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David Hamilton (1933-2016)
Hamilton ist weltweit bekannt geworden als der Mädchen-Fotograf mit dem Weichzeichner. Seine Bilder hatten und haben einen ganz unverkennbaren Stil.
In London geboren, verbrachte er seine frühe Kindheit während des Krieges in einem Örtchen in der Grafschaft Dorset. Mit fünfzehn begann er eine Schreinerlehre und wurde schnell in den Planungsbereich versetzt. Nach zwei Parisreisen zog er nach Paris und war für verschiedene Firmen tätig, bis ihm der künstlerische Leiter der Zeitschrift ,Elle’ eine Stelle als Layouter gab. 1960 wurde er dann selbst künstlerischer Leiter des britischen Magazins ,Queen’, kehrte dafür nach London zurück, überwarf sich aber recht bald mit dem Herausgeber. Erneut in Paris, wurde er künstlerischer Leiter des Kaufhauses ,Printemps’.[1]
Mit einer neu erworbenen Kamera fotografierte er zunächst Stilleben und Straßenansichten, dann aber auch Fotomodelle für Kaufhauswerbung, und mietete ein Studio, in dem er oft prominente Gäste hatte. 1962 erkundete er die Umgebung von Saint-Tropez, dessen Nacktbadestrände seine Einstellung veränderten. In Ramatuelle kaufte er ein altes Gebäude, und hier bildete sich allmählich sein Stil heraus.
1965 machte Hamilton sich selbstständig. Bald entstanden auch erste Aktaufnahmen, und ab den 70er Jahren veröffentlichte er mehrere Bildbände. Die bekanntesten sind:[2]
1971 ,Dreams of a Young Girl’
1972 ,Sisters’, ,La Danse’ und ,Les Demoiselles d'Hamilton’
1976 ,The Best of David Hamilton’ und ,Private Collection’
1977 ,Bilitis’
1978 ,Souvenirs’ und ,The Young Girl’
1980 ,Secret Garden’
1981 ,Tender Cousins’
1995 ,The Age of Innocence’
Die ersten zehn Bände wurden zusammen geschätzt über eine Million Mal verkauft. Vor allem in Japan gab es auch große Ausstellungen. 1976 ließ Hamilton sich überreden, auch einen Film zu machen, und es entstand ,Bilitis’ (1977). Es folgten ,Die Geschichte der Laura M.’ (1979), ,Zärtliche Cousinen’ (1980), ,Erste Sehnsucht’ (1983) und ,Ein Sommer in St. Tropez’ (1983).[3]
Die ältere der beiden Hauptdarstellerinnen im Film ,Bilitis’ war Mona Kristensen (geb. 1950), mit der er dann zwanzig Jahre zusammenblieb.[4]
Im Laufe der 90er Jahre wurden seine Bilder dann von vielen Kritikern hinterfragt. Im Oktober 2016 schließlich erschien das Buch ,La Consolation’ (Die Tröstung), in dem die Fernsehmoderatorin Flavie Flament offenbarte, in den 80er Jahren von einem bekannten Fotografen vergewaltigt worden zu sein. Bald fiel auch Hamiltons Name. Dieser wies die Vorwürfe zurück, kündigte juristische Schritte an, beging dann aber Ende November Selbstmord.[5]
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Flaments Buch[6] erschien am 19. Oktober 2016 – und trug als Cover ein Foto, das Hamilton 1987 von ihr gemacht hatte, als sie dreizehn war. Sie habe gewusst, dass sich dann andere Opfer melden würden. Am 16. November veröffentlichte das Wochenmagazin ,L’Obs’ Aussagen von drei weiteren Frauen[7] – und einen Tag später[8] bestätigte Flament, dass es auch bei ihr um Hamilton ging. Am 22. November drohte Hamilton rechtliche Schritte an, aber drei Tage später wurde er mit einer Plastiktüte über dem Kopf tot in seiner Wohnung gefunden.[9]
In dem Artikel von ,L’Obs’ äußerten zwei Frauen, am gleichen Ort wie Flament Opfer geworden zu sein: in Le Cap d’Agde bei Montpellier, wo Hamilton eine Wohnung hatte. ,Alice’ (Pseudonym) habe Flament schüchtern über Facebook kontaktiert, und es habe sich sogar gezeigt, dass die Mädchen einander damals begegnet seien, als Flament auf dem Weg zu ihrer ersten Fotosession war, und dass Alices Vater sogar die Freundlichkeit des Fotografen gelobt habe. ,Lucie’ habe Flament über deren Webseite kontaktiert, und auch hier habe sich gezeigt, dass sie sich kannten und sogar auf einigen Bildern zusammen posiert hätten. – Eine dritte Frau gibt an, bereits 1967 in Ramateulle Opfer geworden zu sein, was zwanzig Jahre vorher die absolute Anfangszeit der Hamilton-Fotografie betroffen hätte.[10]
In Frankreich verjährt der Tatbestand bisher zwanzig Jahre nach Erreichen der Volljährigkeit. Die 42-jährige Flament behauptete, ihre Erinnerung sei erst in den letzten Jahren wiedergekehrt, und dann sei es zu spät gewesen.[11] Ihr eigener Bruder Olivier Lecanu widersprach ihr: Sie hätten in der Familie vielfach darüber gesprochen. Damals habe sich Flavie über unangemessene ,Gesten’ beschwert und die Eltern hätten die Sitzungen sofort unterbrochen.[12]
Doch die Aussagen der ehemaligen Mädchen und sein eigener Selbstmord belasten Hamilton zu eindeutig. ,Alice’ habe er ins Ohr geflüstert, ob sie ein Geheimnis bewahren könne, und hinterher gesagt, sie habe Glück, dass er sie gewählt habe, auch wenn sie nicht so schön sei; andere würden lieben, was er mit ihnen mache. Beide, Alice und Lucie, hätten dasselbe Geschehen wie Flament angegeben: ,ein Streicheln, das abgleitet, der Kopf unvermittelt zwischen ihren Beinen, ein Eindringen...’ Und ihre eigene Erstarrung. Beide behalten auch im späteren Leben Ängste und Blockaden.[13]
Alice hatte Selbstmordgedanken, leitete zehn Jahre später, 1997, rechtliche Schritte ein. Hamilton bestritt die Vorwürfe. Für das weitere Prozedere hätte sie 30.000 Francs hinterlegen müssen, und sie gab auf. ,Lucie’ zeigt Screenshot-Fotos von Bildern, die auch sie zeigen: ,Es ist unerträglich, zu sehen, dass er uns noch immer benutzt! Schauen Sie sich die Blicke an! Ah, diese berühmten melancholischen Hamilton-Blicke! Aber jetzt wissen Sie, warum sie melancholisch waren!’[14]
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Am 7. November 2017 wurde die schockierende Verfilmung von Flaments Buch auf France 3 ausgestrahlt.[15] Das Buch selbst schildert eine weit über die Vergewaltigung hinausgehende Einsamkeit und Vernachlässigung eines Mädchens, das dieses gleichsam zum perfekten Opfer machte.[16]
Es ist zweifellos, dass Hamilton auf vielen seiner Bilder und in seinen Filmen die erwachende Sexualität der Mädchen sichtbar macht und – in bestem Sinne – verherrlicht. In bestem Sinne bedeutet: zart und unschuldig. Doch sein späteres Werk wird hier dann sehr explizit. So zeigt ,The Age of Innocence’ das sexuelle Träumen der Mädchen begleitet von Texten Hamiltons, der auf den letzten Seiten schreibt:[17]
In ihren Tagträumen denkt sie an jenen Mann, der eines Tages zu ihr kommen wird, als Antwort auf ihre Fragen. Vielleicht ist er ein Prinz, ein Ritter auf einem weißen Hengst, ein Mann in Militäruniform... Sie ist liebreizend, unsere Nymphe, und ihr Potenzial ist unendlich. Der Himmel gewähre ihr den Mann, der ihrer würdig ist und der, zu ihr kommend, Sex mit Zärtlichkeit bringen wird. Sie hat ihre Jungfräulichkeit und ihre Unschuld; sie wird sie, wenn sie Glück hat, zu seiner Zeit gegen Erfahrung und Liebe eintauschen.
Das Problem ist, dass mit dem Aussprechen dieser Worte eine Ausdrücklichkeit überschritten wird, die die Unschuld dieser Mädchen gleichsam auf einem Tablett präsentiert – und unauflöslich mit dem Autor solcher Zeilen und dessen eigener Interpretation vermengt. Die träumerischen Hamilton-Mädchen haben vielleicht solche Phantasien und in ihrer Seele sind diese wirklich zutiefst unschuldig, aber der – angeblich – ,wissende’ Blick und die ausgesprochenen Worte treten ihnen zu nahe, bedienen nur die Sentimentalität des Voyeurismus oder gar Altherrenphantasien.
