Parthenophilie

Die kranke Stormkritik


Vor dem Hintergrund der hier zumindest ansatzweise miterlebbar gemachten Novellen ist es erschütternd, wenn der leitende Feuilleton-Redakteur der ,Welt’, Tilman Krause, zum 125. Todestag (!) Storms schreibt:[1]

Seine Gefühlsbetontheit gleitet vor allem in seinen Prosatexten immer wieder ins Rührselige ab. [...] und so haftet dem Dichter Theodor Storm bei vielen Lesern das Verdikt vom Edelkitsch an. Man kann folglich heute wohl nur ein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Dichter haben.

Das ,zwiespältige Verhältnis’ müssen offenbar vor allem die haben, die solchen von der öffentlichen Meinung vergebenen ,Verdikten’ folgen müssen, ohne eine eigene Ansicht entwickeln zu können. Die heutige Zeit setzt ja Gefühlsbetontheit und Rührseligkeit bereits fast in eins. Man sollte diese Redakteure einmal fragen, was sie unter Rührseligkeit eigentlich verstehen. Dass die Novellen Storms immer wieder tief rührend und berührend sind, ist zweifellos – aber das gerade zeichnet sie aus. Nur eine oberflächlich und gefühlsarm bis fast gefühllos gewordene Zeit findet dazu keinen Zugang mehr. Storms Texte gleiten nicht ab – sie erheben sich, zu wirklicher Lebenstragik, immer wieder. Das ist nicht Rührseligkeit, es ist Anklage. Der bequem an seinem Tisch sitzende Redakteur als bürgerlicher Schreibtischtäter hat dafür keinen Sinn – es braucht ihn auch nicht weiter berühren.[2]

Unsäglich ist schon der Titel seines Aufsatzes. Und dann schreibt er:[3]

Es gehört seit Langem zum Wissen der Forschung, dass Theodor Storm pädophil veranlagt und tief fasziniert von Mädchen im Übergang zur Pubertät war. Aber dass dieser Umstand ihn befähigte, dem Elementarversagen anderer Menschen mit Verständnis zu begegnen, das ist noch nicht genügend berücksichtigt worden [...].
Storms Pädophilie führt aber auch zu stereotypen Figuren. [...] Da wären zunächst die beständig wiederkehrenden Kinderlieben. Dann stößt man auch oft auf Protagonisten, die als halbe Kinder zum ersten Mal mit der Macht der Sinnlichkeit konfrontiert werden. Und oft gibt es eben auch die Ansprechbarkeit der männlichen Hauptfiguren auf Mädchen zwischen zehn und 13 Jahren.
Wie leider fast immer, wenn die Hormone Regie führen, wirkt die Beschreibung von Storms geheimen Objekten der Begierde seltsam unpersönlich und standardisiert. Seine Kindfrauen haben alle kleine Füßchen, Händchen, Schühchen und dergleichen; aber darüber hinaus zeichnet sie eigentlich nur eines aus: Dass sie eben 13 Jahre alt sind und leidlich hübsch aussehen.

Der erste Satz klingt wie eine Krankheit, wie ein hochmütiges Urteil – ganz im Sinne unserer Gesellschaft und ihres Urteils über Pädophilie. Die Liebe zu dreizehnjährigen Mädchen ist aber nicht einmal Pädophilie, sondern Parthenophilie. Der Satz ,tief fasziniert von Mädchen’ ist ebenso falsch wie der Satz ,tief fasziniert von Frauen’ für andere Männer. Auch die Parthenophilie liebt nur einige Mädchen – und manchmal nur ein einziges.

Satz an Satz reihen sich bei Krause oberflächliche und ganz und gar falsche Urteile, die nur einem entgegenkommen – einem sensationslüsternen, ebenso oberflächlich urteilenden Publikum. ,Dass dieser Umstand ihn befähigte...’ – was soll dies heißen? Dass Storms ,Pädophilie’ ebenfalls ein ,Elementarversagen’ gewesen sei? Was für ein Unsinn! Storm konnte mit einer empfindsamen und moralischen Seele vieles verstehen, nachvollziehen und schildern – das letztere ist die Gabe der Künstler, das erstere sollte eine allgemein menschliche Gabe sein – oder werden. Dennoch hat er das Versagen nie beschönigt. Er hat es gezeigt, weil es eine Realität war – und noch immer ist. Aber er stand immer auf der Seite der Opfer. Seine Parthenophilie öffnete ihm den Blick für die Opfer – die seine Zeit noch geflissentlich übersah. Und erst darüber war der Blick dann auch offen für das allzu verbreitete Elementarversagen, das von der bürgerlichen oder aristokratischen Welt allzuoft geleugnet und gedeckt wurde.

Selbst das ,Stereotyp’ ist ein Vor- oder aber völliges Fehlurteil. Storms Arbeit ist gewiss nicht stereotyper als die immer wiederkehrenden Artikel von Feuilletonisten mit ihren gleichen Themen, gleichen Urteilen, gleichen Oberflächlichkeiten. Unsere Zeit kann Ähnlichkeiten gar nicht mehr ertragen, weil sie keine eigene Seele mehr hat, also beständig ,unterhalten’ werden muss, um nicht in sich zusammenzufallen. Storm wusste noch, dass man ein Thema in Variationen immer wieder neu aufgreifen kann, ja muss, damit es Tiefe bekommt. Und wer wirklich einmal selbst Schriftsteller war, weiß, wie sehr keine zwei Geschichten einander gleichen, selbst wenn das Motiv ganz das Gleiche wäre. Jede Figur ist einzigartig und hat ein ganz eigenes Leben. Und bei Storm hat jedes einzelne Mädchen unendlich viel mehr Seele und Individualität als jener Redakteur.

Auch das Stereotyp von dem dreizehnjährigen[4] Mädchen ist eines des Redakteurs – man hat den Eindruck, er habe nicht eine Novelle Storms selbst gelesen. Wahr aber ist, dass viele Mädchen mit dem Aufblühen ihres Mädchentums zum ersten Mal mit der Sinnlichkeit konfrontiert werden – weil sie eben von da an Sinnlichkeit ausstrahlen und viele Männer ihre Triebe nicht beherrschen konnten und können. Zugleich ist dies aber auch ein Beweis dafür, wie sehr die Parthenophilie eine natürliche Reaktion ist. Mädchen sind anziehend. Storm beschrieb eine Realität – nicht seine, sondern eine allgemeine.

