Parthenophilie

John Riew (1885)


Der Erzähler dieser Novelle wohnt zwischen zwei Orten und sieht am Ende des einen ein neues Haus, dessen Bewohner sich zunächst nie zeigen – es sollen neben dem Besitzer eine ältere kränkliche Frau und ein unzähmbarer zwölfjähriger Junge sein. Dann sieht er einen sehr schönen Jungen, der ihn an irgendjemanden erinnert. Später erfährt er, dass die alte Frau, seine Großmutter, gestorben ist, dann, dass der Junge ins Armenhaus gekommen ist, und schließlich, er sei wieder zurück.

Als er wieder einmal dort vorbeigeht, hat der Alte erneut Ärger mit dem Jungen, der von einem Baum fällt. Und nun ist er sicher, dass jener Kapitän John Riew’ (eigentlich Riewe) ist, der vor wohl achtzehn Jahren mit ihm Mieter bei einer Hamburger Schifferwitwe war, als der Erzähler seine Schulzeit im dortigen Johanneum abschloss. Jener war Makler geworden und musste außerdem die Wirtin in allen Dingen beraten, ja unterstützen:[1]

Das Beste an der Frau war jedenfalls ihre zwölfjährige Tochter Anna; braun, feingliedrig, mit dunklem Haar und, o mit welchen Augen! Es war etwas Begehrliches in dem Mädchen; aber alles, was sie tat, und mochte sie in einen Apfel beißen, geschah mit einer Art von froher Anmut. Wie jetzt mit dem Jungen, so hatte der Kapitän es damals mit dem Mädchen: er wußte selbst nicht, was er dem verzogenen Ding zu Willen tun sollte; er kaufte ihr seidene Schürzen und rote Tüchelchen, mit denen sie dann auch sogleich erschien [...].

Bei einem Theaterbesuch verguckt sie sich nur in die silbernen Meernixenkleider und will auch Komödiantin werden, was Riew entsetzt ablehnt: ,die kommen alle in die Hölle!’ Das Mädchen bedient immer den Alten, die Wirtin den Erzähler. Eines Oktoberabends lädt der Kapitän ihn zu einem Rum ein, und er wird Zeuge einer Art Rituals: Das Mädchen entzündet die Spirituslampe und setzt den Kessel auf.

„Nachbar“, flüsterte der Kapitän, „was sagt Ihr zu meinem kleinen Maat?“
Der kleine Maat aber stand, die Hände in den Schoß gefaltet, und neigte das dunkle Köpfchen nach dem Kessel. Als er zu sausen anhub, wandte sie sich und wollte gehen.
„Oho!“ rief der Kapitän, „du meinst wohl, wir sollen uns unser Glas heute selber machen!“
Sie blieb stehen, schüttelte den Kopf und wurde purpurrot. Dann aber ging sie lautlos nach dem Schrank, hob ihre schmächtige Gestalt auf den Zehen und holte vom obersten Bord eine Schale mit Zucker herab.
„So recht, Anna!“ rief der Kapitän. „Nun zeige, was du von mir gelernt hast!“

Sie mischt die Zutaten und bietet dann beiden auf einem Tablettchen die Gläser an.

Ich nahm das meine, und schon an dem Duft merkte ich, es war ein steifes Seemannsglas. Der Kapitän aber, als sie zu ihm trat, legte beide Arme vor sich auf den Tisch. „Nun?“ sagte er und sah lachend unsere kleine Schenkin an; „ich muß wohl heut um alles betteln gehen!“
Sie stand einen Augenblick wie verlegen.
„Oder scheust du dich vor unserm jungen Herrn?“ fügte der Kapitän hinzu.
Da hob sie das Glas an ihre Lippen. „Wohl bekomm’s!“ sagte sie leise; dann trank sie, und es schien mir, daß sie mit Behagen trinke.
„Halt, halt, Jüngferlein!“ rief der Alte lachend; „ei, seht doch, schickt sich das für ein so zartes Manntje?“
Aber schon hatte sie das Glas vor ihn auf den Tisch gesetzt, und wir hörten, wie sie draußen wiederum die Treppe hinunterflog. [...]
Ich aber weiß noch sehr wohl, wie ich ihn um sein Glas beneidete, an dem der süße Mädchenmund geruht hatte.

