.[6] 1929 zeigt die Züricher Galerie Forter erstmals seine Werke, 1932 zeichnet er Illustrationen zu Emily Brontës ,Sturmhöhe’. 1933 entstand sein Bild ,Die Straße’, das heute im MoMA in New York hängt.[7] 1934 hat er seine erste Einzelausstellung und lernt Giacometti kennen. 1937 kauft Picasso sein Bild ,Die Kinder Blanchard’. 1945 lernt Balthus den Schriftsteller André Malraux kennen,[8] der sich De Gaulle anschließt und später dessen Kulturminister wird und Balthus 1961 zum Direktor der Académie de France an die Villa Medici in Rom beruft, die unter Balthus’ Leitung samt Parkanlage bis 1976 in ihrem ursprünglichen Zustand wiederhergestellt wurde.[9]

Balthus hinterließ im Laufe der vielen Jahrzehnte ,nur’ rund 350 Gemälde und 1600 Zeichnungen, aber allein die ihm gewidmeten Einzelausstellungen zeigen die ihm zugemessene Bedeutung. In Auswahl waren dies:[10]

     1934 Paris, Galerie Pierre
     1938 New York, Pierre Matisse Gallery (auch 1949, 1957, 1962, 1967, 1977)
     1943 Genf, Galerie Georges Moos
     1946 Paris, Galerie Beaux-Arts (Wildenstein)
     1956 New York, Museum of Modern Art
     1958 Rom, Obelisco Gallery
     1964 Chicago, Arts Club of Chicago
     1966 New York, Museum of Modern Art
     1968 London, Tate Gallery
     1973 Marseille, Musée Cantini
     1978 Paris, Galerie Claude Bernard
     1980 Chicago, Museum of Contemporary Art
     1983 Paris, Centre Georges Pompidou
     1984 New York, Metropolitan Museum of Art
     1984 Kyoto, Municipal Museum of Art
     1993 Tokyo Station Gallery
     1994 Bern, Kunstmuseum
     1995 Peking, Palace of Fine Arts
     1996 Madrid, Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia
     2001 New York, Metropolitan Museum of Art
     2001 Venedig, Palazzo Grassi
     2007 Köln, Museum Ludwig
     2013 New York, Metropolitan Museum of Art
     2014 Tokyo, Metropolitan Art Museum
     2015 Paris, Galerie Gagosian
     2018 Riehen/Basel, Fondation Beyeler
     2019 Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza

In diesem Gesamtwerk finden sich nun aber immer wieder Mädchengestalten in letztlich erotischen Posen – erotisch allein schon durch ihre Nacktheit oder etwa durch einen beim Lesen eines Buches hochgerutschten Rock.

1928 begegnet der junge Balthus der sechzehnjährigen Antoinette de Watteville (geb. 1912), Schwester eines Freundes, wieder und verliebt sich in sie. Er umwirbt sie, bis sie ihn 1937 heiratet. Der deutsche Wikipedia-Eintrag erwähnt sie überhaupt nicht, jedoch den von ihren gemeinsamen Söhnen herausgegebenen eindrucksvollen Briefwechsel.[11] Sie wird auch sein Modell für das an die ,Sturmhöhe’-Illustrationen anknüpfende Bild ,Cathys Toilette’ (1933) mit einer völlig nackten Frauengestalt.[12] Im gleichen Jahr entsteht ,Die Straße’ (1933), in der im linken Bildteil ein junger Chinese versucht, ein Mädchen zu vergewaltigen, indem er es von hinten festhält und ihm unter den Rock greifen will.[13]

1934 entsteht ein noch berüchtigteres Bild, über das er Antoinette schreibt:[14]

Ich bereite ein neues Gemälde vor. Ein ziemlich gefährliches Gemälde. Kann ich es wagen, Dir davon zu erzählen? [...] Es handelt sich um eine erotische Szene. Aber versteh mich recht, sie hat nichts Belustigendes, nichts von jenen üblichen kleinen, schmutzigen Gemeinheiten, die man sich heimlich zeigt und einander dabei verschwörerisch mit den Ellenbogen anstösst. Nein, ich will in aller Öffentlichkeit, mit Wahrhaftigkeit und Gefühl die gesamte packende Tragik der Dramen des Fleisches verkünden, ich will die unerschütterlichen Gesetze des Instinkts laut herausrufen. Und so der Kunst ihren leidenschaftlichen Gehalt wiedergeben. Tod den Scheinheiligen!
[...] eine junge Frau hat einem kleinen Mädchen eine Gitarrenstunde gegeben, und danach spielt sie weiter Gitarre auf dem Mädchen. Nachdem sie die Saiten des Instruments zum Erklingen gebracht hat, bringt sie einen Körper zum Erklingen [...].

Auf dem Bild liegt ein Mädchen mit völlig entblößtem Unterleib über den Knien der Gitarrenlehrerin, die es an ihren Locken und in unmittelbarer Nähe ihrer Scham fasst, während das Mädchen sich an der Bluse der Frau festhält, was ihre Brust entblößt.[15] Bei Balthus’ erster Ausstellung durften es nur ausgesuchte Kunden im Hinterzimmer der Galerie sehen, und es erregte dennoch einen Sturm der Entrüstung. Erst 1977 in New York wurde es das einzige Mal öffentlich ausgestellt, nachdem es vor dem Zoll versteckt worden war. Es wurde dann Dauerleihgabe des Museum of Modern Art, bis die Beiratsvorsitzende Blanchette Rockefeller das Museum zwang, das Bild zurückzugeben. 2001 war es in Balthus’ Todesjahr das einzige Mal in Europa (Venedig) zu sehen.[16]

Einen Monat nach dem eben zitierten Brief schreibt Balthus an Antoinette:[17]

Nein, man muss heutzutage sehr laut schreien, wenn man gehört werden möchte. Es bedarf sehr gewalttätiger Dinge. Man muss sich mit Pickeln und Hacken, mit Bohrmaschinen ausrüsten, um das Künstliche zu durchstossen, um den Asphalt aufzusprengen und die Erde, die gute Erde wiederzufinden – Deswegen möchte ich [am Rand: unter anderem natürlich] erotische Gemälde malen (dieser Erotismus muss natürlich von höchster Qualität sein – und er wird es sein, da ich ihn mache). [...], man muss den Instinkt erreichen; der des Unterleibs ist noch zart genug, um leicht berührt zu werden, und er ist es, der in sich die meiste Dynamik birgt. Im Übrigen ist Erotismus in der Kunst heute das einzige, was die Marionetten, von denen ich sprach, noch in Aufruhr versetzt. Ihre Reaktion nimmt im Allgemeinen die Form von Skandal oder Zensur an.[18]

Noch viel deutlicher wird seine Intention durch die Worte davor – diese sprechen von einer ungeheuren Gefühlslähmung eines ganzen Zeitalters und sind von ungeahnter Modernität:[19]

Was heutzutage [...] erschreckend ist, ist die Gleichgültigkeit der Leute angesichts der Äusserungen des Geistes. Der heutige Mensch kann nicht mehr menschlich reagieren, denn er ist fast völlig mechanisiert. Man spricht mit einem Herrn: plötzlich bemerkt man, dass es eine Marionette ist. Man wendet sich an einen anderen: es ist ein Automat. An einen dritten, einen Intellektuellen: es ist ein Hanswurst ohne Unterleib. [...] Alle sind nur mehr Puppen! Tote! [...]
Der Intellektuelle [...] ist der Mörder, der den Geist getötet hat, indem er ihn zu verteidigen glaubte, der ihn stets [...] vom Lebenssaft trennt.[20]

Ungeachtet aller Empörung und Scheu der Öffentlichkeit, sich auf dieses Bild einzulassen, war es kein geringerer als der australische Kunstkritiker Robert Hughes (1938-2012) – von einem Artikel im ,Guardian’ nach seinem Tod als ,der größte Kunstkritiker unserer Zeit’ bezeichnet –,[21] der über das Bild schrieb, es sei ,eines der wenigen Meisterwerke unter den erotischen Malereien westlicher Künstler in den letzten fünfzig Jahren’[22]

Schon in dieser Zeit malt Balthus auch mildere Bilder. Eine Studie für den ,Traum’ (1933) zeigt ein schlafendes Mädchen mit entblößten Brüsten, erotisch und doch durch das Unbewusste voller Unschuld – fast identisch ist dann später das Bild ,Schlafendes Mädchen’ (1943).

In den Jahren nach dem Skandal seiner kleinen Pariser Ausstellung kann sich Balthus nur mit lästigen Auftragsarbeiten über Wasser halten. Dann aber malt er von 1936 bis 1939 zehn Bilder der zuerst elfjährigen Nachbartochter Thérèse.[23]

Berühmt ist das Bild ,Träumende Therese’ (1938): ein dreizehnjähriges Mädchen in weißem Hemd und rotem Kleid, das in einer träumerischen Pose, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, sich des Betrachters nicht bewusst ist. Durch ihr hochgezogenes linkes Bein wird ihre Unterwäsche unmittelbar sichtbar.

Ganz ähnlich ist auch schon ein Jahr zuvor ,Mädchen mit Katze’ (1937). Kaum weniger erotisch ist aber auch ,Thérèse auf der Sitzbank’ (1939), wo das Mädchen ebenfalls ein Bein anwinkelt, sich auf den Boden stützt und sein Kleid sehr weit hochrutscht. Im selben Jahr malt Balthus auch ,Das Opfer’ (1939). Ein etwa vierzehnjähriges Mädchen liegt hier völlig nackt auf einem weißen Bettlaken und könnte auch tot sein.[24]

1946 lernt Balthus die sechzehnjährige Laurence Bataille kennen, Tochter des Schriftstellers Georges Bataille. Später fragt er sie, ob er sie porträtieren dürfe, was sie verwundert, weil sie sich selbst hässlich findet. 1947 malt er sie immer wieder, insbesondere an den schulfreien Donnerstagen, und jedes Mal muss sie ihr Kleid etwas mehr anheben. Schließlich wird sie auch seine Geliebte.[25]

Sieben Jahre später hat der Maler wieder ein anderes Modell: Frédérique Tison, die Tochter der Frau seines Bruders Pierre. Das ebenfalls anfangs sechzehnjährige Mädchen lebt mit Balthus 1954 bis 1961.[26]

Obwohl Balthus nicht nur Mädchenbilder malt, bleiben es doch diese, die ihn auch für die Nachwelt für immer bekannt machen werden. ,Mädchen auf einem Bett’ (1950) zeigt ein nacktes Mädchen mit einem träumerischen Blick, aufgestützt auf einen Arm. Weitere Beispiele nackter Mädchen sind: ,Das Zimmer’ (1952-54), ,Der Nachtfalter’ (1959-60), ,Akt im Profil’ (1973-77), ,Beim Aufstehen’ (ca. 1977), ,Katze und Spiegel’ (1977-80), ,Akt mit blauem Tuch’ (1980-82), ,Akt mit Gitarre’ (1986), ,Traum einer Sommernacht’ (2000) oder sein allerletztes Bild ,Junges Mädchen mit Mandoline’ (2001-01).

Besonders anmutig ist der ,Schlummernde Akt’ (1980), ein Mädchen mit angewinkeltem Bein und nur mit Strümpfen bekleidet auf einer Bank in einer Fensterecke. Wunderschön ist auch das schlichte Bild ,Akt mit Spiegel’ (1982), das einen ganz in Ockertönen gehaltenen Raumausschnitt mit einem hochgewachsenen, aber noch sehr jungen Mädchen mit goldblondem Haar[27] und zart wachsendem Brustansatz zeigt.

Das Motiv des nackten Mädchens und seiner anziehenden Schönheit hat den Maler Balthus über ein halbes Jahrhundert lang beschäftigt.

                                                                                                                                       *

Es ist klar, dass auch Balthus heute aus der modernen Sicht beurteilt wird, die von der ,Missbrauchsdebatte’ geprägt ist. Diese Sicht ist, wie wir immer wieder sehen werden, bequem, aber sie wirft alles in einen Topf und entzieht sich dem Mysterium des Mädchens, indem sie es ... kriminalisiert.

