7
Das Mignon-Problem
Warum aber wollen die Verführer immer wieder so gern ein Mädchen verführen?
Weil es die Reinheit und die Unschuld ist, die so unglaublich anzieht. Diese reine Unschuld leuchtet in einer Schönheit durch die Welt, dass sich ihr niemand entziehen kann – am wenigsten die, die diese Unschuld längst verloren und in das Gegenteil pervertiert haben. Es ist, als ob der Verführer die jungen Mädchen einerseits ,genießen’ will, um der Erste (und im Grunde Einzige) zu sein, der ihre Unschuld ,pflückt’ – als ob aber andererseits etwas in der Seele des Verführers ruft: ,Erlöse mich...!’ Nur – für eine wahrhafte Erlösung müsste der Verführer ein solches Mädchen bis in die Tiefen seines Herzens lieben. Nur dann würde er von seinem immer weiter gesteigerten Egoismus und dem untrennbar damit verbundenen tiefen Sturz in immer dumpfere Sinnlichkeit erlöst werden können.
Aber dies – die reine Unschuld, die unschuldige Reinheit, das völlig reine Herz eines Mädchens –, das ist es, was jedes andere Herz berührt, wie abgestumpft es auch sei.
Und so entspricht das Mysterium des Mädchens ganz dem ,Kindchenschema’, aber erhöht durch eine heilige, unschuldige Erotik. Das Mädchen ist im allerbesten Sinne sanft, lieb, zart und ... niedlich, wobei die Etymologie dieses Wortes erstaunlich ist. Die Bedeutung ,zierlich, nett, angenehm anzusehen’ leitet sich nämlich von althochdeutsch ,niot’ ab, was im 9. Jahrhundert ,Verlangen, Begierde, Sehnsucht’ bedeutete. Im 16. Jahrhundert hatte es auch die Bedeutung ,appetitlich, lecker’, für Speisen, bekam dann auch über die Delikatessen und Leckereien die Bedeutung ,zart, fein’ – und bedeutete dann seit dem 18. Jahrhundert überwiegend ,zierlich, fein, klein’. [1]
Was kann uns dies sagen? Offenbar enthält das Niedliche, das Zarte, das in seiner Zartheit Unschuldige etwas, auf das die Seele in zweierlei Weise antworten kann. Es scheidet die Geister. Entweder kann das Niedliche, das Süße, als Leckerei, als ,zum Fressen gern’ Begehrtes, selbstbezogen und egoistisch ,vernascht’ werden. In diesem Fall wird es bloß konsumiert – und am Ende eigentlich wieder ausgeschieden, fallengelassen, während die Seele zum nächsten ,Genuss’ schreitet.
Oder das Niedliche kann in seiner wahren Unschuld berühren – und dann weit über das bloß Niedliche hinauswachsen. Es kann eine aufrichtige, eine reine Liebe entzünden – eine Sehnsucht nach diesem Wunderschönen, aber eine leise schmerzliche Sehnsucht, die innerlich spürt, wie sehr sie selbst das, was sie da liebt, verloren hat...
Das ,Niedliche’ kann durch seine nicht zu beschreibende Anmut die Seele an ihren eigenen süßen, himmlischen, paradiesischen Urzustand erinnern. Sie spürt dann, dass es überhaupt nicht darum gehen kann, dieses Süße zu vernaschen, diese Blume zu brechen, dieses Zarte zu konsumieren – sondern im Gegenteil, sich in immer tieferem Berührtwerden von diesem ,Niot-lichen’, diesem Ziel und Quell der Sehnsucht immer tiefer verwandeln zu lassen.
Im Französischen ist dieser Begriff des Bezaubernden gerade durch das Wort ,mignon’ umfasst, das im Grunde alles in sich vereint, was das Herz rühren und berühren kann: allerliebst, anmutig, bezaubernd, entzückend, graziös, hold, hübsch, lieblich, nett, reizend, zierlich. [2]
Um dies aber rein empfinden zu können, muss die Seele in eine Verwandlung kommen. Im Grunde muss sie von der Anmut und Unschuld bereits verwandelt werden, um diese aufrichtig wahrnehmen zu können. Und schon das Wort ,wahr-nehmen’ bedeutet im Grunde: Absehen von der eigenen Seele. Nicht gemeint ist das angeblich ,Objektive’ des Wissenschaftlers, der alles Empfinden ausschaltet – sondern das Schweigenlassen des Selbstbezogenen. Die Wahrheit eines jeden Dinges und Wesens wird in einer reinen, tiefen, zarten Hingabe erfahren.
Gerade zu diesem wollten die Deutschen Idealisten ,erziehen’ – was bis heute kaum verstanden wurde.
So beginnt Goethe seinen berühmten Aufsatz ,Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt’ (1792): [3]
Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. [...]
Dies ist der selbstbezogene gewöhnliche Zustand: Alles wird auf die eigene Seele bezogen, nach Sympathie und Antipathie beurteilt, bewertet. Aber dann setzt Goethe fort:
Ein weit schwereres Tagewerk übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt: denn sie vermissen bald den Maßstab, der ihnen zu Hülfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in bezug auf sich betrachteten. Es fehlt ihnen der Maßstab des Gefallens und Mißfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens; diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt.
Was ist – und nicht, was behagt. Nur der immer selbstloser werdenden Seele werden die Dinge und Wesen sich selbst anvertrauen und aussprechen...
Und drei Jahre später beginnt Schiller seinen zumindest dem Titel nach noch viel bekannteren Aufsatz ,Über naive und sentimentalische Dichtung’ (1795) mit den Worten: [4]
Es gibt Augenblicke in unserm Leben, wo wir der Natur in Pflanzen, Mineralien, Thieren, Landschaften, so wie der menschlichen Natur in Kindern, in den Sitten des Landvolks und der Urwelt, nicht weil sie unsern Sinnen wohlthut, auch nicht, weil sie unsern Verstand oder Geschmack befriedigt (von beiden kann oft das Gegentheil statt finden), sondern bloß weil sie Natur ist, eine Art von Liebe und von rührender Achtung widmen.
Während Goethe noch ganz Wissenschaftler ist, zwar nicht nüchtern, aber doch den Phänomenen auf den Grund gehend – im Sinne des später von Rudolf Steiner so genannten ,Goetheanismus’ –, wird bei Schiller etwas anderes deutlich: Dass sich Erkenntnis von Anfang an auch mit Liebe verbinden kann, und dass eine Kraft der Liebe geistiger Art (auch dies ein Ausdruck Rudolf Steiners) vielleicht sogar gerade die Erkenntniskraft im Menschen ist.
Indem Schiller dann fortfährt, dass eine täuschend echte Nachahmung der Natur, sobald man sie als solche entdecken würde, keineswegs dieselben Empfindungen erweckt, macht er erlebbar, dass das Empfinden kein bloß ästhetisches ist, sondern tiefer reicht – es ist ein moralisches Erleben. Gemeint ist damit ein nicht nur das Fühlen, sondern den ganzen Menschen umfassendes Erleben, eine nicht nur das Schöne, sondern das Schöne, Wahre und Gute umfassende Frage. – Und Schiller fragt, was in der Natur denn so berühren kann:
Was hätte auch eine unscheinbare Blume, eine Quelle, ein bemooster Stein, das Gezwitscher der Vögel, das Summen der Bienen u. s. w. für sich selbst so Gefälliges für uns? Was könnte ihm gar einen Anspruch auf unsere Liebe geben? Es sind nicht diese Gegenstände [allein, H.N.], es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Wir lieben in ihnen das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Nothwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.
In der Natur spürt die Seele unmittelbar das Leben, die reine Ursprünglichkeit – und Unschuld. Schiller fährt fort:
Sie sind, was wir waren, sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unsrer verlornen Kindheit, die uns ewig das Theuerste bleibt; daher sie uns mit einer gewissen Wehmuth erfüllen. Zugleich sind sie Darstellungen unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen.
Das heißt: Die Seele ahnt noch, dass auch sie einst so rein, so ursprünglich, so lebendig, so unschuldig war – aber sie ahnt zugleich (noch zarter, vager), dass sie einst, ohne die erreichte Freiheit wieder aufgeben zu müssen, eine solche Reinheit, Lebendigkeit, Unschuld und Ursprünglichkeit auf höherer Stufe wiederfinden könne. Dass die Natur ihr also Ursprung und noch ganz unsagbare Zukunft zugleich zeigt.
Wir erblicken in ihnen also ewig das, was uns abgeht, aber wornach wir aufgefordert sind zu ringen, und dem wir uns [...] doch in einem unendlichen Fortschritte zu nähern hoffen dürfen. Wir erblicken in uns einen Vorzug, der ihnen fehlt, aber dessen sie entweder überhaupt niemals, wie das Vernunftlose, oder nicht anders, als indem sie unsern Weg gehen, wie die Kindheit, theilhaftig werden können. Sie verschaffen uns daher den süßesten Genuß unsrer Menschheit als Idee, ob sie uns gleich in Rücksicht auf jeden bestimmten Zustand unserer Menschheit nothwendig demüthigen müssen.
Und dann beschreibt Schiller, dass dieses bis in die moralische Essenz der Seele reichende Erleben nur Seelen haben können, die moralisch sind – damit immer meinend, Seelen mit einer Empfänglichkeit für das Idelle und Idealische, für die Realität der Idee. Die Idee der ,Mensch-heit’ ist noch nicht verwirklicht, aber sie existiert von Anbeginn, und der Mensch ist von Anbeginn zu ihr unterwegs, als ein sich entwickelndes, idealisch-geistiges Wesen. Als eine ewige Individualität.
Das ist das Grunderlebnis des Deutschen Idealismus: der Mensch als ewige Individualität. Und die Menschheit, das Menschentum, das Wesen des Menschen als die realste Idee, die es gibt. Realer als ein Tisch aus hartem Holz. Die Realität der Ideen – das ist die Grunderkenntnis des Idealismus.
Den moralischen Menschen, so Schiller weiter, stehen die bloß sentimentalischen Gemüter gegenüber, die sich zwar auch in Reisen und Spaziergängen ergehen, aber dabei sentimental vor allem die eigene Seele empfinden, nicht das Berührende der Natur selbst. Sie fühlen ihre eigene Gerührtheit – aber sie können sich nicht berühren lassen, ohne sogleich dieses Sentimentalische hinzuzufügen. Sie können in ihrer Seele nicht wahrhaft still, selbstlos und rein liebend genug werden. Sie bleiben auf der ästhetischen Stufe und vermögen es nicht, bis ins Moralische empfindsam zu werden – auch gegenüber der Natur. Das Leben selbst spüren... Das Wunder des Lebens mit dem moralischen Herzen spüren, mit tiefer, selbstloser Empfindung, die aber bis in den Willen hinunterreicht, wie ein stiller, mächtiger, schweigender Engel...[5]
Und dann beschreibt Schiller in im Grunde grandioser Klarheit, was man an Kindern empfinden kann, wenn man dieser Empfindung nur wahrhaftig genug in sich selbst nachspürt:
Man irrt, wenn man glaubt, daß es bloß die Vorstellung der Hilflosigkeit sei, welche macht, daß wir in gewissen Augenblicken mit so viel Rührung bei Kindern verweilen. Das mag bei Denjenigen vielleicht der Fall sein, welche der Schwäche gegenüber nie etwas anders als ihre eigene Ueberlegenheit zu empfinden pflegen. Aber das Gefühl, von dem ich rede (es findet nur in ganz eigenen moralischen Stimmungen statt und ist nicht mit demjenigen zu verwechseln, welches die fröhliche Thätigkeit der Kinder in uns erregt), ist eher demüthigend als begünstigend für die Eigenliebe; und wenn ja ein Vorzug dabei in Betrachtung kommt, so ist dieser wenigstens nicht auf unserer Seite. Nicht weil wir von der Höhe unserer Kraft und Vollkommenheit auf das Kind herabsehen, sondern weil wir aus der Beschränktheit unsers Zustands, welche von der Bestimmung, die wir einmal erlangt haben, unzertrennlich ist, zu der grenzenlosen Bestimmbarkeit in dem Kinde und zu seiner reinen Unschuld hinaufsehen, gerathen wir in Rührung, und unser Gefühl in einem solchen Augenblick ist zu sichtbar mit einer gewissen Wehmuth gemischt, als daß sich diese Quelle desselben verkennen ließe. In dem Kinde ist die Anlage und Bestimmung, in uns ist die Erfüllung dargestellt, welche immer unendlich weit hinter jener zurückbleibt. Das Kind ist uns daher eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, aber des aufgegebenen, und es ist also keineswegs die Vorstellung seiner Bedürftigkeit und Schranken, es ist ganz im Gegentheil die Vorstellung seiner reinen und freien Kraft, seiner Integrität, seiner Unendlichkeit, was uns rührt. Dem Menschen von Sittlichkeit und Empfindung wird ein Kind deßwegen ein heiliger Gegenstand sein, ein Gegenstand nämlich, der durch die Größe einer Idee jede Größe der Erfahrung vernichtet [...].
Das bedeutet: Jede psychologische Betrachtungsweise würde einen ungeheuren Fehler machen, die das Kind nur als unendliche ,Projektionsfläche’ ansähe, weil durch die grenzenlose Bestimmbarkeit und die noch absolut nicht erfolgte Festlegung in irgendeiner Richtung alles in das Kind hineinprojiziert werden könne. Nicht darum geht es – sondern um die Tatsache, dass das Kind sich noch real im Zustand einer vollkommenen All-Möglichkeit befindet ... und dies aber gerade jener Zustand sein sollte, den der Mensch überhaupt in sich wahrmachen sollte. Es geht um ein real anzustrebendes Ideal: Das innerliche Niemals-Stehenbleiben, eine innere Entwicklung bis ins Unendliche. Ein Greifen nach den Sternen, aber in innerstem, heiligstem, moralischstem Sinne. Das Kind zeigt dem Menschen, was er sein soll: Ein Wesen mit unendlichem Potenzial – bleibend, für immer. Eine Quelle. Der Mensch soll eine Quelle sein...