Nun fragt sich der Erzähler, was seitdem passiert ist – inzwischen waren etwa achtzehn Jahre vergangen. Er stellt sich dem Kapitän vor – und auch dieser erkennt ihn nun wieder. Er mischt einen Trunk, aber es ist kein Rum mehr: ,seit der Junge da geboren, haben wir uns geschieden’. Er beginnt zu erzählen.

„Wenn ein Mensch zuviel Tugenden hat“ – so begann er sein Gespinst, indem er mir eins der dampfenden Gläser zuschob – „dann ist der Teufel allemal dahinter.“
Ich mochte wohl gelacht haben. „Nein, Nachbar“, fuhr er fort, „das ist die simple Wahrheit; es ist gegen die Natur des unvollkommenen Menschen, den unser Herrgott nun einmal so geschaffen hat; denn irgendwo in unserem Blute sitzt er doch, und je dicker er mit Tugenden zugedeckt wird, desto eifriger bemüht er sich, die Hörner in die Höh’ zu kriegen. [...]“

Nach dieser seltsamen Einleitung erzählt er von einem wilden jungen Seemann namens Rick Gyers, der aber ganz und gar tugendhaft war. Er wurde früher Kapitän als Riew und verliebte sich dann ausgerechnet in eine fast dreißigjährige Mamsell, Rieckchen, die keiner wollte.
Inmitten dieser Erzählung kommt der Junge herein und sagt dem Kapitän leise und liebevoll noch gute Nacht. Der Erzähler wundert sich, da er doch neulich so hart behandelt wurde, mit Armenhaus – aber, so der Kapitän, ,er mußt’ einmal erfahren, wohin er ohne mich geraten würde’.

Als Riew seinen Freund Rick einige Zeit später wiedersieht, zeigt sich, dass dieser gegen die realitätsblinde Art seiner Frau geradezu eine deutliche Aversion entwickelt hat – aber seine Tochter, seinen ,Engel’, über alles liebt:

Wir waren an sein Ehebett getreten, von dem er jetzt das schwere Deckbett zurückschlug. „Nun, John Riewe?“ rief er triumphierend.
Und freilich, da lag – ich dacht’ im selben Augenblick: ein Engel, aber es war doch nur ein schönes Kind, im tiefen Schlaf; ein Mädchen von kaum zwei Jahren wohl. Die eine Wange hatte es gegen sein Fäustlein gedrückt, über das die braunen Haare fielen; es war fast nackt, denn das Hemdlein hatte sich über die Brust hinaufgeschoben, und es glühte gleich einem Christkind wie von innerem Rosenlichte.
„Nun, John?“ sagte Rick wieder, „du schweigst? Ja, Alter, dem müssen alle Teufel weichen!“
Und mit demselben schlug das Kind seine dunklen Augen auf, und die Ärmchen nach dem Vater streckend, rief es: „Papa, mein Papa!“
Da riß Rick es ungestüm aus den Kissen und preßte das schöne Ding an sein Herz und küßte es vielmal und flüsterte ihm heimliche Worte in sein Ohr, so leise, daß ich nichts davon verstand. Ich sah es wohl, sein Herz war voll, und was er seinem Weibe nicht geben konnte, das verschwendete er an das unvernünftige kleine Wesen.

Das Mädchen war Anna. Nach ein paar Jahren begegnete er Rick in Kapstadt wieder – da war dieser ein Trunkenbold geworden. Rick glaubt, sie sehen sich zum letzten Mal, aber Riew verneint dies, es tut ihm in der Seele weh. Doch wieder einige Jahre später erfährt er, dass Rick kein Kapitän mehr ist. Und nach einigen Jahren hört er von seinem Tod, weil er, vermutlich betrunken, durch die Öffnung einer in Reparatur befindlichen Brücke ins Wasser gestürzt war. Riew selbst, inzwischen Makler geworden, mietete jene Etage bei der Witwe an und nahm Ricks Frau und Tochter zu sich.