Erst sechs Jahre nach Balthus’ Tod zeigte das Kölner Museum Ludwig als erstes deutsches Museum überhaupt 2007 eine Ausstellung des Künstlers. Kein deutsches Museum besitzt ein Balthus-Bild, und auch die Kölner Ausstellung ist der Kuratorin des New Yorker Metropolitan Museum, Sabine Rewald, zu verdanken.[28]

In einer Besprechung mit dem Titel ,Der schuldige Blick’ heißt es:[29]

Der Schatten Proust’scher Mädchenblüte liegt über diesen Bildern, aber auch die Direktheit der Nabokov’schen Lolita, das Wilde, Ungezügelte, Unbotmäßige von Emily Brontës Catherine. Doch nicht nur Heranwachsenden hat Balthus sich zugewandt, sondern auch Kindern. Und es sind vor allem diese Kinderbilder, die seinen Ruhm begründeten und seinen Ruf verdarben. [...] Vor allem in den Porträts der 10-jährigen Thérèse Blanchard,[30] in der Langeweile ob der langen Malsitzung, die aus ihrem leeren, nach innen gekehrten Blick spricht,[31] in ihrer unkindlichen Reife erkennt man Balthus’ außergewöhnliches Einfühlungsvermögen. [...]
Aber mindestens ebenso deutlich wird: Diese Kinder zu malen[,] war kein unschuldiger Akt. Der Blick des Erwachsenen [...] ist ein voyeuristischer, ein missbräuchlicher Blick. Die Faszination, mit der er [...] gemalt hat, duftendes Haar und schimmernde Haut, weiße Höschen und heruntergerutschte Hemdchen, ist nicht nur ästhetisch begründet. Und der Betrachter, der, hingerissen ob ihrer Raffinesse, vor den Bildern steht, wird gezwungen, diesen Blick zu teilen. Daher das Unbehagen, das Balthus heute noch hervorruft.

In gleichem Sinne heißt es mit einem einzigen Satz auf Wikipedia:[32]

Balthus’ Lieblingssujet waren unterschwellig sexuell getönte Portraits von Mädchen im Alter von etwa 13 Jahren, die sich ihrer Wirkung noch nicht bewusst sind und damit den erwachsenen Betrachter kompromittieren.

In diesen Aussagen liegt selbst etwas Faszinierendes. Die Porträts sollen den Betrachter angeblich ,kompromittieren’, man wird ,gezwungen diesen Blick zu teilen’, aber gleichzeitig ist man auch ,hingerissen’... In einer Besprechung des ,Stern’ heißt es:[33]

Seine Darstellungen kindlicher Mädchenkörper führen ohne Zweifel in einen Grenzbereich des sittlichen Empfindens. Seine Bilder sind unbequem in ihrer Direktheit, machen es dem Betrachter nicht leicht, sich ihrem erotischen Sog zu entziehen. Der Maler führt nicht nur sich selbst in Versuchung, sondern macht auch aus seinem Publikum unfreiwillige Voyeure, die visuell auf glattes Eis und manchmal auch auf verbotenes Terrain geraten können. Balthus’ Bilder verwirren und verstören, wenn wir neugierig diese unschuldig-lasziv posierenden jungen Mädchen anschauen, die scheinbar ausdruckslos und unbeeindruckt dem Maler Modell gestanden haben. Wahrscheinlich ist es genau dieser Reiz: ohne Risiko einen sexualisierten Blick auf diese Kindfrauen werfen zu dürfen.

Hier wird das moralische Dilemma des Betrachters sehr genau ausgedrückt: Er ist sehr wohl neugierig, aber gleichzeitig verstört. Und worüber? Vielleicht über eigene Empfindungen, die er sich selbst nicht gestattet? Warum denn machen es seine Bilder einem ,nicht leicht’, sich ihrem ,erotischen Sog’ zu entziehen? Vielleicht weil es die Seele selbst ist, die sich erotisch zu diesen Mädchen hingezogen fühlt? Andernfalls dürfte es doch ein Leichtes sein, sich einem Sog zu entziehen, der für einen gar nicht existiert.

Im eben zitierten Artikel heißt es weiter:

Sie ziehen an und stoßen ab, hinterlassen in uns das ungute Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Wer die Balthus-Bilder sieht, wird sich fragen: Mache ich mich schuldig, wenn ich aufgewühlt bin von so viel unschuldiger Erotik?

Das zeigt die ganze Hilflosigkeit der modernen Seele! Sie merkt, dass sie etwas fühlt, aber sie weiß nicht einmal, ob dies ,sein darf’ – aber wer soll dies denn beurteilen? Wem gibt sie denn das Recht darüber? Und zugleich: Wird sie sich denn über ihre eigenen Gefühle überhaupt klar? Weiß sie, was genau sie fühlt – oder weiß sie nicht einmal dies, flüchtet sich aber bereits in das ,Ich darf nicht’? Was darf sie nicht?

Der ,Stern’-Artikel weiter:

Sein Gemälde ,Therese, träumend’ von 1938 ist anrührend schön, berührt unsere Sinne und – stößt uns ab. Das heranwachsende Mädchen räkelt sich lasziv mit geschlossenen Augen, sein knallroter Rock ist weit, viel zu weit über den Oberschenkel gerutscht und zwingt den Blick zwischen ihre Beine, auf ein strahlend weißes Stückchen Stoff. Seine Arme hat es über dem seitlich geneigten Kopf verschränkt, eine Pose, die zwar entspannt und unverkrampft wirkt, die aber ganz und gar nicht unschuldig wirkt. Zumal in der unteren Bildmitte sich ein kleines Kätzchen voller Genuss an einem Schälchen Milch labt.

Welch ein verkrampftes Kommentieren und welch verkrampfte Versuche, sich irgendwie zu diesem Bild zu stellen! Wie widersprüchlich kann man innerhalb eines einzigen Satzes sein? Das Bild soll anrührend schön sein, einen berühren – und dennoch abstoßen? Die Kommentatorin weiß selbst nicht, was sie will. Weiß sie überhaupt, was zum Beispiel ,lasziv’ bedeutet? Meint sie damit ,unzüchtig’? Oder gar lüstern? Will sie dem Mädchen vorschreiben, was es tun soll oder darf? Oder will sie behaupten, was das Mädchen innerlich fühlt? Man sieht dies nicht – und am ehesten sieht man immer noch Unschuld. Wirft sie dem Mädchen etwa vor, dass seine Geste, der erhobenen Arme, die ungeschützt sogar ihren Oberkörper preisgeben, erotisch wirkt? Das Mädchen weiß von dem Betrachter gar nichts! Ist die Kommentatorin eine Anstandsdame des 18. Jahrhunderts, die das Mädchen belehren will, wie Mädchen immer zu sitzen haben und wie sie niemals träumen dürfen, um nicht lasziv zu wirken?

Und was soll das Gerede davon, dass der hochgerutschte Rock den Blick zwischen ihre Beine zwingen würde? Dies klingt wirklich fast wie der Vorwurf des Vergewaltigers an sein Opfer: ,Du hast mich gezwungen...’ Und dann soll sich die ,Schuldigkeit’ des Mädchens sogar noch steigern, weil sich ein Kätzchen zu seinen Füßen an einem Schälchen Milch labt! Wie verkrampft kann man hier denn noch Schuld von sich wegschieben und in das Bild verlagern, wo es einzig und allein darauf ankommt, wie unschuldig oder schuldig der Betrachter wird? Stattdessen aber wird in dem Artikel aus einem ,unschuldig-lasziv’ unversehens ein ,ganz und gar nicht unschuldig’ – und damit hat die eigene Seele wieder Ruh, denn sie selbst hat den Sündenbock gefunden: es ist das Mädchen.[34]

Der entscheidende Punkt ist, so viel können wir festhalten, dass Balthus’ Bilder etwas ansprechen, was in der Seele eine Realität ist – die Anziehung des Mädchens. Die Mädchen sind überhaupt keine Kindfrauen, sie sind einfach Mädchen – aber auch sie haben ein Geschlecht, und der Betrachter kann sich unmittelbar zu ihnen hingezogen fühlen, weil diese Dimension in den Bildern erscheint, sichtbar wird, dargestellt ist. Ein junges Mädchen ist zweifelsfrei anziehend – es sei denn, man blendet die sexuelle Dimension des menschlichen Daseins völlig aus. Und eben dies macht dann den ,Sog’ von Balthus’ Bildern aus – dass es im Menschen diese Dimension zweifellos gibt.

Ein Blogartikel greift Balthus’ Kunst mit folgenden Worten scharf an:[35]

Balthus besteht darauf, dass seine Bilder keinen erotischen Inhalt hätten. Das ist lächerlich unwahr. Balthus hat eine einzigartige, ja fetischistische Vorliebe für junge Mädchen. Ein ungeheurer Anteil seiner Leinwände besteht aus wenig mehr als einem Mädchen, das in einem nicht näher beschriebenen Inneren in irgendeinem entkleideten Zustand oder anders provokativ positioniert (ein verrutschter Rock, ein bezauberndes Sich-Hinstrecken) herumfaulenzt. Diese Mädchen sind nach den herrschenden sexuellen Normen und Gesetzen deutlich minderjährig. Sie sind gewöhnlich in den Anfängen der Pubertät, viel zu jung, um ungestraft angegafft zu werden.

Auch dieser Artikel kann nicht umhin, genau zu beschreiben, was die Elemente sind, die Balthus’ Bilder erotisch machen. Aber auch er will diese Erotik schlicht kriminalisieren und verbieten. Für den Schreiber dieses Artikels sind die Bilder nicht einmal mehr ,verwirrend’ – sie sind einfach nur ein Fall für das Strafrecht, und sei es in Form kollektiver Verurteilung.

Das Problem ist aber nicht Balthus, dessen Bilder, wenn man sie nicht mag, nicht anschauen muss, sondern es ist eher das Heuchlerische einer Welt, in der angeblich minderjährige Mädchen geschützt werden sollen, die aber dennoch durch und durch sexualisiert ist – so sehr, dass schon zehn-, neun-, achtjährige Mädchen in den Spiegel schauen und sich ohne ein Gramm Fett ,zu dick’ finden. Während sich die älteren Mädchen freiwillig in Shows wie ,Germany’s Next Top Model’ freiwillig prostituieren, um es einmal deutlich zu sagen, nämlich oft halb nackt fast alles mit sich machen lassen.►3

Das Problem ist weiterhin, dass bis in unsere Tage hinein eine leibfeindliche Tradition das Sexuelle grundsätzlich implizit als etwas Sündhaftes ansieht – so sehr, dass es gar nicht anders gedacht werden kann. Nur so ist es erklärbar, dass es schon verboten erscheint, durch den Blick auf das Höschen eines Mädchens bereits angezogen zu sein, weil es auch erotisch erregend ist. Verboten also ist, eine Anziehung zu empfinden, die das Mädchen selbst noch nicht empfindet, jedenfalls nicht in dem Moment.
Wie sehr will man sich eigentlich über die wahren Empfindungen der Seele und des Leibes noch belügen – bis man zugibt, dass gerade die Unschuld eines Mädchens an der Schwelle zur sexuellen Reife eine tiefgehende Erotik aufruft und zweitens, dass die Frage der ,Sündhaftigkeit’ sich nicht da stellt, wo die Seele Empfindungen hat, sondern erst da, wo sich die Frage stellt, was diese Seele dann tut.
Es ist Heuchelei höchsten Maßes, zu behaupten (zumindest als Mann), man hätte bei dem Blick auf das absichtslos sichtbar gewordene Höschen eines jungen Mädchens keine Empfindungen. Aber es gibt im Zusammenhang mit einem solchen jungen Mädchen dann eine ganz und gar unschuldige Erotik – erotische Empfindungen, die einhergehen können mit der allertiefsten Achtung vor diesem Mädchen. Empfindungen, die das Mädchen trotzdem niemals zum Objekt machen würden, sondern die aufgrund dieser unschuldigen Erotik nur um so berührter von seinem Wesen sind, das letztlich, als junges Mädchen, ein heiliges ist und bleibt.

Diese inneren Zusammenhänge innerhalb der empfindenden Seele können einer von ,Scheren im Kopf’ und reflexartig gefällten Urteilen bestimmten Öffentlichkeit niemals verständlich gemacht werden. Denn wenn bereits geurteilt ist (,der sündhafte Blick’), ist die Seele des Urteilenden bereits in diesem Urteil verhärtet. Der Kopf kann die wahren Geschehnisse der Seele, einschließlich ihrer ihr innewohnenden Unschuld, niemals nachvollziehen. Das könnte nur die Empfindung.