Der Mensch begreift erst wahrhaft, was ein Kind ist, wenn er von dessen Realität – dieser wahrhaftigen Unendlichkeit aller Möglichkeiten – zutiefst erschüttert wird. Das aber ist es, was unbewusst jede Seele berührt, wenn sie ein Kind sieht. Die Aufgabe aber ist, bis zum wirklichen Erleben dieser Realität durchzudringen. Man kann sentimentalisch vor einem Kinde stehen – oder begreifen, dass man gleichsam an einer Mysterienstätte steht, einer ungeheuerlichsten Offenbarung, deren Zeuge man sein darf...
In diesem Sinne steht man aber auch bei einem unschuldigen Mädchen vor einem Mysterium – und in gewisser Weise ist dieses noch größer. Denn in unserer Zeit haben die Mädchen diese Unschuld, die eigentlich menschheitliche Unschuld sein oder wieder werden soll, auch längst verloren, wie alle anderen. Aber in der Dichtung, in den Romanen, im Film, und manchmal auch in Wirklichkeit gibt es sie noch: Reine Seelen, deren unschuldiges Wesen so berührend ist, dass man von ihnen selbst wie in eine heilige, andere Sphäre versetzt wird. Eine Sphäre, in der man dem Ursprung und auch dem Zukunftsziel näher ist als jemals sonst. Weil diese Mädchen es noch in ihrem Herzen tragen. Botinnen des Himmels... Hüterinnen, die ein heiliges Ideal beschützen und bewahren, auf dass die Menschheit begreife...
Das Mädchen ist Bestimmbarkeit und unendliche Bestimmung zugleich. Es hat sich eine ganz offene Seele bewahrt – und es hat sie mit tiefer Schönheit erfüllt. Das, was in der Seele des Mädchens lebt, hat diese Seele nicht klein und hart(herzig) gemacht, sondern im Gegenteil: immer weiter und weicher, tiefer und empfindsamer, höher und edler. Das Mädchen ist nicht naiv wie ein Kind – aber es hat seine Seele darum nicht eng gemacht, im Gegenteil.
Das Mädchen lebt vor, was das Mysterium des Moralischen ist: der gute Wille. Die Seele des Mädchens lebt in Hingabe an das, was sie umgibt. Der gute Wille ist zärtlich eins mit der Welt, die er als Heimat empfindet – die ganze Welt. Nichts ist ausgeschlossen, so wie auch die Sonne nichts ausschließt. Das Mädchen ist ein Engel, das mit seinem eigenen leuchtenden Herzen durch die Nacht der übrigen Engherzigkeit scheint – in jedem Moment daran erinnernd, wie gut, wie rein, wie aufrichtig, wie liebevoll der Wille sein kann...
In Goethes ,Wilhelm Meister’ (1795/96) [6] ►6 lebt ein solches Mädchen in der Gestalt der etwa zwölf-, dreizehnjährigen Mignon. Goethe lässt diese beeindruckendste Gestalt des ganzen Romans dann sterben – aus Liebeskummer gegenüber Wilhelm, dem sie sich so hingebungsvoll angeschlossen hat. Obwohl Mignon das poetischste Begräbnis bereitet wird, schreitet die Handlung danach doch unbeirrt fort und Mignon wird bloße Episode. Schiller hat dies empfunden und schrieb dem geachteten Freund: [7]
Mignons Tod, so vorbereitet er ist, wirkt sehr gewaltig und tief, ja so tief, daß es manchem vorkommen wird, Sie verlassen denselben zu schnell. Dies war beim ersten Lesen meine sehr stark markirte Empfindung; beim zweiten, wo die Ueberraschung nicht mehr war, empfand ich es weniger, fürchte aber doch, daß Sie hier um eines Haares Breite zu weit gegangen sein möchten. Mignon hat gerade vor dieser Katastrophe angefangen weiblicher, weicher zu erscheinen und dadurch mehr durch sich selbst zu interessiren; die abstoßende Fremdartigkeit dieser Natur hatte nachgelassen, mit der nachlassenden Kraft hatte sich jene Heftigkeit in etwas verloren, die von ihr zurückschreckte. Besonders schmelzte das letzte Lied das Herz zu der tiefsten Rührung. Es fällt daher auf, wenn unmittelbar nach dem angreifenden Auftritt ihres Todes der Arzt eine Speculation auf ihren Leichnam macht, und das lebendige Wesen, die Person so schnell vergessen kann, um sie nur als das Werkzeug eines artistischen Versuches zu betrachten; ebenso fällt es auf, daß Wilhelm, der doch die Ursache ihres Todes ist und es auch weiß, in diesem Augenblick für jene Instrumententasche Augen hat, und in Erinnerungen vergangener Scenen sich verlieren kann, da die Gegenwart ihn doch so ganz besitzen sollte.
Und drei Sätze später spricht er das Wesen Mignons aus:
In seiner isolirten Gestalt, seiner geheimnißvollen Existenz, seiner Reinheit und Unschuld repräsentirt es die Stufe des Alters auf der es steht so rein, es kann zu der reinsten Wehmuth und zu einer wahr menschlichen Trauer bewegen, weil sich nichts als die Menschheit in ihm darstellte.
Die reine Menschheit – ein Mädchen mit einer reinen Seele, geheimnisvoll, einsam, voller Sehnsucht nach ihm, den sie so lange begleitet hat. Und sie stirbt – und Wilhelm merkt nicht einmal wahrhaft, was ihm da gestorben ist...
Mignon ist das geheime Zentrum des ,Wilhelm Meister’, aber sie wird dann doch fallengelassen und wie eine Episode behandelt. Hier scheint das Wesentliche selbst von Goethe nicht erfasst – oder gewagt – worden zu sein. Die Konsequenz wäre wohl zu weitreichend gewesen. [8]
Aber Wilhelm ist zugleich innerlich auch noch gar nicht reif genug, um ein solches Mädchen seinerseits lieben zu können – mit einer Liebe, die dieser reinen Seele würdig wäre. Doch auch sein ganzes Umfeld, einschließlich der ,Turmgesellschaft’ betrachtet Mignon als zwar poetisch schönes, aber tragisch-unglückliches Wesen, das einfach seinen Platz auf Erden nicht finden konnte.
Das aber ist gerade die Tragik der Menschheit im idealischen Sinne. Mignon leidet, abgesehen von ihrer Liebe zu Wilhelm, Menschheitsschicksal. Ihre Einsamkeit ist die Einsamkeit der Seele überhaupt – der wahren Seele des Menschen. In Wirklichkeit ist Mignon die Lehrerin aller – aber man begreift es nicht. Sie repräsentiert in ihrer Reinheit und Unschuld nicht nur die ,Stufe des Alters’, auf der sie so rein steht – das tut sie wahrhaftig –, sie repräsentiert die reine Seele überhaupt. Und so ist jede innere Entwicklung ohne tieferen Sinn, solange sie noch nicht dieses tiefste Ziel empfindet und ersehnt, mit der Sehnsucht Mignons: das Leuchten der Unschuld...
Hören wir noch einmal Schiller, sechs Tage nach dem ersten oben zitierten Brief: [9]
Die Art nun, wie Sie sich über den Begriff der Lehrjahre und der Meisterschaft erklären, scheint beiden eine engere Grenze zu setzen. Sie verstehen unter den ersten bloß den Irrthum, dasjenige außer sich zu suchen, was der innere Mensch selbst hervorbringen muß: unter der zweiten die Ueberzeugung von der Irrigkeit jenes Suchens, von der Nothwendigkeit des eignen Hervorbringens u. s. w. Aber läßt sich das ganze Leben Wilhelms, so wie es in dem Romane vor uns liegt, wirklich auch vollkommen unter diesem Begriffe fassen und erschöpfen? Wird durch diese Formel alles verständlich? Und kann er nun bloß dadurch, daß sich das Vaterherz bei ihm erklärt, wie am Schluß des siebenten Buchs geschieht, losgesprochen werden?
Meine eigene Antwort ist: Dadurch, dass Wilhelm mit seinem Sohn Felix und mit Natalie glücklich wird, ist herzlich wenig erreicht. Wilhelm mag durch Irrungen und Wirrungen ein wenig reifer geworden sein, aber welche innere Entwicklung hat er wirklich durchgemacht? Gibt es da eine? Und was ist dies, was ,der innere Mensch selbst hervorbringen’ muß? Wäre es nicht gerade zuallererst die Erkenntnis dessen, was Mignon so außerordentlich und rein in ihrer Seele getragen hatte? Hätte nicht dies seine lebendige Erkenntnis werden müssen? Eine Erkenntnis, die weiter reicht als hundert Bücher und hundert Belehrungen? Wer ist Mignon? Was leuchtet in ihrer Seele? Sind diese Fragen nicht wesentlicher als hundert andere Studien? Aber selbst Goethe sah dies anders. [10]
Der Mensch muss in sich selbst hervorbringen, was Mignon in sich trug. Das ist die eigentliche, die verborgene Wahrheit des ,Wilhelm Meister’.
*
Die Liebe ist immer heilig – und dies offenbart sich daran, dass sie auf das Geliebte verzichtet, wenn ihre Liebe nicht erwidert wird... Die Liebe unterwirft und zwingt nicht, sie lässt frei, denn sie ist Liebe. Die Liebe sehnt sich innig nach Erwiderung – aber sie könnte an jeder nicht wahrhaftigen Erwiderung nur leiden. Ist die Erwiderung nicht möglich, neigt die Liebe in trauriger Anmut ihr Haupt und ... entsagt. Sie will für das Geliebte nur das Glück. Hat dieses nicht mit ihr zu tun, wählt sie lieber ihr eigenes Unglück als das des Geliebten. Mignon ist an ihrer Liebe sogar zugrunde gegangen.
Aber – so fragen Viele – kann ein so junges Mädchen überhaupt lieben? Und sie geben auch gleich die Antwort: Natürlich nicht. Wahrhaft lieben kann nur ein Mensch mit einem ausgebildeten Selbst. Hingabe ist nur möglich, wenn man etwas hingeben kann. Ein junges Mädchen kann vielleicht ,schwärmen’ – aber lieben, nein, lieben kann es noch nicht. Es ist eine belächelnswerte Vorstufe – noch nichts Echtes.
Dieser Einwand begreift nicht das Geringste von einem Mädchen – und sonnt sich nur in seinem eigenen Hochmut, der natürlich nicht das Geringste mit Liebe zu tun hat, sogar ihr ausgemachter Feind ist. Wie wir sahen, kann ein Mädchen sogar wesentlich mehr hingeben als der Erwachsene, denn es besitzt mehr als dieser. Solange dies aber nicht empfunden werden kann, kann das Mädchen nicht erkannt – und auch das Mignon-Problem nicht gelöst werden.
Wir wollen uns der Frage weiterhin umfassender nähern, als es diese billigen Einwände versuchen.
Johann Gottfried Herder (1744-1803) betrachtet das Mysterium der Liebe in seinem Aufsatz ,Liebe und Selbstheit’ (1781) und entwickelt dort die Erkenntnis, dass Liebe nur einem in Selbstheit abgetrennten Wesen möglich ist:[337f] [11]
Wir sind einzelne Wesen, und müssen es seyn, wenn wir nicht den Grund alles Genusses, unser eigenes Bewußtseyn, über dem Genuß aufgeben, und uns selbst verliehren wollen [...]. Selbst wenn ich mich, wie es der Mysticismus will, in Gott verlöhre, und ich verlöhre mich in ihm, ohne weiteres Gefühl und Bewußseyn meiner: so genösse Ich nicht mehr; die Gottheit hätte mich verschlungen, und genösse statt meiner.
Dies bedeutet durchaus nicht das abstrakte, völlig abgetrennte Objektbewusstsein, das zugleich das moderne Ego-Bewusstsein ist. Dennoch muss der Liebende existieren – würde er aufhören, zu existieren, wäre auch kein Liebender mehr da. Aber selbst das hingebungsvollste Mädchen, das sich mit seiner ganzen Liebe hingibt, existiert – ganz sicher sogar realer und lebensvoller als jener Abstraktling oder Egoist, der Angst hat ... sich zu ,verlieren’. Er hat sich längst verloren, weil er überhaupt kein wahres inneres Leben hat...
In der Hingabe findet man ein wahres Leben, denn es ist eine in größere Seelentiefen reichende Tätigkeit als jede andere. Und so kann Herder sagen:[314]
Die Gottheit hat es weise und gut gemacht, daß wir unser Daseyn nicht in uns, sondern nur durch Reaction gleichsam in einem Gegenstande außer uns fühlen sollen, nach dem wir also streben, für den wir leben, in dem wir doppelt und vielfach sind.
Wäre es anders, so wäre ein Wesen ganz mit sich allein zufrieden und würde ewig als Monade, als absoluter Autist durch die Welt gehen und nach nichts anderem eine Sehnsucht, nicht einmal eine schwache Neigung haben. Unser Wesen hat aber eine Sehnsucht nach Verbindung mit anderem, ganz und gar allein fühlt es sich nicht wohl, nicht ,ganz’, nicht heil, nicht gesund – es fühlt, dass es zu seinem Glück anderes braucht, und sei es, ein einziges anderes Wesen...