Dabei können die meisten Worte immer noch wahr sein. Aber die Verbindung bestimmter Gedanken mit einem bestimmten Mädchen lässt sie zum bloßen ,Exemplar’ werden, sie verliert ihre Individualität, das Geheimnis eines Unverletzlichen, und wird zur Schau gestellt – gipfelnd in zwei Worten: ,unsere Nymphe’... Dies verletzt die Unantastbarkeit der Mädchen auf das Tiefste.[18]
,Nymphe’ ist eine bloße Kategorie, die mit der Lüsternheit des Betrachters korrespondiert – der wissende, männliche Erwachsene, der angeblich weiß, wie sehr die sexuellen Träumereien des noch unschuldigen Mädchens an die Oberfläche drängen. Und das Wörtchen ,unsere’ macht dieses Mädchen dann vollends zum Gemeineigentum der ungezählten Betrachter – ein Objekt zum Herumreichen. Nicht mehr das Mädchen zählt, sondern nur noch die Befriedigung des ,wissenden’ Betrachters. Die angebliche Sehnsucht des Mädchens nach dem noch vagen Mann ihrer Träume ist völlig eins geworden mit der Begierde des betrachtenden Mannes nach dem Körper des Mädchens.
Ein ,Spiegel’-Artikel schrieb zum 80. Geburtstag des Fotografen:[19]
[...] wahrte Hamilton keinerlei Distanz zu seinen Modellen. Er schien, im Gegenteil, förmlich in sie hineinzukriechen. Die angebliche Unschuld wurde dadurch gefeiert, dass sie dem erotisierten Blick ausgeliefert und damit geraubt wurde.
Das ist so nicht wahr. Aber es trifft auf Hamiltons spätere Begleittexte zu. Die Hamilton-Bilder – und hier meine ich jetzt insbesondere die frühen, die ,typischen’ – erzeugen und besitzen einen unglaublichen Schwebezustand. Texte wie der genannte zerstören diesen völlig. Das Empfinden des Innenlebens der Mädchen dürfte sich nur in der Seele des einzelnen Betrachters ereignen. Nur so kann das Heiligtum des Seelischen gewahrt werden. Was das Mädchen in der Wirklichkeit, und sei es nur die Wirklichkeit des arrangierten Fotos, empfinden mag, darf nicht gesagt werden – weil die Innenwelt eines Menschen und gerade eines Mädchens ein Heiligtum ist.
Und letztlich ist gerade dies das Geheimnis der (echtesten) Hamilton-Bilder. Sie scheinen sehr explizit zu sein. Dennoch zeigen sie stets nichts anderes als die Unschuld von Mädchen. Was auch immer diese Mädchen träumen – gerade das ist das Geheimnis. Auch wenn es ein gleichsam ,offenbares Geheimnis’ sein mag, dass in ihnen eine unschuldige Sexualität auf dem Weg zu einem Erwachen ist, macht gerade die Darstellung dieser unbeschreiblichen Unschuld, dieses Noch-Mädchen-Sein, den vollkommen Zauber der Hamilton-Bilder aus.
Das Geheimnis ist, dass diese Mädchen wirklich träumen; dass das Träumende gerade das Geheimnis der Mädchen ist, ein heiliger Teil ihres nicht zu beschreibenden Wesens. Und Hamilton war ein Meister, dies sichtbar zu machen. Das Geheimnis eines Mädchens kann auf diese Weise nicht enthüllt werden. Es wird offenbart, in einer einzigartigen Schönheit, aber nicht enthüllt – bis Texte dazukommen.[20]
2007 erschien dann ein Band mit ,erotischen Geschichten’.[21] Im Vorwort erzählt die Übersetzerin von einem Treffen mit Hamilton. Hierbei sagte er ihr: ,Je älter man wird, desto öfter denkt man an Sex, oder?’ und bekannte, dass er schon seit zehn Jahren solche Geschichten schreibe, nachts und wie unter Zwang.[22] Hamilton selbst hätte den dreizehn hier veröffentlichten Geschichten den Titel ,Die Verführung der Unschuld’ gegeben.[23] Und die erste Kurzgeschichte trägt den bezeichnenden Titel ,Die Zunge des Teufels’.[24]
Könnte sich der Teufel, so der erste Satz, eines menschlichen Körperteils bemächtigen, ,er würde sich wohl für die Zunge entscheiden’. Sie könne sich in das Herz eines jungen Mädchens einschmeicheln, dann irgendwo ,einen keuschen Kuss’ platzieren und dann, wo auch immer dieser Ausgangspunkt war, sich in Liebkosungen ,dem Mädchen nun von allen Seiten nähern’. Ihr Weg führte sie dann ,bis in das verbotene Tal’, das, ,inzwischen von Nässe durchtränkt, bereit ist, sie zu empfangen’. Von unten käme sie über die ,milchweißen Schenkel’, die ,sich gegen den Willen ihrer Herrin von ganz alleine zu öffnen scheinen’. Und mehr noch, da sie sich dem Teufel verschrieben habe, könne sie auch fordern, ,die Erste sein zu können’, nicht dort zu speisen, wo es andere längst schon taten. Hamilton spricht von ,Tagesbeute’, als wenn diese Zunge täglich ein jungfräuliches Mädchen vernaschen würde.[25] Und er schließt: Die Hände seien gar nicht nötig, denn bereits die Zunge habe alle Schranken beseitigt. ,Nun kann der coup de grâce, der Gnadenstoß, erfolgen.’
In dieser 2007 erschienen teuflischen Geschichte beschreibt er, was er zwanzig Jahre zuvor offenbar real mit drei Mädchen gemacht hat, die bei diesem Tun erstarrten – und es sollte noch einmal fast zehn Jahre dauern, bis es ans Licht der Öffentlichkeit kam.
In der Geschichte wird deutlich, dass die Zunge und ihr Träger nicht etwa ein Mädchen lieben, um seiner selbst willen und mit seinem ganzen Wesen, sondern nur ihren eigenen Genuss. Das Mädchen wird zur austauschbaren, ja täglich wechselnden Beute. Und der Genuss und Verzehr dieser Beute, der Raub ihrer Unschuld, wird sogar noch als ,Gnade’ bezeichnet, weil in dieser Phantasie das Mädchen so erregt wird, dass es nichts anderes mehr will.[26]
Hier erreicht ein männlich-dekadentes Unterwerfungswesen die höchste Stufe seines Hochmutes – wie ein Don Juan. Die Zahl der Entjungferungen wird wie eine Trophäe betrachtet, und man meint vielleicht sogar noch, dass die Mädchen sich glücklich schätzen müssten, von einem so vollendeten Verführer ,beglückt’ worden zu sein. Dies ist Narzissmus in höchster Potenz – das eigene sexuelle Lusterleben sieht sich noch als Gnadenspender derjenigen ,Objekte’ und ,Tagesbeuten’, deren Unschuld geraubt wird.[27]
Während Elvis sich keine weiteren Gedanken darüber machte, was er in diversen Mädchenherzen anrichtete, ist ein Don Juan geradezu zum Jäger nach Jungfräulichkeit geworden. Und während man bei Elvis auch noch ein seelisches Bedürfnis spüren konnte, eine Art Bedürfnis nach Liebe, danach, geliebt zu werden, auch nach seelischer Nähe, ist dies in der Don-Juan-Seele ganz der Lust am sexuellen Erlebnis als solchem gewichen – die Seele giert völlig verloren und gefallen nur noch nach dem weiblichen Genitale, und hier nur noch nach ,Trophäen’, nach neuen Eroberungen, nach immer neuer Tagesbeute...
Was hier geschehen ist, ist der völlige Fall in die Schuld. Tiefer kann der Fall nicht mehr sein – der Fall in die bloße Körperlichkeit ist der letzte. Er kann noch vervollständigt werden durch bloße Pornographie, Vollzug des rein körperlichen Aktes, oder in vollständigen Vergewaltigungen, in Lustmorden – aber im Grunde ist der Fall in die Schuld schon mit der Don-Juan-Dekadenz vollkommen.
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In völligem Gegensatz dazu steht die Unschuld der Mädchen – und gerade der Hamilton-Mädchen. Und Hamilton hat es selbst ausgesprochen, was ein derart unschuldiges Mädchen sucht, wonach es sich sehnt, wovon es träumt: von einem Prinzen. Nicht von einem Don Juan. Es ist der völlige Gegensatz. Es träumt von der lebenslangen treuen Liebe – nicht davon, Tagesbeute einer Lustseele zu werden.
Und nun muss man den Rückweg zu den wirklichen Hamilton-Bildern finden. Denn auf ihnen sieht man Unschuld. Und das Geheimnis mehrerer Hamilton-Bilder liegt gerade darin, dass sie sich selbst da zeigt, wo der Fotograf möglicherweise überhaupt nicht unschuldig ist – oder erst recht da.
In einem Bild[28] sieht man zwei Mädchen am Fuße einer Kiefer an einem heißen, sommerlichen Nachmittag. Das eine Mädchen lehnt an deren Stamm, es trägt einen Sonnenhut und ein leichtes Kleid, die schlanken Beine völlig frei, im vertrockneten Gras liegt ein aufgeschlagenes Buch. Direkt daneben, ganz im Vordergrund, liegt schlafend-unschuldig ein jüngeres Mädchen, der Ellbogen ruht auf dem zur Seite gelegten Strohhut mit schöner Schleife. Seine Beine sind von zarten weißen Strümpfen ganz bekleidet. Das leichte, sehr kurze Kleid bedeckt kaum das junge Gesäß. Man sieht das Höschen des Mädchens, und selbst dieses ist im Schlaf etwas verrutscht. – Das ganze Bild zeigt die reinste Jugend des jüngeren Mädchens, und es ist hoch erotisiert, in seiner ganzen Unschuld zutiefst verführerisch. Aber zugleich dennoch: absolut unschuldig. Und dies gerade – dies war die absolute Meisterschaft Hamiltons. Er zeigte die Unschuld, indem er sie erotisierte, was aber nur den Betrachter betraf, niemals die Mädchen.[29]
Die Frage, wie man gegenüber den Hamilton-Bildern zu empfinden vermag, ist eine absolut essenzielle. Und diese Frage betrifft zunächst einmal den eigenen Blick.