Der Gegensatz zur Unschuld in Form der Schuld ist nicht die Frage, ob ein Betrachter ein Mädchen mit seinem Höschen ohne alle Erotik anblicken kann – sondern wie er es überhaupt anblickt. Die berührendste Erotik kann sich mit der tiefsten Achtung verbinden – und umgekehrt kann die scheinheilige Abwesenheit aller Erotik sich mit einer unmenschlichen Indifferenz oder Schlimmerem verbinden. Man frage sich einmal, wer ,sündhafter’ ist: derjenige Mann, der ein Balthus-Mädchen so erblickt, dass er die dem Bild innewohnende Erotik ganz und gar spürt – oder ein Lehrer, der ein Mädchen dieses Alters unterrichtet, in ,professioneller Distanz’, es aber wegen einer nicht gemachten Hausaufgabe oder einer provozierenden Eigenständigkeit vor der ganzen Klasse niederbrüllt und es seine ganze Verachtung spüren lässt?

Was ist wirklich Sünde? Das muss man sich einmal fragen. Ein Mädchen zu lieben, einfach, weil es ein Mädchen ist, ist an sich niemals Sünde. Ebensowenig ist es Sünde, die erotischen Reize eines Mädchens zu malen, das von diesen Reizen noch gar nichts weiß. Und es ist auch keine Sünde, ein solches Gemälde dann zu betrachten – und den ,Sog’ auf sich wirken zu lassen, der nichts anderes ist als die unaussprechliche Anziehung des Mädchens selbst. Das Mädchen will nicht anziehen, aber es tut es bereits, weil der Betrachter das Mädchen liebt – und für seine Reize empfänglich ist; den Reiz dessen empfindet, was Unschuld und Erotik unauflösbar verbindet.

Und um es noch einmal zu wiederholen: Nicht die Erotik ist sündhaft, sondern die einzig entscheidende Frage ist, worin diese Empfindung eingebettet ist. Die ganze übrige Welt kann sich an dem gleichen Mädchen mehr versündigen als jener Eine, der es um seiner unschuldigen Erotik willen unendlich zu lieben beginnt...

Es wurde oft gesagt, dass die auf Balthus’ Bildern vielfach erscheinenden Katzen das ,Alter Ego’ des Künstlers seien – und manchmal wurde hinzugefügt, dass dies die Bilder noch abgründiger mache. Tatsache aber ist, dass eine Katze gerade kein Mann ist, sondern ein Freund des Mädchens. Man denke auch an die berühmten Bilder der Jungfrau mit dem Einhorn. Es sind Bilder einer friedvollen Vereinigung in vollkommener Unschuld.[36]

In diesem Sinne ist es aufschlussreich, dass eine andere Besprechung anlässlich der New Yorker Ausstellung 2013 zu einer ganz anderen, gegenüber der allzu schnell sich entrüstenden öffentlichen Meinung geradezu gegenteiligen Beurteilung kommt:[37]

Mit dem unvorteilhaften Haarschnitt, dem schroffen Gesichtsausdruck und den schlecht sitzenden Kleidern hatte Thérèse nichts von einem Nymphchen. So düster wie ihr Gesicht ist meist auch der Hintergrund. Beklemmend wirkt die Stimmung auch dadurch, weil der Betrachter ausgeschlossen ist. Was er sieht, geht ihn nichts an, am allerwenigsten die aufscheinende Erotik.

Demnach hätte das künstlerische Geschick des Malers gerade dafür gesorgt, dass kein ,Sog’ entsteht, sondern der Betrachter in gewisser Weise regelrecht ausgeschlossen wird und bleibt. Trotz der Erotik, die andernorts als ,voyeuristisch’ verurteilt wird, bliebe also die Unschuld des gemalten Mädchens ganz und gar gewahrt. Sündhaft wäre dann nur der Blick, der überhaupt nicht merkt, wie unschuldig die ganze Szene ist...
Aber es sind vor allem die Wissenschaftler, die Balthus in Schutz nehmen – nicht etwa, weil sie als solche ohnehin moralisch neutral wären, sondern weil sie den Maler besser kennen als das gemeine Urteil:[38]

Sabine Rewald zitiert Jean Clair, Kurator der grossen Balthus-Ausstellung im Palazzo Grassi in Venedig, der wohl die treffendste Definition von Balthus’ komplexer Persönlichkeit formuliert hat. Clair identifiziert ihn als Komplizen des weiblichen Universums, ,weil er im Zustand eines Kindes geblieben, ein unverbesserlicher und immer strafloser Beobachter dieses Universums ist’. Für Clair ist er aber auch der Herrscher in diesem Reich, ,weil er seine Krallen eingezogen und es damit verstanden hat, den Mädchen die Männlichkeit vorzuenthalten, durch die sie eines Tages aus dem Paradies vertrieben werden’. Bereits als 27-Jähriger hat sich Balthus als Katzenkönig porträtiert,[39] halb Beschützer, halb Komplize ist denn auch der Kater, der häufig auf den Mädchenbildern auftaucht.

Das ist der entscheidende Punkt: die eingezogenen Krallen. So auch ein Rezensent in der ,Zeit’ anlässlich der Ausstellung in Madrid 1996:[40]

Nie, daß Balthus den Betrachter zum Kumpanen der Intimität machte. Der Zuschauer bleibt ausgeschlossen. Er ist Eindringling. Er ist Voyeur. Er begegnet in der schutzlosen, hüllenlosen Georgette[41] den eigenen, schützenden Hüllen, und er begegnet der Empfindlichkeit und der Verletzlichkeit dieser Hüllen. Balthus’ Bilder sind nicht indiskret. Indiskret ist das Auge, das von den Bildern nicht lassen kann.

Und selbst jener vorhin zitierte Blogartikel, der behauptete, Balthus’ Mädchen seien viel zu jung, ,um ungestraft angegafft zu werden’, muss direkt darauf ergänzen:[42]

Zugegeben, die Sexualität ist hier in gewisser Weise unschuldig. Balthus [...] gibt seinen eigenen Sehnsüchten freien Lauf, zweifellos, aber er stellt auch seine Subjekte als sich mit ihrer aufkeimenden Sexualität wohlfühlend dar. [...] Balthus präsentiert Mädchen in einem Alter, das in der Kunst generell vernachlässigt wird – ein Zwischenraum zwischen Kindheit und Frausein. Obwohl passiv in ihrer Haltung, haben seine Modelle sowohl Kraft (agency) als auch Würde.

Und Balthus-Experitin Sabine Rewald vom New Yorker Metropolitan Museum sagt im Interview:[43]

Seine Bilder von Kindern sind ergreifend und sensibel, aber mit einer unterschwelligen Spannung. [...] Ja, das [eine strikte Disziplin in der Komposition, die die erotische Stimmung erhöht, H.N.] ist es, wodurch die wundervolle Spannung hineinkommt. Sehr junge Mädchen sitzen so – ungeschickt, ihre Beine schief oder offen, sich selbst entblößend. Im Bus sehe ich das ständig;[44] es ist völlig unbefangen. [...] Diese Kinder zeigen sich selbst ganz offen, scheinbar unbeobachtet, aber sie werden vom Betrachter beobachtet. Es ist diese unbefangene, natürliche Erotik, die er erforscht und zu Kunst macht.

Aber Balthus hat nicht nur gemalt – und dies führt nach seinem Tod zu neuen Angriffen. In den 90er Jahren war der Künstler zu alt, um auch die Studien noch selbst zu malen, und er nimmt die Fotografie zu Hilfe. Sein Modell ist jetzt die anfangs achtjährige Anna Wahli – die sich dann acht Jahre lang jeden Mittwoch von ihm fotografieren lässt.[45] Auf diese Weise entstanden über 2.400 Polaroidbilder. Als diese Bilder nach dem Tod des Malers veröffentlicht wurden,[46] stürzte sich diese Öffentlichkeit auf sie – und auf den Maler. Mit geschmacklosesten Urteilen wurde er ver-urteilt:[47]

Lauter begehrende Bilder von der pubertierenden Anna, halb nackt, oft mit entblößter Brust. Bilder, entstanden in den 1990er Jahren, die nun erstmals vor den Augen aller ausgebreitet werden. [...] Hier aber, auf den Polaroids, wird die Lüsternheit unmittelbar. Sie erscheinen als Dokumente einer pädophilen Gier.

Vielleicht ist das Problem gerade dieses ,vor aller Augen’ – denn die Bilder waren nie für alle Augen gedacht, es waren Studien. Und das größte Problem ist, wenn wiederum über etwas geurteilt werden will, was Dritte gar nichts angeht. Denn, wie selbst obiger Artikelschreiber zugeben muss: Anna, die Tochter von Balthus’ Arzt, kam freiwillig zu dem Maler. Sie half ihm sogar, die Kamera zu bedienen – und stimmte der jetzigen Veröffentlichung der Bilder zu.[48] Wer sonst noch sollte über diese Bilder urteilen, wenn nicht sie?

Das Museum Folkwang in Essen wollte die Fotos im April 2014 ebenfalls zeigen, jedoch wurde die Ausstellung Anfang Februar abgesagt, weil man unter anderem das Einschreiten des Jugendamtes befürchtete.[49] Es ist interessant, dass die Fotos jedoch sogar in den USA gezeigt werden durften. Im Zuge der ,Missbrauchsdebatte’ geht Deutschland auch hier einen extremen Sonderweg:[50]

Es gebe, hat der Essener Museumsdirektor Tobia Bezzola seine Ausstellungsabsage verteidigt, seit einiger Zeit eine kompromisslose Haltung in der deutschen Rechtsprechung, wenn es um Darstellungen von Minderjährigen geht, die als sexuell suggestiv empfunden werden könnten. Das sei ihm als Schweizer vorher nicht bekannt gewesen.

Aber die ,Missbrauchsdebatte’ zog immer weitere Kreise, auch in den USA. Im Zuge der vom Weinstein-Skandal ausgelösten ,MeToo’-Kampagne forderte schließlich auch eine Online-Petition das Bild von der ,träumenden Therese’ im Metropolitan Museum abzuhängen.[51] Es würde ihnen aber auch ein Warnhinweis genügen: ,Some viewers find this piece offensive or disturbing, given Balthus’s artistic infatuation with young girls’.[52]

Pulitzer-Preisträger Philip Kennicott hält dem jedoch in der ,Washington Post’ mit Recht entgegen: Selbst dies wäre eine Konzession zu viel. Dann müsste es Tausende von Warnhinweisen geben – und nicht nur in Bezug auf Männer mit erotischem Interesse an Mädchen. Vor allem aber würden solche Warnhinweise die eigentliche Gefahr gerade verwässern – die realen Taten von Menschen, die andere als Sexobjekte missbrauchen.[53]

In dieselbe Richtung geht ein Artikel in der ,Süddeutschen’:[54]

Wenn man die träumende Therese und ihre Ateliergeschwister künftig aus Ausstellungen verbannte, beraubte man sich der ehrlichsten Motive, die das 20. Jahrhundert zum Thema Sexualität zu bieten hat.[55]

Und im Anschluss an das Argument von Metropolitan-Sprecher Ken Weine, der sagt: ,Solche Momente geben die Gelegenheit zur Konversation, visuelle Kunst ist eine der bedeutendsten Mittel, die wir für die Reflexion von Geschichte und Gegenwart haben’, stellt der Artikel fest:[56]

Das Gemälde ist nicht das Problem, im Gegenteil, es birgt die Lösung.

Das ist zutiefst richtig. Allerdings ist die Lösung tatsächlich zunächst verborgen. Gefunden werden wird sie nie, wenn man immer nur in der aufgeregten Debatte bleibt, die das Denken dann prägt, und dieses Denken auf alles überträgt. Dann steht jeder Blick auf ein Mädchen unter Missbrauchsverdacht, jede Zuneigung bereits unter dem Verdikt öffentlicher Verachtung. Die Frage ist, ob das je aktuelle Denken in der Lage ist, seine eigenen Voraussetzungen gründlich hinterfragen zu können. Oder ob in Zeiten eines Weinsteins jeder, der die Mädchen liebt, ein nächster Weinstein ist. Dann aber müsste auch jeder, der Frauen liebt, bereits ein halber Vergewaltiger sein.[57] An diesen Punkten müsste eine Gesellschaft wieder aufwachen. Dies scheint aber fast unmöglich.