Nun beschreibt Herder, wie das grobe Begehren den begehrten Gegenstand gleichsam dem eigenen Selbst assimiliert, ihn also verzehrt und dadurch gerade vernichtet. Jedes Begehren zielt auf Vereinigung – aber die groben Formen heben gerade die Existenz des Begehrten auf. Man denke an die Ernährung, aber in einem übertragenen Sinne auch an eine Vergewaltigung. Herder fährt fort:[315ff]
Gewissermaßen ist also auch hier der feinste Genuß vor dem Genusse: der Appetit nach einer schönen Frucht ist angenehmer als die Frucht selbst; das Auge macht die Zunge am lieblichsten lüstern [...].
So ists mit dem Genuß der Düfte, ja selbst der Töne. Wir ziehen sie in uns, wir trinken den Strom ihrer Wollust mit langen Zügen: und nur dann sagen wir, daß wir Musik genießen, wenn sie unser Herz zerschmelzt, wenn sie mit dem innern Saitenspiel unsrer Empfindungen Eins wird. [...]
Je geistiger der Genuß ist, desto dauernder wird er, desto mehr ist auch sein Gegenstand außer uns dauernd. Lasset uns aber auch immer dazu setzen, desto schwächer ist er: denn ein Gegenstand ist und bleibt außer uns und kann eigentlich nur im Bilde d. i. wenig oder gar nicht mit uns Eins werden. Das Auge wird zu sehen nimmer satt: denn wie wenig erhält das Herz im sehen! wie wenig kann uns zum innigsten Genuß der bloße Lichtstrahl geben! [...]
[...] Das Auge zerstört das Wesen des geliebten Gegenstandes nicht, eben weil es demselben nicht in sich hinüber zu ziehen vermag.
Man muss dazusagen, dass auch das Ohr das Geliebte nicht zerstört, dass aber die Musik eine in der Zeit verlaufende Kunst ist, die immer nur lebendig-gegenwärtig ,genossen’ und geliebt werden kann. Und so, wie wir den Klang zugleich doch mit unserer Seele vereinigen können, so können wir auch den Anblick ganz mit unserer Seele vereinigen – und ganz gegen Herder muss man sagen: wie tief kann das Herz lieben, wenn es nur den Anblick des Geliebten hat! In Wirklichkeit aber ist dieses Blicken niemals bloße Sinneswahrnehmung des Augensinnes, sondern mit Hilfe der Seele und des Geistes offenbart dieser Augensinn dem eigenen Inneren das Innere des anderen Wesens. Das Auge sieht die Seele des geliebten Wesens, weil die eigene Seele im Augensinn mitlebt.
Aber Herder kennt diese Liebe natürlich sehr wohl, wie sich im Folgenden zeigt. Allerdings unterscheidet er hier ,Liebe’ als mehr sinnliches Begehren und ,Freundschaft’ als ein höheres, innig-geistiges Band. Er schreibt:[321ff]
[...] Freundschaft – welch ein anderes, heiliges Band ist diese! Herzen und Hände knüpft sie zu Einem gemeinschaftlichen Zweck zusammen, und wo dieser Zweck augenscheinlich, wo er fortwährend, anstrengend, selbst unter oder hinter Gefahren vorliegt: da ist das Band der Freundschaft oft so genau, fest und herzlich, daß nichts als der Tod es zu trennen vermochte. [...] Die Schöpfung kennt nichts Edleres, als zwey freywillig und unauflöslich zusammengeschlungene Hände, zwey freywillig Einsgewordne Herzen und Leben. Gleichviel ob diese beyden Hände männlich oder weiblich oder beyderley Geschlechts sind: es ist ein stolzes aber ungereimtes Vorurtheil der Männer, daß nur sie zur Freundschaft taugen. Oft ist ein Weib darzu zarter, treuer, fester und goldreiner, als eine Reihe schwacher, fühlloser, unreiner männlicher Seelen [...]. Auch Ehe soll Freundschaft seyn: und wehe, wo sies nicht ist, wo sie nur Liebe und Appetit seyn wollte! [...] Ueberhaupt ist gemeinschaftliches Leben das Mark der wahren Freundschaft: Aufschluß und Theilung der Herzen, innige Freude an einander, gemeinschaftliches Leid miteinander, Rath, Trost, Bemühung, Hülfe für einander sind ihre Kennzeichen, ihre Süßigkeiten und Belohnung. Was für zarte Geheimnisse giebts in der Freundschaft! [...] als ob die Seele sich in des Andern Seele unmittelbar fühlte, und vorahndend seine Gedanken so richtig erkenne, als obs ihre eignen Gedanken wären. Und gewiß, die Seele hat zuweilen Macht, sie so zu erkennen, so in des andern Herz unmittelbar und innig zu wohnen. Es giebt Augenblicke der Sympathie auch in Gedanken, ohne die mindste äußere Veranlassung, die zwar die Psychologie nicht erklärt, aber die Erfahrung lehrt und bekräftigt. [...] Wenn überhaupt die Seele je die geheime Kraft hätte, ohne Organ unmittelbar in eine andre Seele zu wirken: wo könnte es natürlicher seyn, als bey der Freundschaft? Diese ist reiner und also gewiß auch mächtiger als die Liebe: wenn diese sich zur Stärke und Dauer der Ewigkeit erheben will, muß sie erst, von der groben Sinnlichkeit geläutert, ächte und wahre Freundschaft werden.
Es wird hier sehr deutlich, dass das, was Herder Freundschaft nennt, die wahre Liebe ist. Und dass diese Liebe in dem aufrichtigsten Teilen der ganzen Seele mit dem Geliebten besteht – in Teilen und Anteilnehmen, in einer Vereinigung, die alles umfasst: Geist, Seele, Leib...
Herder spricht klar aus, dass die heiligen Qualitäten der Seele, die sie zu dieser Liebe fähig machen, in der weiblichen Seele oft viel offensichtlicher zu finden sind: Zartheit, Treue, die Reinheit der Seele, die so groß ist wie die des Goldes... Und im Folgenden beschreibt Herder, wie gerade diese weibliche Seele die Zartheit dieses Liebesverhältnis zu spüren und zu hüten in der Lage ist – weil sie spürt, dass der Beginn des Aufblühens bereits die Gefahr des Verwelkens in sich birgt, da doch kaum eine oder keine Seele fähig zu der höchsten, göttlichen, ewigen treuen Freundschaft und Liebe ist:[326ff]
Aber die Natur sah daß diese reine himmlische Flamme für uns auf Erden meistens zu fein wäre: sie kleidete sie also in irdische, sinnliche Reize, und nun erschien Venus Urania als – Aphrodite. Liebe soll uns zur Freundschaft laden, Liebe soll selbst die innigste Freundschaft werden.
Den höchsten Grad ihrer Entzückung suche ich [...] in das erste glückliche Finden, in den über alle Beschreibung süßen Augenblick, da beyde Geliebte gewahr werden, daß sie sich lieben, und es nun, wie unvollkommen und unwillkührlich es sey, so gewiß, süß und übereinstimmend einander sagen. [...] Wenn es einen Augenblick himmlischer Wollust und reiner Vereinigung verkörperter Wesen hier auf Erden giebt, so ists dieser; alles ganz andrer Art, als was uns nachher der darbende Genuß erlaubet. [...]
Es ist gewiß, daß die Seelen, die zur treusten, reinsten, edelsten Liebe geschaffen sind, sich für diesem Augenblick des Verraths [= der Offenbarung, H.N.], als für ihrem ärgsten Feinde fürchten [...]. Das weibliche Geschlecht, das die Liebe überhaupt zarter, als das unsre, behandelt, fühlt, wie viel die Flamme derselben mit jedem Genuß verliehre, wie sie, der Natur aller andern Flammen zuwider, erstickt, wenn sie ausbricht, und durch jede Aeußerung ihre innere Kraft und Süßigkeit schwächet. Keusch und heilig suchts also das Geheimniß selbst im Herzen des Liebenden zu bewahren, sobald es desselben gewiß ist; und nichts macht sich gewisser als dieses. Das Geheimniß wird gleichsam entweiht, wenn es nur die Lippen berührt: [12] es erstirbt auf gewisse Weise schon im ersten Kusse, im ersten Seufzer.
Und hier also haben wir wieder die heilige Keuschheit und Zartheit – die so sehr dem Mädchen eigen ist. Es ist, wie wenn das reine, am zärtlichsten liebende Herz am klarsten spürt, dass dies der höchste, der seligste Augenblick sein wird: die allererste Offenbarung der gegenseitigen Liebe in gegenseitiger, heiliger Scheu und Beseligung...
Aber nach dem höchsten Gipfel kann es nur das Geringere geben, das liegt notwendig in dem Begriff des Gipfels. Ein Augenblick muss der heiligste sein... Wie kann mit dieser Tragik umgegangen werden? Im Mysterium der Mädchenseele lebt eine erlösende, heilige Antwort.
Und die Mädchenseele, dieses lebendige Wunder zarten Leuchtens, spricht: Auch wenn ein Augenblick der heiligste ist, ein heiliger Mittelpunkt von allem – so kann doch jeder Augenblick eine solche Heiligkeit atmen, dass der Abstieg vom Gipfel dennoch tiefste Freude und höchstes Glück bleibt.[13] Die Mädchenseele ist, wie in anderer Weise die Seele des kleinen Kindes, in der Lage, jedem Augenblick einen allerzartesten Zauber zu geben. Das Mädchen ist eine heilige Zauberin, eine Magierin, eine Priesterin. Die Seele des Mädchens atmet heilige Schönheit in die Welt, in alle Dinge, in jede Situation. Wo die Mädchenseele lebendig anwesend ist, kann es keinen Abstieg geben – denn es gibt nur das Bleiben. Das Bleiben des Wunders...
Hier haben wir die Verwirklichung dessen, wonach die großen Geister des Deutschen Idealismus strebten – hier haben wir das übersinnliche Menschenwesen, das in jedem Augenblick übersinnliches Leben aus sich selbst hervorbringt. Das Mädchen ist der reine Quell eines zarten, heiligen, unschuldigen seelischen Lebens...
Ihr zweiter Kuss ist nicht weniger zärtlich und nicht weniger heilig als ihr erster. Ihr zweiter Blick ist nicht weniger leuchtend und nicht gewöhnlicher als ihr erster. Die Seele des Mädchens ermüdet nicht in ihrer Liebe – denn sie ist Quelle. Hier liegt das Mysterium des Mädchens, insofern seine Seele wahrhaft unschuldig und es also wahrhaft Mädchen ist. Das Mädchen ist der hütende Engel der Unschuld. Dies ist der wahre Begriff des Mädchens.
In diesem Sinne lebt im Mädchen der Himmel selbst – die Unendlichkeit. Vor diesem Hintergrund ist es deutlich, dass Mignons Zeit noch nicht gekommen war – dass sie auf einer beschränkten Erde sterben musste; auf einer Erde, wo der eine von ihr geliebte Mensch diese Liebe nicht einmal wahrnahm. Mignons Sehnsucht ging ins Unendliche, weil sie das Vollmenschliche in ihrer Seele trug – ohne dass es sich hätte verwirklichen können.
Goethe schrieb einmal: [14]
Die Botaniker haben eine Pflanzenabteilung, die sie Incompletae nennen; man kann eben auch sagen, daß es inkomplette, unvollständige Menschen gibt. Es sind diejenigen, deren Sehnsucht und Streben mit ihrem Tun und Leisten nicht proportioniert ist.
Der geringste Mensch kann komplett sein, wenn er sich innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten bewegt; aber selbst schöne Vorzüge werden verdunkelt, aufgehoben und vernichtet, wenn jenes unerläßlich geforderte Ebenmaß abgeht.
Dem kann in diesem Sinne nicht zugestimmt werden. Mignons Sehnsucht stand mit ihrer Fähigkeit, sie zu erreichen, nicht in Übereinstimmung. Vor den Augen der Welt war sie daher nicht ,lebensfähig’. Aber gerade dies hat sie so ausgezeichnet – dieser unsagbare Überschuss des inneren Lebens und Sehnens über das äußere. Gäbe es solche Menschen nicht, die Welt würde im Profanen versinken. Ein Mädchen wie Mignon erinnert die Welt daran, dass das Innere immer größer sein sollte als das äußere, denn der Mensch ist zur Unendlichkeit berufen. Mignon trug sie in sich – und zerbrach daran. Sie wäre aber nicht zerbrochen, wenn der von ihr Geliebte sie wiedergeliebt hätte.
Auch die Sehnsucht ist eine ,Fähigkeit’ – und wohl sogar das Band, das die Seele mit dem Himmel verbindet. Und darin, in dieser Fähigkeit, war Mignon eine Meisterin. Ebenso in der damit verbundenen Unschuld. Doch ihre Zeit war noch nicht gekommen – und die Menschen verstanden nicht, wie wesentlich diese Fähigkeit für das ganze Menschenwesen ist. Es kommt gar nicht darauf an, ,komplett’ zu sein – sondern gerade auf das Gegenteil. Komplett ist der Mensch erst, wenn er eine Liebe so groß wie die Welt hat. Die unglücklichsten Menschen können ,kompletter’ sein als der Rest der Welt... Sie haben oft Fähigkeiten, die in dieser Welt keinen Ort finden – und man fühlt sich an das Wort des Menschensohns erinnert: [15]
Und Jesus spricht zu ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er das Haupt hinlege.
Diese Unendlichkeit der Mädchenseele entspricht nicht zufällig dem Alter, wo in der Seele die Ideale aufleuchten. Gerade dies ist das Leuchten des Mädchens. Es ist mit Unschuld auf die Erde gekommen, es hat diese Unschuld bewahrt – und es blickt in Unschuld auf die ganze Welt, die es in unschuldiger Liebe liebt. Zugleich weiß sie, dass diese Liebe jedem Menschen möglich ist – und dies ist ihre Hoffnung. Dies und noch vieles andere sind lebendige Ideale in der Seele des Mädchens. Die Seele des Mädchens ist selbst reinste idealische Substanz, hereinleuchtend aus einer höheren Sphäre, die sie nie ganz verlässt...
