Parthenophilie

Nicoletta Ceccoli (geb. 1973)


Diese Künstlerin, die 2001 als beste Kinderbuchillustratorin Italiens ausgezeichnet wurde,[1] greift in sehr märchenhafter Art immer wieder das Mädchenmotiv auf. Ihre feenhaft schönen, zarten Geschöpfe mit dem blassen Gesicht, dem zumeist weißblonden Haar und dem unschuldig-traurigen Blick sind nicht immer so sanft, wie sie scheinen, aber all ihre Bilder sind in ihrem zauberhaften Surrealismus so unglaublich schön, dass man sie fast alle beschreiben möchte. Leider ist dies bei den knapp zweihundert Bildern auf ihrer Webseite nicht möglich – aber auch hier greife ich wenigstens die allerschönsten heraus.[2]

Und wieder muss man sagen: Die Mädchen wirken noch sehr kindlich, aber zugleich haben sie schon einen solchen Ausdruck und eine so feminine Seelenhaftigkeit (und in manchen Bildern bereits einen deutlichen Brustansatz), dass sie unbedingt auch in eine Besprechung parthenophiler Schönheitsliebe hineingehören – zumal die Thematik der Bilder selbst immer wieder erotisch-sexuelle Untertöne hat, und seien sie noch so zart angedeutet.

Bereits in ,Allurement’ (2006)[3] lockt das fast nackt auf einem Sofa liegende Mädchen eine Biene an, indem sich sein Röckchen von unten her wie eine Blüte aufspreizt. ,Katherine’ führt mit Katzenohren und Schwanz zehn Mäuse an der Leine. ,Catgirl’ (2007) wiederum sitzt mit einer Art Flöte auf dem Stuhl und lockt Mäuse an. ,Aurora’ ist eine wie aus einer Rose hervorwachsende schlafende Schönheit.,Treegirl’ ein anmutig in Schwarz gehaltenes Mädchen, das, von Vögeln besucht, aus einer Baumkrone hervorwächst.

,Hide And Seek’ (2008) zeigt eine ,Kätzin’ mit Mädchengesicht, die aber auch eine Katzenmaske hält, mit einem im Käfig gefangenen Vogel. In ,Contrary Mary’ verjagt eine Prinzessin einen ,Retter’, indem sie aus ihrem roten Kleid einen kleinen Drachen auf ihn loslässt.[4] In ,Nocturne’ schläft eine blonde Schönheit, während unten aus ihrem Kleid ein Seeungeheuerschwanz hervorgeht und ihr leuchtend wehendes Haar sich in Schmetterlinge auflöst.

In ,Compagno Di Giochi’ (Spielkamerad, 2010) sitzt die kleine ,blaue Fee’ auf dem Fußboden, während ein noch viel kleinerer Pinocchio vor ihr krabbelt und unter ihr Kleid sehen kann und seine lange Nase auch direkt dort hinzielt... ,Leonor’ ist ein berückend schönes ,Meermädchen’, das bis zur Brust aus einem stillen See auftaucht.[5] Dieselbe betörende Schönheit hält als ,Olympia’ im hellblauen Kleid sechs ihr ähnliche Püppchen in ihren Armen – so beschützend und so verletzlich, dass es einen zutiefst berührt. Zwei dieser kleinen Mädchen halten sich in ,Soulmate’ so innig und ununterscheidbar in den Armen, dass sich sogar ihr Haar in ihrer Herzgegend zu einem Zopf verflechtet...[6]

In ,Dolceamara’ (Bittersüß, 2011) küsst bzw. lutscht ein unsagbar süßes Mädchen an einem Lutscher, der darüber traurig ist.[7] ,Barbara’ (2012) ist, von lianenartigen Süßigkeiten umgeben, sogar ein ganz unbekleidetes Mädchen, das ein Lebkuchenmännchen vernascht... Ebenso verletzlich-nackt ist das Mädchen in ,Cuddle’, das einen großen roten Gecko zärtlich an sich drückt.[8] In ,Girls dont cry’ weint ein Mädchen, während es anmutig eine lebendige Zwiebel durchschneidet.

In ,Dulcis Agata’ (2013) bietet ein wunderschönes Mädchen dem Betrachter in tiefer Aufrichtigkeit eine Süßigkeit dar, die an zwei Brustknospen erinnert, während noch etwas Blut tropft und sie sich zart ein sich rosa färbendes Tüchlein auf die Brust drückt.[9] In ,Sweet Addiction’ frisst in einem Süßigkeitenland ein kleines weißes Reh rötliche Beeren, die ein Mädchen in seinem pinkfarbenen Kleid gesammelt hat, dieses weit hochhebend, und nun herausschüttelt. In einer ähnlichen Szene, nur in einem Winterland, geht ,The Snow Bride’ mit einem Schneemann zur Trauung.