Er erzählt weiter, dass das Mädchen seine Vaterliebe auf ihn übertragen, er aber mit ihr viel Mühe hatte – und wie es kam, dass sie vom Rum trank:

Ich hatte die Anna gelehrt, nach meinem Maße mir das Glas zu mischen; aber wenn sie den Rum in das heiße Wasser goß und nun der Dampf ihr in das feine Näschen stieg, dann begann sie ein Gehüstel, bog den Kopf zurück und machte allerlei Gesichter des Abscheues gegen mich.
Ich lachte darüber und sagte: „Probier es nur!“ oder „Es wird dir doch noch schmecken!“
Aber eines wie das andere Mal erwiderte sie: „Ich habe es schon geschmeckt, Ohm: es ist abscheulich!“ und schob mit ausgestrecktem Arm das Glas mir zu.
Es wurde allmählich eine stehende Neckerei zwischen der Jungen und dem Alten. „Du sollst doch noch probieren!“ rief ich endlich; „ist das ein Koch, der nicht probieren kann?“
„Ich bin kein Koch!“ sagte sie schnippisch.
„So bist du doch mein Mundschenk!“
„Ich tu’s aber doch nicht!“ rief sie und flog mir aus der Stube und die Treppe hinab.
Ich alter Tor, ich muß jetzt denken, daß ihre Natur uns habe warnen wollen; aber ich ging wie mit verbundenen Augen.
Nun war’s an meinem Geburtstage, und ich hatte, mir selber zur Festfreude, dem Kinde ein Dutzend Schnupftücher von einer Extraqualität geschenkt, da ich ihre Lust an feinem Linnenzeuge kannte. Und wirklich, sie leuchtete vor Freude, als sie zur Mutter lief und ihr die schöne Ware zeigte; und über ein kleines saß sie auch schon am Fenster, um ihr kunstvolles Monogramm hineinzusticken. „Mein Ohm!“ rief sie mir zu; „ich tu dir alles zu Gefallen!“
„Das ist schon mein Gefallen,“ sagte ich, „daß du dich freust.“
„Nein, noch was anderes, Ohm!“ Sie sah mich geheimnisvoll mit ihren dunklen Augen an und stickte weiter an ihren Monogrammen.
Abends brachte sie mir, wie gewöhnlich, das Kesselchen mit heißem Wasser auf mein Zimmer; sie nickte mir zu, und als es kochte, begann sie mir mein Glas zu mischen. Sie tat das wie in Freude zitternd und doch so feierlich, als solle sie ein Opfer bringen. Dann hielt sie das dampfende Glas hoch vor ihrem Angesicht: „Ohm,“ sagte sie, indem sie auf mich zutrat, „mein Ohm, mögst du noch vielmal diesen Tag erleben!“ Der herzlichste Strahl, den meine arme Seele je getrunken, flog aus ihren Kinderaugen in die meinen. Dann setzte sie das Glas an ihren Mund und tat einen starken Zug daraus.

Nach dieser herzrührenden Szene folgt eine Katastrophe und die weitere erschütternde Liebe des Mädchens:

Aber es war zuviel gewesen, was sie sich zugemutet hatte: wie im Krampf spien die jungen Lippen den scharfen Trank hinaus, und das Glas fiel aus ihrer Hand zu Boden, daß der Inhalt und die Scherben umherflogen; dann stürzte sie in den Alkoven, an meinen Waschtisch; ich hörte, wie sie Wasser in ein Glas goß, ein- und zweimal, und wie sie gurgelte und sprudelte, als gelte es, einen Gifttrank wegzuspülen.
Ich ging ihr nach; da fiel sie mir um den Hals; „Ohm, mein süßer Ohm ... ich konnte nicht dafür ... verzeih mir, sei nicht bös!“
Das Kind war außer sich; dennoch wollte sie mir ein neues Glas bereiten, aber ich litt es nicht, ich nahm sie auf meinen Schoß: „Sei ruhig, Anna; du weißt es ja, wir beide können einander gar nicht böse sein!“
Da preßte sie meinen Hals mit ihren Armen, als ob sie mich ersticken wollte: „Du bist gut, mein Ohm; ich weiß es, du bist gut!“ und dann weinte sie sich noch ein braves Stückchen.
Aber auch das, Nachbar, öffnete mir nicht meinen vernagelten Verstandskasten. Am andern Abend kam sie wieder mit ihrem Kesselchen. „Zünd’ nur die Lampe an“, sagte ich; „hernach mach ich mir’s schon selber.“
Ich wollt’, Sie hätten ihr bittend Angesicht gesehen. „Laß mich, Ohm!“ sagte sie. „Ich weiß, ich kann es heute.“
Ich wollte es dennoch wehren, aber jetzt stampfte sie mit ihrem Füßchen: „Ich muß aber, Ohm; das ärgert mich, das von gestern!“
So litt ich’s denn, und als sie ihr: „Zur Gesundheit!“ sprach und dann ein Schlückchen aus dem Glase trank, hielt sie den Atem an und Mund und Augen gewaltsam offen; aber, ich sah es wohl, ein paar Tränen sprangen doch heraus. Bald danach sind Sie ins Haus gezogen, und – Sie haben es ja selbst gesehen, wie zierlich sie uns zu kredenzen wußte. Gott verzeihe mir! Das Kind steuerte Backbord, aber ich hätte Steuerbord halten sollen.

Später will sein Lübecker Reeder Riew zu neuer Fahrt gewinnen – und als er sieht, wie begierig Anna die Auslagen eines Weißwarengeschäfts anschaut, eröffnet Riew selbst eines in der unteren Etage, die der Erzähler zuvor bewohnt hatte. Anna ist begeistert und erweist sich als fleißige Näherin, und Riew wird Kapitän der ,Alten Liebe’. Fünf Jahre fährt er zur See, bis er sich nach einem Fast-Unglück entscheidet, die Seefahrt nun zu beenden. Bei seiner Rückkehr erkennt er die nun siebzehnjährige Anna zunächst nicht mehr sicher.

In den nächsten Tagen erfährt er jedoch von den Nachbarmädchen bei einem Botengang, dass sich Anna und ihre Mutter bei einer Art Varietévorstellung mit zweifelhaften vornehmen Bekanntschaften haben blicken lassen, wobei auch viel Alkohol im Spiel war. Riew stellt die Mutter zur Rede, aber sie bagatellisiert und streitet ab:

„Riekchen, geht in Euch!“ rief ich, „besinnt Euch! Biedermänner, und Grafen und Barone, und mit Euch in der Zentralhalle?“
Das war zuviel. „Ohm Riew’“, sagte sie, „unsere Anna ist ein Kind; – ich aber bin mein langes Leben hindurch eine ehrenwerte Frau gewesen! Wir werden sie nicht verunehrt haben!“
Du lieber Gott! sie wußte nicht einmal, weshalb Rick Geyers in sein frühes Grab getaumelt war.

Dann suchen die ,vornehmen Herren’ sogar den Laden auf:

Im übrigen alles, wie man’s nur verlangen konnte: dünnes, aber modisch frisiertes schwarzes Haar, ein kleiner Schnurrbart in einem glattrasierten Angesicht; die eine Hand, in hellem knappen Handschuh, lag mit dem Augenglas auf seinem Knie. Er sah nicht übel aus, beileibe nicht! Aber um Mund und Augen zuckte etwas. – ich kannte es wohl, Herr Nachbar – es macht die Weiber fürchten und fängt sie endlich doch, wie arme Vögelchen![2] Man soll nur wissen, daß nichts als böse Lust dahintersteckt.

