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Molly Maxwell (CAN, 2014)
In dem wunderbar romantischen und erfrischend-authentischen Film ,Molly Maxwell’ (Verliebt in Molly) verliebt sich die sechzehnjährige Titelheldin (Lola Tash, 19) in ihren zehn Jahre älteren Englischlehrer Ben. Dieser jedoch stoppt aufgrund des Tabus und der Strafbarkeit die sich entwickelnde Beziehung, bevor es zu echter Sexualität kommt, die das Mädchen definitiv will. [1]
Gegen Ende wird Molly im Beisein des Schulleiters und ihrer Eltern von einem Polizisten geradezu gedrängt, Ben – der inzwischen gekündigt hat – anzuzeigen, und man empfindet das Tabu und das Dogma geradezu körperlich. [2] Sie tut es aber nicht, und bestürzt über ihre Entmündigung betont sie das Selbstverständliche: ,Ich bin nicht ausgenutzt worden!’ (74 min). Ihr Vater gibt ihr Hausarrest. Die Familie scheint nicht mehr weit von einem Zerbrechen entfernt – aber ihre Mutter hat im letzten Moment Verständnis für sie und lässt sie gehen. Molly geht zu Ben in die Kneipe, wo er sein erstes Solokonzert gibt. Sie entschuldigt sich für alles (die Gefahr, in die sie ihn gebracht hat, aber auch ,alles andere’) und verzichtet. Es ist deutlich, dass Ben erleichtert ist. Er würde die Beziehung platonisch irgendwo auch gern weiterführen – aber es ist deutlich, dass Molly für sich nun abschließt. [3] Als sie aufgrund ihres Alters das Lokal verlassen muss, geht sie mit sich im Reinen nach Hause.
Der Schluss ist in sich stimmig, und Lola Tash spielt, übrigens den ganzen Film über, hervorragend: süß, unschuldig, aufrichtig, mutig. Und so ist das Ende nur deshalb stimmig, weil Ben vor dem Tabu einknickt. Der Film untermauert das Tabu letztlich nur – aber er zeigt zugleich, wie sich um die Liebe eines Mädchens Mauern bilden, die nicht zulassen, was überhaupt kein Problem wäre, wenn es diese Mauern nicht gäbe. Die Liebe von Molly ist absolut aufrichtig – und auch die Liebe von Ben könnte es sein. Und nur weil äußere Gesetze diese Liebe verbieten, wird diesen beiden Menschen, wird diesem Mädchen seine Liebe genommen.
Wäre Molly nicht selbst so ein wunderbares Mädchen und würde sie nicht so ruhig und weise verzichten, weil sie im Grunde von Ben enttäuscht wurde, der sich letztlich als machtlose und willfährige Marionette des Tabus erweist; würde Molly innerlich verzweifeln oder ihre Mutter nicht voller Verständnis reagiert haben oder die Polizei ein wenig mehr Indizien in der Hand gehabt haben, oder, oder, oder – wäre eine Katastrophe passiert, die Mollys und vielleicht auch Bens Leben völlig zerstört hätte. So hat das Tabu ,nur’ ihre Liebe zerstört. Es bleibt ein Verbrechen: Das Gesetz zerstört Biografien. Es schützt sie nicht – es steuert sie um. Nicht diese zwei Menschen durften über ihre Liebe entscheiden – das Gesetz tat es für sie. Das Gesetz ist selbst übergriffig.
Es ist richtig, Mädchen vor Männern zu schützen, die ihre Vertrauensstellung dazu nutzen, sich ihnen zu nähern. Aber es ist falsch, es Mädchen zu verbieten, sich Männern zu nähern – und Männern, Mädchen sich nähern zu lassen. Wenn das Mädchen einen Mann liebt, muss es nicht geschützt werden! Wo sich das Gesetz der Liebe des Mädchens in den Weg stellt, wird Recht zu Unrecht, zu einem Verbrechen an einer Biografie und an der sexuellen Selbstbestimmung des Mädchens, die als dessen Recht behauptet wird. Das Recht dient dann nur noch dem gesellschaftlichen Tabu – und dient nicht dem Schutz, sondern der Unterdrückung des Mädchens und von dessen Liebe.
,Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden!’ (Mt 19,6). ,Gott ist die Liebe’ (1. Joh. 4,16). Was Gott, der die Liebe ist; was die Liebe, die Gott ist, zusammenführt, das soll der Mensch nicht scheiden! Oder will er seine eigenen Tabus höher stellen als die Liebe? Höher als Gott? Wann wird begriffen, dass die Entscheidung über die Liebe in den Händen des Mädchens liegt?
Wenn man aus anderen Gründen meint, die Liebe zwischen Schülerinnen und Lehrern verhindern zu müssen, soll man dies klar sagen. Es ließen sich ja genug Gründe denken. Etwa sich anschließende Überlegungen, dass, wenn eine solche Liebesbeziehung zerbrechen sollte, auch die Lehrer-Schülerin-Beziehung danach schwierig sein wird. Oder dass sie schon vorher schwierig sein wird, neben der Beziehung zu den anderen Schülern. Denn wie unterrichtet ein Lehrer, wenn er ein Mädchen in der Klasse liebt? Kann er dann überhaupt noch gut unterrichten? Auch neutral bleiben? Das eine Mädchen nicht bevorteilen? Ist er überhaupt noch objektiv? Und was ist, wenn andere Schüler ihm unterstellen, er sei es nicht mehr? Oder wenn sich weitere Schülerinnen in ihn verlieben? Wenn vielleicht regelrechte Kämpfe um diesen einen Lehrer unter den Mädchen ausbrechen? Oder wenn das eine Mädchen, nachdem die Beziehung vielleicht zerbrochen ist, einen Rachefeldzug startet? Muss vielleicht sogar der Lehrer geschützt werden?
Man sieht, man kommt vom Hundertsten zum Tausendsten, wenn man diese Fragen durchdenkt. Dennoch darf Recht niemals dazu missbraucht werden, unangenehme Fragen auf einfache, aber ungerechte Weise zu verhindern. Denn bei den soeben aufgeworfenen vielen Fragen ist das ,zu schützende Gut’ ein immer anderes. Einmal kann es das Mädchen sein, einmal sind es die anderen Schüler, ihr Recht auf guten Unterricht und objektive Beurteilung. Dann wiederum ist es der Lehrer selbst – sein Recht, einfach Unterricht machen zu dürfen, ohne von Mädchen oder gar Schuldzuweisungen belagert zu werden.
Die heutige (Un-)Rechtslage gibt aber immer dem Lehrer die Schuld. Er kann von einem – oder vielen – Mädchen bestürmt und verführt werden, dennoch ist er schuld. Ein zarter Mädchenleib drängt sich so lange an ihn, bis er dessen Drängen nachgibt – aber er muss ins Gefängnis. Auch hat er gar nicht die Möglichkeit, zu beweisen, dass er auch weiterhin ein guter Lehrer sein kann, alle Schüler gleich behandelt und gleich bewertet, obwohl er eines der Mädchen liebt. Oder dass er auch sie gut behandelt, selbst wenn die Beziehung zu Ende gehen sollte, auf wessen Wunsch auch immer. Das alles wird vom heutigen ,Sexualstrafrecht’ nicht behandelt, nicht gesehen und nicht berücksichtigt. Wie ein Steinzeit-Instrument schert es alles über einen Kamm, indem es sich um die wesentlichen Fragen überhaupt nicht schert, sondern einfach nur ein Tabu aufrichtet und fertig. Das ist, ich wiederhole es noch einmal, Steinzeit-Gesetzgebung.
Die moderne Rechtsprechung muss mit der Tatsache rechnen, dass Mädchen heute bereits in einem Alter eine Selbständigkeit gewinnen, eigenständige Entscheidungen treffen wollen und auch können, die man früher nicht für möglich gehalten hat. Andererseits hat man früher sehr viel für möglich gehalten. Mädchen wie Jungen mussten teilweise schon in frühestem Alter selbstständig sein. Heute dürfen sie es gar nicht mehr. Diese Entmündigung gilt es durch ein wahrhaft modernes Recht wieder aufzuheben – und diejenigen Kinder zu schützen, die diesen Schutz brauchen, und diejenigen Mädchen nicht zu entmündigen, die bewusst deutlich machen, dass sie diesen Schutz nicht brauchen, sondern ihn als Freiheitsberaubung empfinden.