Wer bei seinen Bildern von ,Pornografie’ oder, scheinbar gemäßigter, von ,Softpornografie’ spricht, weiß nicht, wovon er redet – aber man wird auch schwerlich mit ihm reden können, weil er die Bilder auf das Schärfste ablehnt.[30]
Was er aber ablehnt, ist, dass Mädchen eine Erotik und auch eine erotische Wirkung haben – und haben können. Gar so mancher, der die Hamilton-Bilder ablehnt, dürfte vor seiner eigenen Sexualität weglaufen, um nicht zugeben zu müssen, dass ihn eines der Hamilton-Mädchen tatsächlich erotisch berühren könnte. Er lehnt dann ab, dass Mädchen ,so’ fotografiert werden, weil nicht sein kann, was nicht sein darf...
Aber was heißt nun eigentlich dieses ,so’? Wie fotografiert Hamilton die Mädchen denn? Wir berühren hier ein Gebiet, das ein wenig demjenigen ähnelt, das wir schon bei dem Maler Balthus gefunden hatten. Dennoch unterscheidet sich Hamilton von ihm auch wiederum wesentlich. Denn Balthus malte seine nackten oder nicht nackten Mädchen fast ohne alles Umfeld, wenn auch dennoch in einer streng komponierten Umgebung – Hamilton dagegen fotografiert die Mädchen in einer Komposition des Bildes, die eine unglaubliche Atmosphäre schafft.
Für Balthus ist das Mädchen gleichsam ,einfach so’ unschuldig – Hamilton zeigt die Unschuld selbst. Balthus zeigt sozusagen die paradiesische Schönheit des Mädchenleibes an sich, und man soll diese erkennen. Hamilton zeigt die Seele der Mädchen. Ihre jungen Leiber sind in Handlungen begriffen – und sei es unschuldiger Schlaf... Balthus’ Spätwerke wie ,Schlummernder Akt’ oder auch seine Fotos von Anna Wahli nähern sich noch am ehesten der Hamiltonschen Atmosphäre.
Aber Hamilton fotografierte immer wieder mit diesem ,Weichzeichner’-Effekt, den er durch Vaseline auf der Linse erreichte. Dadurch erscheinen die Bilder wie durch einen leisen Schleier – und zugleich wie entrückt, zeitlos, wie aus einem verlorenen Paradies oder einem unwirklichen Traum. Und es ist gerade dieses Softe, dieses Weiche, dieses unendlich Zärtliche, was dem Wesen der Mädchen so zutiefst entspricht. Man kann sagen, dass auf diese Weise das übersinnliche Wesen der Mädchen sichtbar gemacht wird – etwas, was eine naturgetreu-äußerliche Fotografie niemals könnte. Dieser Effekt schafft eine Verwandlung des ganzen Bildes, die mehr sichtbar macht als nur das Äußerliche – die eine Atmosphäre schafft, die erst das Wesen des Mädchens berührt.[31]
In einem Internet-Text, der die Vaseline-Technik erwähnt, fand ich folgenden Abschnitt:[32]
Andere kritisierten das jugendliche Alter seiner Aktmodelle. Lauter Lolitas aus damaliger und vermutlich auch noch nach heutiger Sicht. [...] Weichzeichnen gehört seither zum Standardprogramm, das jeder Fotograf beherrscht. [...] Mit Photoshop genügen schon einige Klicks und zack wird aus dem Model eine Schöpfung aus feuchten Männerträumen.
Solche Worte sind typisch für die heutige Zeit – und für eine Erkenntnisart, die weder die Meisterschaft der Hamilton-Fotografie noch die eigene seelische Armut erkennen kann. Man spürt überhaupt nicht mehr, wie sehr man sich nur noch im Intellektuellen, im bloßen Kopf bewegt. Herz und Seele sind gar nicht mehr wirklich anwesend – und an die Seele ,glaubt’ ja ohnehin niemand mehr. Hier aber befinden wir uns an dem alles entscheidenden Punkt!
Wo sich sämtliche Begriffe verwirren, kann keinerlei Erkenntnis mehr entstehen. Zunächst: Was sind überhaupt ,Lolitas’? Die Hamilton-Mädchen sind geradezu das absolute Gegenteil einer Lolita. Weder sind sie sich ihrer verführerischen Wirkung bewusst, noch lächeln sie verführerisch – sie tun nichts, was irgendwie auf den Betrachter zielen würde, denn dieser existiert überhaupt nicht für sie. Gerade das ist das Geheimnis der Unschuld dieser Mädchen.
Selbst da, wo die Mädchen den Betrachter (oder Fotografen) ansehen, lebt in ihrem Blick reinste Unschuld, nichts Verlockendes, eher Abwehr. Hamilton fotografierte immer wieder blonde Mädchen eines nordisch-schlanken Typs, die ernst und mit sich beschäftigt blicken, träumend oder von einer innerlichen Tiefe, während eine ,Lolita’ gerade nach außen agiert – verlockend oder provizierend, jedenfalls ohne innere Tiefe, inneren Ernst und jenes Melancholische, was alle Hamilton-Mädchen haben.[33]
Dieses Melancholische bedeutet nicht ,traurig’ im direkten Sinne, es beinhaltet viel mehr jenes Träumerische, das jenen Mädchen so eigen ist, die am Übergang ihrer erwachenden Weiblichkeit stehen – und deren Seele zugleich eine Tiefe hat, die das Wesen des reinen Mädchens ausmacht.
Die zweite Bemerkung des obigen Zitats vergeht sich im Grunde erneut an diesem heiligen Wesen der Mädchen. ,...und zack wird aus dem Model eine Schöpfung aus feuchten Männerträumen’. Hier wird das Modell zum bloßen Objekt degradiert! Während Hamilton eine wirkliche Atmosphäre schuf, agiert der moderne Fotograf mit Knopfdruck – zack, fertig...
Man bräuchte die Hamilton-Bilder, um wieder empfinden zu können, worin der Unterschied seelenloser Sätze und wirklich seelischen Empfindens liegt. Wenn man sie aber schon mit einem ,Photoshop-Klick’ vergleicht, ist bereits alles verloren... Sie könnten die Wahrnehmung gerade heilen – stattdessen werden sie hier selbst mit seelen-entleerten Aktionen auf eine Stufe gebracht und heruntergezogen.
Und das Letzte: ,eine Schöpfung aus feuchten Männerträumen’? Was soll dies wiederum heißen? Auch hier schafft die Wortwahl wieder aktiv eine Blindheit gegenüber der anderen Seite der Wirklichkeit – der des Mädchens. Demnach wäre jeder Weichzeichner ,feuchte Männerphantasie’? Und könnte niemals das heilige, wundervolle, in seiner Heiligkeit und seinem Wunder unantastbare Wesen des Mädchens sichtbar machen?
Man muss wohl eine tief empfindsame und auch das Wesen des Mädchens tief liebende Seele haben, um erkennen zu können, dass gerade dies der Fall ist.
Das Mädchen wird durch den Weichzeichner wahrhaft sichtbar, weil dieser Weichzeichner und das Wesen des Mädchens geradezu eins sind. Die bloße Linse zeigt die bloße äußere Erscheinung – der Weichzeichner aber zeigt mehr. Er zeigt auch die innere Erscheinung, das Wesen...[34]
Und natürlich sind es Männerträume, dass sich wirklich das Mädchen offenbaren möge und nicht bloß eine beliebige, ,moderne’ Göre oder ,Emanze’, die bloß zufällig noch das weibliche Geschlecht mitbekommen hat. – Wie es auch Mädchenträume (nicht: Gören- oder Emanzenträume) sind, dass sich wirklich der Prinz oder der Ritter offenbart und nicht ein ganz gewöhnlicher Mann oder gar noch ein bloßer ,Beutejäger’.
Das Mädchen sucht jenes Gegenüber, das seiner reinen, noch ganz in unschuldiger Zartheit webenden Seele entspricht und diese zutiefst verstehen kann.
Es ist wohl auch deswegen, warum manches Hamilton-Bild auch Zärtlichkeit zwischen Mädchen zeigt. Weil es einfach kein männliches Wesen – Junge, Mann – gibt, dass der unbeschreiblichen Zartheit und Unschuld dieses Alters irgendwie würdig ist. Aus einem zutiefst natürlichen Impuls heraus suchen die Mädchen zuerst in einem anderen Mädchen ein zärtliches Gegenüber.
Wenn die Weiblichkeit, auch die Sexualität, erwacht, so tut sie dies bei den Hamilton-Mädchen in ihrer allerunschuldigsten Form – in tiefster Zärtlichkeit. In diesem gleichsam noch himmlischen Stadium hat ein Junge einfach noch gar keinen Platz...