Dennoch ist das Alter der Mädchen in Storms Novellen sehr verschieden. Bei den Kinderfreundschaften umfasst es eben die frühe Kindheit bis zur Jugend und darüber hinaus. Der Junge ist meistens einige Jahre älter. Die unglückliche Phia, Tochter des ,Etatsrats’ ist anfangs zwölf und zuletzt vierzehn, Franziska aus der Novelle ,Waldwinkel’ ist siebzehn, als Richard sie bei sich aufnimmt. Und die bisweilen[5] in dieser Weise erwähnten ,Händchen’ oder ,Füßchen’ entsprechen eben nur der tief empfundenen Wahrnehmung des zarten Alters und der zarten Gestalt eines solchen Mädchens durch den Protagonisten – oder eben den Autor.

Storms Mädchengestalten sind meistens zart und in dieser Weise immer anmutig. Das liegt zum einen daran, dass er gerade diese schildern wollte – und auch daran, dass gerade solche Mädchengestalten Opfer werden. Warum sollte Storm dralle Bauernmädchen schildern, die sich ihrer Haut sehr wohl zu erwehren wissen? Will ein Feuilleton-Redakteur Schriftstellern jetzt noch vorschreiben, wie sie ihre Figuren gestalten sollen?

Hinzu kommt, dass Mädchen in diesem Alter noch keinen ausgeformten Charakter haben – sie mögen dann ,stereotyp’ wirken, aber nur, wenn man sich mit ihnen und ihrer Geschichte nicht identifizieren kann. Diese Möglichkeit, sich zu identifizieren, wird sogar teilweise größer, wenn die Charakterbeschreibung nicht so ausgefeilt ist. Das bedeutet nicht, dass diese Mädchen gar kein eigenes Wesen haben – es bedeutet nur, dass dessen Beschreibung und Art viel intuitiver erfasst werden muss als bei jenen Mädchen, die mit allen möglichen Vorlieben, Ticks oder Frechheiten aufwarten können. Wieviele angebliche ,Eigenheiten’ sind nichts weiter als schlechte Angewohnheiten!

Die eher zarten Mädchen von Storm sind so zurückhaltend, dass sie stereotyp wirken könnten – aber Storm ist ihr Dichter geworden, und wenn man ihm dies vorwerfen mag, bitte. Es sind Mädchen, die sich niemals in den Vordergrund rücken, weil sie dies weder nötig haben noch dies ihr Wesen ist. Ihr Wesen ist eben gerade Zurückhaltung – und nicht Charakterbildung oder so etwas. In Wirklichkeit haben diese Mädchen oft mehr Charakter als unsere ganze ,Verwirkliche-dich-selbst’-Gesellschaft.

Und so ist es Storm zu danken, dass er gerade diesen Mädchen unvergängliche Denkmäler geschaffen hat.

                                                                                                                                       *

Verständnisvoller – und hiermit wenden wir uns einem schon kurz berührten Storm-Studienband[6] zu – schildert bereits Irmgard Roebling[7] dieses ,invariante Liebesobjekt’ insbesondere der frühen Storm-Novellen:[8]

Als das invariante Liebesobjekt eines zumeist aus der Erinnerungsperspektive erzählenden Protagonisten beobachtet sie ein junges, kindhaftes Mädchen – charakterisiert durch zarte Gestalt, weiße Gewandung, zierliche Füße und leichten Schritt –, zu dessen wichtigsten Merkmalen neben einer geschwisterähnlichen Beziehung zum männlichen Helden der „Willi“-Charakter gehört (wie ihn Heinrich Heine in den „Elementargeistern“ beschreibt): Das Kind-Mädchen[9] ist voller Tanzlust, stirbt aber dennoch früh, oftmals noch vor seiner Hochzeit.[10]

Sie sieht darin eine Re-Inszenierung von Storms ,persönlichem Mythos’, hervorgegangen aus einem frühen Verlust mütterlicher Zuneigung, einer engen Beziehung zur Schwester Lucie und auch deren frühem Tod.[11]

Mögen diese Erlebnisse für Storm sehr wohl prägend gewesen sein, seine Vorliebe für die Gestalt des Mädchens ist dadurch allenfalls halb zu erklären.[12]

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Andere psychologische Deutungsversuche, die seine Novellengestalten betreffen, gehen dann völlig in die Irre. So sieht Marianne Wünsch in den Gestalten Storms wie auch des Realismus insgesamt ,einerseits immer wieder den bewußten Drang zur großen, leidenschaftlichen, existenzerfüllenden und sinngebenden Liebe’ – soweit, so wahr! –, andererseits die ,uneingestandene Angst’, dass diese Liebe sie mit ,Selbstverlust’ bedrohe.[13]

Als angebliches Beispiel hierfür wählt Regina Fasold[14] ausgerechnet das Mädchen Anne Lene vom ,Staatshof’ und schreibt, durch eine ,uranfängliche Einsamkeit’ leide das Mädchen an einer narzisstischen Störung. Leidenschaft und Hingabe seien ihr ,von grundauf verboten’, und so müsse ein ,Formdrang’ das ,enorm fragile Selbst’ vor ,Selbstverlust’ schützen. In dem Mädchen schwele eine tiefsitzende ,Angst vor Öde und Verlorenheit’. Von der Verlobung mit dem Edelmann habe sie sich ,narzisstische Gratifikationen’ erhofft, und dessen Zurückweisung habe zu einer ,enormen Kränkung’ geführt, dann zu einem Zusammenbruch ihres narzisstischen ,Größen-Selbst’. Angefallen von ,Lebensangst’ ziehe sie sich daraufhin völlig in ihre ursprüngliche Einsamkeit zurück.

Man muss die Novelle nur ein einziges Mal selbst gelesen haben, um zu spüren, wie furchtbar der Narzissmus einer selbsternannten ,Psychoanalyse’ hier die Seelen überfällt, um sie selbstherrlich kaputtzudeuten. Während Storm diesen armen Opfern der Verhältnisse ein zartes Denkmal errichtet hat, machen diese neuen ,Deutungsherrscher’ jene Mädchen ein zweites Mal zu Opfern – und demütigen sie nun endgültig, indem sie ihre wahre Seele vollkommen verzerren, bis zur Unkenntlichkeit. Das vom Leben chancenlos aus der Bahn geworfene Mädchen wird nun auch noch psychologisiert und pathologisiert – während das eigentlich Pathologische diese Art von kalter, vor Unwahrheit strotzender ,Psychoanalyse’ ist. Damit ist diese Art Psychoanalyse nicht besser als die krankhafte patriarchalische Männerwelt jener vergangenen Jahrhunderte. Sie besitzt nicht mehr Empathie als ein calvinistisches oder sonstwie selbsternanntes Familienoberhaupt. Es sind riesige Rückschritte der Menschlichkeit und der Menschenkenntnis, die hier geschehen.

