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Das Mysterium des Mädchens
Die Poesie der Jahrhunderte ist überreich vom Lied der Liebe gegenüber dem Mädchen. Wenn sich die heilige Liebe des Mannes für das Mädchen irgendwo in ihrer ganzen Schönheit offenbart hat, dann hier – in der Poesie. Die Unschuld des Mädchens wurde auch von Dichterinnen besungen, aber der Mann war es, der diese Unschuld geliebt hat – schon immer, und er wird es auch für immer tun.
Ich habe in meinem Buch ,Von den Mädchen’ die schönsten Zeugnisse dieser Poesie beider Geschlechter über das Mädchen zusammengetragen. Dies kann hier nicht wiederholt werden. Darum soll dieser Teil mit Beispielen aus der Prosa-Literatur beginnen. Ein einziges Gedicht soll stellvertretend an dieser Stelle stehen – es ist dasjenige, mit dem jenes Buch über das Wesen der Mädchen endete:
Dein weiches Haar, dein leichtes Kleid,
die zarte Wölbung deiner Brust...
Wie ist so alles sanft!
Anmutig neigst du dein Antlitz der Rose zu,
wie lieblich ist, Mädchen, deine ganze Gestalt,
ist, was du bist, was du tust, was du zeigst.
Deine Erscheinung berührt so innig,
denn in ihr lebt so sehr dein Wesen...
Da trifft mich auf einmal dein unschuldiger Blick,
und bis ins Innerste getroffen
fühlt meine Seele sich erhoben
in ein heilig-reines Reich –
Mädchen, du Botin der Engel!
In diesem Gedicht lebt eine tiefe Wahrheit. Das Mädchen ist eine heilige Wandlerin. Und zu nichts anderem als zu dieser lebendigen Erkenntnis möchte dieser Band (wie auch alle anderen) hinführen. Ein solches Buch über die Mädchen, über das Mädchen, und über die Liebe zum Mädchen ist für einen Leser ganz nutzlos, wenn er beim Lesen nicht vom Wesen des Mädchens berührt wird.
Das Mädchen würde den Leser eine ganz andere Art zu lesen lehren – aber ... der Leser spürt diese Art erst, wenn das Wesen des Mädchens ihn schon berührt. Was für ein hilflos machendes Paradox! Um von diesem Buch etwas zu haben, müsste der Leser anders lesen als je zuvor – mit einer viel innigeren Anteilnahme. Zugleich aber würde er diese erst lernen, ihr Wesen empfinden, wenn er verstünde und empfände, was das Wesen des Mädchens ist.
Wo also liegt der Beginn? Der Beginn läge in einem ersten Ahnen, dass das Wesen des Mädchens wirklich ein Mysterium ist – ein heiliges. Und er läge in einer ersten Sehnsucht, dieses heilige Mysterium kennenzulernen, es empfinden zu dürfen. Dazu aber müsste die Seele sich wieder daran erinnern, was eigentlich Sehnsucht ist. Wenn sie diese nicht mehr kennt, dann kennt sie nur noch den nüchternen Intellekt. Mit diesem aber ist das Mädchen nicht zu erfassen. Es erschließt sein Wesen nur einem viel reineren Seelischen.
Letztlich offenbart sich das Mädchen nur dem, der in seinem eigenen Wesen dem Wesen des Mädchens näherkommt. Nicht so sehr äußerlich, denn das Wesen ist auch nichts Äußerliches, sondern innerlich. Das innerliche Näherkommen ist aber immer ein ... Ähnlichwerden. Erst eine tiefe Verwandlungsfähigkeit der Seele ist es, die von sich selbst loskommen kann und anderem näherkommen kann, in heiliger Annäherung sogar etwas so anderem wie dem Mädchen...
Das Heilige kann die Seele nicht erfassen, wenn es nicht etwas in ihr gibt, was selbst heilig zu werden vermag – und sei es, heilige Ehrfurcht...
Das Mädchen kann die Seele niemals empfinden, in seinem ganzen Wesen, wenn sie sich mit seinem Wesen nicht ganz erfüllt. Aber auch dies nicht grob, gierig, nüchtern, mechanisch, denn bei alledem hätte man immer nur ein Nichts, sondern so, wie das Mädchen selbst ist: sanft, vorsichtig, in einer großen Unschuld... Dem Mädchen kann die Seele sich nur nähern, wenn sie es in größter Unschuld versucht. Sonst kommt sie ihm nicht einen einzigen, winzigen Schritt nahe...
Diese Unschuld wird sie aber niemals aufbringen, wenn sie keine Sehnsucht danach in sich entdeckt. Ohne diese wird sie immer so bleiben, wie sie ist. Nur mit einer Sehnsucht wird sie sich verwandeln – und erst dadurch, durch diese Verwandlung, die die Sehnsucht mit ihr vollzieht, fähig werden, sich dem Mädchen zu nähern. Oder fähig werden, dass das Mädchen sich ihr nähern kann.