Dass die unschuldige Anna nichts begreift, kann Riew noch verstehen – aber auch ihre Mutter durchschaut nicht das Geringste, im Gegensatz zu dem bodenständigen Kapitän mit seiner tiefen Lebenserfahrung:

Die Alte nickte: „Ein sittsamer, edler junger Herr! Aber ich glaube, Onkel John, Ihr habt ihn fortgetrieben!“
„Was hab ich, Riekchen?“ rief ich; denn so sanft sie das auch vorbrachte, solch eine Anklage hatte ich noch nie von ihr gehört. „Ich habe ja in aller Ehrbarkeit auf diesem Stuhl gesessen!“
„Ja, Riew’, das haben Sie wohl; aber – Sie saßen so, als wollten Sie den Herrn Baron zur Tür hinaus haben!“
„Und das wollt ich auch, Riekchen!“ rief ich, „und er ist denn auch gegangen; und wisset Ihr, weshalb? – Weil er ein schlecht Gewissen hatte! Weil er keinen Mann gebrauchen konnte beim Auswerfen seiner Angel, womit nur junge Dirnen und alte dumme Weiber zu ködern waren! Und wenn Ihr noch etwas Mutterwitz im Kopfe habt, so beißt Ihr nicht daran!“

Als er am nächsten Abend von einer Fahrt zu seinem alten Reeder zurückkehrt, hört er mitten in der Nacht eine Kutsche. Anna war von einem Ball nach Hause gebracht worden – sie ist beim Tanzen ohnmächtig geworden und sieht aus wie eine Leiche. Der Doktor beruhigt ihn, dennoch geht Riew in seinem Zimmer lange besorgt auf und ab – und immer deutlicher wird, was für ein gutes Herz in diesem Menschen steckt.

Am Morgen hört er aus seinem Alkoven, dass in seinem Zimmer sein Kaffeegeschirr auf den Tisch gesetzt wird:

Herr, wie war ich erschrocken, da der Morgenschein auf das junge Gesicht fiel! – Zerstört, ja ganz zerstört schien es mir; ich suchte darin nach etwas und ich wußte nicht wonach; die roten vollen Lippen schienen wie zum Spott daraus hervor.
„Guten Morgen, Ohm!“ sagte sie kaum hörbar; aber ihre Hände zitterten, womit sie mir die volle Tasse reichte, daß ein Teil mir auf das Deckbett floß.
„Kind! Anna!“ sagte ich und faßte ihre Hand; „wo bist du gewesen? Du hast ja arge Havarie erlitten!“
Sie antwortete nicht; sie zitterte nur noch stärker, und als ich in ihre sonst so fröhlichen Augen sehen wollte, schlug sie sie nieder oder wandte sie zur Seite.
„Anna! Anna!“ sagte ich, „du gehst mir nimmer wieder auf diese Bälle!“
Da mußte ich nach der Tasse greifen, denn sie wollte die Hände über ihren Kopf erheben. „Nein, Ohm!“ schrie sie, „nie – nie wieder!“ Ihre schlanke Gestalt wollte sich aufrichten; aber sie sank wie ohnmächtig an meinem Bett zusammen.
Ich hatte meine Hand auf ihren Kopf gelegt. „So ist es recht, mein Kind“, sagte ich; „nun gräme dich nur nicht; ich gehe mit dir, wohin du willst! Und wenn’s erst Sommer ist, dann reisen wir zu meinem alten Ohm, der auf dem Lande wohnt! Da sind große stille Stuben und draußen Wald und grüne Wiesen!“

Der gute alte Kapitän will das Beste für die geliebte Pflegetochter – und in seiner Lebensweisheit spürt er nun, wie unendlich wohltuend die friedliche, stille Natur, die alle anderen Einflüsse ausschließt, für die zerrüttete Gesundheit des Mädchens wäre. Und mit aller Konsequenz will er für sie sorgen. Mit der Zeit wird ihr Aussehen wieder besser, aber innerlich ist ihre frühere Fröhlichkeit ganz verloren, auch das noch Kindliche wie weggeblasen. Der Baron wiederum, so Rieck, müsse sich bis zum Sommer um seine Güter in Mecklenbug kümmern.