Die ehrlichsten Motive, die das 20. Jahrhundert zu bieten hat! Und dies bedeutet auch: die ehrlichsten Motive, in denen die eigene Seele zu einer Selbstreflexion über ihre Empfindungen kommen kann. Mädchen haben eine erwachende Sexualität – und es hilft wohl kaum, ihre Darstellung aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Die entscheidende Frage ist, wie man sich dieser gegenüber verhält. Denn die lebendigen Mädchen selbst verbannen sich auch nicht aus der Öffentlichkeit. Sie können einem in jedem Frühling in Miniröcken entgegenkommen...

Davon jedoch abgesehen und wieder zu Balthus zurückkehrend, kann wie gesagt eine ,Lösung’ kaum gefunden werden, wenn die Verurteilung bereits geschehen ist. Und das ist sie auch in dem obigen Artikel, wenn es dort heißt: dass Balthus Motive gemalt habe, ,die getränkt sind von den Sehnsüchten und Vorstellungen eines Pädophilen, ist andererseits offensichtlich’.[58]

Wie wenig Spielraum bleibt hier denn noch für die angeblich ,ehrlichsten Motive’ und die Selbstauseinandersetzung der modernen Seele mit sich selbst? Wenn der Künstler, der diese ,ehrlichsten Motive’ geschaffen hat, bereits mit dem Schlamm des größtmöglichen Vorwurfs der Postmoderne beworfen wurde? Dann ist doch wohl alles Reden von ,ehrlichsten Motiven’ bloß noch schöner Schein! Hier an diesem Punkt, stehend vor dem Bild von der ,träumenden Therese’, kann sich die Seele darüber klar werden, wie weit ihre Pädophilie, richtiger aber: Parthenophilie reicht – und ob die damit verbundenen Empfindungen vielleicht doch etwas anderes sind als das, was sie weit von sich schieben will, um es nur dem Maler unterzuschieben.

Die Frage ist, ob man sich vor seinen eigenen Empfindungen und Momenten, in denen man in die Lage kommen könnte, ein Mädchen zu begehren oder zumindest, sich von ihm angezogen zu fühlen, dadurch schützen kann, dass man diese Momente abschafft – die Darstellungen, die Situationen, die Möglichkeit, sich auch nur über die Frage klarzuwerden.
Die ,ehrlichsten Motive’... Was geschieht, wenn die Rechtssprechung sich so weit entwickelt, dass diese ehrlichsten Motive abgeschafft werden? Man kommt wieder in eine totalitäre Situation hinein, in der bestimmte Dinge nicht mehr erlaubt sind. Der Blick auf ein absichtslos sichtbar gewordenes Höschen. Das Malen dessen... Werden die Menschen dadurch besser? Ich möchte behaupten, sie werden dadurch schlimmer! Warum? Weil Heuchelei und Verlogenheit immer die schlimmsten Triebe zum Vorschein brachten. Während die Begegnung mit jenen ,ehrlichsten Motiven’ des 20. Jahrhunderts gerade etwas sein könnte, was, statt Triebe aufzurufen, eine innere Bewegung der Seele lebendig machen würde – wie ich versucht habe, dies zu schildern.
Diese innere Bewegung bestünde in einem tiefen Berührtwerden von der noch so unglaublich unschuldigen Erotik eines Mädchens; bestünde in dem auch genau hier urständenden Aufleben einer tiefsten Achtung vor dem Mädchenwesen, die die zarte Ebene des Begehrens nicht aus-, sondern einschließt, zugleich mit dieser Ebene aber die aufrichtige Liebe zu diesem Mädchen und seinem Wesen. Und genau das (alles) ist... Parthenophilie.

Was bewegte Balthus wirklich? Auch seine Frau Setsuko verteidigte ihn und seine Kunst gegen alle Vorwürfe des Missbrauchsdiskurses im weitesten Sinne: ,Das ist die Meinung anderer Leute, und sie haben ein Recht auf diese alberne Ansicht.’ Und auf die Frage, ob sie je besorgt war: ,Worüber? Pädophilie? Wenn es nicht wahr ist, wo ist das Problem? Balthus hatte eine völlig andere Vision.’[59]

1995 wagt es David Bowie, für ein Interview für die große Kunstzeitschrift ,Modern Painters’, dessen Editorial Board er beitrat, den zurückgezogenen Balthus in seinem Chalet aufzusuchen.[60] Hier erzählt Balthus von Picassos Interesse für seine Bilder und dessen Ausspruch, Balthus und er seien die zwei Seiten derselben Medaille. Davon, dass er von allen angegriffen wurde, während Picasso, Miró und sein Freund Giacometti immer auf seiner Seite standen. In diesem Interview sagt Balthus:[61]

[...] die Formen eines jungen Mädchens interessieren mich mehr als die einer Erwachsenen.[62]

Ein Jahr später wird der alte Maler, der in den Jahren zuvor kaum einmal ein Interview gegeben hatte, deutlicher.[63] In der Einleitung dazu ist erwähnt, dass er in einem Schaltjahr am 29. Februar geboren wurde und Rilke ihm einmal sagte, das wäre, wie durch einen Zeitriss zu rutschen – es gebe ihm Zugang zu einem Reich, das unabhängig ist von all den Veränderungen, denen wir unterworfen sind. Balthus’ Malstil scheint dem Recht zu geben. Aber nicht nur sein Stil, sondern vielleicht auch seine Motive – die Mädchen.
Zuerst stellt Balthus fest, dass die Kunst eines Poussin, die noch echtes Handwerk war, heute nicht mehr existiert. Aber es sei noch wesentlich mehr verlorengegangen:[64]

Und der Mensch hat sich völlig verändert, besonders seit dem Krieg. Vor dem Krieg gab es eine andere Art von Menschlichkeit, aber ich bin überzeugt, dass etwas mit der Menschheit passiert ist, etwas Furchtbares; dass Hitler etwas Diabolisches in die Atmosphäre hineinließ. Es gibt keinerlei Kultur mehr, falls Sie es bemerkt haben.

Und dann kommt Balthus auf die Mädchen zu sprechen:

Ich verstehe wirklich nicht, warum Menschen die Mädchenbilder als Lolitas sehen.[65] Wissen Sie, warum ich kleine Mädchen male? Weil Frauen, selbst meine eigene Tochter, schon zu dieser jetzigen Welt gehören, zur Mode. Kleine Mädchen sind heute die einzigen Wesen, die kleine Poussins [rein und zeitlos][66] sein können. Meine kleinen Modelle sind für mich absolut unberührbar. Irgendein amerikanischer Journalist sagte, er finde meine Arbeit pornografisch. Was meint er? Alles heute ist pornografisch. Werbung ist pornografisch. Du siehst eine junge Frau mit irgendeinem Schönheitsprodukt, die aussieht, als habe sie einen Orgasmus. Ich habe nie irgendetwas Pornografisches gemacht ... außer vielleicht ,Die Gitarrenstunde’.’

Dies zeigt in grandioser Deutlichkeit, wie Balthus auf die Gegenwart blickt – und was er in den Mädchen sieht. Er sieht Unschuld. Unschuld in einer Welt, die durchtränkt ist von einem Verlust dieser Unschuld. Einer Welt, die ihre Menschlichkeit verloren hat und in der alles vermarktet, hochgeputscht und sexualisiert wird.

Auch in seinen Memoiren,[67] die ihn als sehr frommen, spirituellen Menschen erlebbar machen,[68] äußert er sich sehr eindeutig:[173f]

Ich wollte nur malen, was schön war, Katzen, Landschaften, Erde, Früchte, Blumen und natürlich meine lieben Engel, die wie ein idealisierter, platonischer Widerschein des Göttlichen sind. Es werden sich zwar Biografen und Kunstkritiker finden (es gab sie bereits!), die bei meinen Modellen erotische Posen entdecken, um die Arbeit der Unschuld, die ich leisten wollte, und meine Suche nach Ewigkeit zu beschmutzen. Aber was soll’s! Sie [...] beweisen dadurch nur, dass sie nichts von meiner Arbeit begriffen haben.

Eindeutiger kann man es nicht sagen. Und wenn manche Bilder dennoch eine Erotik beinhalten, so ist dies nur der Beweis dafür, dass es auch eine unschuldige Erotik gibt – und man kann es sogar umdrehen: eine Erotik der Unschuld. Und dass gerade diese Erotik ein Abglanz der Ewigkeit ist – weil sie nämlich ganz und gar von Unschuld durchströmt wird. Und Balthus fährt fort:[174f]

Es ging mir immer darum, mich dem Geheimnis der Kindheit[69] zu nähern, ihrer gelassenen Anmut und ihren unscharfen Grenzen. Ich wollte dieses Seelengeheimnis malen und diese gleichzeitig dunkle und lichterfüllte Spannung ihrer noch nicht ganz erblühten Hülle. Den Übergang könnte ich sagen, ja, das ist es, den Übergang. Diesen ungewissen, wirren Moment, da die Unschuld vollkommen ist und bald einem anderen, klareren, sozialeren Alter Platz machen wird. Es lag etwas Märchenhaftes in dieser Aufgabe, die zum Göttlichen führte. [...] Die Malerei ist eine regelrechte Himmelfahrt [...]. Deshalb ist die Schönheit das einzige Ziel der Malerei. Die gerupften Körper mancher zeitgenössischer Maler machen aus der Malerei ein Werk des Niedergangs. Luzifers Sturz. Wo es doch allein darum geht, zur göttlichen Schönheit zu gelangen.[70] Zumindest zu ihrem Widerschein.

Und schließlich sagt er:[224f]

Wenn ich von Engeln spreche,[71] von der verwirrenden Anmut einiger meiner Mädchen, darf man auch den strahlendsten Engel nicht vergessen, gefallen und herrlich, Luzifer! Es ist genau diese Doppeldeutigkeit, die die jugendliche Verwirrung der Körper meiner Mädchen enthüllt: das Licht der Finsternis und das Licht des Himmels. Dennoch glaube ich, dass die Spur, die meine Malerei hinterlassen kann, nicht die des zynischen Don Juan ist und ebenso wenig die einer frommen Engelsanbetung. Wie Byron oder wie der heftige, kompromisslose Held aus Sturmhöhe werde auch ich im Schatten und im Licht nach den Spuren der reinen Natur gesucht haben.[72]

Es ist also auch Balthus deutlich, dass die Erotik jederzeit abgleiten kann. Ein Mädchen, zur Frau werdend, kann Engel oder Hure werden. Ein Mann kann ein Don Juan oder ein Minnesänger werden. Aber denken wir an Altenberg: Selbst ein ,gefallenes Mädchen’ kann noch mehr Würde und Unschuld besitzen als all jene zusammen, die es aus niederen Beweggründen aufsuchen.
Luzifer, jener Engel, der die Verführung und den Stolz brachte, kann auch wieder erlöst werden – und wird es da, wo die von ihm in die Welt gebrachte Erotik wieder mit der Unschuld vermählt wird.
Die Mädchen, die Balthus malt, sind längst keine Engel mehr, sie sind an der Schwelle zur Geschlechtsreife oder haben diese längst erreicht – und auch in ihren Gesichtern und ihrem Wesen sieht man nicht eine engelhafte Unschuld. Aber es gibt eine andere Unschuld, die sie gleichwohl haben, weil es noch Mädchen sind. Und eine gleiche Unschuld kann der Betrachter in seiner Seele Leben geben, wenn er die Unschuld der Mädchen ehrt und sogar verehrt; wenn er, auch wenn er die Erotik empfindet – die berührende, ungewollte, unschuldige Anziehung –, ganz ebenso das Berührende dieser Unschuld empfindet.[73]

Dieses Empfinden ist gleichzeitig möglich – und es ist eine Erlösung Luzifers: Erotik und Unschuld. Unschuldige Erotik, wie es auf seiten des Mädchens erotische Unschuld ist. Der männliche Betrachter verbleibt nur da in der Schuld, in dem ,sündhaften Blick’, wo er seine Seele nicht zu der gleichen Unschuld erheben kann, die das Mädchen noch immer hat. Das bedeutet nicht eine Absage an die Erotik – es bedeutet nur eine Absage an das profane, nüchterne, allenfalls lüsterne Empfinden. Das, was es braucht, ist eine Ehrfurcht vor dem, was man erblickt.
Das Höschen eines Mädchens mag unmittelbar erotische Empfindungen aufrufen, wie könnte es anders sein? Ist eine Seele aber unschuldig genug, so wird ebenso unmittelbar eine Ehrfurcht in ihr aufgerufen, die diesen Blick noch da, wo er sich nicht scheu abwendet, zu heiligen vermag. Er wendet sich dann nicht scheu ab, sondern er wendet sich dem Geschehen scheu zu. Es bleibt aber eine Scheu vor dem Heiligtum des Mädchens...