Und im Grunde ist auch die überirdische Schönheit der Leiblichkeit in diesem Moment des Mädchentums, der Mädchenblüte, des blühenden Mädchenleibes ein Hereinleuchten von etwas Überirdischem. Schönheit ist immer überirdisch, wie man es auch betrachtet. Es kommt etwas zur Offenbarung, was nicht rein, nicht bloß irdisch ist. Und für das Mädchen gilt dies in besonderem Maße. Dies ist der wahre Grund, warum auch die antiken Götterbilder vor allem jugendlich dargestellt wurden – worauf schon der große Archäologe und Kunstgeschichtler Winckelmann (1717-1768) hinwies: [16]
Was konnte menschlichen Begriffen von sinnlichen Gottheiten würdiger und für die Einbildung reizender sein als der Zustand einer ewigen Jugend und des Frühlings des Lebens, wovon uns selbst das Andenken in späteren Jahren fröhlich machen kann? Dieses war dem Begriffe von der Unveränderlichkeit des göttlichen Wesens gemäß, und ein schönes jugendliches Gewächs der Gottheit erweckte Zärtlichkeit und Liebe, welche die Seele in einen süßen Traum der Entzückung versetzen können [...]. Unter den weiblichen Gottheiten wurde der Diana und der Pallas eine beständige Jungfernschaft beigelegt, und die andern Göttinnen sollten dieselbe, eingebüßt, wiederum erlangen können [...]. Daher sind die Brüste der Göttinnen und der Amazonen wie an jungen Mädchen, denen Lucina den Gürtel noch nicht aufgelöst hat [...].
Den Literaturwissenschaftlern ist das Mysterium Mignon ein Rätsel. Und so bekennt im Grunde auch Wetzel:[17]
Die immer wiederkehrende Frage ist, warum er [Wilhelm, H.N.] sich von der Eigentümlichkeit und Andersartigkeit, der Unreife und Unvollkommenheit Mignons faszinieren läßt, welche Schönheit jenseits von Harmonie und Vollkommenheit es ist, die sein Interesse erregt. Es ist nicht einfach – wie grundsätzlich bei der Problematik der Kindsbraut – nur die Unbestimmtheit und Unterlegenheit des Objekts, was das Begehren erweckt.
Dabei hat er drei Sätze vorher selbst die Antwort gegeben:
Mignon ist ja die Inkarnation des Antitheatralischen, einer Aufrichtigkeit der Präsentation, die selbst im Moment der Performanz [etwa ihr berühmter ,Eiertanz’, H.N.] nicht re-präsentiert, nicht etwas darstellt, sondern sich (hin)gibt.
Hier ist das Wesen der Unschuld ganz und gar ausgesprochen. Unschuld ist mehr als Authentizität. Unschuld ist die Hingabe des eigenen Wesens – das unschuldig ist. Dies kann in dieser tiefen Weise nur das Mädchen.
Immerhin erkennt Wetzel, dass es ganz allgemein bei der ,Kindsbraut’ um mehr geht als ,Unterlegenheit’ und eine unbestimmte ,Projektionsfläche’. In Wahrheit geht es um das genaue Gegenteil. Man muss gar nichts ,projizieren’, weil der Seele von seiten des Mädchens und seines Wesens so unendlich viel entgegenkommt. Im Grunde muss man die eigene Seele zur ,Projektionsfläche’ machen, um auffangen zu können, was ein solches Mädchen ausstrahlt; um es in voller Aufrichtigkeit der eigenen Seele wirklich empfinden zu können.
Das zutiefst Berührende ist, dass ein Mädchen in Bezug auf alles Körperliche gnadenlos unterlegen ist, wäre; dass es aber in Bezug auf sein inneres Wesen allen anderen Menschen haushoch ,überlegen’ ist – und zwar gerade weil es seinem Wesen um diese Kategorie zutiefst nicht geht. Ein Mädchen ist Trägerin der Unschuld – und diese besiegt noch den härtesten Stein, wenn er sich nur besiegen lässt. Denn selbst der Stein hat die Sehnsucht, wieder weich zu werden, dem Himmel wieder näher zu sein. Wie kann nur das Wesen eines Mädchens so wenig verstanden werden, dass man die Frage haben muss, was einen so unsäglich anzieht...?
Überall weiß Wetzel eigentlich die Antwort, ohne sie jedoch in ihrer ganzen, unermesslichen Tiefe zu erfassen: [18]
Philine spielt also die Naive, die „Kleine“ und das „Kind“ (L 150), Mignon ist, was eine auf „Jugend, Anmut, Zierlichkeit“ etc. (L 149) ausgerichtete erotische Neugierde intendiert. [...] Zwischen den beiden herrscht hinsichtlich der erotischen Absichten auf Wilhelm eine unausgesprochene Rivalität [...]. Philine ist dabei zweifellos die ältere, die erfahrenere und daher erotisch erfolgreichere, die dennoch durch Kunst und weibliche Lust simulieren muß, was die jüngere noch besitzt: die Unschuld im Doppelsinne des Wortes.
Es geht bei dem Wunder des Mädchens nicht nur um das Geheimnis des Erotischen. Es geht um die Erotik im weitesten Sinne – als heiliges Mittel, die Seele wieder ins Edle zu erheben. Ein Mädchen ist wie ein vom Himmel selbst in die Welt gesandtes Wesen, um die Seelen von ihrer profanen Gewöhnlichkeit loszureißen. Sie ist Künderin der Unschuld, der unschuldigen Liebe.
*
Goethe, dessen Wort vom ,inkompletten Menschen’ wir bereits zitierten, wandte sich gegen den Vorwurf, Mignon sei letztlich nur Episode. Dieser Eindruck war damals schon entstanden, worauf er betont äußerte, das ganze Werk sei nur wegen ihres Charakters geschrieben worden. [19]
Dennoch ist Mignon für ihn etwas, was seinem eigenen Wesen tief widerspricht. So findet sich in Bezug auf sie in einem Notizbuch 1793 die Bemerkung: ,Wahnsinn des Mißverhältnisses’. [20] Für Goethe war Mignon also nicht Urbild der Unschuld – etwas in dieser Art vielleicht auch –, vor allem aber Urbild des ,Inkompletten’, eines furchtbaren Missverhältnisses zwischen sentimentalischem Innenleben und der (Un-)Fähigkeit, sich den äußeren Verhältnissen anzupassen und sie, im besten Falle, auch zu gestalten.
So gesehen ist Goethe gnadenlos in seinen Anforderungen und seinen Vorstellungen bezüglich der inneren Ausbildung der eigenen Person. Goethe ist der Gegenpol der Romantik – er steht überall für Klarheit und Struktur, das Apollinische gegenüber dem Dionysischen – aber auch dem Natürlichen, dem ,Naturkind’. Diese Beurteilung der Mignon grenzt an die heutige menschenfeindliche Leistungsgesellschaft – in der ja auch jeder offiziell darin gefördert wird, seine ,Kompetenzen’ auszubilden, um mitzuhalten und mitzugestalten; wenn dem Einzelnen dies aber nicht gelingt, dann wird über ihn hinweggegangen...
Es ist nicht Aufgabe des Mädchens, die Verhältnisse zu gestalten. Das Mädchen kann etwas viel Höheres – es kann die Herzen rühren. Damit ,leistet’ es viel mehr als ach so Mancher, der Inneres und Äußeres in perfekte Übereinstimmung zu bringen vermag. Aber die Herzen werden nicht gerührt werden, wenn eine Überfülle des inneren Lebens, vielleicht auch leidende, sehnsuchtsvolle, hilflose Überfülle wie bei Mignon, als Wahnsinn des Missverhältnisses betrachtet wird!
Goethe kennt nicht die Liebe, mit der ein Mädchen geliebt werden kann – nicht, weil dessen Seele krankhaft oder nicht lebensfähig wäre, sondern weil sie so schön ist, so rührend, so liebreizend, dass das Herz mit Liebe antworten muss, wenn es nicht ... blind ist. Goethe hat das Übergewicht inneren Lebens und innerer Empfindungen, wenn sie der Seele ein wenn auch stilles Leiden bringen, im Grunde pathologisiert. Dass dieses innere Leben und Sein der Seele in den Augen der Engel auch ein Leuchten sein könnte – und dass es Aufgabe der umgebenden Menschen wäre, diesem inneren Leuchten einen Ort auf Erden zu bereiten (und nicht erst dem Leichnam!), das hat Goethe nicht gesehen. Damit ist der Schöpfer der Mignon zugleich der, der ihre wahre Mission auf Erden gar nicht verstanden hat und nicht zulassen konnte.
In einem Fachbuch über Goethes Roman heißt es: [21]
Wenn Mignon die deterministische Schicksalsverfallenheit, die lebensfeindliche, verzehrende Reminiszenz, die dämonische Sehnsucht auf das Unerreichbare, die Verlorenheit und Vereinsamung, das rein subjektive Künstlertum, die Nötigung der Neigung, die wertherische Gefühlsüberfüllle, den „Wahnsinn des Mißverhältnisses“ personifiziert, so ist der Roman wahrlich ihretwegen geschrieben. Denn eben das macht sich das Werk zur Aufgabe, zu zeigen, wie Wilhelm Mignon zu überwinden vermag, wie der Sturm- und Drangmensch sich durchringt zum bewußten, tätigen und freien Menschentum [...].
Ja – wenn. Aber Mignon ist weit mehr, als es diese insgesamt rein negative Aufzählung suggeriert. Genausogut könnte man aufzählen, was der ,bewusste’ Mensch, der sich im Goetheschen Sinne ,komplettiert’, alles verliert – wenn er Mignon übersieht und dadurch zum Tode verurteilt, mitsamt ihrer unsagbaren Liebe, von der sie schweigen muss. Ein solcher ,Komplettmensch’ tötet auch etwas in sich selbst.
An der Stelle, wo Mignon ihr berühmtes sehnsuchtsvolles ,Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn’ singt, ereignet sich Folgendes: [22]
Nach Verlauf einiger Stunden hörte Wilhelm Musik vor seiner Türe. [...] er unterschied bald die Töne einer Zither, und die Stimme, welche zu singen anfing, war Mignons Stimme. [...]
Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.
Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das „Kennst du es wohl?“ drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem „Dahin! Dahin!“ lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr „Laß uns ziehn!“ wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.
Nachdem sie das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einen Augenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte: „Kennst du das Land?“ – „Es muß wohl Italien gemeint sein“, versetzte Wilhelm; „woher hast du das Liedchen?“ – „Italien!“ sagte Mignon bedeutend, „gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier.“ –
In diesem einen einzigen Absatz steckt so ungeheuer viel! Vor allem aber lebt darin, dass das Mädchen auf jede nur erdenkliche lebens- und seelenvolle Weise versucht, Wilhelm mit ihrem geheimen Ruf zu erreichen – während er nichts anderes und besseres zu tun hat, als den Text in eine tote Übersetzung zu treiben, den er dann verstehen kann, der aber alles Leben verloren hat. Schon hier hat er Mignon eigentlich getötet. Wilhelm ist trotz all seiner Irrungen und Wirrungen der Vertreter des ,Kopfmenschen’, der die lebensvolle Seele nicht verstehen kann. Mignon aber friert, sie findet so keine Wärme...
Goethe war ganz deutlich ein Mensch, der der Kopfesklarheit die Dominanz zusprach. Die Unschuld hat hier keinen Platz. Es ist alles kristallklar ausgestaltet. Goethe konnte zwar die lebendige Urpflanze finden – aber das Heilige am Wesen des Mädchens nicht wahrhaft erfassen. Zwar konnte er die Mädchen unter Umständen sogar bewundern, wenn er etwa sagt: [23]
Zürnet nicht ihr Frauen, daß wir das Mädchen bewundern:
Ihr genießt des Nachts, was sie am Abend erregt.
In einem anderen Vers heißt es dagegen, Mädchen wüssten im allgemeinen nur zu ermüden – seien also schlicht langweilig. [24] Goethe empfindet sich den Mädchen als hoch überlegen – ein Mädchen kann seinem großen Geist nichts geben. Und doch suchte Goethe die Mädchen bis ins hohe Alter. Nur wegen des körperlichen Begehrens? Ist das seine Vorstellung von ,Komplettierung’? Umfassende Ausbildung des Geistes und ... die Mädchen für die Lust des Leibes? Hat der große Geist Goethe bis zu seinem Lebensende nicht begriffen, wie umfassend das Anziehende des Mädchens ist – und warum?
An einer Stelle schreibt Goethe:[25]
Man liebt an dem Mädchen, was es ist, und an dem Jüngling, was er ankündigt [...].
Was bedeutet das? Der Jüngling muss sich erst noch entwickeln, seinen Geist ausbilden. Das Mädchen ist schon ein Engel – es muss sein Wesen nur bewahren... Aber dies hat Goethe nicht gesehen. Für ihn war ein Mädchen wohl ein netter Zeitvertreib, niedlich, reizend, mignon. Dass der Geist nicht alles ist und dass der Mensch auch Seele braucht, und dass dies gerade das weibliche Element ist, und dass das Mädchen etwas hütet, was selbst die Frau nicht mehr hat – diese Erkenntnis war für Goethes Geist zu weit weg. Und nicht nur für ihn.