Einige Monate später, im März, hört er das Mädchen einmal weinen. Auf seine Frage will sie zunächst nicht antworten:

„Aber was ist denn? Warum weinst du?“
„Ich weiß nicht, Ohm; es kommt nur manchmal so.“
Da ergriff ich sie bei beiden Händen: „Du sollst mir standhalten, Kind! Nicht wahr, du härmst dich nach deinem Tänzer, nach dem Baron, der jetzt auf seinen Gütern ist?“
„Nein, nein, Ohm!“ rief sie heftig.
„Nur, was ist’s denn? Kannst du’s deinem alten Ohm nicht sagen? Wir wollen sehen, daß wir Hilfe schaffen!“
Aber ich sah nur, daß ihr die Tränen reichlicher aus den Augen rannen: „Ich kann nicht!’ Und sie stammelte das nur so. ,O lieber Gott! die Angst! die Angst!“ schrie sie dann wieder.
„Aber so sag dir’s doch vom Herzen! Kind, wirf den Ballast über Bord! Oder, wenn nicht mir, so sag es deiner Mutter!“
Sie starrte mit ihren schmucken Augen vor sich hin, als ob sie in ein schwarzes Wasser sähe, und sagte rauh: „Nein, nicht der, nicht meiner Mutter.“
„Versündige dich nicht!“ sprach ich, „du hast ja nur uns beide auf der Welt!“
Da warf sie sich auf die Knie und schrie: „Mein Vater, o mein guter Vater! Ich will zu dir!“

Schließlich offenbart sich, dass sie, die selbst fast noch ein Kind war, ein Kind erwartet. Der Rieck fällt nichts besseres ein, als den ,Baron’ zu verklagen und ihn zur Heirat zu zwingen. Später aber stellt sich heraus, dass er verschwunden ist.

Die Anna aber wurde immer stiller. Wenn die Mutter da war, besorgte diese den Laden, und sie saß im Hinterstübchen und nähte sich die Augen rot; war die Mutter aus dem Hause, so bediente das arme Kind die Käufer demütig und wie eine Sünderin, sprach nur, was nötig war, und ihre jungen Augen, die sonst so lustig in die Welt sahen, waren fast allzeit zu Boden geschlagen.

Das Einzigartige wirklicher Scham und Reue eines Mädchens – welches Herz kann dies empfinden? Und wie erschüttert auch dasjenige, was die Seele des Mädchens noch beschäftigt:

Nur, wenn jezuweilen abends die Mutter auswärts war, kam sie die Treppe zu mir heraufgeschlichen. Dann pochte sie leise an die Tür: „Darf ich ein wenig bei dir sitzen, Ohm? Es ist so einsam unten.“
Und ich rückte ihr einen Stuhl zum Tisch; ich selber las die Zeitung oder schrieb, wenn so was vorlag. Gesprochen aber wurde nicht viel; von dem, der ihre Jugend gebrochen hatte, hat sie nie ein Wort geredet; dagegen waren ihre Gedanken oft bei einem Toten. So sagte sie einmal [...]: „Ohm, ich war doch schon sechs Jahre, als mein Vater starb; aber wenn ich an ihn denken will, ich kann mir sein Gesicht nicht mehr vorstellen – das ist doch wohl keine Sünde.“
„Nein, Kind,“ erwiderte ich, „warum sollte das eine Sünde sein?“
„Ja, er hat mich doch so liebgehabt; das fühl ich wohl noch immer, aber sein Gesicht, das kann ich nicht mehr sehen!“

Und Riew erinnert sich einiger Briefe aus der besten Zeit ihres Vaters, die er aufbewahrt hatte, und gibt sie ihr:

Ein heißes Rot flog über das blasse Gesicht, und ihre Augen strahlten für einen Augenblick. „Darf ich sie lesen?“ rief sie, und da ich nickte: „Darf ich sie auch mit mir nach unten nehmen?“