Die entscheidende Frage ist wohl, ob man ein solches Bild seelisch lebendig, behutsam ansehen kann, wie wenn das Mädchen selbst lebendig wäre – oder ob man plump wie ein ,Ochs vor dem Berge’ davorsteht und es mit nüchternem Objektbewusstsein betrachtet, wie ein Konsument, ein bloßer Museumsbesucher, oder wie einer, der im ,Playboy’ blättert. Betrachtet man das Bild als Totes, so wird es sehr leicht ,obszön’, ,voyeuristisch’ etc. – aber das liegt nur daran, dass man selbst eine Betrachtungsweise eingenommen hat, die es in dieser Hinsicht erstarren lässt.
Was das Bild aber erfordert, ist, dass man es innerlich zum Leben erweckt, wie es auch bei einem guten Film geschieht. Man muss dahin kommen, gleichsam das Empfinden zu haben, dass man selbst diesem Mädchen jetzt und hier begegnet. Dann kann man nicht kalt, voyeuristisch, die intimen Körperregionen abtasten, registrieren, auf ihnen verweilen. Man wird die Lebendigkeit des Mädchens empfinden – und gleichzeitig damit werden auch die eigenen Empfindungen so lebendig und zart, scheu werden, wie es der Unschuld des Mädchens entspricht. Das lebendig werdende Mädchen wird auch die eigene Seele zu einer höheren Unschuld erheben. Eine Begegnung kann nicht voyeuristisch sein – dies kann immer nur eine Nichtbegegnung sein. Ein Betrachter, der einem Kunstwerk und dem in ihm dargestellten Subjekt wirklich begegnet, kann nicht in obszöne Sphären abgleiten.
Wenn also der Betrachter sich gegenüber einem solchen Bild ,verunsichert’ und ,verwirrt’ empfindet und gleichsam nach der Sittenpolizei ruft, damit man solche Bilder abhänge, beweist er nur, dass er dies gar nicht vermag: das innerlich-lebendige Einem-Bild-Begegnen, um ihm die Unschuld wiederzugeben, die es durchaus hat, wenn man sie ihm nicht selbst nimmt...

Es gibt ein Bild von Balthus, das ,Der Kirschbaum’ (1940) heißt. In einer sonnendurchfluteten Landschaft mit mildem Bergpanorama im Hintergrund stehen auf einer Wiese zwei drei Bäume, und im Vordergrund ist es ein großer Kirschbaum, in dessen Schatten auf einer Leiter ein Mädchen steht und sich nach den untersten Kirschen streckt.

Dieses Bild verkörpert im Grunde eine vollendete Anmut. Man weiß nicht, wie alt das Mädchen ist. Es könnte neun, zehn, aber auch zwölf, ja dreizehn Jahre alt sein. Mit seinem blonden, kaum schulterlangen Haar wendet es uns seinen Rücken zu. Es trägt ein dunkelgrünes Kleid, das die Arme und die schlanken Unterschenkel freilässt und in der Taille mit hellem Gürtel gebunden ist. Und diese ohnehin schon zarte Gestalt ist nun auch noch in einer so schlichten wie zarten Bewegung eingefangen. Man sieht dieses Bild und kann eigentlich nicht anders, als zu sagen: Hier steht gleichsam das Wesen des Mädchens selbst auf der Leiter. Eingefangen ist das Mädchenhafte an sich, elfengleich...[74]

Das Bild hat eigentlich nicht das geringste erotische Element, und doch ist es reinste Erotik, weil es die ganze Schönheit des Mädchenleibes in einer zarten Vollkommenheit sichtbar macht. Es macht in einem schlichten Künstlertum sichtbar, was eigentlich ein Mädchen ist.
 

Fußnoten


[1]● Balthus: Erinnerungen. Aufgezeichnet von Alain Vircondelet. Berlin 2002. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

[2] Über diesen unverkennbaren Stil hieß es einmal im ,New Yorker’: ,The style doesn’t feel conservative; it feels outside historical time. You’re always off balance with it, sometimes as if you were being subjected at once to a high-church orison and a dirty joke.’ Peter Schjeldahl: In the Head. Balthus and Magritte reconsidered. New Yorker, 7.10.2013.

[3] Die Prägung und Inspiration seines Stils insbesondere durch Piero della Francesca sowie Poussin und Courbet zeigt eindrücklich der an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder, lehrende Strafrechtler Prof. Uwe Scheffler: Materialien zu den Ausstellungstafeln Kunst und Strafrecht, Annex: Kunst und Kinderpornographie, ,Gitarrenstunde’-Fall. 2016, PDF, 69 S, hier S. 5-9. • Balthus selbst sagte später: ,Der Louvre war der instruktivste Ort für mich, vor allem, weil ich Poussin angeschaut habe. [..] Ich brachte mir selbst bei, zu malen, und ich ging zum Louvre, um herauszufinden, wie es die großen Maler taten. Da habe ich verstanden, dass du, wenn du nicht die Möglichkeit hast, etwas zu erzählen, nichts hast. Poussin kam aus einer Zeit, in der Kunst ein Handwerk war. Eine Kunst wie die des 17. Jahrhunderts zu machen, als Poussin lebte, ist heute unmöglich, weil die Künstler nicht mehr wissen, wie es geht. [...] Mit Masaccio fühle ich mich verwandt. Piero bewundere ich enorm. Er lehrte mich vieles, aber Masaccio und Masolino fühle ich mich näher. Ich kann wirklich nicht sagen, warum, außer dass Piero zu nahe an der Perfektion ist, so nahe, dass er es quetscht.’ Michael Kimmelman: Balthus, at 88, Still a Man of Mystery. New York Times, 25.8.1996, übersetzt H.N. • Balthus übernahm sogar das Material der Freskenkünstler: ,Kasein, gesso, Gips, vermischt mit zerriebenen Pigmenten, das ist das uralte Rezepte der casearti, um die Luft und die Zeit fühlbar zu machen.’ Über die Acrylsäure sagt er: ,Wie soll man damit den Traum und das Mysterium dessen berühren, was man malen will?’[236]

[4] Wikipedia Balthus. • In der Schweiz besuchten ihn unter anderem Tony Curtis und Mick Jagger, zu seinem Begräbnis sang Bono von U2 ein Lied. Ebd. • Das Grand Chalet in Rossinière entstand Mitte der 18. Jahrhunderts und wurde 1852 ein Hotel, das unter anderem Victor Hugo beherbergte. Heute ist es Sitz der Balthus-Stiftung, www.fonds-balthus. com. • Pierre Matisse erwarb das Haus für Balthus, der ihm dafür einige Gemälde überließ.[37]

[5] Die asiatische Kunst empfand Balthus der seinen zeitlebens als innerlich verwandt, ja die ,große abendländische Malerei’ teile mit der ,orientalischen’ das Prinzip der Identifikation (Einswerdung) zwischen Maler und Objekt – im Gegensatz zu bloßem Abbilden: Was man malen will, muss man selbst werden. Gilles Néret: Balthus. Köln 2003, S. 70. • ,Der Geist im Blick des Malers, seine Fähigkeit, ihn festzuhalten, kann die Wahrheit des Modells erfassen, sein Wesen und seine innerste, anrührende Struktur.’[76] • ,Auf ihre Art ist diese Erfahrung mit den Erfahrungen der Mystiker vergleichbar.’[84] • Auch die träumenden Mädchen sind alles andere als oberflächlich, und ein Spiegel in ihrer Hand dient keineswegs der Selbstbespiegelung, sondern vielmehr heiliger Innenschau: ,um weiter in ihrem tieferen Wesen zu forschen’.[195] • Diesen tiefen Ernst teilte auch Balthus’ Freund Giacometti: ,Giacomettis Vorgehen hatte etwas Religiöses, etwas zutiefst Heiliges an sich. [...] „Alle Welt weiß, was ein Kopf ist“, hatte Breton zu ihm gesagt und Giacomettis Zeichnungen mit einer Handbewegung weggefegt. Und Alberto antwortete mit anrührender Demut: „Ich nicht, ich weiß es nicht!“’[219] • ,Es geht darum, den flüchtigen Augenblick zu erfassen, das traumgleiche Vorbeiziehen der geheimen Dinge, jenen Moment, in dem sie einen anderen Sinn offenbaren, den der Maler im Übrigen nicht aufzuklären sucht, aber dennoch zeigt.’[235]

[6] Balthus verbrachte ab 1919 die Sommer auf dem Beatenberg und verkehrte hier unter anderem mit der anthroposophischen Bildhauerin Margrit Bay, die ihn mit der Freskenarbeit an der Ostwand der Kirche, an der ihr Vater Pfarrer war, beauftragte. Die Fresken wurden jedoch im Zuge des wiedererwachenden calvinistischen Geistes schon sieben Jahre später wieder entfernt. www.kirchebeatenberg.ch, hier ,Kirche’.

[7] Es zeigt u. a. Gestalten des ,Struwwelpeter’, mit dem er bei seiner deutschen Gouvernante lesen gelernt hatte. Balthus, www.cosmopolis. ch.

[8] Nach eigener Aussage 1948 während der Arbeiten am Bühnenbild zu Camus’ Werk ,Belagerungszustand’.[201]

[9] Gilles Néret: Balthus. Köln 2003, S. 91-94.

[10] Balthus. Expographie. www.fonds-balthus.com.