So, wie es selbstverständlich sein muss, dass ein Mädchen (und natürlich auch ein Junge, ich bleibe jetzt aber beim Mädchen) nicht geschlagen werden darf, ebenso selbstverständlich sollte es werden, einem Mädchen selbst die Entscheidung zu überlassen, wen es lieben darf. Wen, wann und wie. Das Mädchen kann in diesem Prozess noch immer fortwährend geschützt werden – etwa, wenn das Objekt seiner Liebe beginnen sollte, das Mädchen auszunutzen und in eine subtile Abhängigkeit zu führen. Das ist aber etwas völlig anderes als die Tatsache, dass zunächst die freie Entscheidung und Handlung des Mädchens zu akzeptieren ist.
Das Steinzeit-Recht muss wesentlich differenzierter werden, um die Rechte der jungen Menschen, in diesem Fall der jungen Mädchen zu schützen. Andernfalls ist etwa das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eine eklatante Lüge. So, wie es eine Lüge ist, dass Mädchen unterhalb des sogenannten ,Schutzalters’ noch keine eigenen Entscheidungen treffen könnten. Sie müssen zwar auch geschützt werden – aber sie müssen auch Entscheidungen treffen können, innerhalb derer sie dann geschützt werden. Es kann nicht sein, dass der ,Schutz’ darin besteht, dass sie noch nicht entscheiden dürfen. Das ist kein Schutz, das ist Entmündigung – und damit Entziehung der sexuellen Selbstbestimmung. Das Recht wird zur Diktatur, zu Unrecht und Zwang. Das Mädchen darf sich verlieben. Auch in einen Lehrer. Und es darf seiner Liebe folgen – und der Lehrer darf diese Liebe annehmen. Alles andere ist Zwang, der unserer Zeit absolut nicht mehr angemessen ist. Die Rechtssetzung hat einzig und allein die Aufgabe, den Freiheitsraum, den sie unbedingt ermöglichen muss, völlig neu so zu gestalten, dass das Mädchen noch immer geschützt bleibt, mehr als eine erwachsene Frau, aber durchaus nicht mehr so wie ein Kind, das gar nichts darf.
Es ist eben genauso steinzeitlich wie fortwährender Frontalunterricht, einfach als Un-Recht das Dogma zu setzen: In der Schule darf nicht geliebt werden – jedenfalls nicht zwischen Jugendlichen und Erwachsenen. Denn was ist, wenn sich schicksalshaft zwei Menschen in der Schule begegnen, die sich begegnen sollten? Und falls man als Materialist die Idee des Schicksals oder der Fügungen verspottet: wenn sich diese zwei Menschen einfach zu lieben begonnen haben? Was will man dagegen machen? Ja – es verbieten. Aber mit welcher modernen Begründung? Es gibt nämlich keine. Man kann nur eines tun: die Liebe zweier Menschen verhindern, vernichten, zerstören – und damit zwei Biografien. Man kann noch so lange behaupten, dass man dadurch gerade schützt und nicht zerstört. Aber es wird immer jene Fälle geben, wo man definitiv zerstört, egal, was man behauptet.
Und das ist steinzeitlich. Das ist Altes Testament, das ist und bleibt Unrecht. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Wenn zwei Menschen sich lieben, dann darf diese Liebe zunächst grundsätzlich nicht angezweifelt werden, egal wie alt sie sind. Etwas ist nicht schon dadurch Missbrauch, dass die eine Liebende ein Mädchen ist. Denn von ihr ging die Entscheidung ja gerade aus. Es ist vielmehr Missbrauch, diese Entscheidung zu verhöhnen – sich allerdings zu verstellen und mit honigsüßer Stimme zu sagen: ,Wir wollen nur dein Bestes. Sieh mal, du kannst noch gar nicht selbst entscheiden. Das können wir dir so nicht sagen, aber wir meinen es. Also – du darfst den Lehrer leider nicht lieben. Warte doch noch ein paar Jahre, oder such dir am besten einen Jungen in deinem Alter. Schau mal, wie wäre es denn mit diesem hier?’ Und so weiter, und so weiter. Mit dieser Art Hochmut, zu wissen, was das Beste für das Mädchen ist, wird das Recht auch in hundert Jahren noch steinzeitlich bleiben. Wir wissen nicht, was das Beste für das Mädchen ist. Alles, was unsere Aufgabe ist, ist, das Mädchen in seinen Entscheidungen zu schützen. Das ist alles. Nicht, sie zu verhindern.