Etwa acht Tage lang behält sie die Briefe bei sich. Dann pocht ihre kleine Hand eines Abends erneut an seine Tür:

„Darf ich hineinkommen, Ohm?“
„Gewiß, mein Kind.“
Dann schritt sie leise herein. „Da sind die Briefe wieder,“ sagte sie beklommen, „ich danke dir tausendmal.“
„Willst du sie nicht behalten?“ fragte ich.
„Darf ich?“ rief sie und bückte sich über mich und küßte mich und drückte krampfhaft meine Hände.

Er heißt sie ein wenig bleiben, und sie holt nur ihre Arbeit – und er sieht, dass sie kleine Kinderjäckchen näht, mit ihrem lieben, vergrämten Gesicht wie grübelnd. Dann fragt sie, wie ihr Vater starb. Riew erzählt von dem Unglück.

Sie schwieg, aber ich sah, wie ihre Brust sich vor innerer Aufregung hob und wie sie heftiger ihre Nadel führte. „Ohm,“ hub sie wieder an und ließ nun ihre Hände ruhen, „hat mein Vater auch von dem Schrecklichen getrunken, was du immer abends trinkst und – wo ich auch davon getrunken habe?“
Ich erschrak, aber ich antwortete scheinbar ruhig: „Das ist nicht schrecklich, Anna; das hat ja der Herrgott uns Seeleuten so recht zum Labsal gegeben! Hast du danach bei mir was Schreckliches gesehen?“
„Bei dir nicht, Ohm“ – und sie sah mich mit ganz großen Augen an; „aber alle dürfen das nicht trinken: es bringt uns um den Verstand; die Bösen haben dann Gewalt über uns.“

Einige Tage später liest er in einem Zeitungsartikel, dass alles Mögliche vererbt sei, Gesundheit und Krankheit, Tugend und Laster. Der Arzt, der Anna vor einem Dreivierteljahr behandelte, bestätigt ihm, dass die Trinkneigung durchaus erblich sei, wenn auch seltener bei Frauen, dass sie in jener Nacht aber jedenfalls ganz betrunken war. – Und nun hört Riew innerlich eine mächtige Stimme: ,Deine Schuld, deine Schuld!’ Er will Anna nun erst recht mit aller Kraft helfen.

Diese erzählt ihm, dass sie in der Nacht die Stimme ihres Vaters hörte. Sie wollte zu ihm, dann war er fort, und es war ihr, als wenn sie in ein Meer versänke. Er will sie immer wieder auf andere Gedanken bringen, aber sie hält ihr Kind für eine Sünde und sich selbst für ehrlos.

Da fuhr’s in meiner Not mir durch den Kopf, ich sagte: „Anna, ich weiß, ich bin nichts als dein alter Ohm, schon über sechzig, und morgen mach ich mein Testament; was ich habe – es ist ein anständig Bürgerteil – kommt dir und deinem Jungen zu; und willst du die paar Jahre noch meine Frau heißen – denn es bleibt trotzdem beim alten, Anna – aber ein altes Mädchen brauchst du nicht zu werden!“ [...]
Aber Anna hatte sich strack emporgerichtet. „Nein!“ schrie sie, „nein, das will ich nicht! Du bist so ehrenhaft und brav! Ach, Ohm,“ – und ich sah, wie sie in sich zusammenschauderte – „du weißt es doch – die Schande ist so ansteckend!“ Sie hatte krampfhaft meine Hand ergriffen und geküßt.
„Anna,“ sagte ich, „ich kann dich hiezu nicht drängen, aber Schande ist nur unter den Menschen und verweht in einem guten Leben. Denk an dein Kind und daß ich nichts für mich will!“
– „Nein, Ohm, nie – nie!“ Ihre Augen bewegten sich zitternd, sie hatte die Arme ausgestreckt und rang die schmalen Hände umeinander. „Aber – das andere, was du sagtest,“ begann sie schüchtern wieder, „mein Kind, es wird zu leiden haben um seiner Mutter willen. Hilf ihm, Ohm! Kannst du es wirklich mir versprechen, mein Kind niemals, auch bei deinem Tode, nicht zu vergessen?“ Die großen Augen waren angstvoll auf mich gerichtet.
Da legte ich meine Hand auf ihr armes junges Haupt: „Niemals, Anna,“ sagte ich, „sonst vergesse mich unser Herrgott in der letzten Stunde! Schon morgen soll dein Sohn mein Erbe sein.“