[11]● Stanislas & Thadée Klossowski de Rola (Hg.): Balthus, Antoinette De Watteville: Liebesbriefe 1928-1937. Bern 2005. Originalausgabe: Balthus, Correspondance amoureuse avec Antoinette de Watteville, 1928-1937. Paris 2001. Zitate hieraus im Folgenden mit Datum und Seite. • Durch diesen Briefwechsel lernt man Balthus’ frühe Jahre in ungeheurer Lebendigkeit kennen, ihre Schwere, die insbesondere ab 1930 sich vertiefende Liebe zur vier Jahre jüngeren Kindheitsfreundin (,Ach, das Reich eines jungen Mädchens! Kaum dass ich in es eintauche, schon bin ich verloren. Und dieses ist so wie ich mir wünschte, dass alle jungen Mädchen wären.’ Brief vom 8.4.1932, S. 63) und die zwei Jahre währende Tragik, als Antoinette (die Tochter einer Berner Aristokratin und des Oberst Friedrich Moritz von Wattenwyl, der den Geheimdienst der Schweizer Armee leitete) sich Mitte 1932 zunächst einem verheirateten belgischen Diplomaten, ,Gin’ genannt, zuwendet. Als dieser sich 1933 scheiden lassen will, wird sie erneut schwankend, fühlt aber im Juni 1934 nach einem Wiedersehen mit Balthus die schmerzliche Pflicht, bei Gin zu bleiben (,Doch mein Herz lehnt sich auf, mein Herz ruft verzweifelt nach Dir’, Brief vom 5.6.1934, S. 168). Sie verspricht Gin, sich ein, zwei Monate ganz auf ihn zu konzentrieren, fordert von Balthus am 10. Juli, ihr keine Liebesbriefe mehr zu schreiben. Am 19. Juli unternimmt Balthus, um sie ganz freizulassen, einen Selbstmordversuch mit Laudanum (Opium), wird aber von seinem Freund Antonin Artaud gefunden. Danach verzichtet er innerlich weiter. Am 22. August bittet Antoinette ihn nach einer Szene mit Gin erneut, ihr auch keine zärtlichen Worte mehr zu schreiben. Nach einem Weihnachtsbesuch bei ihnen schreibt Balthus ihr von dem ,beängstigenden Treibsand Deiner Haltung’. Sie habe eine ,absolut beängstigende Willensschwäche’, bei deren Überwindung er ihr helfen wolle (2.1.1935, S. 237f). Er ist verzweifelt, dass sie nur heiraten will, um ihrem Vater einen Gefallen zu tun, weil sie sich in Bern mittlerweile ,unmöglich mache’. Als Gin zunächst einen Posten in Bukarest akzeptiert, sagt sie ihm dann am 12.2.1935, dass sie ihn nicht heiraten werde. Er lässt sie frei, bittet sie aber noch einmal, auch sechs Monate nicht an Balthus zu schreiben – was sie unterbricht, als sie Ende Mai nach Polen reist und sich um Balthus sorgt. Anfang September sehen sie sich endlich in Freiburg wieder, und es gibt keine Hindernisse mehr. Bei einem letzten Wiedersehen mit Gin hat sie sich diesem bereits völlig entfremdet (S. 303). 1936 schafft Balthus das Bild ,La Montagne’ mit Antoinette im Mittelpunkt. Anfang 1937 fragt sie ihn schließlich, ob er sie trotz des in Paris noch ungesicherten Lebens heiraten wolle (5.1.1937, S. 376). Am 2. April wird in Bern ihr Ehebund geschlossen.
Ein Brief zeigt das vorweihnachtliche gemeinsame Kindheitsidyll: ,Ach Bébé, erinnere Dich an unsere fleissigen Winterabende, an denen sogar die Schulaufgaben (über die wir uns beugten, immer noch ganz ausser Atem, weil wir durch den Schnee gerannt waren) etwas Feenhaftes bekamen (so sehr war alles von einem geheimnisvollen Strahlen durchdrungen) und wir schon voller Erwartung waren!’ (21.12.1933, S. 107). Balthus’ Empfindsamkeit zeigt sich auch in der tiefen Berührtheit durch eine kleine Szene: ,mit der Du einmal versucht hast, meinen schrecklichen Farbkasten aufzuräumen, was mich zu Tränen gerührt hat’ (13.11.1933, S. 95). ,Ich denke stets an diesen Moment, als Du meinen Malkasten in Ordnung gebracht hast, eine scheinbar völlig unbedeutende Sache, die mich so erschüttert hat, wohl weil sie irgendetwas Geheimes in mir angerührt hat; aber ich sage Dir, dass ich es eigentlich nicht verstehe.’ (24.12.1933, S. 109). • Vielleicht war es das tiefe, heilige Mysterium des reinen guten Willens, das so sehr den Mädchen eigen ist und ihn an diesem geliebten Mädchen so zutiefst erschüttern konnte... • Mit Sicherheit ist es auch ein karmisches ,Erkennen’, denn Antoinette schreibt ihm, ,dass Du eine kleine Schwester hast, die bereits vor Hunderten von Jahren Deine kleine Schwester war und es bis in alle Ewigkeit sein wird.’ (5.1.1934, S. 120). Und Balthus beschreibt das Bild ,Cathys Toilette’, in dem er sich und Antoinette als Heathcliff und Cathy darstellt: ,Es stellt, wie im Buch [...] den Augenblick dar, in dem zwei menschliche Wesen, die eigentlich nur ein einziges sind und einander ergänzen, zur Kreuzung ihrer Schicksale gelangen, und, wie zwei Gestirne, deren Bahnen sich nur alle 1000 Jahre einmal berühren, die Strassen, die sie trennen fortsetzen werden [...]. Cathy ist nackt, weil sie symbolisch ist; ausserdem [...] ein Bild, an das Heathcliff sich erinnert, der im Grunde alleine in seinem Zimmer sitzt.’ (18.1.1934, S. 124). • Er kann das einzige Foto, das er von ihr hat, das auf einem Schulausflug aufgenommene ,bezaubernde Foto eines kleinen Mädchens, das in einer felsigen Landschaft auf einem Stein sitzt’, ,nicht ansehen, ohne dass mir Tränen in die Augen steigen.’ (2.4.1934, S. 149). • Selbst als er glauben muss, sie äußerlich für immer verloren zu haben, schreibt er ihr: ,...weil ich Dir niemals, niemals böse sein könnte, Dir, die Du so anbetungswürdig bist, ich kann nur den Himmel für Deine Existenz segnen, Du bist das Glück meiner Seele...’ (10.2.1934, S. 133). Das ist wahre (Mädchen-)Liebe... Es ist eine tiefe Verehrung des Mädchenwesens.

[12] Siehe die vorige Fußnote (Balthus an Antoinette, 18.1.1934, S. 124).

[13] James Trall Soby erwarb das Bild und wollte es 1956 im MoMA New York ausstellen, das Museum bestand jedoch auf einer Änderung – die Balthus in Europa tatsächlich vornahm, indem er die Hand mehr nach oben setzte. Seit 1979 gehört das Bild dem Museum. Scheffler, ,Gitarrenstunde’-Fall, a.a.O., S. 12-13. • Wie wenig Balthus die Szene obszön meinte, zeigen wiederum seine Worte an Antoinette: ,erinnere Dich an das idiotische kleine Mädchen, das angesichts der erschütternden Paarung zweier Katzen rief: „Salut Kätzli! “’ (18.1.1934, S. 124). Was Balthus hier meint, ist, dass das intellektuell zurückgebliebene Mädchen (,idiotisch’ ist hier ein Terminus ohne jede Wertung) gerade noch eine gesunde geistige Empfindung von der Heiligkeit sexueller Vorgänge hatte! Dass ein Mädchen niemals vergewaltigt werden dürfte, ist davon unabhängig. Balthus ging es offenbar um die Darstellung einer heiligen Macht – auch wenn diese missbraucht werden kann. • Pierre Loeb, der 1925 die erste Surrealismus-Ausstellung organisiert hatte und der Händler von Miró, Picasso, Dali, Giacometti und anderen war, erkennt 1933 das Außerordentliche von Balthus und ist von seinen Bildern ergriffen. Am 11.12.1933 schreibt Balthus an Antoinette, Loeb sei in einer Woche fünfmal mit immer anderen Leuten bei ihm gewesen und habe schließlich erklärt, dass ,dies das einzig Bedeutende wäre, was er in den letzten zehn Jahren gesehen hätte.’ (S. 104). ,Und dann hat Picasso meine bescheidene Hütte mit seiner illustren Anwesenheit beehrt, und mich vor seiner zahlreichen Begleitung mit dem üppigsten Lob bedacht – es war eine regelrechte Weihe!’ (16.3.1934, S. 141). • Vom ,Kulturbetrieb’ fühlt Balthus sich jedoch von Anfang an abgestoßen: ,Vielleicht kommt ja bei dieser ganzen absurden Werbung, die man plötzlich und ganz gegen meinen Willen für mich macht, irgendetwas Konkretes heraus. Sobald in Paris in einem beliebigen Bereich etwas Neues entdeckt wird, entsteht sofort ein abstossender, marktschreierischer Snobismus, der die wahren Werte völlig verfälscht; man bekommt ein Etikett aufgeklebt, kurzum, man wird völlig neu erfunden. Und dann wehe, wenn man sich nicht rasch genug auf ihre ekelhafte Salonpolitik einlässt – Aber mich kriegen sie nicht mit ihrem schmutzigen kleinen Spiel.’ (23.3.1934, S. 143f). ,Man wird die Kraft finden müssen, und was für eine Kraft, um aus seiner Seele ein für alle äusseren Stürme unerreichbares inneres Koster zu schaffen, um dort die ewigen Werte zu bewahren [...].’ (3.8.1936, S. 365).

[14] Brief vom 1.12.1933, S. 102. • Danach zitiert Balthus aus Baudelaires Gedicht ,Lesbos’: ,Lesbos, hast mich ja aus allen auf Erden erkoren / Blühender Jungfrau Geheimnis zu künden im Sang.’

[15] Der Griff in die Locken wirkt wie ein Streit, das Mädchen aber zugleich wie ohnmächtig; die ganze Szene wirkt surreal, aber hoch erotisch. Balthus’ Zitat macht deutlich, dass es um eine sexuelle Szene geht. • Eine ähnliche Szene findet sich in Klaus Manns Novelle ,Der Vater lacht’ zwischen einem über fünfzigjährigen, bis dahin sehr korrekten Vater und seiner erwachsenen Tochter: ,Als sich ihr Mund in einem scharfen Bisse gleichsam an dem seinen ganz festgesaugt hatte, riß er ihr die Kleider vom Leib. [...] Lallend, lachend löste sich ihr Mund von seinem, sie sank hinüber, lag über seinen Knien. Während ihr Kopf nach rückwärts glitt, so daß sich die Augen brechend verdrehten, reckte sich ihm ihre gelbliche, magere Nacktheit in starrer Verzückung entgegen.’ Klaus Mann: Der Vater lacht. Erzählungen. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 15-63, hier 61.

[16] Der Pariser Direktor des Centre Pompidou bedauerte 1984, es nicht zeigen zu können. Auch abgebildet wurde das Gemälde kaum jemals, und selbst die Besitzer wechselten mehrfach. Das etwa zwölfjährige Modell war die Tochter einer armen, alten Concierge, die dabei in der Ecke strickte. Balthus schrieb über das Mädchen: ,Sie schielt grässlich, zieht sich aber mit einer wunderbaren, kindlichen Schamlosigkeit aus’ (10.2.1934, S. 133). Siehe ausführlich Uwe Scheffler, ,Gitarrenstunde’-Fall, a.a.O., S. 14-22. • Bisweilen wird angemerkt, Balthus habe die Bildkomposition blasphemisch der ,Pietà de Villeneuve-lès-Avignon’ (Louvre) entlehnt. Er bestritt dies eindeutig: ,I absolutely never thought of that, never. I'm Catholic. I'm a member of the Order of St. Maurice and St. Lazare!’ Michael Kimmelman: Balthus, at 88, Still a Man of Mystery. New York Times, 25.8.1996.

[17] Brief vom 1.1.1934, S. 119.

[18] Skandal oder Zensur – das heißt Verschweigen und Unterdrücken oder heuchlerisch anklagen wie die Pharisäer und Schriftgelehrten...

[19] Ebd., S. 118f. • Diese Sätze kommen den bereits fünfzehn Jahre zuvor geäußerten fortwährenden Warnungen Rudolf Steiners vor der ,Mechanisierung des Geistes’ und dem immer mehr fortschreitenden Verlust des vollen Menschentums sehr nahe! Steiner wies jedoch Wege zur Vertiefung des Seelisch-Geistigen. Erotik und Sexualität ließ er völlig außen vor und hielt jede Tendenz in diese Richtung für gefährlich: ,Das ist es aber auch, was den Menschen heute droht. Durchdringen sich die Menschen ganz mit der westlichen Mechanisierung des Geistes, dann wird sich verbinden mit dieser westlichen Mechanisierung des Geistes die östliche Animalisierung, das heißt die Entstehung von sozialen Forderungen bloß in Form animalischer Instinkte und wüster Triebe. Beides hängt zusammen. In der Mitte steckt die Vegetarisierung, das heißt die Schläfrigkeit des Seelenlebens, das nicht erweckt werden will durch das Betreten des Geistweges. [...] Wir müssen ihn nur betreten wollen. Wir müssen unseren Geist nur freihalten wollen selbst gegenüber der Knechtschaft unserer Leiber.’ Vortrag vom 11.7.1919, GA 330, S. 380.

[20] Nach der ersten Ausstellung schreibt Balthus: ,Du siehst, geliebte kleine Fee, wozu Du mich gebracht hast und was ich getan habe: Ich habe den grobschlächtigen Wesen, die sich blind und schlammverkrustet durch die Kloake bewegen, die sie in ihrer Unwissenheit das Leben nennen, ihnen habe ich eine magische Welt entdeckt, die diejenigen erschreckt, die das Wissen um die eigentlichen Ursachen verloren haben, und diejenigen entzückt, die sich davon noch einen Rest zu bewahren verstanden haben.’ (19.4.1934, S. 154).

[21] Jonathan Jones: Robert Hughes: the greatest art critic of our time. The Guardian, 7.8.2012.