Und so offenbart die Zärtlichkeit zweier Mädchen – vor allem zweier Hamilton-Mädchen – miteinander in anderer Weise das Wesen der Mädchen überhaupt. Der Weichzeichner ist nicht das Mittel für ,feuchte Männerträume’, sondern Mädchen sind so weich, so zart, so zärtlich, so unschuldig.[35]
Im Internet ist ein Bild zu finden, das den Titel ,La chevelure blonde’ trägt – blondes Haar. Das dort in sanftem Licht eingefangene Mädchen breitet in einer natürlich-anmutigen Geste gerade sein wunderschönes Haar aus. Des Betrachters völlig unbewusst, blickt es über die sanfte Wölbung seiner Schulter zur Seite, obwohl das schöne Gesicht selbst dem Betrachter vollkommen zugewandt ist. Die leicht geöffneten Lippen betonen das Selbstvergessene. Am unteren Rand des Bildes sieht man noch die kleine, aber makellose Brust des Mädchens.
Auch dieses Bild ist ein Meisterwerk eingefangener Atmosphäre und zugleich ein Werk absoluter Schönheit. Es zeigt die unglaubliche Schönheit eines Mädchens, wie es sie nur in diesem Alter hat. Es ist ein einzigartiger Punkt in der ganzen Entwicklung – und Hamilton ist ein Meister darin, diesen Punkt einzufangen. Mit seiner ganzen künstlerischen Fähigkeit macht er diesen Punkt sichtbar – so sehr, dass daraus eine unglaubliche Atmosphäre entsteht.
Die Mädchen geben für diese Fotos ihre unbeschreibliche Schönheit – und Hamilton macht sie mit seinem ganzen Können sichtbar. Das ist das wahre Geheimnis der Hamilton-Bilder. Es sind die Mädchen selbst – aber in einem Idealzustand, einem paradiesisch eingefangenen Moment in ihrer ganzen Entwicklung. Es ist jener Moment, an dem die Entwicklung wie in einem heiligen Zauber scheinbar für einen Moment stehenbleibt. Und dieser Zauber ist der Inbegriff des Mädchens.
Auf einem anderen Bild, dessen Titel ich nicht weiß,[36] steht in diesem weichen Schleier ein nacktes Mädchen vor dem Betrachter – und ist wiederum selbstvergessen in eine anmutige Bewegung versunken. Der auf dem Bild linke Arm berührt weich die eigene Schulter, der rechte Arm bewegt sich bis zum Hinterkopf. Das weiche, fast taillenlange Haar ist von einem wunderschönen weißen Blütenkranz geschmückt. Das Mädchen blickt versunken wie nach unten und erscheint so geradezu schlafend. Die flache, mädchenzarte Brust bildet die Bildmitte, der sanfte Hügel der unbehaarten Scham den unteren Bildrand. Die ganze Anmut der Bewegung könnte von einer klassischen Statue nicht schöner eingefangen sein. Man könnte dieses Bild als ,Mädchenakt’ bezeichnen. Aber es ist zugleich unendlich viel mehr... Es zeigt die nicht in Worte zu fassende Schönheit eines Mädchens – und zwar gerade dieses Mädchens.
Ein solches Foto ist ein absolutes Kunstwerk. Man vergisst gleichsam vollkommen, dass es sich um ein Foto handelt – so, wie man bei einem guten Film vollkommen vergisst, dass es sich um einen Film handelt. Man versinkt in das Foto und dessen Schönheit. Das Auge wandert die Einzelheiten des Leibes entlang, aber nicht, um ihn lüstern abzutasten, sondern um diese unbeschreibliche Schönheit und das unantastbare Wesen dieses Mädchens zu bewundern.[37]
Auch dieses Bild hat in gewisser Weise eine unglaubliche Erotik, aber auf einer anderen Ebene weicht diese jener eben angedeuteten vollkommenen Schönheit – einem zutiefst ästhetischen Erleben, dass diese vollkommene, jugendlich-zarte Schönheit mit einem heilig-bewundernden Blick geradezu anbeten kann. Was hier gemeint ist, ist aber quasi nicht in Worte zu fassen und kann nur von dem verstanden werden, der es selbst zu erleben vermag.
Es ist eine absolute Hingabe an die Schönheit, ein tiefes, heiliges, verehrendes, reines Berührtwerden von ihr. Dann geht es überhaupt nicht mehr – oder: überhaupt noch nicht – um Erotik, sondern um die unbeschreibliche Schönheit, die auch jeder Erotik zugrundeliegt. Die aber auch jedem heilig-wunderbaren Sonnenuntergang zugrundeliegt. Man rührt hier wirklich an das Wesen von Schönheit überhaupt. Und dies – dies macht das Geheimnis der Hamilton-Bilder aus. Im Grunde sind sie immer wieder eine heilige Feier der Schönheit – in diesem Fall der Schönheit, die in dem jungen Wesen der Mädchen lebt, die gleichsam ihre Trägerinnen, ihre Botinnen, ihre Hüterinnen sind...
In meiner eigenen Jugendzeit fiel mir einmal ein Hamilton-Band in die Hände. In meinem eigenen Idealismus und meiner Verehrung für das Wesen der Mädchen empfand ich damals viele der Akte und Fast-Akte als ,falsch’ – aber nicht, weil es nicht alles wunderschöne Mädchen waren, sondern weil sie auf diese Weise jedem beliebigen Blick preisgegeben waren. Aber was bedeutete das? Ich verurteilte in gewisser Weise den mir unbekannten Fotografen, aber eigentlich nicht so sehr ihn, als vielmehr all die gewöhnlichen Betrachter dieser Bilder. All die tausende anonymen Käufer dieser Bücher, die diese Bilder nicht auf dieselbe Weise anschauen würden, wie ich es tat – in meiner Verehrung für das Wesen dieser Mädchen. Sie, diese anderen, wären es, die diesen Mädchen zu nahe treten würden, mit ihren Blicken, mit ihren Gedanken. Ich liebte sie innig und in tiefster Achtung...
Ich erinnere mich noch, dass ich mich damals vor allem in ein Mädchen verliebte – und dieses war gerade bekleidet. Es trug ein schwarzes ,Balletthemd’ mit dünnem Träger, darüber eine Art Bluse mit weiten Ärmeln. Am unteren Bildrand schaute der Schamhügel an einer Seite ein wenig hervor, aber dies blendete ich völlig aus, meine empfindende Seele lebte ganz in der oberen Bildhälfte. Und diese zeigte den Inbegriff eines wunderschönen Mädchens in seinem ganzen unschuldigen Wesen.
Die weiche Bluse war rechts etwas zur Seite gerutscht, und man sah, wie der dünne Träger über die zarte Kontur des Schlüsselbeins lief. Das dunkle Haar des Mädchens (für Hamilton ganz ungewöhnlich, was ich damals natürlich nicht wusste) war kaum schulterlang und verlief nur in wenigen, zart-anmutigen Strähnen am Gesicht entlang. Mit einer sanften Geste hatte das Mädchen eine dieser Strähnen gefasst, wie wenn es sich leise daran festhalten wollte. Mitten in dieser Bewegung gefangen, blickte es den Betrachter an – mit einem Blick, den man kaum beschreiben kann. Ich habe kaum jemals wieder so schöne und zugleich reine, unschuldige Augen gesehen. Leise forschend, fragend, zurückhaltend blickten sie – und sie und die Geste, all dies war zarteste Abwehr, nein, nicht einmal Abwehr, sondern Unsicherheit, aber zugleich auch wirkliches Innenleben, ein unbeschreibliches Gleichgewicht von schwebender Zartheit, von unschuldigster Schönheit. In diesem Blick lag so unendlich das zarte Mädchenwesen selbst – und das Wesen gerade dieses einen Mädchens.
Der liebliche Kopf des Mädchens blickte den Betrachter nicht frontal an, war auch minimal geneigt, auch dies unbeschreiblich zarte Nuancen. Und dann die Schönheit ihrer Augen, ihrer Augenbrauen, ihres Mundes – und dieser zarten Haarsträhnen!
Bei näherer Betrachtung sah man, dass Augenbrauen, Wimpern und Mund wohl auch nachkonturiert waren, dass ihre natürliche Schönheit künstlich noch leise betont wurde. Das erschien mir damals einerseits als falsch, als Makel, als Betrug, ja vielleicht sogar als ein Vergehen an dem Mädchen, und zugleich konnte ich doch nicht umhin, das Verführerische dieser nur in winziger Nuance bestehenden Betonung zu empfinden und zu bewundern. Dass es überhaupt betont war, sah man aus normaler Entfernung gar nicht, es wirkte vollkommen natürlich – aber erst durch diese leise Nuance überirdisch schön, einzigartig...
An diesem einen Bild offenbarte sich für mich im Grunde alles, was das heilige Wesen der Mädchen ausmacht: Schönheit, Anmut und Unschuld ... Sanftheit, Unsicherheit und zugleich Tiefe ... Vorsicht, Zurückhaltung und Liebreiz, ein unendlich gutes Wesen, guter Wille und zugleich Schutzlosigkeit dessen...
Auch dieses Bild zählt zweifellos zu den absoluten Meisterwerken der Fotografie.
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Ich möchte nun einige Meinungen aus dem Internet anführen – aus den Amazon-Rezensionen zu dem Bildband ,The Age of Innocence’.