Auch diese Annäherung ist ein Mysterium. Das Mädchen ist ein Mysterium, und die Annäherung an das Mädchen ist auch ein Mysterium. Denn schon sie muss etwas von der heiligen Unschuld aufnehmen, die dem Mädchen so eigen ist. Sonst wird sie das Mädchen nie finden. Denn ohne diese Unschuld wird jede Annäherung eine Illusion bleiben, ein Fernbleiben, ja, eine Ent-fernung.
Und darum gilt für die Annäherung an das Mädchen dasselbe, was Saint-Exupéry über das Meer gesagt hat:
Wenn du ein Schiff bauen willst, beginne nicht damit, Holz zu sammeln, die Planken zu schneiden und Arbeit zu verteilen, sondern wecke im Herzen der Menschen die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer.
Das Mysterium des Mädchens ist wahrhaftig nicht kleiner als das große, weite Meer! Aber so, wie man das Meer niemals kennenlernen wird, wenn man keine Sehnsucht nach ihm hat, so wird man auch das Mädchen niemals kennenlernen, wenn es in der Seele keinen Ort gibt, wo die Sehnsucht lebt, dieses reine Wesen des Mädchens kennenzulernen. Zuerst muss die Seele die Sehnsucht finden – dann wird sie auch das Mädchen finden.
Alles andere sind nur Anfänge. Denn natürlich kann ein sich entfaltendes Kennenlernen des Mädchenwesens dazu führen, dass umgekehrt die Sehnsucht erwacht. Ein Berührtwerden vom Wesen des Mädchens kann dazu führen, dass man zum ersten Mal wirklich begreift, wie heilig dieses Wesen eigentlich ist – und dies kann die Sehnsucht lebendig machen, sich nun diesem Wesen wirklich zu nähern, mit allem aufrichtigen Bemühen.
Nichts erschließt einem sein Wesen, wenn man sich ihm nicht mit Hingabe zuwendet. Die Hingabe der eigenen Seele ist immer der Schlüssel, dass sich etwas auch seinerseits er-schließen, öffnen, offenbaren kann. Die Hingabe der Seele führt zum Mysterium der Begegnung.
Das Wesen des Mädchens erschließt sich demjenigen gern, der sich diesem heiligen Wesen selbst hingibt. Ich habe dieses ganze Mysterium der Begegnung in meinem Buch ,Der Weg des Mädchens’ (2017) beschrieben.
Jede Hingabe entspringt einer Sehnsucht. Woher aber entspringt diese Sehnsucht? Sie entspringt dem geheimnisvollen Wissen der Seele, dass dasjenige, was das Ziel der Sehnsucht ist, unendlich viel zu schenken hat... Die Seele weiß von dem Mysterium des Mädchens. Und insofern sie dieses Wissen verloren hat, weil sie zugleich auch sich selbst verloren hat und nüchtern, allzu verhärtet und empfindungslos geworden ist, geht es nur darum, dass scheinbar Verlorene wieder zu finden. Und auch dabei ist das Mädchen eine Retterin.[1]
Wenn es nun im Folgenden um Zeugnisse der Mädchenliebe aus der Literatur geht, so wird das Wesen des Mädchens einerseits wieder verhüllt werden, weil es in diesen Zeugnissen immer wieder um die Liebe des Mannes zum Mädchen gehen wird – und auch umgekehrt.
Das Wesen des Mädchens ist größer als nur dieser Aspekt. In seiner ganzen Unschuld kann das Mädchen eine heilige Retterin jeder Seele werden. Dazu muss das Erleben der Seele nur zu dem Ursprung, zu dem reinen Urbild des Mädchens vordringen – und sich von diesem berühren lassen.
Dieser Band und auch der fünfte Band – sie offenbaren und verhüllen, beides gleichzeitig. Sie offenbaren vor allem das Mysterium, das zwischen Mann und Mädchen lebt. Das gerade ist dieses Geheimnis: Parthenophilie, die Liebe zum Mädchen. Und doch kann gerade diese Liebe des Mannes zum Mädchen auch etwas vom Wesen des Mädchens offenbaren – kann gerade sie offenbaren, was es ist, was der Mann liebt. Mag diese Mädchen-Liebe noch so sehr wie ein Rätsel anmuten. Sobald die Seele sich aufrichtig fragt, worin diese Parthenophilie besteht, wird sie selbst auch darauf gewiesen werden, was eigentlich ein Mädchen ist...
Und mehr und mehr wird sie dann sein heiliges Geheimnis empfinden können. Das Wesen des Mädchens...
Fußnoten
[1] Siehe unter anderem ,Vom Wiederfinden des Fühlens’ (2016) und ,Der Weg des Mädchens’ (2017).