In ,Consumed By You’ (2014) ist ein Waffeleis von einem Mädchen besiegt, das dieses mit einem Knie am Boden hält und sich die erste Zuckerperle, die ehemals ein Auge war, genommen hat.[10]

In ,Gingerbread Love’ (2016) kniet ein Mädchen in hellrotem Kleidchen geradezu erotisch über einem besiegten Lebkuchenmann und knabbert gerade an dem ersten Stück. In ,Sweet Surrender’ liegen viele Lebkuchenmännchen auf einem Teller, während das Mädchen einem bereits den Kopf abgebissen und sich auch hier Mund und Kleidchen bekleckert hat... In ,Big Bad Liar’ wird ein am Boden liegender Pinocchio von einer ,blauen Fee’ ganz wie von einer anmutigen Domina mit Fuß und Peitschchen beherrscht. ,Persistence In Pink’ wiederum zeigt eine Rapunzel im zartrosa Kleid, groß wie eine Burg, vor der ein winziger Prinz schon ungezählte Schlüssel vergeblich versucht hat. ,Play With Me’ zeigt dagegen ein Mädchen, das unschuldig das Türchen zu seinem Herzen öffnet – wohinter sich die Zahnräder eines Uhrwerkes zeigen.[11]

,A Girl Hides Secret’ (2017), ,Good Girls Go Bad’ und ,My Favourite Costume’ spielen alle mit dem Motiv der Maske und des Bedürfnisses des Mädchens, sein Wesen manchmal zu verbergen – und machen doch deutlich, dass dies eigentlich gar nicht geht…

In ,Cacaelia’ (2019) blickt ein großes Meermädchen auf einen winzigen jungen Fischer, der gar nicht weiß, dass sie zugleich ein riesiger Krake ist. Abgewandelt ist das Motiv in ,Safe From Harm’, wo das Mädchen von Seeungeheuern vor winzigen Werbern ,geschützt’ ist, obwohl es dies vielleicht gar nicht möchte... In ,Il Sacrificio Della Vergine’ hält ein unschuldig-jungfräuliches Mädchen eine rote Drachenschlange im Arm, die ihr soeben in die Brust beißt. In ,Girls Just Want To Have Fun’ dagegen quälen zwei kleine Zauberinnen ein rosa Kaninchen mit überdimensionalen Stecknadeln.[12]

,Melt With You’ zeigt wiederum ein Süßigkeitenmännchen, das sich an das aufgestützte Bein des Mädchens lehnt, aber von diesem vernascht wird. In ,Wicked Delights’ dagegen bietet ein Clown mit Totenkopf einem unschuldig-zögernden Mädchen einen Lolli an... Und in ,Forbidden Fruit’ (2020) ringelt sich eine Süßigkeitenschlange um ein zögernd-zurückhaltendes Mädchen, das anmutig sein eines Bein aufgestellt hat, so dass man sogar den Unterrock seines ohnehin schon kurzen rosa Kleidchens sehen kann.

In ,Selene’ und ,Eris’ besiegen weiße, zart erotische Engelmädchen wie der Erzengel Michael, nur viel anmutiger, rötliche Drachen. Und ,Agape’ schließlich zeigt das Wesen unschuldiger Liebe – in der Geste und Darstellung des auferstandenen Christus eine zarte Mädchengestalt...[13]

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Man kann fast sagen, mit den Bildern von Ceccoli ist das ,Kindchenschema’, das unsagbar Berührende und Anziehende in Bezug auf ein Mädchen als Wesen tiefster Unschuld ... an einen absoluten Höhepunkt gelangt. Die unglaubliche Anmut von Bildern wie ,Olympia’, ,Soulmate’, ,Dolceamara’, ,Cuddle’ oder ,Agape’ kann schlichtweg nicht übertroffen werden. Ja – diese Mädchen sind tatsächlich noch absolut kindlich und wirklich Kinder. Aber sie sind nicht geschlechtslos – sondern sie offenbaren das tiefe Geheimnis dessen, was gerade ein Mädchen ist.

Dies offenbart sich im wirklichen Leben gerade zumeist erst im wirklichen Mädchenalter in seiner Tiefe. Ceccoli jedoch zeigt es bereits unglaublich intensiv an ihren Kindmädchen. Eine atemberaubende seelische Unschuld – und eine absolut betörende körperliche Schönheit. Eine zarteste, verletzlichste Femininität, die eine Frau in dieser Form nie wieder erreichen kann. Deshalb ist es gerade das Mädchen, das das Geheimnis des Weiblichen so grenzenlos offenbart...

Und man beachte: Selbst Ceccolis Mädchen sind nicht ,asexuell’. Schon sie können lieben, leiden, beschützen, begehren, vernaschen, ihr Herz verschenken, mit ihren Reizen um sich werfen und sich wehren. Und es ist immer ihre Unschuld – die all dies tut...

Wer ein Mädchen wirklich liebt, kann es nie verletzen – denn die ,Machtverhältnisse’ sind dann absolut umgekehrt: Die Unschuld des Mädchens überwältigt einen ... und sie schafft in der eigenen Seele ein Organ, das immer zarter wahrnimmt, was das Mädchen verletzen könnte, wie leise auch immer. Die Unschuld eines Mädchens ist letztlich tiefste Magie – vielleicht die einzige, die noch existiert.