Ein Rezensent fragt, ob man meinen könne, dass der menschliche Leib an sich obszön sei – und wenn man dies verneine, wie man dann meinen könne, die Schönheit eines Aktes würde sich erst mit Erreichen des 18. Geburtstages von etwas Obszönem in ,Kunst’ verwandeln. Der einzige Weg, dieses Paradox zu vermeiden, sei, das Buch als das zu nehmen, was es ist: ,a beautiful and deeply erotic examination of girls on the cusp of maturity. (A subject which is sadly taboo in Anglo-American society.)’ Der Rezensent fragt dann, ob irgendein Mann von sich sagen könne, dass er beim Betrachten dieser Bilder kein Begehren bzw. Sehnsucht oder Erregung empfinde – und zugleich, ob irgendeine Frau von sich sagen könne, sie habe in diesem Alter nicht begehrt werden wollen...[38]
Ein anderer Rezensent, Vater von zwei Mädchen, ist von der Erotik einiger Hamilton-Bilder – und insbesondere seinen eigenen Gefühlen dabei – irritiert und richtet so genau jene innere Schranke auf, von der der vorherige Rezensent gesprochen hatte:
On the other hand, some of the photos show these young girls posing to purposely display their sexuality. This is exciting in a picture of a full-grown woman, but disturbing in this book. It is difficult for me to look at some of these girls, posed so provocatively, and not feel a sexual longing.
Was ist so verboten daran, eine sexuelle Sehnsucht nach einem Mädchen zu empfinden, das so alt ist wie die eigene Tochter? Wenn dies einen Mann verwirrt, dann nur, weil er sich bestimmte Empfindungen nicht gestattet, sie sich also verbietet, weil sie gesellschaftlich ,verboten’ sind. – Aber das ,age of consent’, also das Alter, in dem sogar einvernehmlicher Sex laut Gesetz existiert, in dem also ein Mädchen ,sexualmündig’ wird und über seine eigene Sexualität bestimmen darf, ist, zumindest in Deutschland, vierzehn Jahre. Ein vierzehnjähriges Mädchen darf, wenn es das möchte, mit einem viel älteren Mann schlafen – und umgekehrt. Weder die Tatsache ist verboten noch der Gedanke daran. Der Gedanke dürfte sogar noch viel verbreiteter sein als die Tatsache. Auch in dieser Hinsicht zeigen die Hamilton-Bilder das Natürlichste von der Welt: die Existenz einer auch begehrenden Sehnsucht angesichts eines jungen Mädchens in seiner ganzen Schönheit.
Ein anderer Rezensent, der seine Besprechung mit ,Schockierend, doch sehr sanft und verführerisch’ betitelt, hat das gleiche zensorische Gedankenmuster verinnerlicht. Er bemerkte das Wunderschöne der Bilder, die sich gleichwohl seiner Meinung nach am Rande der ,exploitation’ und ,child pornography’ bewegten, und er wurde von der Tatsache zurückgestoßen, dass ihn das Buch leise erregte. Aber dann realisierte er, dass dies genau die Art Antwort sei, die Hamilton anstrebe: ,I think this book is supposed to shock then arouse and then help you see and appreciate the beauty that he pointing out to us.’
Die Wahrheit ist aber offensichtlich, dass der ,Schock’ nur durch die gesellschaftlichen Tabus hervorgerufen wird, während die Erregung eine ganz natürliche Reaktion auf die auch erotische Schönheit der Mädchen ist – und man auch diese Schönheit sehen kann, ohne dass die Erregung einen erst darauf aufmerksam machen muss. Wie ich beschrieb, ist das Erleben der Schönheit von der Erotik ganz unabhängig, auch wenn die Erotik der Bilder diese Schönheit in einer unglaublichen Vollkommenheit offenbart. Aber auch das Umgekehrte ist wahr: Die Bilder sind gerade deshalb so erotisch, weil die vollkommene Schönheit der Mädchen darin so ganz und gar sichtbar wird.
Hamilton zeigt immer beides: Schönheit und Erotik. Dies liegt aber allein schon daran, dass der Körper eines jungen Mädchens an sich bereits erotisch ist und wirkt. Es braucht nur sehr wenig, um dies dann noch hervorzuheben...
Dann gibt es einen strenggläubigen Christen (möglicherweise sogar eine Frau?), der von einer Radiosendung aufgehetzt worden war, das Buch bei Amazon als pornografisch zu denunzieren, und beim Schreiben von der eigenen Tochter gefragt wurde, warum er dies tue, ohne das Buch zu kennen. Er schaute es sich daraufhin an – und musste zugeben, dass es absolut nicht pornografisch ist, ja in seinen Augen auch absolut nicht provokativ, verführerisch oder erregend, sondern: ,This is art that shows the beautiful body that the Lord created. I don't understand the criticism, and am truly sorry that I nearly sent off an ignorant letter.’
Und zu guter letzt schreibt eine Mutter aus eigenen Jugenderinnerungen heraus. Sie wehrt sich gegen (männliche) Urteile, was moralisch angemessenes Verhalten für ein junges Mädchen sei. Das Buch sei nicht einfach nur Kunst, sondern auch ein psychologisches Statement, nämlich, dass Sexualität trotz aller Leugnung durch Eltern und Gesellschaft von der Kindheit an existent ist. Und dann bekennt sie:
When I was the age of the girls in this book there was no one with the courage to come forward and openly depict the flowering of female sexuality. I lived with confusion and shame about my body and my desires, hurtful feelings that lasted until I was well into my adulthood.
[...] The images in it [dem Buch] were so beautiful I almost started to cry right there, it was as though I found vindication for the very core of my being.
So enorm groß sind also die Unterschiede in der Begegnung mit den Hamilton-Mädchen! Die einen denunzieren sie als ,Softpornografie’ – aber sobald es zu einer Unvoreingenommenheit kommt, müssen selbst aufrichtige Christen die Schönheit dieser Bilder zugeben, und einer Mutter kommen die Tränen, weil sie hier endlich wiederfindet, womit sie in ihrer eigenen Jugend völlig alleingelassen wurde...
Hamilton war als Fotograf der Meister von Bildern einer zutiefst unschuldigen Erotik. Es ist völlig klar, dass man diese schon in den 90er Jahren nicht mehr verstand und vor allem empfand, obwohl sie in den 70er Jahren eine ganze Jugendgeneration tief berührte.
In einem Blog, der sich an die Zeit erinnert, als Hamiltons erster Bildband ,Träume junger Mädchen’ (1971) erschienen war, heißt es: ,Es herrschte eine süße, fast keusche Erotik, die niemanden beleidigte.’[39] In solchen Bekenntnissen kann man die tiefe Verehrung der männlichen Seele für die ganze – innere und äußere – Schönheit des Mädchenwesens spüren.[40]
Heute machen sich die Menschen und die Medien darüber nur noch lustig. Während Wikipedia noch neutral festhält: ,Hamiltons Bilder sind frei von allem Weltschmerz, von Leid und Hässlichkeit. Sie symbolisieren Reinheit, Natürlichkeit und Harmonie’, heißt es anlässlich des 70. Geburtstags des Fotografen, in einem Artikel, bei dem schon die Überschrift eine herablassende Distanzierung ist:[41]
Es dauerte ein paar Jahre, bis er seinen Stil gefunden hatte, doch der ließ ihn dann nicht mehr los: Nackte Nymphen, die über taufeuchte Wiesen springen, traumverlorene Wesen in einem honigfarbenen Softfokus-Nebel – es schien, als wäre der Weichzeichner extra für Hamilton erfunden worden. Altmännerträume und Jungmädchenfantasien schienen verschränkt in diesen Bildern, die eine Welt voller Unschuld und Anmut entwarfen, einen Kosmos scheuer Zuneigung zwischen feenartigen Gestalten, nicht mehr Mädchen und noch keine Frauen.
Was zeigen solche Bemerkungen? Ein völliges Unverständnis, ein Spotten, eine innere Distanzierung von allem, was auch auf einen selbst als real existierende Erotik wirksam werden könnte. Der Schreiber ist einer der unzähligen ,politisch korrekten’ Saubermänner, die natürlich nie diesen ,perversen Unsinn’ der ,Ausbeutung’ unschuldiger Mädchen unterstützen würden, geschweige denn, von diesen albernen Bildern irgendwie berührt werden würden. Das Unterfangen, die unbeschreibliche Schönheit dieser Feenwesen festzuhalten, ist so albern, wie überhaupt nur an deren Existenz zu glauben. Es sind eben ,Altmännerträume’, in denen junge, unbekleidete Mädchen durch honigfarbene Pastellwiesen hüpfen...
Ja, so kann man das alles sehen – wenn die eigene Seele durch Intellektualität, Nüchternheit und Zensur im Kopf völlig korrumpiert wurde. Dann sieht man nicht mehr, was unmittelbar vor Augen liegt: dass diese Schönheit real ist. Der ,Weichzeichner’ mag sie hervorheben, aber sie ist noch immer da – denn es handelt sich um Fotografien, keine Gemälde, keine bloßen Phantasien.
Und was für ein Menschenbild steckt hinter den Worten ,feenartige Gestalten, nicht mehr Mädchen und noch keine Frauen’? Heißt das, dass das wirkliche Mädchen, um das es in diesem ganzen Buch fortwährend geht, für den Schreiber gar nicht existiert? Dass ein weibliches Wesen doch bitteschön möglichst rasch diese lästige Phase zwischen Kind und Frau hinter sich bringen möge – und während es sich in dieser befindet, sich bemühen möge, möglichst nicht feenhaft schön zu sein?
Mit was für einer Verachtung belegt dieser Schreiber jenes Alter, in dem sich sowohl innerlich als auch äußerlich das Allerschönste offenbart? Reine Jugend, reine Anmut, reine, zarte Schönheit...?