Wie furchtbar und empfindungslos die damalige Zeit war, erhellt eine Erzählung Goethes, die mit Johann Georg Zimmermann zu tun hat, einem berühmten Arzt, der auch Charlotte von Stein behandelte. Dieser besuchte den fünfundzwanzigjährigen Goethe 1775 in Frankfurt: [26]
Eine Tochter, die mit ihm reiste, war, als er sich in der Nachbarschaft umsah, bei uns geblieben. Sie konnte etwa sechzehn Jahre alt sein. Schlank und wohlgewachsen, trat sie auf ohne Zierlichkeit; ihr regelmäßiges Gesicht wäre angenehm gewesen, wenn sich ein Zug von Teilnahme darin aufgetan hätte; aber sie sah immer so ruhig aus wie ein Bild, sie äußerte sich selten, in der Gegenwart ihres Vaters nie. Kaum aber war sie einige Tage mit meiner Mutter allein und hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieser teilnehmenden Frau in sich aufgenommen, als sie sich ihr mit aufgeschlossenem Herzen zu Füßen warf und unter tausend Tränen bat, sie da zu behalten. Mit dem leidenschaftlichsten Ausdruck erklärte sie: als Magd, als Sklavin wolle sie zeitlebens im Hause bleiben, nur um nicht zu ihrem Vater zurückzukehren, von dessen Härte und Tyrannei man sich keinen Begriff machen könne. Ihr Bruder sei über diese Behandlung wahnsinnig geworden; sie habe es mit Not so lange getragen, weil sie geglaubt, es sei in jeder Familie nicht anders, oder nicht viel besser; da sie aber nun eine so liebevolle, heitere, zwanglose Behandlung erfahren, so werde ihr Zustand zu einer wahren Hölle.
Goethes Mutter ist sehr bewegt und fragt ihren Sohn, ob er sie nicht heiraten möchte – was Goethe bei dem Schwiegervater kategorisch ablehnt. Seine weiteren Erinnerungen an das Mädchen sind nichtssagend und geprägt von fehlender innerer Anteilnahme:
Meine Mutter gab sich noch viel Mühe mit dem guten Kinde, aber es ward dadurch nur immer unglücklicher. Man fand zuletzt noch einen Ausweg, sie in eine Pension zu tun. Sie hat übrigens ihr Leben nicht hoch gebracht.
Auch dieses dramatische Ereignis mit einem Mädchen, dessen Schicksal in manchem an Mignon denken lässt, wird für Goethe bloße – Episode. [27]
Goethe ist als ganz und gar apollinischer Geist im Grunde der ,Gegensatz’ zu Novalis. Das bedeutet nicht, dass Novalis ein dionysischer Geist sei. Der magische Idealismus von Novalis stellt gleichsam eine höhere Synthese dar, die weder Apoll noch Dionysos erreichen können. Erst in der Vereinigung ihrer beider Kräfte ist eine Wirklichkeitsebene erreichbar, die sonst nie gefunden wird – außer durch das Mädchen... [28]
Und Novalis schreibt über Goethes ,Wilhelm Meister’:[29]
Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaßen durchaus prosaisch und modern. Das Romantische geht darin zu Grunde, auch die Naturpoesie, das Wunderbare. Das Buch handelt bloß von gewöhnlichen menschlichen Dingen, die Natur und der Mysticismus sind ganz vergessen. Es ist eine poetisirte bürgerliche und häusliche Geschichte. Das Wunderbare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerey behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buchs.
Und über Goethe insgesamt urteilt er – man denke hier auch an Goethes ,inkomplette Menschen’ –:[30]
Goethe ist ganz praktischer Dichter. Er ist in seinen Werken, was der Engländer in seinen Waaren ist, höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft. [...] In seinen physikalischen Studien wird es recht klar, daß es seine Neigung ist, eher etwas Unbedeutendes ganz fertig zu machen, ihm die höchste Politur und Bequemlichkeit zu geben, als eine Welt anzufangen und etwas zu thun, wovon man voraus wissen kann, daß man es nicht vollkommen ausführen wird, daß es gewiß ungeschickt bleibt, und daß man es nie darin zu einer meisterhaften Fertigkeit bringt.
Das ist ein zentraler Gedanke. Für Novalis war das Wesentliche nicht, ,vollkommen’ und ,komplett’ zu sein, sondern, alles Mittelmäßige zu durchstoßen, um buchstäblich nach den Sternen zu greifen – und sie auch zu erreichen. Für Novalis ging der Weg ,nach innen’ – hier ist das wahre Menschentum und der ganze Himmel zu finden.
Über den ,Wilhelm Meister’ schreibt Novalis noch: [31]
Der Sitz der eigentlichen Kunst ist lediglich im Verstande. [...] So ist Wilhelm Meister ganz ein Kunstprodukt – ein Werk des Verstandes.
Und er fügt hinzu: ,der bloße Künstler ist ein einseitiger, beschränkter Mensch’. Für Novalis war also der bloße Künstler ein inkompletter Mensch – auch Goethe! Für Novalis ging es darum, dass selbst der große Geist Goethe im Grunde nicht über den Verstand hinauskam. Goethe war groß, indem er die künstlerische Anschauung auch in die Naturwissenschaft einführte und so zu neuen Erkenntnissen kam. Aber es gilt, selbst dies noch zu einer Steigerung zu führen – und erst dann käme man über den Verstand hinaus.
Das vernichtendste Urteil über den Wilhelm Meister lautet dann: [32]
Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch – so pretentiös und pretiös – undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrifft, so poetisch auch die Darstellung ist. Es ist eine Satire auf die Poesie, Religion usw. Aus Stroh und Hobelspänen ein wohlschmeckendes Gericht, ein Götterbild zusammengesetzt. Hinten wird alles Farce. Die ökonomische Natur ist die wahre, übrigbleibende.
Novalis ist jener große Geist, der den magischen Idealismus offenbarte – als Weg des Menschen zur wahren Wirklichkeit, einschließlich der eigenen, des wahren Wesens des Menschen. Ausgesprochen hat er diesen Weg in nur wenigen Worten: [33]
Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.
Wie ernst es Novalis damit war, geht auch aus folgendem Fragment hervor: [34]
Das echte Märchen muß zugleich prophetische Darstellung, idealische Darstellung, absolut notwendige Darstellung sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft.
Der magische Idealismus führt den gewordenen, ,niederen’, beschränkten (!) Menschen seinem wahren Selbst und dem wahren Wesen auch des Weltenganzen entgegen. Nimmt man dies ernst, wird die Realität dessen eine Erfahrungstatsache.
Novalis’ direkte Antwort auf Goethes ,Wilhelm Meister’ war dann 1800 sein ,Heinrich von Ofterdingen’ – das Werk der Romantik, das zwei Jahre später nach dem frühen Tod des Dichters erschien. [35] Es beginnt bereits geheimnisvoll und öffnet auch den Sinn des Lesers für diese Sphäre des Geheimnisses:[36]
Die Eltern lagen schon und schliefen, die Wanduhr schlug ihren einförmigen Takt, vor den klappernden Fenstern sauste der Wind; abwechselnd wurde die Stube hell von dem Schimmer des Mondes. Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. „Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben“, sagte er zu sich selbst; „fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn’ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anderes dichten und denken. [...] Wo eigentlich nur der Fremde herkam? Keiner von uns hat je einen ähnlichen Menschen gesehn; doch weiß ich nicht, warum nur ich von seinen Reden so ergriffen worden bin; die andern haben ja das nämliche gehört, und keinem ist so etwas begegnet. Daß ich auch nicht einmal von meinem wunderlichen Zustande reden kann! Es ist mir oft so entzückend wohl, und nur dann, wenn ich die Blume nicht recht gegenwärtig habe, befällt mich so ein tiefes, inniges Treiben: das kann und wird keiner verstehn. Ich glaubte, ich wäre wahnsinnig, wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte, mir ist seitdem alles viel bekannter. Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist gerade so, als wollten sie allaugenblicklich anfangen, und als könnte ich es ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten. Es muß noch viel Worte geben, die ich nicht weiß: wußte ich mehr, so könnte ich viel besser alles begreifen.
Der Jüngling war also auch offenen Sinnes – und sein Herz schloss sich dem auf, was der Fremde zu geben hatte, während alle anderen daran vorbeilebten. Und das Innere des Jünglings wird nun so regsam, dass ihm eine Ahnung erlebbar wird, wie innig verbunden alles miteinander ist – so als könnte sich diese viel größere Verbundenheit jeden Moment wieder verwirklichen, als würde nur ein dünner Schleier das Bewusstsein von dieser Wirklichkeit trennen. Dann schläft der Jüngling ein und schaut in umfassenden Traumbildern seine eigene Zukunft:
Da träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden. Er wanderte über Meere mit unbegreiflicher Leichtigkeit; wunderliche Tiere sah er; er lebte mit mannigfaltigen Menschen, bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er geriet in Gefangenschaft und die schmählichste Not. Alle Empfindungen stiegen bis zu einer niegekannten Höhe in ihm. Er durchlebte ein unendlich buntes Leben; starb und kam wieder, liebte bis zur höchsten Leidenschaft, und war dann wieder auf ewig von seiner Geliebten getrennt.
Dann, gegen Morgen, verwandeln sich die Traumbilder. Seine Seele wird stiller, die Bilder klarer und bleibender:
Es kam ihm vor, als ginge er in einem dunkeln Walde allein. Nur selten schimmerte der Tag durch das grüne Netz. Bald kam er vor eine Felsenschlucht, die bergan stieg. Er mußte über bemooste Steine klettern, die ein ehemaliger Strom herunter gerissen hatte. Je höher er kam, desto lichter wurde der Wald. Endlich gelangte er zu einer kleinen Wiese, die am Hange des Berges lag. Hinter der Wiese erhob sich eine hohe Klippe, an deren Fuß er eine Öffnung erblickte, die der Anfang eines in den Felsen gehauenen Ganges zu sein schien. Der Gang führte ihn gemächlich eine Zeitlang eben fort, bis zu einer großen Weitung, aus der ihm schon von fern ein helles Licht entgegen glänzte. Wie er hineintrat, ward er einen mächtigen Strahl gewahr, der wie aus einem Springquell bis an die Decke des Gewölbes stieg, und oben in unzählige Funken zerstäubte, die sich unten in einem großen Becken sammelten; der Strahl glänzte wie entzündetes Gold; nicht das mindeste Geräusch war zu hören, eine heilige Stille umgab das herrliche Schauspiel. Er näherte sich dem Becken, das mit unendlichen Farben wogte und zitterte. [...] Er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, und er fühlte sich innigst gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Es dünkte ihn, als umflösse ihn eine Wolke des Abendrots; eine himmlische Empfindung überströmte sein Inneres; mit inniger Wollust strebten unzählbare Gedanken in ihm sich zu vermischen; neue, niegesehene Bilder entstanden, die auch ineinanderflossen und zu sichtbaren Wesen um ihn wurden, und jede Welle des lieblichen Elements schmiegte sich wie ein zarter Busen an ihn. Die Flut schien eine Auflösung reizender Mädchen, die an dem Jünglinge sich augenblicklich verkörperten.
Diese gleichsam in ihrer Zartheit hocherotische Traumszene offenbart wieder etwas vom Wesen der Mädchen. Es ist deutlich, dass dies nicht einfach Phantasien eines Jünglings sind, sondern Wahrbilder. Es geht um eine sehr geistige Sphäre. Er fühlt sich wie in einer Abendrotwolke badend, unzählbare Gedanken wollen sich in ihm vermischen, die zugleich wesenhaft real werden. Im Grunde drängt sich die Geisteswelt selbst zart an ihn, um ihn zu einem geistigen Erwachen zu bewegen. Das Wesen des Mädchens aber ist, wie dies geschieht: voller Anmut, Sanftheit und zartem Liebreiz. Eine unbeschreibliche, ätherische Zartheit wird hier erlebbar – Wesen einer geistigen Welt und Wesen des Mädchens... Und dann findet er noch ein Geheimnis:
Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, [37] schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloß. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht, das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete.
Die blaue Blume offenbart Heinrich das Wesen seiner künftigen Geliebten – Mathilde. Der Vater aber, als Heinrich sich für seinen ungewohnt langen Schlaf entschuldigt, vertritt die profane Nüchternheit unserer Zeit:
Träume sind Schäume, [...] und du tust wohl, wenn du dein Gemüt von dergleichen unnützen und schädlichen Betrachtungen abwendest. Die Zeiten sind nicht mehr, wo zu den Träumen göttliche Gesichte sich gesellten, und wir können und werden es nicht begreifen, wie es jenen auserwählten Männern, von denen die Bibel erzählt, zumute gewesen ist. Damals muß es eine andere Beschaffenheit mit den Träumen gehabt haben, so wie mit den menschlichen Dingen. In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt.
Man kann sagen: Dann hat Novalis eben ein neues Zeitalter eingeläutet...
Im dritten Kapitel wird Heinrich von Kaufleuten eine Geschichte erzählt, in der es um die Begegnung einer Königstochter mit dem jungen Sohn eines auf einem einsamen Landgut lebenden heilkundigen Alten geht. Die Prinzessin, ein zu großer Anmut herangewachsenes Mädchen, hat Ähnlichkeiten mit Mignon:
Seine Tochter war unter Gesängen aufgewachsen, und ihre ganze Seele war ein zartes Lied geworden, ein einfacher Ausdruck der Wehmut und Sehnsucht.
Es ist, wie wenn Novalis sagen wollte: Die schönsten Seelen können sich dieser Welt nicht anpassen, sie müssen mit irdischen Augen betrachtet ,unvollständig’ sein, weil ihre wahre Heimat eine Vollkommenheit ist, die auf Erden erst in ferner Zukunft einmal verwirklicht sein wird.