Wie wenig dieses Mädchen eine ,Selbstbestätigung’ braucht, zeigt sich an den idyllischen sonntäglichen Wanderungen mit ihrem Kindheitsgefährten, wo nur die friedliche Eintracht spürbar wird, nichts weiter. Und dann, als sie konfirmiert wird, jene Szene von ergreifender Schlichtheit und heiliger innerer Reife:[15]

Aus dem nachgelassenen Schmuckkästchen ihrer Großmutter nahm sie an ihrem Konfirmationstage ein kleines Kreuz von Diamanten, das sie seitdem an einem schwarzen Bande um den Hals trug. Sonst habe ich niemals einen Schmuck an ihr gesehen.

Dieses Mädchen ist die Bescheidenheit selbst – und die modernen ,Psychoanalytiker’ unterstellen ihr eine ,narzisstische Störung’, die sich eine Art ,Größen-Selbst’ aufbaue! Wie blind kann man gegenüber der seelischen Unschuld eines Mädchens eigentlich noch sein... Und dann diese Szene:

[...] wenn man sie betrachtete, wie der Sommerwind ihr die kleinen goldklaren Locken von den Schläfen hob und wie ihre Füße so leicht über das Gras dahinschritten, so konnte man kaum glauben, daß sie hier zu Haus gehöre.

Auch hier ist es nicht die geringste Störung, auch nicht der geringste ,Formdrang’, es ist die Anmut selbst, die hier durch das Gras schreitet, eine Sanftheit, die ihresgleichen sucht.

Die Heirat mit dem Edelmann, dessen Art dem Mädchen genauso verhasst gewesen sein muss wie dem Erzähler (man denke an die geradezu sadistisch gequälte ,Mücke’), hat nur einen einzigen Grund. Es ist nicht das Herz des Mädchens, auch nicht der Trieb nach einem ,Größen-Selbst’ oder sonstwelchen ,narzisstischen Gratifikationen’, sondern die furchtbare Erkenntnis, dass der eigene Hof zum Untergang verurteilt ist. Die gesamte Novelle ist voll von Hinweisen darauf. Schlicht gesprochen: Das Mädchen hat in seiner Not einfach keinen anderen Ausweg gesehen, als dem Werben dieses unsympathischen Menschen nachzugeben. Ein Geschehen, das sich damals hundert-, ja tausendfach ereignete, weil ein Mädchen sich in jener Zeit in keiner Weise selbst am Leben erhalten konnte.

Die ,Zurückweisung’ des ,Edelmanns’ hat das Mädchen keineswegs gekränkt. Dieser ,Edelmann’ war nichts weiter als eine der vielen rohen Don-Juan- und anderen Gestalten, die sich in den Novellen Storms finden, weil sie zu diesen Zeiten mehr als genug Möglichkeiten hatten, solche Mädchen für eine Weile zu ,genießen’ und dann fallenzulassen und nach Belieben zu demütigen.[16] Die ,Psychoanalytiker’ aber sprechen von ,Kränkung’ des Mädchens, wo einfach nur unfassbare Unmenschlichkeit solcher Männergestalten vorliegt!

Nicht um ,Kränkung’ eines ,narzisstischen Größen-Selbst’ geht es hier, sondern um tiefe Demütigung einer schon zuvor unendlich bescheidenen Mädchenseele! Dass selbsternannte Psychoanalytiker dies nicht erkennen können, ist der tiefste Sündenfall der Psychoanalyse. Die sogenannten ,Literaturwissenschaftler’ können also nicht nur nicht genau lesen, sie sind auch völlig geschichtsblind. Und ganz offen reihen sie sich ein in die lange, unselige Tradition des ,Blame the victim’ – des Analysierens und Psychologisierens der Opfer, mit unglaublichsten Unterstellungen, während die ungeheuerlich schuldig werdenden Männer bei ihnen überhaupt nicht erwähnt werden, gar nicht vorkommen. Wie diese vergreifen sich auch die ,Wissenschaftler’ an den Schwächsten – denn die Mädchen können sich am allerwenigsten wehren, nämlich gar nicht.

Es ist unfassbar, wie lange eine reine, schon so sehr verletzte Mädchenseele auf so eine ,Männerfigur’ warten kann, trotz allem treu und hoffend, dass die eigene Liebe erwidert wird – obwohl der Verlobte schon längst nicht einmal mehr schreibt.

Würde dieses Mädchen wirklich ,Gratifikationen’ suchen, hätte es sich bei nächster Gelegenheit mit dem reichen Bauernsohn Claus Peters zusammengetan, dessen Vater ihren Hof zu kaufen beabsichtigte. Stattdessen schämt sie sich tief, welche Späße dieser mit dem armen alten Fiedler treibt. Dieses Mädchen ist in seiner ganzen Seele viel zu gut, um an ,Gratifikationen’ auch nur zu denken!

Und gerade dies, dass sie nie an sich denkt, treibt sie in diese letzte Einsamkeit, in dieses Keine-Hoffnung-Haben. Nur deshalb kann ihr auch der Erzähler nicht mehr helfen. All dies kommt in ihren so unendlich schmerzvollen Worten zum Ausdruck: ,Ich kann es nicht halten, Marx; sie haben mich ja ganz allein gelassen.’ Und sie zweifelt, dass auch nur ein Einziger sich eine ,Tochter aus einem solchen Hause’ holen würde. Dann geschieht das Unglück, bevor Marx sie vom Gegenteil überzeugen kann...

Dieses Mädchen will niemand sein – weder ein ,Größen-Selbst’, noch sonst ein narzisstisch mit Gratifikationen ausgestattetes Selbst, überhaupt nichts Besonderes, sie will einfach nur leben – aber selbst das gelingt ihr nicht. Dieses Mädchen ist tatsächlich viel zu früh viel zu sehr alleingelassen worden. Sie konnte nicht lernen, zu leben, weil um sie herum alle gestorben sind. Das hat nichts mit Narzissmus zu tun, sondern mit realem Alleingelassenwerden.

Heute verurteilt man es, wenn ein Mann ein solches Mädchen lieben würde – aber man versteht nicht mehr, was es heißt, von niemandem geliebt zu sein, weil niemand mehr da ist... Die Psychoanalytiker verstehen die grundlegendsten menschlichen Wahrheiten nicht mehr – und sie machen aus einem Mädchen ein narzisstisches Monster, obwohl dessen Seele das vollkommene Gegenteil offenbart: ein hilfloses, allmähliches Ersticktwerden von den Umständen...[17] Dies also darf man einem Mädchen ungestraft jederzeit antun – aber lieben darf man es nicht...