Es ließen sich sehr leicht Regelungen denken und finden, wie man zum Beispiel verhindert, dass sich Erwachsene einem Mädchen nähern, das dies vielleicht gar nicht möchte, es aber gleichzeitig zu ermöglichen, dass sich ein Mädchen einem Erwachsenen nähert, wenn es dies möchte. Und dann das Mädchen in dem von ihm eingeleiteten Prozess zu schützen, wenn daraus tatsächlich eine Liebesbeziehung entsteht. Mädchen der heutigen Zeit so zu begleiten und zu informieren, dass sie wissen, spüren und empfinden, wodurch sich Missbrauch auszeichnet – und was echte Liebe von Missbrauch unterscheidet. Da aber, wo es sich um echte Liebe handelt, beidseits, wo also der Erwachsene sichtbar eine tiefe Achtung vor dem jungen Mädchen offenbart, anstatt nur ihr Vertrauen auszunutzen, auch diesen Prozess zu schützen, denn beidseitige Liebe hat immer ein Recht darauf, geschützt zu werden. Immer.
So, wie das steinzeitliche Vorurteil besteht, dass ein Mädchen nicht lieben könne, so besteht in gleicher Weise das Vorurteil, dass es die Liebe zu einem Mädchen nicht geben könne; dass das keine Liebe wäre. Dies zu widerlegen, sind diese Bände geschrieben. Man kann geradezu sagen: Solange man die Liebe zu einem Mädchen noch nicht versteht, solange versteht man die Liebe an sich noch überhaupt nicht. Denn die Liebe beginnt nicht erst da, wo man mit einem Dogma feste Grenzen für sie aufrichtet und Rollen in Stein meißelt. Als wäre ein Mann noch nicht erwachsen oder überhaupt nicht liebend, der ein Mädchen liebt. Oder als wäre ein Mädchen noch nicht alt genug, das einen Mann liebt. Als wäre die Liebe auf Erwachsene beschränkt! Beschränkt ist nur eine solche Anschauung, die Vorurteile in Stein meißelt, um darauf ein steinzeitliches Un-Recht aufzubauen, das über die vielen, völlig anders gelagerten Einzelfälle brutal hinüberrollt, nicht nur Liebesbeziehungen vernichtend, sondern ganze Leben.
In der Sphäre des Rechts wird die Moderne erst dann anbrechen, wenn man die Liebe des Mädchens ernstnehmen wird. [4]
*
Erinnern wir uns noch einmal des Films ,Blame’. Die junge Regisseurin schrieb das zugrunde liegende Stück bereits mit fünfzehn. In einem Interview sagt sie: [5]
[...] when I started writing the film, I was a lot more romantic about the way in which I viewed the student/teacher relationship. As I got older and was directing the film at twenty years old, and editing the movie with an adult perspective, I saw a completely different story [...].
My view of consent and the ability to consent had changed drastically from when I was fifteen and believed that I was very smart and very in control of my sexuality…when you’re fifteen, and you’re writing about this kind of relationship, you’re like, “this would be fun if this happened to me because I’m an adult,” and then you get to be an adult and you’re like “thank god I wrote this script instead of having an affair with one of my teachers.” That’s what makes the film resonate so much, that it has a real youth to it – I think a lot of that has to do with the fact that it captures the fifteen year-old perspective because I was fifteen when I came up with the idea, so it feels like the way a child would perceive that relationship, which is what makes it very disturbing at times…and also very beautiful and tender at other times.
Ein fünfzehnjähriges Mädchen hält sich also schon für sehr ,erwachsen’ – aber als Zwanzigjährige nennt sie dieses Alter plötzlich ,ein Kind’. Wie ist es möglich, dass hier jegliche Zwischensphäre absolut ausgeschaltet wird? Ein Mädchen ist ein Mädchen – kann man dies nicht endlich anerkennen? Es ist noch so wunderbar un-erwachsen, wie es bereits unendlich viel mehr ist als ein Kind. Und das tief Berührende ist gerade das Zarte, das sehr Reine, das tief Romantische eines Mädchens.