Es schien, als hätten die Geister des Gesanges ihrem Beschützer kein lieblicheres Zeichen der Dankbarkeit geben können, als seine Tochter, die alles besaß, was die süßeste Einbildungskraft nur in der zarten Gestalt eines Mädchens vereinigen konnte.
Eines Tages kommt die Prinzessin bei einem einsamen Ausritt in den Wald und erreicht zuletzt das kleine Tal, in dem sich das Landgut des Alten verbirgt. Als sie das Haus betritt, um sich einen Trunk Milch zu erbitten, erblickt sie der Sohn des Alten:
Der Sohn war gegenwärtig, und erschrak beinah über diese zauberhafte Erscheinung eines majestätischen weiblichen Wesens, das mit allen Reizen der Jugend und Schönheit geschmückt, und von einer unbeschreiblich anziehenden Durchsichtigkeit der zartesten, unschuldigsten und edelsten Seele beinah vergöttlicht wurde.
Das ist Novalis... Ohne Bedenken und Rücksicht gegenüber irgendwelchen profanen Lesern beschreibt er in radikaler Tiefe das wirkliche Geheimnis des Mädchens. Und hätte die Seele den Mut und den Willen, bei jedem einzelnen dieser Worte zu verweilen, so könnte sie beginnen, zu empfinden, was für ein Mädchen wirklich in diesem Augenblick durch die Tür getreten ist und nun vor dem Jüngling und dem Alten steht...
Magischer Idealismus und das Durchbrechen zu einer höheren Wirklichkeit ist nur mit echtem Mut und tiefer, ernster Aufrichtigkeit möglich.
In Novalis’ ,Lehrlingen zu Sais’ (1798/99) wird angedeutet, wie einst eine verwandelte Naturwissenschaft wieder die Elemente innig verstehen wird: [38]
Wie wenige haben sich noch in die Geheimnisse des Flüssigen vertieft und manchem ist diese Ahndung des höchsten Genusses und Lebens wohl nie in der trunkenen Seele aufgegangen. Im Durste offenbaret sich diese Weltseele, diese gewaltige Sehnsucht nach dem Zerfließen. Die Berauschten fühlen nur zu gut diese überirdische Wonne des Flüssigen, und am Ende sind alle angenehme Empfindungen in uns mannigfache Zerfließungen, Regungen jener Urgewässer in uns. Selbst der Schlaf ist nichts als die Flut jenes unsichtbaren Weltmeers, und das Erwachen das Eintreten der Ebbe. [...] Wie seltsam, daß gerade die heiligsten und reizendsten Erscheinungen der Natur in den Händen so toter Menschen sind, als die Scheidekünstler [= Chemiker, H.N.] zu sein pflegen! sie, die den schöpferischen Sinn der Natur mit Macht erwecken, nur ein Geheimnis der Liebenden, Mysterien der höhern Menschheit sein sollten, werden mit Schamlosigkeit und sinnlos von rohen Geistern hervorgerufen, die nie wissen werden, welche Wunder ihre Gläser umschließen. Nur Dichter sollten mit dem Flüssigen umgehn, und von ihm der glühenden Jugend erzählen dürfen; die Werkstätten wären Tempel und mit neuer Liebe würden die Menschen ihre Flamme und ihre Flüsse verehren und sich ihrer rühmen. [...] Aber es ist umsonst, die Natur lehren und predigen zu wollen. Ein Blindgeborner lernt nicht sehen, und wenn man ihm noch so viel von Farben und Lichtern und fernen Gestalten erzählen wollte. So wird auch keiner die Natur begreifen, der kein Naturorgan, kein innres naturerzeugendes und absonderndes Werkzeug hat, der nicht, wie von selbst, überall die Natur an allem erkennt und unterscheidet und mit angeborner Zeugungslust, in inniger mannigfaltiger Verwandtschaft mit allen Körpern, durch das Medium der Empfindung, sich mit allen Naturwesen vermischt, sich gleichsam in sie hineinfühlt. [...] Ihm dünkt vielmehr, daß man nicht heimlich genug mit der Natur umgehen, nicht zart genug von ihr reden, nicht ungestört und aufmerksam genug sie beschauen kann.
Einst wird die Liebe die eigentliche Erkenntniskraft sein – auch in aller Wissenschaft. Die heiligsten Naturerscheinungen sollten ,ein Geheimnis der Liebenden, Mysterien der höhern Menschheit sein’ – und man könne nicht heimlich, heilig, zart genug mit der Natur umgehen und von ihr reden, singen, künden...
Aber all dies wird erst beginnen können, wenn die Seele eine allererste Ahnung davon gewinnt, dass ihre jetzige Erkenntnisart tot ist und nur Totes erfassen kann. Wenn die Seele wieder beginnt, eine Sehnsucht nach dem Leben zu empfinden, das in ihr und dadurch auch in ihrem Anschauen der Außenwelt erstorben ist; wenn sie beginnt, sich danach zu sehnen, dass die ,Werkstätten’ gleichsam Tempel werden, das Laboratorium ein Altar; wenn sie sich danach sehnt, ein religiöses Empfinden gegenüber allem wieder in sich erwecken zu können – dann wird jenes Zeitalter anbrechen, dessen Vorverkünder Novalis wurde.
Wetzel schreibt in seiner umfassenden Arbeit: [39]
Damit wird auch die Funktion der Kindsbraut-Figuren wie Sophie, Rosenblüthchen, Mathilde [...] im Werk von Novalis deutlicher, die als Objekte einer Begierde so blaß bleiben, weil sie Spiegel sind für die Mädchen-Werdung des Dichters selbst.
Das ist eine zentrale Erkenntnis – und gleichwohl nur eine halbe. Zudem ist sie bei Wetzel rein intellektualistisch hervorgebracht, erfasst also überhaupt keine Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit würde nur erfasst werden, wenn man sie mit Novalis nachvollzieht.
Das entscheidende Moment ist, dass die Seele sich nur in dasjenige verwandeln möchte, was sie unendlich liebt. Das, was Novalis, von Wetzel nur in seiner äußersten Schicht erkannt, anstrebt, entspringt also einer äußersten Liebe. Dies erklärt die von Wetzel wahrgenommene ,Blässe’. Nicht um mangelnde Tiefe handelt es sich, sondern um die Tatsache, dass Novalis bereits nach Mädchenart liebt – und die Liebe seiner Protagonisten in zartester Poesie malt.
Die Lesegewohnheiten der heutigen Zeit können dies überhaupt nicht mehr in ihrem wahren Gehalt erfassen. Novalis ist ein Dichter innerlicher Zärtlichkeit – und dies ist es, was dann in unserer heutigen ,handfesten’ Zeit ,blass’ wirkt. In Wirklichkeit hat es eine Empfindungstiefe und einen Reichtum, der von der heutigen oberflächlichen und abgestumpften Seele gar nicht mehr nachempfunden werden kann. Es ist aber die Zärtlichkeit und Sanftheit, die Poesie, die die Seele des Mädchens ausmacht.
Ich wandle ein Wort von Diderot so ab, dass ich für ,Frauen’ ,Mädchen’ setze: [40]
Wenn man von den Mädchen schreibt, muß man seine Feder in den Regenbogen tauchen und den Staub von Schmetterlingsflügeln über seine Linien streuen [...].
Novalis hat seine eigene Seele so zart, so regsam, so bildsam, so lebendig gemacht, dass sie der Mädchenseele innig verwandt wurde. Aber er konnte dies nur tun – und alles drängte ihn dahin –, weil er mit unendlichem Maß selbst ein Mädchen liebte: Sophie von Kühn. Sie wurde im Tod seine Muse, sein Genius, mit ihr vereinte sich sein Geist, seine Seele innig – und mit ihr schrieb er dann...
In den ,Lehrlingen zu Sais’ enthalten ist die Geschichte von Hyazinth und Rosenblüthchen – deren Beginn so leicht und poetisch ist wie eine in den Regenbogen getauchte Feder, als Novalis die aufkeimende Liebe dieser beiden märchenhaft schönen Menschenkinder schildert – an der die ganze umgebende Natur Anteil nimmt: [41]
Vor langen Zeiten lebte weit gegen Abend ein blutjunger Mensch. Er war sehr gut, aber auch über die Maßen wunderlich. Er grämte sich unaufhörlich um nichts und wieder nichts, ging immer still für sich hin, setzte sich einsam, wenn die andern spielten und fröhlich waren, und hing seltsamen Dingen nach. Höhlen und Wälder waren sein liebster Aufenthalt, und dann sprach er immerfort mit Tieren und Vögeln, mit Bäumen und Felsen [...]. Er blieb aber immer mürrisch und ernsthaft, ungeachtet sich das Eichhörnchen, die Meerkatze, der Papagei und der Gimpel alle Mühe gaben ihn zu zerstreuen, und ihn auf den richtigen Weg zu weisen. Die Gans erzählte Märchen, der Bach klimperte eine Ballade dazwischen, ein großer dicker Stein machte lächerliche Bockssprünge, die Rose schlich sich freundlich hinter ihm herum, kroch durch seine Locken, und der Efeu streichelte ihm die sorgenvolle Stirn. Allein der Mißmut und Ernst waren hartnäckig. Seine Eltern waren sehr betrübt, sie wußten nicht was sie anfangen sollten. Er war gesund und aß, nie hatten sie ihn beleidigt, er war auch bis vor wenig Jahren fröhlich und lustig gewesen, wie keiner; bei allen Spielen voran, von allen Mädchen gern gesehn. Er war recht bildschön, sah aus wie gemalt, tanzte wie ein Schatz. Unter den Mädchen war Eine, ein köstliches, bildschönes Kind, sah aus wie Wachs, Haare wie goldne Seide, kirschrote Lippen, wie ein Püppchen gewachsen, brandrabenschwarze Augen. Wer sie sah, hätte mögen vergehn, so lieblich war sie. Damals war Rosenblüte, so hieß sie, dem bildschönen Hyazinth, so hieß er, von Herzen gut, und er hatte sie lieb zum Sterben. Die andern Kinder wußtens nicht. Ein Veilchen hatte es ihnen zuerst gesagt, die Hauskätzchen hatten es wohl gemerkt, die Häuser ihrer Eltern lagen nahe beisammen. Wenn nun Hyazinth die Nacht an seinem Fenster stand und Rosenblüte an ihrem, und die Kätzchen auf den Mäusefang da vorbeiliefen, da sahen sie die beiden stehn, und lachten und kicherten oft so laut, daß sie es hörten und böse wurden. Das Veilchen hatte es der Erdbeere im Vertrauen gesagt, die sagte es ihrer Freundin der Stachelbeere, die ließ nun das Sticheln nicht, wenn Hyazinth gegangen kam; so erfuhrs denn bald der ganze Garten und der Wald, und wenn Hyazinth ausging, so riefs von allen Seiten: ›Rosenblütchen ist mein Schätzchen!‹ Nun ärgerte sich Hyazinth, und mußte doch auch wieder aus Herzensgrunde lachen, wenn das Eidechschen geschlüpft kam, sich auf einen warmen Stein setzte, mit dem Schwänzchen wedelte und sang.
Rosenblütchen, das gute Kind,
Ist geworden auf einmal blind,
Denkt, die Mutter sei Hyazinth,
Fällt ihm um den Hals geschwind;
Merkt sie aber das fremde Gesicht,
Denkt nur an, da erschrickt sie nicht,
Fährt, als merkte sie kein Wort,
Immer nur mit Küssen fort.
Es ist, wie wenn die Elfen und Nymphen selbst leise ihr glockenhelles Lachen erklingen ließen...
Wetzel versteht gar nichts von Novalis, wenn er, wie so viele seiner modernen Kollegen, Novalis’ Liebe zu dem Mädchen Sophie als ,narzisstische Projektionsfläche’ deutet. [42] Ist er doch der Wahrheit bereits viel näher, als er eine Seite später auf jene ätherisch-erotische Szene vom Beginn des ,Heinrich von Ofterdingen’ verweist, die wir bereits zitierten (Siehe Seite 14f), und schreibt, es gehe schon hier ,darum, ein perfektes Menschheitsideal in der androgynen Doppelung von Männlichem und Mädchenhaftem zu erreichen.’ [43]
Für den abstrakten Interpreten muss dies natürlich abstrakt und illusorisch erscheinen. Dabei geht es Novalis überhaupt nicht um etwas ,Perfektes’ – sondern gerade um das Gegenteil: Er möchte die Seele innerlich in Bewegung bringen, möchte sie empfindsam für diese zarte Sphäre des Idealischen machen. Magischer Idealismus bedeutet Aufkeimen eines innerlichen Lebens. Das ist etwas völlig anderes als ,Erreichen eines perfekten Menschheitsideals’. Novalis kann erst dann verstanden werden, wenn man derartig hochtrabende und arrogante Kommentare ganz schweigen lassen könnte. Aber wird ein Literaturwissenschaftler je dazu fähig sein? Wird er je eine Sehnsucht danach haben, seine toten Kommentare selbst ... zu Grabe zu tragen?
In den ,Lehrlingen zu Sais’ geht es um die höchste Erkenntnis. Die Göttin Isis steht sinnbildlich und real für jene göttlichen Mächte, die diese Erkenntnis hüten.
Über dem Eingang ihres Tempels zu Sais soll sich eine Inschrift befunden haben: ,Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.’ [44] In Schillers Ballade ,Das verschleierte Bild zu Sais’ (1795) heißt es, an einen Jüngling gerichtet, den das Begehren nach Enthüllung des Geheimnisses nicht loslässt: ,Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund, / Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.’ [45] Der Jüngling wagt es trotzdem – und am nächsten Morgen finden ihn die Priester besinnungslos und bleich. All seine Heiterkeit ist dahin und: ,Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.’