Ähnlich abstrus liest sich folgender Ansatz:[18]

Malte Stein (2006) geht [...] von der Symptomatik einer extremen „Ich-Schwäche“ (S. 15) der Protagonisten in Storms erzählerischem Werk aus. Der männliche Held [...] könne „ein vergleichsweise positives Selbstgefühl“ (S. 15) nur dann aufrechterhalten, wenn er eine Beziehung einginge, die einer „Spiegelübertragung“ (im Sinne Heinz Kohuts, 1973) gleiche, das heißt, wenn seine Objektwahl generell narzisstisch sei. [...] Gelinge dabei die Verleugung der Sexualität nicht länger [...], überführe der männliche Held das heranreifende Mädchen [...] in ein Erinnerungsbild, „aus dem die Anzeichen der Geschlechtlichkeit sorgsam getilgt sind“ (S. 71).

Dem liegt das Urteil zugrunde, dass die Liebe zum Mädchen der Unfähigkeit zu einer ,erwachsenen’ Beziehung entspringe und mit ihr einhergehe. Dieses Urteil verkennt, dass die Parthenophilie etwas Ursprüngliches ist, das keinerlei defizitäre Ursache oder Begründung braucht. Die Unschuld und Anmut eines Mädchens braucht keinerlei Gründe, um innig geliebt zu werden. Eher braucht es Gründe, diese nicht zu lieben – sondern zum Beispiel eine erwachsene Frau. Man könnte tiefenpsychologisch sagen: Die ,normale’ heterosexuelle Beziehung zweier erwachsener Menschen beruht auf einer extremen Verdrängung der Anziehungskraft eines sehr jungen Mädchens.

Die Behauptung, das ,narzisstische Spiegelobjekt’ müsse asexuell sein, ist so abwegig, dass es einen wundert, wie eine solche Deutung überhaupt den Weg in die Diskussion hat finden können. Die einzige Erklärung ist die schillernde ,Mignon’-Gestalt bei Goethe.[19] In Storms Novellen jedoch sind alle Mädchenfiguren so weiblich wie nur irgendetwas. Das gerade ist der entscheidende Punkt: dass in ihnen Mädchen geliebt werden – und nicht ungeschlechtliche ,narzisstische Spiegelobjekte’.

Die Tragik der Storm-Novellen liegt nicht darin, dass die Protagonisten das geschlechtliche Heranwachsen der Mädchen scheuen,[20] sondern dass sie das geliebte Mädchen niemals bekommen, weil irgendeine Lebenstragik es verhindert; oft, weil das Mädchen den es liebenden männlichen Protagonisten nicht sieht, nicht gleichermaßen liebt oder ihm die Rettung aus der Not nicht zutraut.

Sie sind auch nicht ,ich-schwach’, sie werden ihren Weg schon machen – aber das geliebte Mädchen werden sie trotzdem nie vergessen können. Storms Protagonisten sind eben oft genug auch empfindsame männliche Seelen – nicht umsonst lieben sie gerade diese Mädchen. Und nicht umsonst hätten diese Mädchen gerade diese männlichen Seelen so sehr ,verdient’ und würden gleichsam ideale Liebesverhältnisse entstehen können, wenn nicht die Tragik wäre, die sie nicht entstehen lässt. Die Protagonisten sind also nicht ,ich’-schwach, sie sind nur parthenophil – sie lieben diese Mädchen innig. Und sie tun dies, weil nichts der Anmut und der Schönheit eines solchen Wesens gleichkommt. Die ,Ich-Stärke’ der Protagonisten liegt gerade darin, sich dies einzugestehen und den Mut dazu zu haben, diese Ur-Empfindung nicht zu verdrängen, sondern dieses Einzig-Schöne wirklich zu lieben, mit ganzem Herzen und ganzer Seele...

                                                                                                                                       *

Und dann diese ,Zusammenfassung’ der Novelle ,John Riew’:[21]

[...] ein Vater ,verschwendet’ an seine Tochter, was er der Ehefrau nicht geben kann; ein alter Kapitän ,hat es’ mit einem halberwachsenen Mädchen, das aber ,nicht zu haben’ ist; ein junger gebildeter Mann beneidet den gleichen Kapitän um die Zuneigung ebendieses Mädchens; [...] ein gutmütiger Mann bringt ein Mädchen an den Alkohol und (gleichnishaft) um die Unschuld; ein gebildeter Bürger bescheinigt ebendiesem Verführer immer wieder seine Gutmütigkeit.[22]

Das alles sei ,aus den Fugen geraten’. Abgesehen davon, dass die angedeuteten Personen immer wieder dieselben drei sind, ist hier nur eines aus den Fugen: die Tragik des Mädchens in seinem späteren Leben.
Wenn man die Anziehung des Mädchens ernst nimmt, ist es keineswegs verwunderlich, dass ein achtzehn-, neunzehnjähriger Junge, der Erzähler, den Kapitän um das Glas beneidet, das zuvor die Lippen des zwölfjährigen Mädchens berührt haben... Ebensowenig verwunderlich ist, dass der Kapitän das Mädchen wie seine eigene Tochter liebt. Ebensowenig, dass sein Freund Rick Gyers seine völlig weltfremde, gleichsam ich-lose Frau irgendwann nicht mehr lieben kann und darüber zum Trinker wird.
Der Kapitän bringt das Mädchen überhaupt nicht um seine Unschuld – er neckt sie nur mit einem Schluck Alkohol. Doch als sie dann zum ersten Mal einen Schluck nimmt, will er sie davon abhalten, aber sie lässt es nicht zu. Später lässt er es ,gehen’ – und erkennt zu spät, was die Folgen sind.