,Eine Welt entwarfen’ – heißt das, dass wir uns nüchtern und vernünftig damit abfinden sollen, dass es diese Welt gar nicht gebe, weil ,die Welt’ nun einmal nicht anmutig, nicht schön und nicht zart und zärtlich ist? Und dass der ,Kosmos scheuer Zuneigung’ die größte Lüge eines Hamilton, aber auch jeglicher Idealisten und Verehrer des Mädchenwesens ist?
Hamilton hat sich in seinen Taten gegenüber einer Handvoll Mädchen und auch in seinen Gedanken und seinem Innenleben nicht als der Hüter und Beschützer dieses reinen Mädchenwesens erwiesen, im Gegenteil. Dennoch ist er derjenige gewesen, der es sichtbar gemacht hat.
Er hat die Mädchen in einer unglaublichen Zartheit gezeigt – und auch in einer unglaublich unschuldigen Erotik. Aber eben dies ist auf seinen Bildern eins. Die tiefe Zartheit der Mädchen gibt den Bildern die Erotik bzw. der Erotik der Bilder ihre Unschuld. Und die Unschuld der Mädchen gibt den Bildern ihre Zartheit. Nirgendwo, in keinem Bild Hamiltons, wird die Unschuld, diese reine Schönheit, verlassen. All dies liegt an den Mädchen selbst – und an der Art, wie Hamilton sie fotografiert hat.
Mag Hamilton die Mädchen nicht vor seinen eigenen Gedanken und Schlimmerem geschützt haben – auf seinen Bildern sind sie geschützt, umgeben von einem solchen Zauber, dass das moderne Nichtverstehen sie sogar als etwas einer bloßen Feenwelt Entspringendes ansieht...
Ja, Hamilton zauberte die Magie eines Ideals in seine Bilder. Aber die Welt wird daran zugrunde gehen, dass sie dieses Ideal verliert. Dass sie die Zartheit und die Anmut, die Keuschheit und den Kosmos scheuer Zuneigung verliert, die die Hamilton-Mädchen der Welt gezeigt haben...
Und dies muss man mit vollem Ernst nehmen und verstehen. In einer Beschreibung des Hamilton-Stils heißt es:[42]
Ein typischer ,Hamilton’ zeigt Mädchen in transparenten weißen Sommerkleidern oder bestickten Nachthemden, die gegen das Licht fotografiert sind, so dass die Kleider leuchtend wirken. [...] Die Mädchen erscheinen entweder wie in Träumen verloren, in präraffaelitischen Posen in die Ferne blickend oder einander berührend, umarmend und streichelnd.
Aber wenn man nicht zu der Wirklichkeit dieser Erscheinung durchdringt, bleibt sie tot, unverstanden, bloß registriert. Es mag wie ein bloßes Muster erscheinen, wie ein Stil, ein Markenzeichen, eben ein ,Hamilton’. Aber es geht um wesentlich mehr. Es geht um das, was Hamilton sichtbar macht. Auch über Kunstwerke kann man endlos akademisch diskutieren, ohne ihnen auch nur einmal wirklich zu begegnen. Sich erschüttern zu lassen, von dem, was man sieht...
Der typische Kunstwissenschaftler ist kein Künstler, der typische Theologe ist kein Christ, der typische Moralprediger hat keine wahrhaft moralische Seele. Und der typische ,Hamilton’-Experte hat keine Ahnung von dem, was sich in diesen Bildern offenbart – und auch seiner Seele offenbaren könnte, wenn er es zuließe.
Es geht eben nicht nur um diese leichte Sommerwelt der kurzzeitigen Mädchenblüte, in der die Mädchen mit aufgeschlagenen Büchern an einer Kiefer lehnen, in aufreizend schönen Strümpfen und leicht verrutschten Kleidchen daliegen und nichts tun – gleichsam eine völlige Dekadenz, eine Vanitas, das Nichtstun einer gehobenen Gesellschaftsschicht ,behüteter Mädchen’, die sich die Zeit auf angenehmste Weise vertreiben, weil sie nie im Leben arbeiten werden müssen. Darum geht es gerade nicht – auch wenn es so scheinen könnte.
Und wahrscheinlich war selbst Hamilton nicht klar, was er mit seinen Bildern wirklich geschaffen hat. Wahrscheinlich war auch er zu sehr in seiner eigenen Erotik befangen, um zu begreifen, dass seine Mädchen wesentlich mehr darstellten als junge Nymphen mit einer erwachenden Sexualität, die sich vage bereits nach ihrem Traumprinzen sehnten – und mehr als die perfekte Verführung für ältere Männer, die sich nach unschuldigen Mädchen sehnen.
Die Hamilton-Bilder zeigen mehr. Und sie tun es, weil im Wesen der Mädchen selbst wesentlich mehr liegt. Sogar mehr, als die Mädchen selbst wissen mögen. So mag in ,Bilitis’ und anderen Filmen die Zärtlichkeit zwischen den Mädchen wirklich nur die Suche nach dem Wunder der Erotik, die Entfaltung der eigenen, aufkeimenden Sexualität sein. Und so mag so manches Hamilton-Mädchen in den 70er Jahren millionenfach als Poster in den Zimmern gehangen haben, billige Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte unzähliger Heranwachsender und deren aufkeimender Sexualität. Aber in tiefster Hinsicht geht es um etwas noch ganz anderes.
Es ist kein Zufall, dass die ersten erotischen Bilder von Hamilton in der deutschen Jugendzeitschrift ,Twen’ erschienen. Diese zeigte nicht nur bereits ab Anfang der 60er Jahre exotische und romantische Bilder verschiedener Fotografen, sondern setzte sich auch in diesen Jahren schon für die Enttabuisierung von vorehelichem Sex ein, womit sie eine Vorreiterrolle in der Bundesrepublik hatte.[43]
1969 und 1970 zierten Hamilton-Bilder mehrere Titelseiten der Zeitschrift. Auch die Mai-Ausgabe 1969 enthielt mehrere seiner Fotos. In dieser Ausgabe aber waren sie umrahmt von zwei bemerkenswerten Artikeln. Die sexuelle Revolution hatte längst eingesetzt. Aber nun schrieb eine Autorin über den Verfall der Kultur der Liebe: Seit der Einführung der Pille würden sich die unsensiblen Männer wie Karnickel verhalten und sollten lieber mehr Rilke lesen. Und ein weiterer Artikel schrieb über das ,Touching’, das Sich-Berühren und Streicheln, das ,schöner als Sex’ sei.
In den Hamilton-Filmen steht die Zärtlichkeit zwischen den Mädchen (oder zwischen Mädchen und Frau) in einem ausdrücklichen Gegensatz zu der penetrativen, aneignenden und unterwerfenden Sexualität des Mannes. Es ist dies zugleich der Gegensatz zwischen Sex – verstanden als bloß leiblichem Trieb – und Zärtlichkeit überhaupt. Der Mann ist getrieben, die Mädchen sind miteinander zärtlich. Dazwischen liegen Welten der Unvereinbarkeit.[44]
Es ist dies aber zugleich der Gegensatz zwischen dem Unterwerfenden und letztlich Vernichtenden überhaupt und einem zärtlich Bewahrenden, Hütenden und Liebenden. Eine männliche Kultur brachte Intellektualität, Wohlstand, Wissenschaft, Materialismus und Krieg und Zerstörung. Eine Kultur des Mädchens brächte der Welt Zärtlichkeit, Liebe, Sanftheit und Anmut...
In den 60er Jahren ging es nicht nur um die Befreiung der Sexualität. Es ging zugleich um eine über die Sexualität weit hinausgehende Utopie und Sehnsucht nach einer heilen, einer ganz anderen, einer romantischen, wahrhaft menschlichen Welt. ,Make Love, not War’. Dieser Aufruf stand einerseits sehr im Zeichen des Sexuellen – und doch berührte er das über das Sexuelle weit hinausweisende Wesen der Liebe überhaupt.
Und warum also hat dies alles so sehr mit Hamilton zu tun? Weil der Aufruf der Flower-Power-Generation erst dann sein wahres Wesen offenbart, wenn er verwandelt würde. Sexuelle Befreiung war auch Befreiung der Frau. Die Flower-Power-Generation war in ihrer Friedensliebe gewissermaßen eine zutiefst weibliche Bewegung. Und doch versandete sie – einerseits durch den Terrorismus einiger weniger, andererseits durch den Selbstbezug der Sexuellen Revolution, der Drogen und Partys etc.
Die sich emanzipierende Frau und der friedliebende Mann – diese Kräfte haben nicht ausgereicht, um wirklich Frieden zu schaffen. Die anderen Kräfte waren zu stark. Es wurde viel erreicht, aber nicht genug.
Der Aufruf der damaligen Zeit müsste nochmals eine heilige Verwandlung durchmachen, um wirklich zu offenbaren, um was es ginge. Und welche Worte wären es dann? Es wären die Worte: Sucht in euren Herzen nicht den Krieg, sucht das Mädchen. Oder: Lasst euch nicht von den dunklen Kräften hinreißen, in welcher Gestalt auch immer – sondern lasst euch vom Wesen der Mädchen berühren. Und dieser Aufruf gälte dann für jede einzelne Seele, auch für den, der ihn formuliert hat. Es wäre eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die Seele empfindsam zu machen, offen, hingebungsvoll wie ein Mädchen – um dieses Wesen, das Wesen des Mädchens, empfinden zu können ... und sich von ihm berühren zu lassen.