Novalis setzt dem in seinen ,Lehrlingen zu Sais’ etwas anderes entgegen. Der Erzähler dort ist von einer tief aufrichtigen, von heiliger Liebe bewegten Erkenntnissehnsucht bewegt. Er hatte einen wunderbaren, heilig-geheimnisvollen Lehrer, von dem in gleichsam überirdischen Worten gesprochen wird, und hier wird dann in Gestalt eines Kindes auch das tiefe Christus-Geheimnis berührt: [46]
Was nun seitdem aus ihm geworden ist, tut er nicht kund. [...] Einige sind von ihm ausgesendet worden, wir wissen nicht wohin; er suchte sie aus. Von ihnen waren einige nur kurze Zeit erst da, die andern länger. Eins war ein Kind noch, es war kaum da, so wollte er ihm den Unterricht übergeben. Es hatte große dunkle Augen mit himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut, und seine Locken wie lichte Wölkchen, wenn der Abend kommt. Die Stimme drang uns allen durch das Herz, wir hätten gern ihm unsere Blumen, Steine, Federn alles gern geschenkt. Es lächelte unendlich ernst, und uns ward seltsam wohl mit ihm zumute. „Einst wird es wiederkommen“, sagte der Lehrer, „und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf.“
Man mag hier an die Wiederkunft Christi denken, die als ein vor allem mit der geläuterten Seele zu erlebendes Mysterium im Ätherischen erfahren werden wird, wie Rudolf Steiner es so tief beschrieben hat, [47] aber auch an Schillers Gedicht ,Das Mädchen aus der Fremde’ (1796) und seine tief beseligende Mädchengestalt.[48]
Und der Erzähler fährt in Bezug auf bestimmte Bilder dann fort: ,Es ist, als sollten sie den Weg mir zeigen, wo in tiefem Schlaf die Jungfrau steht, nach der mein Geist sich sehnt.’ Und dann heißt es, dass jener so geliebte Lehrer jeden ermutigt habe, seinen eigenen Weg der Suche zu gehen:
Vielmehr will er, daß wir den eignen Weg verfolgen, weil jeder neue Weg durch neue Länder geht, und jeder endlich zu diesen Wohnungen, zu dieser heiligen Heimat wieder führet. Auch ich will also meine Figur beschreiben, und wenn kein Sterblicher, nach jener Inschrift dort, den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu werden suchen; wer ihn nicht heben will, ist kein echter Lehrling zu Sais.
Dies ist also Novalis’ Antwort an den Mythos der verschleierten Isis zu Sais! Durch tiefe innere Läuterung Unsterbliche werden, um würdig zu werden, den Schleier heben zu dürfen... Und wer nicht die tiefe, unendliche Sehnsucht danach empfindet, nicht ein Begehren, sondern eine existenzielle Sehnsucht ... der ,ist kein echter Lehrling zu Sais’.
Und dann folgt später die Erzählung von Hyazinth und Rosenblüthchen. Nachdem die beiden sich so zart verliebt hatten, kam ein wunderlicher Mann, dessen Erzählungen Hyazinth ganz versunken zuhörte und der mit ihm auch ,in tiefe Schachten hintergekrochen’ ist. Als der Alte wieder verschwindet, lässt er Hyazinth ein Buch da, das ,kein Mensch lesen konnte’, Hyazinth wird ganz tiefsinnig und macht sich kaum noch etwas aus Rosenblütchen, obwohl sie sich ,recht zum Erbarmen’ immer wieder um ihn bemüht. Doch es zieht ihn fort ,in fremde Lande’. Er bittet noch seine Eltern um ihren Segen und sagt:
,[...] Vielleicht komme ich bald, vielleicht nie wieder. Grüßt Rosenblütchen. Ich hätte sie gern gesprochen, ich weiß nicht, wie mir ist, es drängt mich fort; wenn ich an die alten Zeiten zurückdenken will, so kommen gleich mächtigere Gedanken dazwischen, die Ruhe ist fort, Herz und Liebe mit, ich muß sie suchen gehn. Ich wollt euch gern sagen, wohin, ich weiß selbst nicht, dahin wo die Mutter der Dinge wohnt, die verschleierte Jungfrau. Nach der ist mein Gemüt entzündet. Lebt wohl.’ Er riß sich los und ging fort. Seine Eltern wehklagten und vergossen Tränen, Rosenblütchen blieb in ihrer Kammer und weinte bitterlich.
Das blühende, liebende Mädchen reicht also nicht mehr – Hyazinth sucht nach der allertiefsten Erkenntnis, der ,Mutter der Dinge’, der ,verschleierten Jungfrau’. Diese hat seine Seele ganz erobert, er kann an nichts anderes mehr denken...
Überall fragt er nun nach der heiligen Göttin (Isis). Er durchquert rauhes Land, unabsehbare Sandwüsten, glühenden Staub... Und die Reise verändert ihn:
[...] und wie er wandelte, so veränderte sich auch sein Gemüt, die Zeit wurde ihm lang und die innre Unruhe legte sich, er wurde sanfter und das gewaltige Treiben in ihm allgemach zu einem leisen, aber starken Zuge, in den sein ganzes Gemüt sich auflöste. Es lag wie viele Jahre hinter ihm. Nun wurde die Gegend auch wieder reicher und mannigfaltiger, die Luft lau und blau, der Weg ebener, grüne Büsche lockten ihn mit anmutigem Schatten, aber er verstand ihre Sprache nicht, sie schienen auch nicht zu sprechen, und doch erfüllten sie auch sein Herz mit grünen Farben und kühlem, stillem Wesen. Immer höher wuchs jene süße Sehnsucht in ihm [...].
Eines Tages begegnet er einer Quelle und einer Menge Blumen, die gerade aus einer Gegend kamen, in der man von dem geheiligten Wohnsitz der Göttin sprach, und die ihm lächelnd Auskunft geben. Schließlich findet er diesen in unendlicher Sehnsucht und süßester Bangigkeit des Herzens und entschlummert:
[...] weil ihn nur der Traum in das Allerheiligste führen durfte. Wunderlich führte ihn der Traum durch unendliche Gemächer [...]. Es dünkte ihm alles so bekannt und doch in niegesehener Herrlichkeit, da schwand auch der letzte irdische Anflug, wie in Luft verzehrt, und er stand vor der himmlischen Jungfrau, da hob er den leichten, glänzenden Schleier, und Rosenblütchen sank in seine Arme.
Hyazinth hat also auf der Suche nach der heiligen Göttin und der höchsten Erkenntnis die ganze Welt durchwandert, in unendlichen Strapazen und unendlicher Erkenntnissehnsucht ... bis er sie gefunden hat. Er hebt ihren Schleier, den Schleier der Isis, der himmlischen Jungfrau ... und er findet das geliebte Mädchen.
Wetzel und alle anderen haben vollkommen Unrecht, wenn sie meinen, hier gehe es nur um Selbstprojektion[49] und (womöglich noch: bloß egoistisches) eigenes Mädchen-Werden. Sondern der heilige ,Weg nach innen’, der bei Novalis so zentral ist, ist untrennbar mit dem Weg zu ihr verbunden: dem Mädchen. Das Mädchen ist das große, heilige Du des Mannes.
Das Mädchen ist die letzte, die höchste Erkenntnis, die Göttin, die Jungfrau, das eigentliche Geheimnis der Welt. Der Erzähler begegnet am Ende nicht sich selbst, sondern der ganz und gar anderen: Rosenblütchen. Und doch ist er nun würdig, sie wahrhaft zu finden, weil er ihr ähnlich geworden ist. Ruhiger, sanfter, tiefer, hingegeben. Wie durch eine unendliche Umstülpung wird aus dem grenzenlos Suchenden auf der anderen Seite der Unendlichkeit und aus dieser zurückkehrend der grenzenlos Liebende. Und genau dies war das Mädchen von Anfang an... In der Liebe aber liegt alles, die ganze, die bis ins Kosmische reichende Erkenntnis. Rosenblütchen ist ... Isis und die heilige Jungfrau.
Der Mann ist von allem getrennt – das Mädchen nicht. Die Erkenntnissehnsucht des Mannes, der Entdeckertrieb, das Eroberungsbewusstsein, wie man es auch nennen mag – sie leben im Mann wegen dieser Trennung. Das Mädchen ist nicht getrennt. Es ist nicht etwa naiver, einfältiger, mit weniger zufrieden, ein ,bescheidenes Gemüt’ ... sondern es braucht dieses Prometheische des Mannes einfach nicht, weil es alle Wahrheit noch in seinem Herzen trägt – alles, was dem Mann längst entglitten ist. Der Mann sucht und sucht, aber am Ende erkennt er, dass seine ganze Suche ... dem Mädchen galt. Dem Mädchen und dessen leuchtendem Unschuldswesen, das noch alle Kostbarkeiten lebendig in seiner Seele umfasst, gleichsam von Isis selbst zur Priesterin ihrer Heiligtümer erhoben...
*
Noch vor Novalis, vor Rousseau, nur wenige Jahre nach Richardsons ,Clarissa’ schreibt Christoph Martin Wieland (1733-1813) sein Frühwerk ,Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen’ (1755), wo der Erzähler in ein Reich gleichsam sündloser Menschenwesen kommt und klagt:[118f] [50]
Wie verfinstert ist der Verstand, dessen Auge unverwandt auf das Urbild aller Vollkommenheit und Wahrheit gerichtet sein sollte! Welch ein Labyrinth von wilden Begierden ist das Herz, welches bestimmt war, ein heiliger Tempel des göttlichen Geistes zu sein, in welchem die reinste Liebe zu Gott ewig brennen sollte! Wie eitel und unbändig sind diese Triebe, die uns wie auf Flügeln der Engel schneller zu Gott empor tragen sollten! Von der Wahrheit, dem Licht, worin Gott wohnt und welches von ihm über alle Geister ausfließet, sind uns nur zweifelhafte Strahlen übrig geblieben, die über den Verstand hinstreifen und der Seele keine Wärme geben. Die Wahrheit, wenn sie nicht in einem verdunkelten Verstand gebrochen und zerstreuet wird, senkt sich mit vollem geradem Strahl ins Herz, befruchtet seine Neigungen und macht sie in ein Paradies von Tugenden aufblühen. [...] Ach! der Verfall ist so tief, dass es auch denen, die nicht darüber spotten, unglaublich und romanhaft tönt, wenn wir hören, dass der Mensch den Engeln gleich sein sollte.
Doch der Genius, der ihm immer wieder erscheint, belehrt ihn über den Sinn dieses tiefen Falles:[121]
Aber hüte dich [...], dass dich die Betrachtung des menschlichen Elends nicht bis in finstre Gedanken und in Zweifel treibe, die auf die Vorsehung selbst ihren Schatten werfen. Traure aus zärtlichem Mitleiden, dass die Menschen nicht sind, was sie sein sollten; aber glaube auch, dass die gefallene Welt so viel Gutes hat, als nötig ist, in der grenzenlosen Sphäre der Allgegenwart Gottes geduldet zu werden. Ja noch mehr, die gefallene Welt, der Schauplatz der Sünde und des Todes, ist durch göttliche Künste genötiget, noch mehr als jene unschuldigen, jene himmlischen Welten, die in ursprünglicher Schönheit glänzen, ihren Schöpfer zu verherrlichen.
Und dann offenbart der Genius ihm den Sinn des Erdenlebens:[124f]
Eine kleine Überlegung wird dir zeigen, dass es Tugenden unter euch gibt, die nur in einer gefallnen Welt möglich sind. Was ist schöner als die Geduld einer gefühlvollen Seele, die sich willig ihren Leiden unterzieht, weil sie glaubt, dass sie ihr von der Hand des Herrn auferlegt sind? Was ist herrlicher als der Kampf des Tugendhaften mit seinen Leidenschaften? Je mehr Hindernisse die Tugend zu besiegen hat, desto heller und größer bricht sie hervor; der Widerstand nötigt sie, alle ihre Kräfte zusammen zu fassen. Der Sieg ist desto edler, je mehr er kostet, und die Tugend desto größer, je schwieriger sie ist. [...] Seelen, die vom Beispiel der Welt unverderbt auf dem Weg der Redlichkeit fortgehen, die in innerlicher Stille über sich selbst wachen, die einen Bund mit ihren Augen machen und ihren Sinnen einen Zügel anlegen, die über ihre kleinsten Fehler zittern und jeden neuen Schritt auf der Bahn der Vollkommenheit für einen Gewinn ansehen; Seelen, welche der Anblick des Todes, mit allen seinen Schrecknissen bewaffnet, nicht bewegen kann, die Wahrheit zu verleugnen. Solche Seelen zu sehen, ist für himmlische Geister entzückend; wir spähen sie sorgfältig aus; die Niedrigkeit, die sie verhüllet, kann sie vor unsern Blicken nicht verbergen; die Welt siehet nur ihre äußere Gestalt, wir bewundern ihre inwendige Schönheit, die für den Himmel reifet.
Ihre inwendige Schönheit, die für den Himmel reift... Der Sinn der Erde ist, eine inwendige Schönheit der Seele reifen zu lassen, die selbst der Himmel nicht kennt. Zuvor hatte der Erzähler den Wunsch gehabt, alle guten Seelen in das Paradies zu bringen, in dem er sich gerade befindet. Aber der Genius belehrt ihn auch da über das Selbstbezogene eines solchen Wunsches:[110]
Lass die Vorsicht [= Vorsehung, H.N.], sprach er, für die Tugendhaften sorgen, die du gern in diese Welt der Unschuld retten möchtest. [...] Und siehest du nicht, wie grausam dein Wunsch ist, alle Tugendhaften, die unter dem Monde zerstreut sind, an Einen Ort zu bringen? Was wäre das anders, als vor der Zeit die Guten in einen Himmel versetzen, und aus der übrigen Erde eine Hölle machen? Denn eben diese engelähnlichen Seelen, die wie süßduftende Blumen mitten unter Unkraut und Dornen hervorblühen, verhindern ganz allein, dass die Erde keine gänzliche Wildnis werde.