Der eigentlich schlimme Mann dieser Novelle wird gar nicht erwähnt – es ist der wirkliche Verführer, der das Mädchen auch wieder fallenlässt, sobald der Kapitän davon erfährt und unmittelbar dazwischengeht.
Die Tragik liegt darin, dass der Kapitän, von dessen Wesen sich im übrigen jeder Mensch zahlreiche Scheiben abschneiden könnte, zu viel Zeit auf See und damit nicht zu Hause ist, und dass er zur damaligen Zeit die Folgen des Alkohols noch zu wenig abschätzen konnte.
Aber Kapitän und Mädchen lieben einander innig, immer mehr werden sie wie Vater und Tochter, obwohl sie dies gar nicht sind. Hätte der Kapitän gewusst, was geschieht, hätte er alles in seiner Macht Stehende getan, um es zu verhindern. Er war nicht sorglos und nachlässig, er war unwissend, was den Alkohol und seine langfristige Wirkung auf ein zartes Mädchen angeht.[23]

Die eigentliche Tragik liegt nur in der Affäre mit den ,Edelleuten’, die sich ereignet, als der Kapitän weit weg ist und nicht einschreiten kann. In dieser Zeit wird das Mädchen ausgenutzt und geschwängert – und an dieser ,Schande’ zerbricht es. Es ist zu aufrichtig, um sich nicht in Grund und Boden zu schämen, und niemand kann sie mehr retten, obwohl ihr nach der Rückkehr des Kapitäns alle Türen offenstehen. Sie könnte gerettet werden. Aber das gesellschaftliche Urteil über uneheliche Kinder war damals noch zu erdrückend. Von alledem jedoch kein Wort in diesen Deutungen! Ebensowenig von der Mutter des Mädchens, die jene Affäre zuließ, ohne zu begreifen. Die es sogar den Kapitän bedienen ließ. Dem Kapitän braucht man keinen Vorwurf zu machen – er selbst macht sich in der Novelle die tiefsten Vorwürfe. Doch die Mutter erscheint wie eine blasse Gestalt, die fast nichts begreift. Kein Wunder, dass der Freund des Kapitäns darüber zum Trinker wurde – was Storm selbst Riew auch klar aussprechen lässt.

Sind die Literaturkritiker für die Rolle der Frau blind? Es ist ja auch zu einfach, für das Elend eines Mädchens immer die Männer verantwortlich zu machen. Der Hauptschuldige dieser Novelle ist der Verführer, dann kommt die Mutter des Mädchens, die ihm freie Hand ließ, ohne irgendeine Verantwortung zu übernehmen. Der Kapitän wuchs immer mehr in die Rolle eines wunderbaren Pflegevaters hinein, der von dem Mädchen geliebt wurde, und hatte nur einen einzigen Fehler begangen: die Berührung des Mädchens mit dem Alkohol zuzulassen. Und der Junge am Ende seiner Schulzeit – er war einfach von dem Wesen eines zwölfjährigen Mädchens bezaubert. Da war nichts aus den Fugen...

                                                                                                                                       *

Furchtbar ist ebenso Gerrekens’ ,Deutung’ der Szene in der ,Wald- und Wasserfreude’, wo Kätti in letzter Sekunde verzweifelt ihre ,Falschheit’ gesteht. Der ,Literaturwissenschaftler’ doziert, dass Kätti, obwohl siebzehn,[24] ,fast noch einem halberwachsenen Kinde’ gleiche, aber nun vor Fedders ,nicht mehr wie ein Kind’ sein will. Sie könne aber die sozialen Schranken nicht überwinden:[25]

Eine letzte Chance, Fedders doch noch für sich zu gewinnen, erzwingt sie dann, indem sie sich bewusst heuchlerisch wieder „wie ein Kind“ an ihn lehnt und eine Episode inszeniert, in der er die überlegene Retterrolle spielen kann. Allerdings zerstört sie dieses falsche Bild von sich im letzten Augenblick [...] mit den Worten: „ich kann nicht, ich bin falsch gewesen!“
Kätti bricht in einem bewundernswerten Willensakt mit dem Bild der Kindsbraut, weil sie höhere Ansprüche an das Leben stellt, als einem klischeehaften Männerphantasma zu entsprechen. Dadurch besiegelt sie jedoch ihre Niederlage in der geschlossenen, hierarchisch geordneten Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Wir erinnern uns, dass Fedders Kätti fast verfallen war, weil ihre Schönheit und Anmut kurzzeitig sein Herz berührte – aber später zeigt sich sehr deutlich, dass sie in seiner sozialen Kopf-Wirklichkeit keinerlei Platz gehabt hätte. Für Kättis Wesen hat er sich überhaupt nicht weiter interessiert. Die ,Kindsbraut’ berührte ihn immerhin – doch in letzter Hinsicht blieb Kätti ihm fremd.

Doch die größte Perfidie des Literaturwissenschaftlers ist die Behauptung, das Mädchen sei heuchlerisch gewesen. Die arme Kätti hat mitnichten ,eine Episode inszeniert’, in der Fedders ,die überlegene Retterrolle spielen kann’ – sie war von einer unerwarteten realen Kreuzotter real schockiert, wie es einem Mädchen ihres Wesens ganz und gar entspricht, man muss die vielen tiefen Empfindungen in dieser Novelle nur zur Kenntnis nehmen – allein schon das ganze Geschehen um den teuflischen Pilz, die Angst, sich zu verirren. Kätti ist ganz Gefühl. Mit der Schlange hat sie nicht das Geringste ,inszeniert’.

Dass sie dann, ihn umarmend und Wange an Wange wie ein Kind in seinen Armen ruhte, ist ebenfalls keine Inszenierung, sondern volle Aufrichtigkeit ihrer einsamen, verzweifelten Gefühle – ihr Herz weiß, dass sie ihn niemals unaufrichtig gewinnen möchte, und doch liebt sie ihn innig. In diesen Momenten ist sie innerlich voller Verzweiflung und Ohnmacht, willenlos an diese vielleicht letzten Momente ihrer großen Liebe hingegeben.

Sie bricht nicht ,in einem bewundernswerten Willensakt’ mit dem Bild der Kindsbraut, sondern mit ihrem eigenen unschuldig-verzweifelten Betrug – der eben nicht darin besteht, sich innig-liebend an ihn zu schmiegen, noch immer schockiert von der Otter und zugleich mit dem Wunsch, diesen seligen Moment der Umarmung nie zuende gehen zu lassen, sondern der darin besteht, dass sie ihn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bat, mit ihr zu kommen. Sie wusste, dass der Hund nicht bei der Alten getötet sein konnte – das war ihre ,Falschheit’ ... und das allein.

Es ist also das volle Gegenteil dessen, was dieser Literaturwissenschaftler behauptet: Kätti hat keine höheren Ansprüche an das Leben, als die Liebe dieses von ihr so geliebten jungen Mannes zu gewinnen. Könnte sie es als ,Kindsbraut’, sie würde nicht zögern, es zu tun – aber er hatte sie ja bisher immer als Kind und damit gerade nicht als Braut gesehen, das gerade war ja ihr Schmerz. Sie war nicht Braut, sondern Kind. Nun, wo er begann, sie als Braut zu sehen, brauchte sie sich von nichts weiter zu befreien – es gab kein ,falsches Bild’ mehr von ihr, sie war im Grunde am Ziel ihrer Sehnsucht. Und das Einzige, was sie belastete, war ihr Gewissen: dass dieses Zusammensein im Wald auf einer Lüge basierte, aufgrund derer er überhaupt nur mitgekommen war und sie jetzt, endlich, als Braut erkannte. Davon musste sie sich befreien – von der Lüge, auch wenn es wie ein Schwert durch ihr Herz ging.