Das Mädchen ist zutiefst erleichtert. Aber am frühen Morgen erwacht er von einem Geräusch, findet ihr Lager leer – und weiß in einem Moment alles. Er eilt zu der Stelle, wo ihr Vater ums Leben kam – und ein Blumenmädchen wirft dort weinend Maiglöckchen aus seinem Korb ins Wasser.

Schon am andern Tage aber lag unsere schöne Anna weiß und kalt in ihrem Sarg, da, wo sie gestern noch im warmen Bett geschlafen hatte, und um sie war alle Sorge aus. Die Mutter hatte das feuchte und verwirrte Haarwerk ihr getrocknet, und die langen dunklen Flechten lagen auf den feinen Linnen, worein wir sie gehüllt hatten; schon, als sie noch Kind war, konnte die Wäsche ihr immer nicht fein und sauber genug sein; das Beste aus dem Laden hatten wir ihr gegeben. So lag sie denn [...], Maiglöckchen um ihr schönes stilles Angesicht und in ihren blassen Händen. In der Nacht habe ich die Wache bei ihr gehalten; ich hatte ihre Hand gefaßt, bis mir die Todeskälte in den Arm hinaufstieg [...].

Riew zog dann mit ihrer Mutter und ihrem Kind dorthin, wo der Erzähler ihn gefunden hatte. – Dieser verspricht ihm, ihm mit dem Jungen zu helfen. Und in einem Nachtrag, fast zehn Jahre später, ist Riew ein musterhafter Obstgärtner. Für den Jungen hatten sie zwei Jahre lang einen jungen guten Lehrer gewonnen, beide wurden sogar Freunde. Und nach der Konfirmation wurde er Steuermann auf der ,Alten Liebe’ – und soeben Kapitän.

Diese Novelle Storms, geschrieben am Ende seines Lebens, ist ein frühes Zeugnis des Kampfes gegen den Alkoholismus und dessen furchtbare Folgen. Auch hier geht es wieder ganz zentral um ein Mädchen. Und obwohl dessen Charakter zunächst durchaus nicht so rein scheint wie jener der anderen Mädchen, erweist sich doch auch diese Seele mehr und mehr als zutiefst berührend: Wie sie wegen einiger Taschentücher auf einmal so voll tiefer Liebe und Dankbarkeit gegen ihren Pflegevater ist, dass sie sogar das ,Feuerwasser’ auf sich nimmt. Wie sie dann durch die Lebenstragik tief demütig und sanftmütig wird. Auch dieses Mädchen ist so unendlich, so zutiefst unschuldig.

Parthenophilie – Liebe zum Mädchen. Man kann Storms Novellen nicht lesen, ohne seine Mädchen zutiefst zu lieben. Sie alle sind Urbilder der Unschuld und damit Urbilder des Mädchens überhaupt.[3]
 

Fußnoten


[1]● Theodor Storm: John Riew. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.

[2] Also in allem die ,geborenen Verführer’.

[3] Und wer auch hier wieder meint, es gehe um das passive, unterlegene, den Mann grenzenlos bewundernde Mädchen, der hat noch immer nicht verstanden, dass es um die radikale Verwandlung der männlichen Seele durch ein solches Mädchen geht. Die selbstgerechten und selbstgewissen Kritiker besitzen von jener heiligen Fähigkeit, sich verwandeln zu lassen, offenbar nicht das Geringste, jedenfalls viel zu wenig...