Es ist zu bezweifeln, dass Shephard ihre eigenen Empfindungen als fünfzehnjähriges Mädchen richtig wiedergibt, wenn sie schreibt ,this would be fun...’. Ein Mädchen, das seinen Lehrer liebt und idealisiert, würde niemals in derart oberflächlichen Kategorien denken und fühlen. Aber nur, wenn man die ganze ,Sache’ so naiv hinstellt, kann man umgekehrt mit zwanzig davor warnen, dass es eine reine Dummheit wäre, solchen ,auf Sand gebauten’ Empfindungen und Träumereien zu folgen.
Tatsache ist jedoch, dass unzählige Männer einem derart wunderbaren Mädchen wie Abigail überhaupt nicht gerecht werden würden. Sie würden es erotisch und sexuell ausbeuten – gewissermaßen ,genießen’ –, und das wäre es dann bereits weitgehend. Es ist jedoch offensichtlich, dass dies im Falle ihres Lehrers Jeremy niemals der Fall wäre. Dieser Mann ist tief aufrichtig und selbst sehr empfindsam. Eine Beziehung zwischen ihm und Abigail würde in jedem Fall eine große seelische Tiefe haben, und beide könnten einander unendlich viel schenken.
Dass eine solche Konstellation höchst selten ist, liegt nicht an der ,Verwerflichkeit’ der Beziehung als solcher, sondern vielmehr daran, dass die meisten Männer in unserer materialistischen Kultur innerlich überhaupt keine Entwicklung durchmachen – und wenn sie sich dann von einem Mädchen angezogen fühlen, nicht viel mehr zu ,bieten’ haben als erotisches Begehren. Das ist die Gefahr für unzählige Mädchen – nicht, dass ein Mann ihre unschuldige, reine Liebe erwidern könnte...
In demselben Interview sagt Shephard gegen Ende auf eine entsprechende Frage:
I hope this film helps girls understand that even if a relationship with an older man at that age seems like it’s rooted in love and good intentions, ultimately it’s not a good idea.
Das mag also in den meisten Fällen wirklich zutreffen – weil es eben nur Liebe zu sein scheint, und zwar erst recht auf Seiten des Mannes. Aber daraus eine allgemeingültige Regel zu machen, ist bereits wieder übergriffig und unwahrhaftig. Viel aufrichtiger wäre es, Mädchen beizubringen, woran man wirkliche Liebe denn erkennen könnte. Denn die eigene Liebe des Mädchens lässt sich ja nicht bequem an- und abschalten – oder auf ein (angeblich) ,geeigneteres Objekt’ richten.
Die nächste Unwahrhaftigkeit liegt darin, die Liebe zu gleichaltrigen Jungen immer wieder wie völlig selbstverständlich als die bessere Alternative hinzustellen. Gerade wer ,Blame’ gesehen hat, bekommt hautnah mit, wie oberflächlich und seelenlos viele amerikanische Jungen tatsächlich sind. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu eine Heuchelei, kategorisch zu behaupten, die Beziehung zu einem älteren Mann sei in jedem Fall ,keine gute Idee’. Das kommt doch wohl einzig und allein auf den Mann an!
Worum es ginge, wäre, Mädchen verstehen zu lassen, dass ihre eigene Zärtlichkeit und Tiefe nur von wenigen männlichen Exemplaren erwidert werden wird – in welchem Alter sie auch seien. Ob ein Junge oder ein Mann wirklich Aufrichtigkeit und eine tiefe Seele hat, könnte ein Mädchen sehr schnell empfinden und herausfinden. Dann aber ist es eine gute Idee, sich mit ihm einzulassen – und nur Dogmen und Tabus können etwas Gegenteiliges behaupten...
Es bleibt noch die Frage, warum die meisten männlichen Exemplare (Jungen und Männer gleichermaßen) den empfindsameren Mädchen so wenig gerecht werden können. Es ist im Grunde der gleiche Grund, weshalb auch Mädchen einander mobben können – und der im Vorfeld des anderen bereits erwähnten Interview ausgesprochen wird: [6]
[...] Shephard illustrates how the young women have been turned against each other by the expectations of a patriarchal society and cultural conditioning.