Der einzige Grund dafür ist, dass dieses Mädchen zu aufrichtig war, um durch eine Lüge zur Braut zu werden. In einem ,bewundernswerten Willensakt’ befreit sie sich von ihrer Lüge – auch wenn dies bedeutet, den Geliebten für immer zu verlieren, weil sie sich ihm jetzt, am Tag ihrer Lüge, nicht hingeben kann. Er muss sie lieben, ohne dass sie zuvor gelogen hat. Das ist ihre ganze Hoffnung. Aber diese wird sich nicht erfüllen...

Es ist ein völliger Unsinn, dass Kätti dem ,klischeehaften Männerphantasma’ nicht entsprechen will. Dieses Phantasma steht hier überhaupt nicht zur Diskussion. Kätti will Braut sein – und als solche wurde sie an diesem Tag gerade gesehen. Und doch entspricht sie – und dies liebend gern – einem anderen Phantasma, nämlich der hingebungsvollen Geliebten. Das gerade ist ihr Wesen. Wie sie ihm Blumen hinstellt. Wie sie ihm das Frühstück bereitet. Wie sie alles tut, um seine Aufmerksamkeit, seine Liebe, seine Erwiderung, wie ansatzweise auch immer, zu gewinnen. Das ist die Hingabe eines Mädchens – und das ist Kätti.

Von all diesem will sie sich überhaupt nicht befreien. Sie hofft nur eines: dass es gesehen werden würde. Dass der Geliebte sich von dem befreien könnte, was ihn daran hindert. Sein Standesdünkel, der blind macht für die wirkliche Liebe... Kätti will sich von nichts befreien. Sie gibt sich bewundernswert gerade hin. Das ist auch ein Willensakt. Und gerade dies ist so sehr das Wesen des Mädchens. Gerade hier liegt so sehr das Geheimnis seiner Unschuld. In dieser Novelle wird es in Kätti tief erlebbar – solange es nicht von Literaturwissenschaftlern verdeckt, verleugnet und in den Schmutz gezogen wird.

                                                                                                                                       *

Erlösend ist dann in dem ganzen Band Michael Wetzels Beitrag, der schon im dritten Satz mit den Worten beginnt:[26]

Aber was ist denn so Verwerfliches an diesem Motiv der Liebe des älteren Mannes zum jungen Mädchen, das doch in der abendländischen Liebesvorstellung eine so nachhaltige Rolle spielt.

Und dann mit folgendem, wunderbaren Zitat fortfährt:[27]

Weil aber Sehnsucht stärker ist als Erfüllung, der Wunsch tiefer noch als das kostbarste Geschenk, so hat sich das Gefäß der Liebe dort am reinsten bewahrt, wo es, vom Menschen kaum berührt, unmittelbar aus der Hand Gottes hervorgegangen scheint: im Mädchen. Das ist das Geheimnis der Jungfräulichkeit und ihr Glanz. Zwischen Kind und Frau, überschattet von beiden und beiden fern, lebt das Mädchen in einem eigenen, umschlossenen Raum. [...] Wichtiger aber scheint dieses: es blüht. [...] Und wenn im Osten der Erde das Fest der blühenden Kirschenzweige mit nahezu religiöser Andacht gefeiert wird, so ist die Spanne, die dem Mädchen gegeben wird, festlicher und feierlicher als jene des Kirschenbaumes – zugleich herb und süß, keusch und von einer Anmut erfüllt, wie sie sonst nur den unbewußten Wesen zu eigen ist: Kindern, Pflanzen und jungen Tieren.

Hier hat ein Autor, der noch tief und aufrichtig empfinden kann, gleichsam das Herz des Mädchenwesens berührt – und ist von diesem berührt worden. Frei von jeglicher Missdeutung, nur reines Empfinden der Wirklichkeit – der heiligen Wirklichkeit des Mädchens.

Weiter weist Wetzel auf die Parallelen zwischen Goethes ,Wilhelm Meister’ mit seiner Mignon und Storms Novelle ,Zur ,Wald- und Wasserfreude’’ hin, wo Kätti ,mit einer fahrenden Gesellschaft unterwegs’ ist und ,als Halbwüchsige ihr erwachendes Gefühl nur durch Musik auszudrücken’ vermag und Fedders sie ,in einer prekären Situation sexueller Belästigung errettet’.[28] Aber ihre Liebe hat, wie auch die Mignons, keine Chance. Sie muss einer reiferen und noch dazu adligen Frau weichen. Wetzel kommentiert:[29]

[...] während der aufstrebende Jurist auf dem sicheren Wege von Beamtentum, Ehe und Kinderreichtum die Eskapaden der Jugend bald vergisst. Diese ironische Wendung war von Storm sicherlich intendiert, um zu zeigen, dass in der ,modernen’ Welt von [...] prosaischen Männern für ,Nymphchen’ kein Platz mehr ist.

Allerdings ist Wetzel selbst auch skeptisch, denn zu Storms Novelle ,Psyche’ schreibt er:[30]

Überhaupt ist das Problem der Novelle und damit ihre Ausnahmestellung, dass hier eine Kindsbraut geheiratet wird, ein Ideal also real werden soll. Wie das geschehen soll, darüber schweigt der Erzähler, der wie bei vielen Märchen mit dem Sich-Finden der Liebenden endet.

Was soll man dazu sagen? Wissenschaftler sind eben weder Romantiker noch Liebende. Es ist doch völlig offensichtlich, wie ein ,Ideal’ real werden soll, wenn zwei Liebende sich gefunden haben. Denn wenn der Parthenophilie das Mädchen selbst entgegenkommt, gibt es für die Liebe kein Hindernis mehr – allenfalls die Gewöhnung. Dass diese jedoch in das Heiligtum der Liebe kein Einlass findet, dafür sorgt auf Seiten des Mannes bereits das Mädchen selbst, das durch sein besonderes Wesen mit einem Zauber umgeben ist. Und der Zauber der Liebe trägt seinen eigenen Lebensquell in sich, und dieser heißt: magischer Idealismus.[31]

Die Liebe zwischen Mann und Mädchen ist intensiver und auch idealischer als jede andere Liebe – vermutlich hat sie gerade deshalb so viele Feinde...
 