So, wie ein Künstler Werke schaffen kann, deren ganze Größe und tiefer Gehalt selbst ihm verborgen bleibt, einfach nur getrieben von einer sogar ihm geheimnisvollen Inspiration – so liegt auch in den Hamilton-Bildern jenes Unnennbare, vor dem man letztlich nur schweigen kann, weil alle Worte es nicht erfassen können. Erfassen kann es nur das tiefste Herz selbst – in dem Moment, wo es in dieser Tiefe berührt wird.
Und in diesem Sinne sage ich nochmals: Die Mädchen dieser Bilder zeigen ein offenbares Geheimnis. In letzter Hinsicht zeigen sie mehr als bloße Erotik, mehr als bloße Schönheit, mehr als bloße Jugend in all ihrer verführerischen Kraft. Sie zeigen das Geheimnis des Mädchens selbst, das viel größer ist als jene Aspekte. Das geahnt, empfunden und erlebt werden kann, wenn man jene anderen Worte zu Hilfe ruft, in denen jeweils ganze Welten liegen, Welten seelischer Erlebnisse, wenn man sich auf sie einlassen würde.
Es sind heilige Worte, so, wie das Wesen des Mädchens selbst heilig ist, weil von ihm dieses ausströmt, weil es gerade die heilige Quelle dessen ist. Nichts anderes als das Wesen des Mädchens selbst ist die Ursache dessen, was die Seele dann selbst an dem Bild noch empfinden kann: Unschuld ... Reinheit ... Zartheit ... scheue Zuneigung ... ein unnennbares Mysterium von etwas durch und durch und rein Gutem...
Und dieses unsagbar Heilige, dieses innerste Heiligtum der Unschuld – einer Unschuld, deren ganzes Mysterium nur empfunden werden kann von einem Herzen, das in demselben Moment gleichsam ebenso unschuldig wird, weil es von jener Unschuld, die ihm begegnet, zutiefst erschüttert wird – dies ist das eigentliche, das heilige Geheimnis und Vermächtnis der Hamilton-Mädchen für die Welt. Für eine Welt, die ohne dieses Geheimnis immer nur noch mehr einem Abgrund entgegengehen wird.
Und es ist kein Vergehen, ein Hamilton-Mädchen in seiner ganzen Schönheit zu fotografieren – es ist ein Vergehen, solche Dinge zu verbieten, und es ist ein Vergehen, ein solches Mädchen dann nicht anzuschauen und hinter dem Schleier der Erotik und Schönheit und Jugend zugleich zu suchen und zu finden, zu empfinden und zu erleben, und sich davon berühren, ja erschüttern zu lassen, was eigentlich in tiefstem Sinne ein Mädchen ist. Dieses Eine – dieses Eine würde die ganze Welt vollkommen verwandeln...
Fußnoten
[1] Wikipedia: David Hamilton. Auch für das Folgende.
[2] Wikipedia englisch: David Hamilton.
[3] Nur kurz erwähnt sei, dass Hamilton selbst ,Laura M.’ für inhaltlich misslungen hielt, ,Zärtliche Cousinen’ ihn schon bei der Produktion zu langweilen begann und nur vertragliche Bindungen einen weiteren Film verlangten (,Erste Sehnsucht’), für den dann bei Drehbeginn nicht einmal ein Drehbuch vorlag. ,Ein Sommer...’ schließlich war direkt für den Videomarkt produziert und ganz ohne echte Handlung. Wikipedia: David Hamilton. • Eine Hauptdarstellerin zweier Filme war Anja Schüte, die 1983 auch den ,Trotzkopf’ in der gleichnamigen Serie spielte. ,Bild am Sonntag’ zitiert sie: ,Ich kannte ihn als Menschen, der Gewalt verabscheute und sehr feingeistig war. Natürlich hat er ein Faible für ganz junge Mädchen gehabt, zur mir hat er mit 18 ,Hallo Oma!’ gesagt.’ Kerstin Rottmann: „Zu mir hat er mit 18 ,Hallo Oma!’ gesagt“ Welt.de, 27.11.2016.
[4] Beide waren nie verheiratet, wie oft behauptet wird. David Hamilton et le retour des grenouilles de bénitier. lequichotte.wordpress.com, 17.12.2016. • Bilitis selbst wurde von Patti D’Arbanville (geb. 1951) gespielt, die bereits Jahre zuvor, 1968 bis 1970, eine Beziehung mit Cat Stevens hatte, der über sie das wunderschöne Lied ,My Lady d’Arbanville’ (1970) schrieb und lange an Liebeskummer litt, als sie ihn verließ und eine Affäre mit Mick Jagger begann.
[5] Wikipedia: David Hamilton.
[6] Flavie Flament: La Consolation. Paris 2016.
[7] Emmanuelle Anizon: Affaire Flavie Flament: d'autres femmes accusent David Hamilton de viol. www.nouvelobs.com, 16.11.2016.
[8] Emmanuelle Anizon: Flavie Flament confirme: l'homme qu’elle accuse de viol est bien David Hamilton. www.nouvelobs.com, 17.11.2016. • Wikipedia schreibt fälschlich, dass sich die drei anderen Frauen erst daraufhin meldeten. Wikipedia: David Hamilton.
[9] Wikipedia englisch: David Hamilton. Die deutsche Version gibt im Text fälschlich den 26. November, den Tag der Presseberichte, an. • Siehe zum Beispiel Henry Samuel: British photographer David Hamilton found dead in Paris, as his alleged rape victims say he has escaped justice. Guardian, 26.11.2016.
[10] Anizon, Affaire Flavie Flament, a.a.O.
[11] Lola Talik: Affaire Flavie Flament: des accusations de viol à la réaction de David Hamilton. marie claire, 27.10.2016.
[12],[...] on en parle dans la famille depuis longtemps. On savait qu’il s’était passé quelque chose. [...] A l’époque, Flavie s’est plainte de gestes déplacés à ma mère et mes parents ont aussitôt interrompu les séances [...].’ Jean-Frédéric Tronche: Flavie Flament violée: David Hamilton dit n'avoir "jamais été l'auteur". www. nouvelobs.com, 27.10.2016.
[13] Anizon, Affaire Flavie Flament, a.a.O., übersetzt H.N.
[14] Ebd.
[15] La Consolation, France 3, 7.11.2017, 20:55 Uhr. Regie Magaly Richard-Serrano. • Flament hatte auch angegeben, der Fotograf habe die Tür nackt, nur mit Kamera über dem Bauch, geöffnet – und sie sei trotzdem hingegangen. Flavie Flament violée. www.nouvelobs.com, 27.10.2016. • Cap d’Agde ist allerdings auch für die meistbesuchte FKK-Anlage weltweit bekannt. Wikipedia: Cap d’Agde. • In dem Film, dessen entscheidende 4-Minuten-Sequenz auf dem YouTube-Kanal von Hamilton-Darsteller Phillip Schurer zu finden ist, geht Hamilton mit ihr nackt am Strand entlang, weist anzüglich auf die weiblichen Genitalien (,Maus’) anderer nackter Frauen und Mädchen hin und fragt das Mädchen schließlich, welche ,Maus’ ihr am besten gefalle. Als das Mädchen bestürzt schweigt, lässt er sie stehen (,Ich habe genug! Du verschwendest meine Zeit!’). Trotzdem läuft sie ihm wieder hinterher. In seiner Wohnung lässt er sie sich dann völlig ausziehen, führt sie auf den Balkon, drückt mit der Fußspitze ihre Schenkel auseinander und legt sich dann auf sie, um sie zu vergewaltigen. • Eine vollkörperliche Vergewaltigung behauptet nur Flament, nicht die anderen Mädchen. Ebenso behauptet auch nur sie, Hamilton habe sie bereits nackt empfangen.
[16] Flavie Flament: La Consolation. Paris 2016. Seitenzahlen in eckigen Klammern. • So wurde das fünfjährige Mädchen einmal von seinen Eltern unterwegs ,vergessen’.[25ff] • Nie erhält sie den ersehnten Gute-Nacht-Kuss.[33ff] • Die Mutter ist stolz, wenn Männer dem Mädchen hinterherschauen.[55] • Mit zwölf hält die Mutter sie für hässlich.[58] • In Le Cap-d’Agde schämt sich das Mädchen der Nacktbader.[66f] • Sie betont nochmals die lebenslange Einsamkeit.[73ff] • Dann folgt die Begegnung mit dem Fotografen, dessen neue ,Erwählte’ sie wird.[77ff] • Am nächsten Tag begrüßt er sie und ihre Mutter nackt – aber die Mutter lässt sie dennoch da.[84ff] • Es folgt die Strandszene, die sie innerlich geradezu versteinern lässt.[87ff] • Dann der Tag mit der Vergewaltigung auf dem Balkon, wo sie das Gefühl hat zu sterben.[101ff] • Sie hat keinerlei Hoffnung, dass ihre Mutter anders als negativ reagieren würde, und schweigt.[111] • Mit fünfzehn wird sie noch einmal in einer Toilette vergewaltigt.[144] • Im selben Alter schickt die Mutter sie alle paar Monate zu einem älteren Mann in der Pariser Banlieue, mit dem sie gleichsam als Ersatz für die Mutter schlafen muss.[181] • Sie ist erschüttert, als sie im Wörterbuch Worte wie ,Liebe’ und ,Unschuld’ liest, die ihr wie eine andere Welt vorkommen.[190] • Mit sechzehn verliebt sie sich, und dies ist für sie wie eine Rettung.[237ff] • Mit Hilfe eines Arztes, David Gourion, erinnert sie sich später an die verdrängte Vergewaltigung.[247ff]
[17] Sarah Boxer: Critic's Notebook; Arresting Images of Innocence (or Perhaps Guilt). New York Times, 4.3.1998, übersetzt H.N.