Es sind die Bedingungen einer immer härter werdenden Gesellschaft, [7] die einfach nicht ablassen kann von ihrem fatalen Kapitalismus und dem ihm zugrunde liegenden Egoismus, die diese Gesellschaft und ihre Mitglieder so lieblos, so oberflächlich, so empfindungsarm und seelenkrank werden lassen. Erst dies lässt es zu einer meist ,nicht so guten Idee’ werden, sich als Mädchen mit einem Erwachsenen einzulassen. Aber auch von unzähligen Gleichaltrigen kann ein Mädchen bitter enttäuscht werden...
Die wirkliche Wahrheit ist, dass diese Gesellschaft krank bis an ihre Wurzeln ist. Gerade darum sind viele tiefer empfindende Mädchen ja so einsam. Und man nimmt es noch immer nicht zur Kenntnis – oder begreift die Zusammenhänge nicht einmal im Ansatz.
*
In ,Blame’ kann man empfinden, dass Abigail wirklich vor allem Halt brauchte – etwas Geborgenheit, etwas Zuneigung, etwas menschliche Wärme. Hier war es also vielleicht tatsächlich die beste Lösung, zu einer rein menschlichen, aufrichtigen Freundschaft zurückzukehren.
Ganz anders lag die Situation in dem Film ,Molly Maxwell’. Molly ist in sich viel ausgeglichener. Sie hat nichts zu kompensieren, sie braucht keine Bestätigungserfahrung durch das Entfalten zart-erotischer Anziehung. Sie fühlt sich zu ihrem jungen Kursleiter ganz und gar ursprünglich hingezogen. Es ist eine umfassende Sympathie, die in ein Sich-Verlieben mündet. Hier zu behaupten, es sei ,keine gute Idee’, ist regelrecht anmaßend. Nur zwei Menschen selbst können entdecken, was sie einander und füreinander bedeuten...
Aber in diesem Fall, wir erinnern uns, war es die Angst ihres Lehrers Ben, die die Beziehung scheitern ließ – nichts anderes. Angst aber beweist nur, dass die eigene Liebe nicht aufrichtig genug ist – und dann ist auch das wieder eine Wahrheit. Das Mädchen muss schmerzlich erkennen, dass man selbst es mit ihr nicht ernst genug meint... Aber dann sollte man sich nicht hinter dem Tabu verstecken, sondern zugeben, dass man das Mädchen nicht ebensosehr liebt, wie man geliebt wird. Das erst wäre wirkliche Wahrhaftigkeit.
So gesehen ist das Tabu ein einziger Dämon, des es geradezu verhindert, dass ein Mann sich überhaupt klar darüber werden kann, ob er ein Mädchen nun eigentlich liebt oder nicht...
In dem von einer Frau, der 2017 verstorbenen Schauspielerin Jeanne Moreau gedrehten Film ,L’adolescente’ (1979) verliebt sich, wie weiter oben erwähnt, die gerade zwölfjährige Marie in den dreißigjährigen Dorfarzt Alexandre. Die zentrale Szene ereignet sich in der Mitte des Filmes: [8]
,Ich bin es, Marie.’
Er stellt das Radio aus, hält fragend inne. Sie geht langsam, sehnsüchtig zu ihm, lehnt sich an seine Brust. Dann flüstert sie:
,Ich liebe Sie.’
Sie verharrt etwas. Dann neigt sie mit geschlossenen Augen langsam ihr Gesicht nach hinten, in berührender buchstäblicher Hin-Gabe ihrer Lippen und ihres ganzen Wesens...
Er steht reglos da. Noch einmal flüstert sie:
,Ich liebe Sie.’
Er will fast ihre Wange streicheln, tut es dann doch nicht.
Sie öffnet ihre Augen. Senkt langsam, erkennend, ihren Kopf, ihn noch immer ansehend.
Wieder will er sie streicheln, fast dann immerhin ihre Schulter.
Sie sinkt langsam auf einen Stuhl, er geht vor ihr in die Hocke.
,Sieh...’
,Nein! Ich liebe Sie – und wenn Sie mich auch lieben würden, hätten Sie mich geküsst, und ich wäre glücklich!’
,Marie, du bist ein kleines Kind!’
,Nein, ich bin groß!’