Fußnoten


[1] Tilman Krause: Der sexuelle Trieb war Theodor Storm Antrieb. Welt.de, 4.7.2013.

[2] Man sollte diese Redakteure auch einmal fragen, ob sie wenigstens einmal in ihrem Leben eine wirklich tiefe Empfindung hatten.

[3] Ebd.

[4] Selbst Krause lässt das ,zwischen zehn und’ dann fallen, nachdem er es bösartig einmal für den Pädophilie-Vorwurf missbrauchen konnte.

[5] Hätte der Redakteur tatsächlich einmal eine Novelle gelesen, hätte ihm auffallen können, dass Storm, wenn er einmal ,Händchen’ schreibt, mehrmals ,Hände’ schreibt, es sich also keineswegs um ein ,rührseliges Stereotyp’, sondern um ein, wenn so ausgedrückt, bewusstes Stilmittel handelt. In der Novelle ,Psyche’ ist dreimal von den offenbar tatsächlich kleinen ,Füßchen’ des jungen Mädchens die Rede, die zugleich auch ihren anmutigen Gang erlebbar machen, dagegen niemals von ihren ,Händchen’, sondern nur zehnmal von ihren ,Händen’. Es ist eigentlich armselig, solche Beweise führen zu müssen, um einen großen Dichter gegen einen kleinen Feuilletonisten zu verteidigen.

[6]● Malte Stein, Regina Fasold & Heinrich Detering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Band 7. Berlin 2010.

[7] Irmgard Roebling (1983): Liebe und Variationen. Zu einer biographischen Konstante in Storms Prosawerk. Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 17, 99-130.

[8] Regina Fasold & Malte Stein: Das Rätsel der „Kindsbraut“ in der Novellistik Theodor Storms – Überblick über den aktuellen Forschungsstand, in: Zwischen Mignon und Lulu, op. cit., S. 37-45, hier 37.

[9] Was soll eigentlich dieses Wort? Außer einem Versuch ,pädophiler Begrifflichkeit’ ist damit nichts gewonnen – ein dreizehnjähriges Mädchen ist eben gerade kein Kind mehr. Und bei Storm haben die Mädchen jedes Alters bis über zwanzig. Das sogenannte ,Kindhafte’ (zarte Gestalt, weißes Kleid, leichter Schritt) ist eben in Wirklichkeit das Mädchenhafte – im besten Sinne des Mysteriums der Anmut. Diesem Zarten entspricht ganz und gar das Seeleninnere dieser Mädchen – und damit wird es noch weniger ,kindhaft’, geradezu das Gegenteil, denn ein ,Kind’ kann die seelische Tiefe, die die Mädchen bei Storm haben, noch überhaupt nicht besitzen.

[10] Die ,Willis’, von denen in ,Der Herr Etatsrat’ die Rede ist, sind als ,gestorbene Bräute’ natürlich mit den ebenfalls früh sterbenden Mädchen in Storms Novellen verwandt. • Das Tanzen dagegen ist überhaupt keine Gemeinsamkeit der Mädchen. Abgesehen davon, dass wohl jedes lebensfrohe junge Mädchen gerne tanzen würde, können viele Mädchen bei Storm aus verschiedensten Gründen eben gar nicht lebensfroh sein. Anne Lene (Auf dem Staatshof) will eigentlich gar nicht tanzen. Leonore Beauregard (Auf der Universität) ist glücklich, dass sie überhaupt mit den ,Lateinern’ mitgehen darf. Franziska (Waldwinkel) und Anna (John Riew) verfallen in diesem Zusammenhang gerade Verführern. Für die arme, den Willis so nahe Phia (Der Herr Etatsrat) ist der eine Tanzabend ihr vielleicht einziges kurzes Glück. Und in ,Psyche’ oder ,Aquis submersis’ wird Tanzen überhaupt nicht erwähnt. • Zudem ist das tanzende Mädchen meist erst recht kein ,Kind’ mehr – Franziska ist durchgehend siebzehn. Auch die ebenfalls verführte Anna ist siebzehn. Und Anne Lene tanzt mit dem gleichaltrigen Marx sogar erst, als dieser mit einem Doktortitel zurückkehrt!

[11] Fasold/Stein, a.a.O.

[12] Die erste Frage wäre, warum er eine so enge Beziehung zu seiner Schwester hatte. Hat die Schwesterliebe die Mädchenliebe geprägt – oder umgekehrt die Mädchenliebe die Schwesterliebe? Zudem starb seine Schwester mit sieben, Storms Mädchengestalten sind aber letztlich alle viel älter und wirklich Mädchen – es handelt sich nicht um einen ,Lucie’-Mythos, sondern um echte Parthenophilie.

[13] Marianne Wünsch (1992): Experimente Storms an den Grenzen des Realismus: Neue Realitäten in „Schweigen“ und „Ein Bekenntnis“. Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 41, 13-23, hier 22, zitiert nach Fasold/Stein, Rätsel der „Kindsbraut“, a.a.O., S. 38.

[14] Regina Fasold: Narzißmus und Formdrang in Theodor Storms Novelle „Auf dem Staatshof“ (1859), in: David A. Jackson & Mark G. Ward (Hg.): Theodor Storm. Erzählstrategien und Patriarchat. Lewiston 1999, S. 23-47, zitiert nach Fasold/Stein, S. 38.

[15] Theodor Storm: Auf dem Staatshof. Projekt Gutenberg. Auch für das folgende Zitat.

[16],Die Briefe des Bräutigams waren allmählich seltener geworden und seit einiger Zeit ganz ausgeblieben.’

[17] Die Umstände sind offenbar sogar fast noch gnädig, denn sie ersticken das Mädchen nur langsam – die selbsternannten ,Psychoanalytiker’ dagegen schnell und sofort...

[18] Fasold/Stein, Rätsel der „Kindsbraut“, a.a.O., S. 38f, zitiert wird Malte Stein: „Sein Geliebtestes zu töten“. Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006.

[19] Hierzu haben wir bereits viel gesagt und werden am Ende noch einmal sehr ausführlich auch hier die krankhaften Deutungen der Literaturwissenschaft behandeln.