[18] Damit werden auch die nur scheinbar ehrfürchtigen Worte ,Der Himmel gewähre ihr den Mann, der ihrer würdig ist...’ zu reiner Heuchelei, denn schon ihr Autor ist diesem Mädchen nicht einmal im Ansatz würdig! Ferner müsste nicht nur jener Mann, sondern jeglicher Betrachter dem Mädchen würdig sein – es müsste sich um ein ehrfürchtiges Anschauen handeln, ein aufrichtiges Berührtwerden im Anschauen.
[19] Arno Frank: Das nackte Entsetzen. Spiegel.de, 15.4.2013.
[20] Die es wie gesagt auch nicht enthüllen, sondern bloß vernichten.
[21] David Hamilton: Erotische Geschichten. Texte und Bilder. München 2007.
[22] Ebd., S. 8.
[23] Ebd., S. 11.
[24] Ebd., S. 13-15, auch für die folgenden Zitate.
[25] Auch die übrigen Geschichten setzen dieses Szenario fort. In einer Amazon-Rezension heißt es: ,[...] Wunschdenken, bei dem durchweg ältere Männer weibliche Jugendliche verführen oder sich von ihnen ,verführen lassen’. [...] Nervig ist auch die Fixierung auf das weibliche Genital, das immer mehrmals von vorn bis hinten beschrieben wird.’
[26] Vergleichbar der teuflischen Zunge sind die seit dem Mittelalter existierenden Geschichten um den ,Incubus’, ein selbstständiges männliches Genital, das ein Mädchen so bedrängt, bis es ebenfalls schließlich nichts anderes mehr will als dessen Eindringen...
[27] Hier ist mit Händen zu greifen, dass Hamilton zu echtem Missbrauch fähig war, den er aufgrund des geschilderten Narzissmus und der ungeheuren Projektion in das Mädchen hinein, geblendet von seinen eigenen Vorstellungen, vielleicht nicht einmal (voll) als solchen erkannt hätte. Jedenfalls schreibt auch der Betreiber des Blog ,Pigtailsinpaint’, ein Liebhaber kleiner Mädchen: ,I did get some personal feedback from those who knew Hamilton personally and the impression was that he could be something of a crass opportunist and may have been capable of crossing the line if it served his purposes; Hamilton had neuroses and psychological needs as well.’ Maiden Voyages: December 2016. pigtailsinpaint.org, 5.12.2016, Notiz vom 2.3.2017.
[28] Deux jeunes filles sous un arbre, 1972.
[29] Abgesehen von jenen Bildern zarter Homoerotik zwischen zwei Mädchen, die dann unschuldigste, leise erotische Zärtlichkeit zeigen. Dies spielte aber mehr in den Filmen eine Rolle.
[30] Pornografie ist laut Wikipedia ,die direkte Darstellung der menschlichen Sexualität oder des Sexualakts’. Das griechische porne bedeutet ,Dirne’. Die Darstellung beinhaltet das Obszöne, die Reduktion auf das offensichtlich Sexuelle, reine Nacktheit, die unmittelbar und ausschließlich auf sexuelle Erregung zielt. ,Softpornografie’ bedeutet nur, dass die erigierten bzw. erregt-geöffneten Geschlechtsteile nicht unmittelbar gezeigt werden. Hier besteht ein Übergang zum Sexfilm, bei dem der Sexualakt nur simuliert wird. • Etwas völlig anderes dagegen ist bereits der Erotikfilm oder gar die erotische Fotografie. Erotik hat ebenfalls ein erregendes Element, sie zielt aber niemals unmittelbar und ausschließlich auf das Körperliche, sondern ihr Wesen liegt immer in einem ästhetischen Element. • Pornografie lebt von der unmittelbar den Körper ,aufgeilenden’ Wirkung der Darstellung des direkten, auf dieses rein Sexuelle reduzierten Sexualaktes. Erotik lebt von Schönheit, von Verführung, auch von bloßen Andeutungen – von allem, was zugleich etwas in der Seele zu berühren vermag. – Pornografie lebt von der genitalbezogenen Lust und der Gier, Erotik lebt im Begehren.
[31] Ähnliches empfindet offenbar ein Amazon-Rezensent, dessen Worte ich erst nach diesen Zeilen entdeckte: ,At the same time, these pictures seem to expose some aspect of the model's spiritual self. I can't explain that further, except to say that I see something beyond the girl's body. I don't know how Hamilton did that, but to me, these are excellent works of art.’
[32] Fiona Amann: Rose Geoff Hamilton und der Hamilton-Effekt. www.mein-blumenbild-des-tages.de, 19.10.2014.
[33] In einem Interview äußert sich Hamilton jedoch als großer Verehrer von Nabokov. Auf die Frage ,Nymphen, Unschuld, das erste Mal – woher kam Ihr Faible für diese Themen?’ antwortet er: ,Jeder hat doch diese Fantasien. Ich bin ein großer Verehrer von Nabokov. Seine Lolita ist etwas ganz Besonderes, eine fiktive Figur, die nur in der Vorstellung existiert. Die Magie der unschuldigen Liebe, des ersten Mals hat schon Shakespeare in Romeo und Julia thematisiert.’ Was macht eigentlich... David Hamilton. Stern.de, 17.6.2003. • Dass Hamilton selbst möglicherweise die von ihm fotografierten Mädchen auf eine Stufe mit Lolita stellt, ist seine Sache – und sein Irrtum. Sie sind von Nabokovs Lolita so weit entfernt, wie Hamilton selbst offenbar dessen Verführer Humbert nahe war. • In einem anderen Interview sagt er, dass die Welt ,unschuldig’ gewesen sei bis zur Affaire Dutroux (1996), die alles kaputt gemacht habe. Die Mädchen auf den Laufstegs heute seien wie Frauen angezogen, ,die totale Vulgarität’. Und in der Kunst habe es in der Nische des Mädchen-Themas nur Balthus, Nabokov und ihn gegeben. David Hamilton ,Le monde était innocent... C’est terminé. www.technikart.com, 27.11.2014.
[34] Um dies zu erkennen, muss man jedoch den Spuren eines Novalis folgen. Erst seine heilige ,Schule’ eines Magischen Idealismus schließt die Seele wieder für die wahre und volle Wirklichkeit auf. Und von hier aus erkennt man, dass das ganze seelenlose Gerede von ,feuchten Männerträumen’ im Grunde nur die unbewusste Selbstdiagnose eines Zeitalters ist, das das Träumen überhaupt verlernt hat – die Seele hat sich selbst aufgegeben, denn sie ist zu einer heiligen Grenzenlosigkeit bestimmt.
[35] Nicht umsonst heißt ein Hamilton-Film ,Zärtliche Cousinen’. Man kann dies natürlich sehr leicht auf die voyeuristische Ebene herabziehen oder mit ,billigem Erotikfilm’ abtun. Tatsache bleibt dennoch das Wesen der Mädchen, das, ob nun in einem Film dargestellt und exponiert oder nicht, ein zärtliches ist.
[36] Zu finden bei Scott Affleck: David Hamilton: The Enormous Bliss of Eden. celestialvenus.wordpress.com, 15.4.2018. Die Bilddatei heißt ,Madian’.
[37] Das ,Wandern’ geschieht also gleichsam und vollwirklich staunend, zärtlich, ehrfürchtig, in tiefster Achtung vor dem Mädchen und seiner Schönheit, die in ihrer Unantastbarkeit als etwas Heiliges empfunden wird. Und dies ist auch inmitten zarter Erotik möglich, ist davon überhaupt nicht beeinträchtigt, durchdringt vielmehr auch diese vollkommen. Der Blick ist gleichsam mit dem der Liebe völlig identisch.
[38] Ein anderer Rezensent spricht in diesem Zusammenhang von der Rückkehr des (scheinheiligen) Puritanismus, der leugnet, dass bereits minderjährige Wesen eine Erotik haben, und von ,disneyfication’ – also einem von jeder tieferen Sexualität oder Erotik befreiten ,sterilen’ Kunstprodukt, das mehr und mehr die Köpfe und Herzen dominiert.
[39] Roland Jaccard: Flavie Flament, si proche de Valérie Solanas… leblogde rolandjaccard.com, 7.2.2018, übersetzt H.N. (,Il y régnait un érotisme doux, presque chaste, qui n’offusquait personne.’).
[40] Auch wenn bei vielen Männern die Wirklichkeit oft sehr anders aussah, nämlich sehr wohl in anzüglichen und daher auch beleidigenden Blicken etc. bestand!
[41] Oliver Fuchs: Fischer frischer Backfische. Süddeutsche.de, 17.5.2010.
[42] Sirens. David Hamilton. frieze, Nr. 60, Jun/Aug 2001, frieze.com, 6.6.2001, übersetzt H.N.
[43] Sirens, a.a.O. • Für das letztere auch Wikipedia: Twen (Zeitschrift).
[44] Ebd. für die letzten beiden Absätze.