Auch die Künstlerin kann eine derart tiefe Poesie bildlicher Darstellung nur in absoluter Hingabe und Liebe gegenüber diesen Mädchen erreichen. Und nur deshalb berühren sie dann so – weil diese Hingabe noch das Zarteste erfassen kann. Es ist auch kein Widerspruch dazu, dass Ceccoli selbst sich diesen Mädchen zutiefst verwandt fühlt, sich sogar Aspekte ihres eigenen Wesens in ihnen zeigen,[14] denn im Grunde erkennt immer nur Ähnliches wahrhaft einander... Wer die atemberaubende Unschuld der Mädchen erkennen will, muss selbst sehr unschuldig sein oder wieder werden.[15]
 

Fußnoten


[1] Wikipedia englisch: Nicoletta Ceccoli.

[2]● www.nicolettaceccoli.com, auch hier nach Jahren geordnet. • Auch Ceccoli hatte bereits Einzelausstellungen in Rom, Manchester, New York, Los Angeles, Toronto und anderen Städten. Ebd., About.

[3] Die Jahreszahl gilt, sofern nicht neu angeführt, jeweils auch für die folgenden Bilder.

[4] Auch hier wieder das Motiv, dass Mädchen sehr wohl wehrhaft sind!

[5] Hier muss man an Rydens ,Aurora’ denken. Ceccolis Bild entstand jedoch fünf Jahre vorher und ist unendlich viel schöner – und es hat bis in die Szenerie hinein ein reales Vorbild: ,Le bout du monde’ (Das Ende der Welt) von Leonor Fini. Die Figur dort ist allerdings eine üppige Frauengestalt, im Gegensatz zu dem feenhaften Mädchen von Ceccoli geradezu hässlich – und mit männlichem Spiegelbild im Wasser.

[6] Das Motiv kehrt in ,Siamese heart’ (2018) wieder, hier schlägt in der Mitte zweier sich an den Händen haltenden Mädchen ein gemeinsames Herz.

[7] Er wird als Partner von dem Mädchen buchstäblich ganz unschuldig ,vernascht’. Die rötlichen Flecken auf dem Kleid und rund um ihren Mund haben zutiefst erotische Untertöne.

[8] In ,Lorelei’ (2014) drückt ein unbekleidetes rötlichhaariges Mädchen zärtlich einen Fisch an sich.

[9] In ,The Gift’ (2018) bietet ein rothaariges Mädchen mit einem wunderschönen Heiligenschein-Muster hinter sich dem Betrachter unmittelbar ein brennendes Herz dar.

[10] Das Bild erinnerte mich an die selbstbewusste Kniehaltung des einen Mädchens in Cockrills Bild ,Target’. Dort besiegen Mädchen Clowns, hier bei Ceccoli sind es Süßigkeiten, die aber ebenfalls Leben haben.

[11] Was nicht etwa Gefühllosigkeit bedeutet, sondern die völlige Hingabe symbolisiert.

[12] Dieses Motiv erinnert definitiv an Cockrills Clown-Serie.

[13] Selbst die Tatsache, dass sie von Wasserwesen umgeben ist, ist absolut in sich stimmig – denn in der anthroposophischen Geistes-Erkenntnis geschieht die (längst gegenwärtige!) Wiederkunft des Christuswesens im reinen Lebenselement des Ätherischen. Die Wasserwesen und das Mädchen selbst symbolisieren diese Sphäre zutiefst... Und das Mädchen ist Christusbotin. Daran besteht nicht der geringste Zweifel.

[14],Je pense que la plupart de mes images parlent de moi, de mes peurs, de ma solitude. [...] Les filles de mes peintures expriment une délicate nostalgie, en même temps vaniteuses et fragiles, belles et cruelles. Je vois ces filles comme une autre part de moi, entre enfance et adolescence. Sans doute parce que je ne me sens pas vraiment adulte.’ Interview – Nicoletta Ceccoli et son art book „Beautiful Nightmares“ www.madmoizelle.com, 1.10.2010. • Und: ,I often depict lonely weird sad creatures. Half woman, half monster. The characters in my pictures are kind of my alter ego. I’ve never felt comfortable with my own body, and I have fought with these feelings all my life. When I was an adolescent I often had the sensation of being a ‘freak’; I felt a sense of isolation, of being lonely and closed in my own thoughts. This brought me to feel a connection with those people who looked foreign to society. The word ‘normal’ scares me a little. [...] I feel an affection towards creatures that are unusual.’ Nicoletta Ceccoli – Paradoxical Nightmares – Artist Interview. wowxwow.com, 26.1.2016.

[15] Aber zugleich gilt eben auch: Die Unschuld der Mädchen macht auch die eigene Seele wieder unschuldig. Es ist stets ein lebendiges Wechselverhältnis. Und nur die ,unberührbaren’ Seelen entgehen der wirklichen Magie des Mädchens...