[20] So völlig absurd auch Dimitra Dimitropoulou: Das Motiv der Kindsbraut in der Novelle „Der Herr Etatsrat“, in: Zwischen Mignon und Lulu, a.a.O., S. 151-162, hier 160: ,Der männliche Protagonist bedauert [...] lediglich die Dekonstruktion seiner Projektion idealisierter Weiblichkeit. Die Aufspaltung der Liebe in „Eros“ und „Sexus“, die für diese männliche Phantasie bestimmend ist, kann aber gegenüber dem sexuellen Anspruch einer realen Frau nicht aufrechterhalten werden.“ • Und dann unterstellt die Autorin, der Erzähler brauche ,nur in der fernen Universitätsstadt seinen Studien nachzugehen und den Gang der Dinge solange abzuwarten, bis Sophia [durch ihren Selbstmord, H.N.] für ihn tatsächlich keine Gefahr mehr bedeutet.“ Ebd., S. 162. • Absurder geht es wirklich nicht mehr. Der Erzähler war erschüttert über das Geschehen. Und gerade die sanfte Phia hat nie irgendwelche sexuellen Ansprüche auch nur angedeutet. Hätte der Erzähler sich vor dieser Sphäre gefürchtet, wäre Phia für ihn zuallerletzt eine Bedrohung gewesen. Dagegen ist sie vollkommen unfreiwillig Opfer des wüsten ,Käfer’ geworden.

[21] Fasold/Stein, Rätsel der „Kindsbraut“, a.a.O., S. 43, zitiert wird Louis Gerrekens & Eckart Pastor (2006): Storms späte Novelle „John Riew’“ oder: Wie alles gut wurde. Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 55, 99-116.

[22] Diejenigen ,Experten’, die der Beziehung zwischen Riew und seiner Pflegetochter unbedingt eine ,Sexualisierung’ unterstellen wollen, müssen sich fragen lassen, ob sie unerkannt nicht selbst irgendwelche unterdrückten Obsessionen haben, die überall das Sexuelle suchen, obwohl es überhaupt nicht vorhanden ist. Die Hexenjäger untersuchten das Geschlecht junger Mädchen und Frauen, um Hinweise auf einen ,Verkehr mit dem Teufel’ zu finden – heute vergewaltigt man Storm-Novellen... • Noch extremer in demselben Tagungsband Christian Neumann: „Meine Augen waren nur auf dich gerichtet!“ Kindsbräute und missbrauchte Kinder in Theodor Storms Prosa, in: Zwischen Mignon und Lulu, a.a.O., S. 73-111. • Dort wird das Verhältnis zwischen Anna und dem Kapitän völlig sexualisiert, bis dahin, dass das ,steife Seemannsglas’ (eine Redewendung, die auf einen starken Alkoholgehalt verweist) als ,phallisches Getränk’ bezeichnet wird! Ebd., S. 91. | Nach derselben ,Logik’ müsste eine ,steife Brise’ auf eine tiefgreifende ,Sexualisierung der Natur’ hinweisen, und was eine ,Wirbelsäulenversteifung’ sein soll, daran darf man gar nicht denken! ,Wissenschaft’, die auf die Stufe infantilen Assoziierens herabsinkt, dies aber mit brutaler Willkür... • Ebenso pervers missdeutet wird auch das unschuldige Auf-den-Schoß-Nehmen des durch die Katastrophe mit dem Alkoholschluck tief unglücklichen Mädchens und dessen heftige Umarmung des geliebten ,Ohm’. Ebd. • Ja, es wird sogar vom ,Scheitern’ einer Beziehung zu dem Verführer, dem Baron, gesprochen und dies als Schwäche Annas hingestellt, der ,der Übergang von der oralen Erotik zur genitalen Sexualität nicht gelinge[]’! Ebd., S. 92. • Brutaler, demütigender und weltfremder kann eine Deutung nicht mehr werden. Hier offenbart die ,Psychoanalyse’ ihren eigenen phallischen, unterwerfenden und missbräuchlichen Charakter. Selbst das Blumenmädchen, das Riew für Annas Grab ihre schönsten Blumen gibt, wird in den Zusammenhang von ,Defloration’ gebracht. Ebd., S. 93. • Die Psychoanalyse erregt sich narzisstisch an jeder noch so abstrusen Möglichkeit, die Novelle gewaltsam mit dem Sexuellen zu penetrieren... Die weiteren Absurditäten müssen wir hier aus Platzgründen auslassen.

[23] Eine erste religiös motivierte Bewegung gegen den Branntwein endete in den Wirren der Revolution von 1848 und scheiterte gerade an ihrem Dogmatismus, während medizinische Erkenntnisse entweder noch nicht existierten oder aber nicht verwendet wurden. Erst 1871 im Kaiserreich kam es zu einer zweiten Anti-Alkohol-Bewegung. Robin Brunhold: Die Geschichte der deutschen Anti-Alkohol- und Abstinenzbewegung. www.geschichte-lernen.net, 13.8.2014.

[24] Dies ist schon die erste Ungenauigkeit, denn bis zur Begegnung mit Fedders vergeht noch etwa ein Jahr, sie ist dann also sogar schon achtzehn.

[25] Louis Gerrekens: Erzählte Kindsbräute bei Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann und Theodor Storm, in: Zwischen Mignon und Lulu, a.a.O., S. 185-201, hier 197. Auch für die vorhergehenden Zitate.

[26] Michael Wetzel: Mignon im Norden. Fortwirkungen der goethezeitlichen Modelle des „Kindsbraut“-Phantasmas bei Theodor Storm, in: Zwischen Mignon und Lulu, a.a.O., S. 113-132, hier 113.

[27] Eckart von Naso: Das Mädchen in der deutschen Dichtung, in: Margit Petermann (Hg.): Das Spiegelbild. Ein Buch der Mädchen. Recklinghausen 1949, S. 98f, zitiert ebd.

[28] Wetzel, a.a.O., S. 124. • Hier überzieht Wetzel den Vergleich allerdings arg, denn wie erwähnt, ist Kätti zu diesem Zeitpunkt keineswegs mehr halbwüchsig, sondern achtzehn Jahre alt, und ihr sich in die Fremde sehnendes Lied ertönt nur, bevor sie wegläuft. • Als wirklich Dreizehnjährige dagegen hat Kätti in ihrer zutiefst berührenden Sehnsucht nach Weite und Welt tatsächlich eine innige Nähe zu Mignon: ,Nur in der Geographiestunde pflegte sie mitunter aufzumerken; der Lehrer war einst in vielen Ländern herumgekommen, und seine Vorträge gewannen zuweilen den Ton der Sehnsucht in die weite, weite Welt; dann starrten ihn die schwarzen Augensterne an, und die mageren Arme des Kindes reckten sich über den Schultisch immer weiter ihm entgegen.’ Projekt Gutenberg.

[29] Ebd.

[30] Ebd., S. 130.

[31] Siehe unter anderem meine beiden Romane ,Unmöglich, sagten sie’ und ,Erinnerungen einer Volljährigen’ (2018), wo diese Magie erlebt und, mit gutem Willen, auch erlernt werden kann.