[22] Robert Hughes: The Nymphets of Balthus. Time, 28.11.1977, S. 93, zitiert nach Sabine Rewald: Balthus. Cats and Girls. Paintings and Provocations. Ausst.-Kat. New York 2013, p. 27.

[23] Prof. Uwe Scheffler: Materialien zu den Ausstellungstafeln Kunst und Strafrecht, Annex: Kunst und Kinderpornographie, ,Gitarrenstunde’-Fall. 2016, PDF, 69 S, hier 47-48.

[24] Oft wird auch hier als Modell Thérèse vermutet. Dagegen spricht, dass er sie sonst niemals nackt gemalt hatte.

[25] Sabine Rewald: Balthus. Cats and Girls. Paintings and Provocations. Ausst.-Kat. New York 2013, p. 32. • Balthus und Antoinette de Watteville lebten seit 1946 getrennt und ließen sich 1966 scheiden. Scheffler, ,Gitarrenstunde’-Fall, a.a.O., S. 29.

[26] John McDonald: The Balthus enigma. www.smh.com.au, 16.11.2013. • Am 8.12.2020 versteigerte Arcturial 150 Skizzen und Aquarelle von Balthus aus ihrer Sammlung dieser Zeit. www.artcurial.com.

[27] Vergleiche Balthus’ Brief an Antoinette vom 11.12.1933 (S. 103): ,Bébé, diese Locken, diese entzückenden, zartgoldenen Locken, ich kann nicht aufhören, mich an ihrem Duft zu berauschen, ich bedecke sie unaufhörlich mit Küssen, ich trage sie auf meinem Herzen [...].’

[28] Rewald ist seit 30 Jahren Balthus-Expertin. Im Interview zur neuen New Yorker Ausstellung 2013 erzählt sie, dass sie bereits ihre Dissertation zu Balthus schrieb und darauf den Katalog zur Ausstellung 1984 basierte. 2006 bereitete sie dann die Ausstellung ,Glitter and Doom’ über die Porträtkunst der Weimarer Republik vor und brauchte unbedingt ein Dix-Gemälde aus Köln. Das Museum lieh es gegen Rewalds Versprechen, in Köln eine Balthus-Ausstellung mit Katalog zu organisieren. Nadja Hansen: Balthus: Cats and Girls – Interview with Curator Sabine Rewald, www.metmuseum.org, 23.12.2013.

[29] Christina Tilmann: Der schuldige Blick. Tagesspiegel.de, 19.8.2007.

[30] Das ist schlicht falsch. Wie erwähnt entstanden die Bilder der 1925 geborenen Thérèse 1936 bis 1939. Das Mädchen war also elf bis vierzehn Jahre alt. Die ,jüngsten’ Bilder sind nicht erotisch, und die erotischen Bilder zeigen ein Mädchen und kein Kind mehr! Auch Tilman selbst schreibt von unkindlicher Reife – unterschlägt aber, dass sie unkindlich sein muss, weil es eben keine ,Frühreife’, sondern genau die Reife des gemalten Alters ist!

[31] Schon all diese Begriffe sind tendenziös und einseitig interpretierend. Eine lange Malsitzung ist immer irgendwo anstrengend und lang-weilig im Sinne von langwierig. Echte Langeweile muss hier aber überhaupt nicht vorhanden sein, und ein ,leerer’, nach innen gekehrter Blick kann tief nachdenken, abschweifen, sich Fantasien hingeben ... alles Mögliche tun, ohne dass eine negative Konnotierung nötig oder auch nur zutreffend wäre!

[32] Wikipedia: Balthus.

[33] Almut F. Kaspar: Erotischer Provokateur. Stern.de, 29.8.2007. Auch für die beiden folgenden Zitate.

[34] Ein Gipfel der Verurteilung des Malers wird unter anderem in einem Schweizer Artikel anlässlich der Ausstellung von 2013 erreicht: Andrea Köhler: Balthus in New York: Der gelenkte Blick. NZZ, 23.11.2013.

[35] Jesse Prinz: The Two Problems of Balthus, www.artbouillon.com, 9.1.2014, übersetzt H.N.

[36] Balthus fühlte sich von kleinauf den Katzen verbunden, mit denen er den Drang nach Unabhängigkeit teilte. Schon früh nannte ihn ein junges Mädchen, Sheila Pickering (von Balthus 1935 gemalt), den ,Katzenkönig’. Im Schloss Chassy, wo er 1953 bis 1961 lebte, hatte er bis zu dreißig Katzen.[44] • Zum Heiligen seiner Malerei siehe weiter unten, aber schon der achtzehnjährige Balthus kopiert begeistert die Fresken della Francescas, die die Legende des Heiligen Kreuzes darstellen: ,Da sie das Ergebnis langer Berechnungen sind, sind sie von unglaublicher Harmonie, gleichzeitig findet all diese Mathematik ihr Gegengewicht in einer wunderbaren Malerei, in hellen durchsichtigen Farben und bis dahin ungekannten Farbkombinationen. Das ist gross und rein; das ist zeitlos, oder ausserhalb der Zeit. Man ist versucht, an die ,Dame mit dem Einhorn’ zu denken, so geheimnisvoll ist es, [...] anmutig und göttlich. Im Übrigen klingen all diese Adjektive hohl. Um sie zu beschreiben, kann ich sie nur malen!’ Balthus. Antoinette de Watteville. Liebesbriefe 1928-1937. Bern 2005, S. 15.

[37] Brigitta Niederhauser: Der Käfig des Katzenkönigs, www.derbund.ch, 19.12.2013.

[38] Ebd., unmittelbar im Anschluss an das vorherige Zitat.

[39],Le roi des chats’ (1935), auf einem Täfelchen im Bild steht: ,A portrait of H.M. [His Majesty, H.N.] the king of cats, painted by himself’.

[40] Hans-Joachim Müller: Im Schatten junger Mädchenblüte. DIE ZEIT Nr. 11/1996, Zeit.de, 8.3.1996.

[41] Die dreizehnjährige Georgette Coslin war Balthus’ Modell um 1941, etwa in ,Still Life with a Figure’ oder ,Le Salon’; die vierzehnjährige Odile Bugnon um 1944 etwa in ,Die goldenen Tage’. Sabine Rewald: Balthus. Cats and Girls. Paintings and Provocations. Ausst.-Kat. New York 2013, p. 92, 23 & 24.

[42] Jesse Prinz: The Two Problems of Balthus, www.artbouillon.com, 9.1.2014, übersetzt H.N. • Und etwas später sogar: ,und indem er diesen Aspekt der Jugend [das leise sexuelle Erwachen, H.N.] präsentiert, gibt Balthus seinen Modellen tatsächlich eine Dimension von Persönlichkeit, die die meisten anderen Künstler zensieren. In diesem Licht betrachtet, ist seine Arbeit eher eine Feier der Sexualität der Kindheit als ihre Ausbeutung.’ Welch ein fruchtbarer Wechsel der Blickrichtung!

[43] Nadja Hansen: Balthus: Cats and Girls – Interview with Curator Sabine Rewald, www.metmuseum.org, 23.12.2013, übersetzt H.N. Sie selbst sagt zum Katzenmotiv: , Die Presse redet, als gebe es etwas Lüsternes in Balthus’ Werk, aber das ist total lächerlich. Selbst in Werken wie ,Thérèse träumend’ ist die Katze vielleicht ein augenzwinkernder Ersatz für den Künstler, aber ich denke, es ist genau das – augenzwinkernd.’, ebd.

[44] Balthus selbst betonte wohl einmal, junge Mädchen würden einfach so sitzen (vgl. John McDonald: The Balthus enigma. www.smh.com.au, 16.11.2013), was natürlich viel Widerspruch erregte. Hier bestätigt es eine Wissenschaftlerin aus eigener Alltagserfahrung!

[45] Fionnuala McHugh: Controversial artist Balthus' widow on his fixation with young girls. Post Magazine, 13.6.2015, www.scmp.com.

[46] Erstmals 2013 in der Ausstellung ,The Last Studies’, Gagosian Gallery, New York.

[47] Hanno Rauterberg: Die Bilder des Begehrens, in: ZEIT 50/2013, Zeit.de, 5.12.2013.

[48] Ingrid Sischy: Balthus’s Last Muse. Vanity Fair, 23.9.2013.

[49] Tim Ackermann: Museum sagt schlüpfrige Balthus-Schau ab – na und? Welt.de, 5.2.2014. • Ebenfalls ein extrem abwertender Artikel.

[50] Hans-Joachim Müller: Die Kunst darf alles, hieß es einmal. Welt.de, 8.4.2014.

[51] Ginia Bellafante: We Need to Talk About Balthus. New York Times, 8.12.2017. • Petition der Geschwister Anna Zuccaro (26) und Mia Merrill (30): Metropolitan Museum of Art: Remove Balthus' Suggestive Painting of a Pubescent Girl, Thérèse Dreaming. www.thepetitionsite.com.

[52] Philip Kennicott: This painting might be sexually disturbing. But that’s no reason to take it out of a museum. Washington Post, 5.12.2017. • Das Thema ,Triggerwarnungen’ ist ein ganz eigenes Thema, das in den USA absurde Ausmaße angenommen hat. Im Grunde ist es eine neue Gedankendiktatur und -Polizei, eine raffinierte Zensurbehörde. Dinge werden nicht völlig unterdrückt, aber es wird brutal suggeriert, was man dabei zu empfinden habe! Man denke an die Aufforderung: ,Denken Sie jetzt nicht an einen rosa Elefanten!’ Sobald der Missbrauchskontext erwähnt wurde, ist er wie ein ,Geist aus der Flasche’ – fortan vergiftet er die gesamte Wahrnehmung. Das Bild kann noch so schön und unschuldig sein, man kann es nicht mehr so wahrnehmen: Die neue Diktatur der Deutungshoheit hat gewonnen... Der angeblich vorsichtige Hinweis an , some viewers’, die ,might be disturbed’, erstreckt seine brutale Herrschaft auf jeden Einzelnen, der diese ,Triggerwarnung’ zur Kenntnis nehmen musste. Ihr Inhalt ist längst das kollektive Deutungsmuster geworden, dem sich keiner entziehen darf. • Genau dies bestätigt auch der Kurator der Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen/Basel (2018), Raphaël Bouvier: ,Solche Hinweise animieren nicht zur Diskussion, stattdessen stellen sie ein angebliches Problem gleich in den Raum. Das wäre schon fast Zensur, verhindert aber auf jeden Fall, dass sich die Besucher ihr eigenes Bild machen können. Es sind doch so viele Leseweisen möglich.’ Jens Hinrichsen: "Die Sensibilität ist heute eine andere". www.monopol-magazin.de, 4.10.2018. • Und weiter: ,Es gibt einen veröffentlichten Brief, den 1994 eine Schulklasse an Balthus schrieb. Darin drücken die Kinder ihre Begeisterung gerade für das Bild "Thérèse rêvant" aus.’ Ebd.

[53] Kennicott, a.a.O. • Das genau ist der Punkt: Die heuchlerische Debatte rund um die Bilder von Balthus oder Kirchner tut nicht das Geringste für echte Missbrauchsopfer – sondern leugnet stattdessen nur, dass Thérèse, Anna oder Fränzi gerne Modell waren, sich jedenfalls in keinster Weise missbraucht fühlten und es auch nicht waren! • Siehe auch: ,Einige der Frauen, die in jungen Jahren für Balthus Modell sassen, haben sich später als Erwachsene sehr positiv über diese Erfahrung und ihre Verbindung zum Künstler geäussert.’ Bouvier in: Hinrichsen, a.a.O.

[54] Catrin Lorch: Lolita soll gehen. Süddeutsche.de, 6.12.2017.

[55] Raphaël Bouvier, Kurator der Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen/Basel (2018) bezeichnet das Bild ,Träumende Therese’ darüber hinaus als ,ein Hauptwerk der figurativen Kunst des 20. Jahrhunderts’. Jens Hinrichsen: "Die Sensibilität ist heute eine andere". www.monopol-magazin.de, 4.10.2018

[56] Catrin Lorch: Lolita soll gehen. Süddeutsche.de, 6.12.2017.