Sie steht auf, er erhebt sich ebenfalls wieder.
,Sie haben Angst.’
Sie geht, wiederholt noch einmal, ohne sich umzusehen:
,Sie haben Angst.’
Sie blickt sich noch einmal um.
,Ich habe keine Angst.’
Sie geht langsam ganz hinaus.
Nicht, dass ein Mädchen nicht lieben könnte – es tut es. Und nicht, dass ein Mann ein Mädchen nicht lieben könnte – er wagt es nicht.
Ein zwölfjähriges Mädchen erkennt die ganze Wahrheit...
Fußnoten
[1] Sie belegt bei ihm Fotografie als Wahlpflichtfach. Man erlebt mit, wie sie eindeutig verliebt in ihn ist und sich bei ihm unglaublich wohlfühlt. Auch er fühlt sich von ihr sehr angezogen. • Als sie ihm ein Foto nach Hause bringt, bittet er sie noch herein, und sie zieht sich schließlich vor ihm bis auf die Unterwäsche aus. Er umarmt sie, aber tut nichts weiter (ab 42 min). • Bei einem nächsten Mal kuscheln sie auf ihr Betreiben hin (ab 48 min). • Beim dritten Mal liegen sie wieder auf dem Sofa und es kommt zu folgendem Dialog: ,Vor 200 Jahren hätte niemand irgendein Problem damit gehabt, wenn ich dich zu meiner Kindesbraut erwählt hätte.’ ,Kleopatra hat Ägypten bereits regiert, als sie so alt war wie ich.’ Da er ihr verbietet, sich auszuziehen, will sie ihn befriedigen, was nur daran scheitert, dass sie schließlich nicht weiß, ,was ich da tun soll’ (ab 57 min). • Als der sonst völlig unkomplizierte Schulleiter bereits Fragen stellt und Ben Angst hat, ins Gefängnis zu kommen, will Molly die letzte Chance nutzen, die sie haben, und es kommt fast zum Sex, aber Ben resigniert: ,Es fühlt sich einfach falsch an.’ Wenn sie älter sei, wisse sie warum. Sie ist tief verletzt: ,Danke schön, was bist du für ein herablassendes Arschloch!’ Er will nun auch, dass sie, bevor sie geht, alle Nachrichten von ihrem Handy löscht, was sie nochmals verletzt (ab 65 min). • Daraufhin besucht sie eine Party, betrinkt sich und hat mit einem Jungen ihren ersten Sex. Wieder zuhause weint sie.
[2] Dies wird noch gesteigert, indem der Polizist einen aktuellen Fall eines Basketballtrainers erzählt, der mehrere Mädchen glauben ließ, sie seien etwas Besonderes, also einen eklatanten Fall sexueller Ausbeutung so hinstellt, als wäre dies das generelle Muster und als könne Liebe zwischen Lehrer und Schülerin nicht existieren.
[3] Dies ist zunächst noch offen, aber es kommt zu einer weiteren Verletzung. Als sie sich entschuldigt hat (,Und für das andere auch’), erwidert er erleichtert: ,Ach, da war doch nichts’. Für sie war da aber gerade sehr viel! Ihm jedoch war sein ,Tabu-Gewissen’ und seine Sicherheit letztlich wichtiger als ihre Liebe. Als er sie fragt, ob sie nach dem Konzert nach etwas essen wollen, erwidert sie: ,Nein, ich glaube nicht’, und nun bestätigt auch er: ,Ist besser, wir lassen es’. Dies alles zeigt, wie wenig Mut er beweist. Dennoch hört sie mit leuchtenden Augen und immer wieder lächelnd seinem ersten Song zu – und scheint währenddessen Abschied zu nehmen, der ihr dann auch leicht fällt, als sie gehen muss...
[4] Zum Sexualstrafrecht siehe ausführlich den achten Band.
[5] Kate Hagen: The Black List Interview: Quinn Shephard on BLAME. blog.blcklst.com, 5.1.2018. Auch für das folgende Zitat.
[6] Stephen Saito: Interview: Quinn Shephard on the Good That Came From Not Passing on “Blame”. moveablefest.com, 28.4.2017.
[7],“Who is to blame for what goes on here?” Society.’ Ebd.
[8] Minute 48:15 bis 50:15, übersetzt H.N.