[57] Feministische Ansätze bringen teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht erotische Darstellungen von Mädchen und Frauen, eine patriarchalische Gesellschaft und sexuelle Übergriffe in eine geradezu lineare Beziehung zueinander. So sehr aggressiv auch Kunstprofessorin Yvonne Owens: Balthus’ Sexualized Children. medium.com, 10.12.2017. • Dass dies primär völlig unabhängig voneinander ist und ein Mädchen für einen Mann zutiefst erotisch sein kann, ohne dass er ihm je etwas tun würde, das versucht dieses Buch erlebbar zu machen. Die Erotik selbst ist eine Realität – man kann sie nicht abschaffen.

[58] Catrin Lorch: Lolita soll gehen. Süddeutsche.de, 6.12.2017.

[59] Fionnuala McHugh: Controversial artist Balthus' widow on his fixation with young girls. Post Magazine, 13.6.2015, www.scmp.com, übersetzt H.N.

[60] The Last Legendary Painter. Balthus, interviewed by David Bowie. Modern Painters 7(3), Autumn 1994, 14-33. • Auf deutsch in: Du 63(741) (2003/04), Heft ,David Bowie. Beruf: Popstar’, 54-59.

[61] Ebd., S. 58.

[62] Vergleiche: ,Ich könnte niemals eine Frau malen. Die Schönheit der Jugend ist viel interessanter. Die Jugend birgt in sich die Zukunft, das menschliche Wesen, bevor es sich in eine perfekte Schönheit verwandelt. [...] Der Körper einer Frau ist bereits vollständig, das Geheimnis ist verschwunden.’ Gilles Néret: Balthus. Köln 2003, S. 36.

[63] Michael Kimmelman: Balthus, at 88, Still a Man of Mystery. New York Times, 25.8.1996. • Über die moderne Kunst äußert sich Balthus hier mit den Worten: ,If you look at modern art you see that now everybody can do everything. And in fact nobody does anything.’

[64] Ebd., übersetzt H.N. Auch für das folgende Zitat.

[65] Nabokov tat das selbst – er verehrte Balthus, ,nicht nur, weil er lolitagleiche Geschöpfe malt’. Vladimir Nabokov: Gesammelte Werke, Band 20: Deutliche Worte. Interviews – Leserbriefe – Aufsätze. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 264, zitiert nach Andrea Bramberger: Die Kindfrau. Lust, Provokation, Spiel. München 2000, S. 274.

[66],By Poussins, of course, he means figures in the works of Poussin: pure and timeless.’ Kimmelmann, a.a.O.

[67]● Balthus: Erinnerungen. Aufgezeichnet von Alain Vircondelet. Berlin 2002. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

[68] Eine von vielen Stellen: ,Ich bestehe sehr auf dieser Notwendigkeit des Gebets. Malen, wie man betet. Auf diesem Weg Zugang zur Stille, zum Unsichtbaren der Welt erlangen.’[19] • Durch das ganze Buch weht eine große, meditative Ruhe eines sehr langen, intensiv gelebten Maler-Lebens. Daneben birgt es viele Erinnerungen an die Kunstwelt des 20. Jahrhunderts, wobei Künstler wie Chagall, Mondrian oder die Surrealisten nicht sehr positiv beurteilt werden, während Balthus mit Giacometti eng befreundet war und ihn auch ein geheimes Band mit Picasso, der ihn sehr schätzte, verband.[212] • Balthus selbst bekennt sich zur mittelalterlich-demütigen Anonymität: ,Deshalb habe ich so selten über mein Leben gesprochen, denn ich fand es unnötig, davon zu erzählen.’[34] ,Nichts geschieht ohne diese langsame Bewegung des Geistes, des Geistes der Demut, der Armut, zu der man sich verpflichten muss.’[53] • Oft wurde ihm dies als Geheimnistuerei ausgelegt, etwa als er im 1968 im Vorfeld der Londoner Tate-Ausstellung keine Angaben im Katalog haben wollte: ,When his exhibition [...] was all ready to go, he asked the organizer to remove all biographical matter from the catalog. “Just say,” he said, “that ‘Balthus is a painter of whom nothing is known. Now let us have a look at his paintings.”‘ John Russell: ‘The King of the Cats’. www.nybooks.com, 11.5.2000. (Russell selbst war der damalige Kurator und schrieb die Einleitung des Katalogs). • ,Ich habe meine Zeit auf Erden in der Begeisterung für die Malerie gelebt, einer Berufung im religiösesten Sinne des Wortes. [...] Jedes Bild habe ich als einen Schritt auf dem großen, unerschöpflichen und unbegrenzten Weg der Erkenntnis erlebt. [...] Wer geglaubt hat, ich würde mich darum bemühen, Legenden zu spinnen, hat sich getäuscht.’[245f]

[69],In meiner frühesten Kindheit gab es jene Momente des Friedens und des Glücks, die Monet und Bonnard in ihren Bildern so gut auszudrücken verstanden. [...] Nie wollte ich diesen Bezug verlieren, im Gegenteil, ich bemühte mich ihn zu verstärken. Auf diese Weise habe ich meine Kindheit niemals verlassen: Vielleicht habe ich deshalb so hartnäckig Blumen und junge, blühende Mädchen gemalt?’[230] • Leicht ist dann der Vorwurf gemacht, die mädchenliebende Seele wäre nie richtig ,erwachsen’ geworden. Allerdings muss sich dann die ,erwachsene’ Seele fragen, warum sie ein Wort wie ,Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...’ derart mit Füßen tritt – und so krampfhaft daran festhält, dass man Mädchen nicht lieben kann! Die parthenophile Seele ist sehr wohl erwachsen – die sich dagegen als ,erwachsen’ bezeichnenden Seelen sind allzuoft zu schnell und zu sehr gealtert, verhärtet und verdorrt. Sie leben innerlich gar nicht mehr wirklich. Das Mädchen lebt zutiefst – und wer das Mädchen liebt, liebt zugleich dieses Leben der Mädchenseele... Er ist noch tief empfindsam dafür und hat an demselben heiligen Leben Anteil... • Balthus erfasst das Leben des Mädchens tief, wenn er an die geliebte Antoinette schreibt: ,Oh Bébé [...]! Wie stellst Du es bloss an, mit soviel Anmut Dinge zu sagen, die, wenn andere sie sagten, unerträglich wären, die aber bei Dir [...] voller Realität, Wahrhaftigkeit und Frische sind?’ (27.1.1934, S. 127). ,Du gehörst der makellosen Welt von Kindheit und Schönheit an’ (2.2.1934, S. 129).

[70] Vergleiche: ,Ich möchte die Schönheit des Göttlichen darstellen. Nur Mozart ist dies gelungen.’ Und: ,Der Maler versucht, aus sich selbst herauszutreten, und dadurch nähert er sich seinem Schöpfer an. Wenn man malt, versucht man sein Ego zu vergessen, und genau in diesem Moment spüre ich das Licht, das Gott ist, und mein Geist und meine Hände sind nur noch Maschinen, die zuhören.’ Gilles Néret: Balthus. Köln 2003, S. 37 & 39. • Weitere Zitate aus den ,Erinnerungen’: ,Also sind Katzen und Spiegel keine Objekte, die ich dort einfüge, wo ich es gern will, sondern innere Notwendigkeit.’[196] • ,...diese Taufe, die die Malerei ist, dieses Eintauchen in die Schönheit Gottes.’[153] • ,...während doch das Werk eines Malers, wie mir scheint, die heiligsten Dinge berühren muss...’[166] • ,Die wunderbare Berufung des Malers [...] besteht darin, mit der Melodie der Welt im Einklang zu sein. [...] Das Herz der Welt sichtbar machen, ihre Kindheit, ihre Jugend. Ihr Licht.’[218] • ,Es wird behauptet, meine unbekleideten jungen Mädchen seien erotisch. Ich habe sie nie in dieser Absicht gemalt, das hätte sie anekdotisch, geschwätzig erscheinen lassen. Ich wollte sie aber gerade mit einer Aureole des Schweigens und der Tiefe umgeben, gleichsam einen Taumel um sie erzeugen. Deshalb habe ich sie stets als Engel betrachtet. Wesen, die von anderswo gekommen sind, vom Himmel, von einem idealen Ort [...].[49] • ,Mich verband stets eine natürliche, naive Vertrautheit mit diesen Mädchen [...]. Während der langen Sitzungen drehte sich alles um die Seele, ging es darum, zunächst die Seele sichtbar werden zu lassen, die Sanftheit der Seele, diese Unschuld des Geistes, das, was [...] vom Anfang der Zeiten kam und um jeden Preis bewahrt werden musste. [...] Deshalb rege ich mich immer noch über die dummen Interpretationen auf, die behaupten, meine jungen Mädchen entsprängen einer erotischen Fantasie. Das zu behaupten heißt, sie nicht zu verstehen. Mich beschäftigt ihr langsamer Wandel vom Zustand des Engels zu dem des jungen Mädchen, ich will den Augenblick dessen erfassen, was man eine Passage, einen Übergang nennen könnte.’[74f] • Balthus liebte von Kindheit an ,Alice im Wunderland’ und auch die Fotografien der echten Alice: ,Natürlich half mir Lewis Carroll mit seiner Alice, dem Zauber der Kindheit Gestalt zu verleihen. Er hatte, das erkannte ich in den Fotos seines Modells und in seinem Buch, all das verstanden, was die wirkliche Natur der Kinder an unendlich vertrautem Unbekanntem besaß, an bewahrtem Geheimnis und tiefster, ich meine ursprünglicher Unschuld, dem Wesen von Engeln gleich.’[127]

[71] An anderer Stelle sprach er einmal von dem ,leicht pfeffrigen Duft’ von ,Engeln’, kurz bevor sie die Zeit ,alter Kamele von fünfzehn Jahren’ (vieux chameaux de quinze ans) erreichen. François Rouan: Balthus ou son ombre. Paris 2001, zitiert nach Internetquellen.

[72] Wie sehr Balthus jegliche Interpretation seiner Bilder verabscheute, zeigt unter anderem folgendes Zitat: ,Man muss das Bild als ein Zur-Welt-Bringen ansehen, ein Kommen im religiösen Sinn des Wortes, seine Unlesbarkeit auf gleiche Weise eingestehen wie Maria, die nach der Heimsuchung durch den Engel niemals zu erklären sucht, was in ihr geschehen sollte. Unschuld des Erscheinens.’[133f] • Zugleich führt dies zu einer Läuterung des Malers wie auch des Betrachters: ,Die Malerei des Mittelalters wie auch die indische Malerei sprechen von nichts anderem als von einer inneren Theologie. Was sie zeigen [...] führt zu einer inneren Reflexion, einer spirituellen Erhebung, zu einer Metamorphose.’[238f]

[73] Diese Unschuld ist es, die alles Sexuelle keusch und anmutig sofort wieder in ihren Bereich einhüllt. So kann der französische Kunsthistoriker Jean Clair, später mehrere Jahre Leiter des Musée Picasso in Paris, schreiben, ,daß der Körper nie schöner als bei den Jugendlichen ist. Er erreicht hier für ein paar Monate, ein Jahr oder höchstens zwei, eine gewisse Vollkommenheit der Formen, die er nie wieder aufweisen wird. Aber diese glatte, volle Schönheit ist ohne sexuellen Reiz; sie ist eine abstrakte, reine Schönheit, die nichts erwartet und nichts verlangt.’ Jean Clair: Metamorphosen des Eros. Essay über Balthus. München 1984, S. 37. • So auch Paul Lombard in seinem Vorwort zu Balthus’ ,Erinnerungen’: ,Er verwandelte die Erotik in einen Choral, zur Enttäuschung der Voyeure und Schaulustigen.’[9]

[74] Die Landschaft und das Mädchen sind das völlige Gegenteil jeglicher Gewalt. Balthus malte das idyllische Bild ,Le Cerisier’, kurz nachdem er den Krieg an der Front erlebt hatte: ,Das war der Ausdruck einer Freudenaufwallung. Eine Art, den Krieg, das Unglück, die Geschichte zum Teufel zu jagen.’ Fondation Beyeler: Balthus. Saaltexte (Beiheft zur Ausstellung 2018). • ,Was soll man sagen, was hinzufügen? Es gibt keine andere Absicht als die, Schönheit zu erschaffen, tief und spirituell. In einer fernen Welt zu Hause, bietet sie sich auf der Leinwand dar.’[243]