Und das, diese tiefe Weisheit, ist mehr als alles andere für die Mädchen wahr. Engelähnliche Seelen, die mitten unter den Dornen hervorblühen und ganz allein verhindern, dass die Erde nicht gänzlich Wildnis werde... In den reinen Seelen der Mädchen leuchtet immer wieder hervor, was die Erde werden könnte. Ein Sonnenstern der Liebe, der Brüderlichkeit,[51] der tiefsten inwendigen Schönheit...
Und ein Mädchen kann auch wunderschön sein – und auch hier beschreibt Wieland in ,Sympathien’ (1756) das tiefe Geheimnis: [52]
Die Tugend, die in Schönheit gehüllt, mitten unter die Menschen tritt, mit ihnen Umgang pflegt und vor ihren Augen handelt, gefällt mehr, rührt zärtlicher, drückt tiefere Spuren in die Herzen, als in den Regeln der Weisen, ja in den reitzendsten Dichtungen eines Richardson. Die Sittsamkeit scheint einnehmender, wenn sie auf schönen Wangen erröthet; die Empfindungen [...] tönen lieblicher von schönen Lippen; und wie entzückt uns ein schönes Auge, das sich voll [...] unverstellter Andacht gen Himmel hebt [...]! [...] Wie viele Thoren könntest du beschämen, welche nicht glauben wollen, daß eine Tugend [...] in einem zärtlichen Busen zugleich mit der Jugend wohnen könne! Wie viele könntest du zwingen, die Tugend wider ihren Willen zu ehren; wie viele, die sich sonst vor ihr fürchteten, würden, von deinen Reitzungen angezogen, sie in der Nähe sehen und liebenswürdig finden! [...] Man würde glauben, es sey ein Engel unter den Menschen erschienen, sie durch Thaten zu lehren, ob vielleicht Schönheit und Weisheit, wenn sie zusammen verwebt wären, diese Unachtsamen rühren möchten, welche zu sinnlich sind, die Tugend in ihrer eigenen Gestalt zu lieben.
*
Wir wenden uns nun verschiedenen literarischen Zeugnissen zu, die immer wieder von der Liebe zum Mädchen – oder auch vom Begehren nach dem Mädchen – sprechen.
Fußnoten
[1] Siehe das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. www.dwds.de.
[2] Wiktionary: mignon.
[3] Wikisource: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt. Auch für das folgende Zitat.
[4]● Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.
[5] All dies sind nicht Schillers Worte, sondern mein Versuch, die Essenz – des Unterschieds zwischen dem bloß Ästhetischen und dem Moralischen – erlebbar zu machen.
[6] Siehe Wikipedia: Wilhelm Meisters Lehrjahre.
[7] Brief vom 2.7.1796. www.friedrich-schiller-archiv.de.
[8] Dass er immerhin das Kapitel um Mignons Tod noch umgearbeitet hat, darauf weist Schillers Brief vom 19.10.1796, wo dieser dann findet: ,In der unmittelbaren Scene nach Mignons Tod fehlt nun auch nichts mehr, was das Herz in diesem Augenblick fordern kann; nur hätte ich gewünscht, daß der Uebergang zu einem neuen Interesse mit einem neuen Capitel möchte bezeichnet worden sein.’ Ebd.
[9] Brief vom 8.7.1796. Ebd.
[10] Und Michael Wetzel kommentiert in seiner umfassenden Studie: ,Was Mignon anbelangt, so ist der „literarische Versuch, Eigenwert und Spezifik der Kindheit mit Sozialisation zu vereinbaren“, gescheitert; sie, die als kryptische Figur eingeführt wird, endet zwangsläufig in einer Krypta, dem „Saal der Vergangenheit“, der als eine Art Museum ihre wertherische Krankheit zum Tode mumifiziert ausstellt.’ Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit. München 1999, S. 166. • Die Gestalt der Mignon geht jedoch weit über Wilhelm hinaus. Um so erschütternder ist es, dass der Roman, der sie zum Leben erweckte, dann trotz besonderem Begräbnis derart über sie hinweggeht. Es ist, wie wenn die Zeit Mignons noch nicht reif ist, wie wenn die Herzen sie noch gar nicht wahrhaft begreifen können...
[11]● Johann Gottfried Herder: Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Hr. Hemsterhuis über das Verlangen, in: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Gotha, 1785, S. 309-346. Wikisource. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern. • Zuerst in ,Teutscher Merkur’ 1781, 4. Vierteljahr, S. 211-235.
[12] Vergleiche Schillers berühmten Ausruf in seinem Distichon ,Sprache’: ,Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! / Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.’ Musenalmanach für das Jahr 1797. Tübingen 1797, Tabula votivae, S. 152-182, hier 177. Wikisource.
[13] In anderer, viel irdisch-sinnlicherer Weise entspricht dem eindrücklich die weibliche Fähigkeit zu mehreren Orgasmen. Während der Mann im ,Höhepunkt’ unmittelbar von einem Gipfel herabfällt, kann die Frau lange auf den Gipfeln (Mehrzahl!) der Lust und der sinnlichen Erfüllung bleiben. • Dies hängt aber eben durchaus auch damit zusammen, dass in der Frau Leib und Seele innig verbunden sind. Die Frau gibt sich auch seelisch tief hin – und die seelische Hingabe trägt auch die körperliche (und umgekehrt).
[14] Aphorismen und Aufzeichnungen. Maximen und Reflexionen. Aus „Wilhelm Meisters Wanderjahren“. Betrachtungen im Sinne der Wanderer. 1829. Zeno.org.
[15] Matthäus 8,20.
[16] Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Erster Theil. Dresden 1764. Viertes Kapitel, Zweites Stück: Von dem Wesentlichen der Kunst. Abschnitt ,Die idealische Schönheit’, S. 156. Schreibung modernisiert nach Projekt Gutenberg, dort Ausgabe 1964.
[17] Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit. München 1999, S. 245.
[18] Ebd., S. 247.
[19],Wir [F. v. Müller und Riemer] tafelten lange bei Goethe. [...] Seine Unzufriedenheit über der Frau von Staël Urtheile über seine Werke brach lebhaft hervor. Sie habe Mignon bloß als Episode beurtheilt, da doch das ganze Werk dieses Charakters wegen geschrieben sei. Meister müsse nothwendig so gährend, schwankend und biegsam erscheinen, damit die andern Charaktere sich an und um ihn entfalten könnten [...].’ Woldemar Freiherr von Biedermann (Hg.): Goethes Gespräche, Band 8: 1831-1832 und Nachträge. Leipzig 1890, S. 129. ,Bei Goethe in Berka’, 29. Mai 1814. Zeno.org.
[20] Weimarer Ausgabe: WA I 21, S. 332; Hamburger Ausgabe: HA VII, S. 612.
[21] Hellmut Ammerlahn: Imagination und Wahrheit. Goethes Künstler-Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. Struktur, Symbolik, Poetologie. Würzburg 2013, S. 97.
[22] Wilhelm Meisters Lehrjahre, Drittes Buch, Erstes Kapitel. Projekt Gutenberg.
[23] Venezianische Epigramme (1790), Epigramm 33. Zeno.org. • Die Aussage ist: Das Mädchen (,sie’ als Singular) erregt auf irgendeine Weise – zum Beispiel allein schon durch sein Dasein – den Mann, aber die Frauen haben den Vorteil, denn mit ihnen werden die Männer dann schlafen... Oder auch: Die Mädchen (Plural) werden am Abend durch die Existenz der Männer erregt, aber die Frauen dürfen sie genießen.
[24] Ebd., Epigramm 26. • Die Epigramme sind vielfach unverhohlen erotisch. In diesem geht es ganz offensichtlich um junge Dirnen: ,Einen zierlichen Käfig erblickt ich: hinter dem Gitter / Regten sich emsig und rasch Mädchen des süßen Gesangs. / Mädchen wissen sonst nur uns zu ermüden – Venedig, / Heil dir, daß du sie auch, uns zu erquicken, ernährst.’ • Süß sich regende und singende, verführerische und offenbar ,verfügbare’ Mädchen ,erquicken’ also, während andere langweilen!
[25] Dichtung und Wahrheit. Dritter und vierter Teil, Kapitel 5. Projekt Gutenberg.
[26] Dichtung und Wahrheit. Dritter und vierter Teil. Fünfzehntes Buch. Projekt Gutenberg. Vergleiche Wetzel, Mignon, a.a.O., S. 339. • Zimmermann war nicht zufällig auch einer der selbsternannten Kämpfer gegen die ,Onanie’, 1778 veröffentlicht er einen Aufsatz ,Warnung an Eltern, Erzieher und Kinderfreunde wegen der Selbstbefleckung, zumal bei ganz jungen Mädchen’.
[27] Fast ,kritisiert’ er sogar ihr nicht einmal ,angenehmes’ Gesicht, obwohl er als Naturforscher doch fordert, man solle ,als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt.’ Als solcher hätte er aber auch sehen müssen, was das Mädchen leidet – zumal ,göttliche Wesen’ keineswegs gleichgültig sind, im Gegenteil! Die mangelnde ,Teilnahme’ in dem regelmäßigen Gesicht hätte ihm offenbaren müssen, wie tief die innere Qual des Mädchens ist und wie sehr es Teilnahme braucht. Die Teilnahme von Goethes Mutter hat das Mädchen dann unmittelbar aufleben und in Verzweiflung ausbrechen lassen! Goethe dagegen erscheint noch im Rückblick ... völlig empfindungslos!
[28] Denn auch das Mädchen ist nicht ,dionysisch’, obwohl es keinesfalls ,apollinisch’ ist. Aber die Seele des Mädchens ist voller Leben und tiefer Empfindsamkeit, die sogar sprühen und leuchten kann – und doch ist es sanft, liebevoll und von tiefer Anmut. Gerade diese Anmut, die Unschuld des Mädchens, ist seine Synthese des Apollinischen und Dionysischen. Sie ist ein Wunder, eine einzigartige Vereinigung von Gegensätzen.
[29] Friedrich Schlegel & Ludwig Tieck (Hg.): Novalis Schriften. Zweiter Theil. Berlin 1802, hier Fragmente, S. 371. • Vergleiche Wetzel, a.a.O., S. 353.
[30] Ebd., S. 70. • Dem stehen auch Aussagen gegenüber, die Goethe hoch würdigen, etwa, Goethe sei ,jetzt der wahre Statthalter des poetischen Geistes auf Erden’ und: ,Auch dürfte man im gewissen Sinn mit Recht behaupten, daß Goethe der erste Physiker seiner Zeit sei – und in der Tat Epoche in der Geschichte der Physik mache. [...] An Umfang, Mannigfaltigkeit und Tiefsinn wird er hier und da übertroffen; aber an Bildungskunst, wer dürfte sich ihm gleichstellen? Bei ihm ist alles Tat – wie bei andern alles Tendenz nur ist.’ Novalis, Kunstfragmente, Betrachtung über Goethe. Projekt Gutenberg.
[31] Novalis, Kunstfragmente, Betrachtung über Goethe. Projekt Gutenberg.
[32] Novalis, Kunstfragmente, Der Roman, Wilhelm Meister. Projekt Gutenberg.
[33] Novalis, Magische Fragmente, Das Märchen. Projekt Gutenberg.
[34] Ebd.
[35] Wikipedia: Heinrich von Ofterdingen.
[36]● Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.
[37] Auch hier betont Novalis, dass es nicht um ein rauschhaft-dionysisches Element und Erleben geht, sondern um ein höheres Bewusstsein, das gleichwohl nicht bloß apollinisch erreichbar ist.
[38]● Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. Projekt Gutenberg. Auch für die folgenden Zitate.
[39] Michael Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit. München 1999, S. 363f.
[40],Quand on écrit des femmes, il faut tremper sa plume dans l’arc-en-ciel, et jeter sur sa ligne la poussière des ailes du papillon.’ Jacques André Naigeon (Hg.): Œuvres de Denis Diderot, Band 12. Paris 1898, S. 464. • Das ,jeter sur sa ligne’ nimmt Bezug darauf, dass noch nach Erfindung des Löschpapiers lange Zeit Sand zum Trocknen der Tinte über das Papier gestreut wurde. Wikipedia: Schreibsand & Löschpapier.
[41] Projekt Gutenberg, a.a.O., Kapitel 3.
[42],[...] Verwandlung des realen Mädchens in eine narzißtische „Projektionsfläche“, genauer als totes Mädchen in eine übertragbare und introjizierbare „Metapher“ [...].’ Wetzel, Mignon, a.a.O., S. 364.
[43] Ebd., S. 365.
[44] Wikipedia: Das verschleierte Bild zu Sais.
[45] Wikisource: Das verschleierte Bild zu Sais.
[46] Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. Projekt Gutenberg.
[47] Siehe seine Vorträge des Jahres 1910 in GA 118 (,Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt’).
[48],Beseligend war ihre Nähe, / Und alle Herzen wurden weit; / Doch eine Würde, eine Höhe / Entfernte die Vertraulichkeit.’
[49] Jedoch geht es bei der Göttin zu Sais auch um höchste, existenzielle Selbsterkenntnis, die stets auch ein tiefes Geheimnis der Mysterien war. So schreibt Novalis im Mai 1798 in den Paralipomena zu ,Die Lehrlinge zu Sais’: ,Einem gelang es – er hob den Schleyer der Göttin zu Sais – Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – Sich Selbst.’ Schriften, Band 1: Das dichterische Werk. Stuttgart 1960, S. 110f, hier 110.
[50]● C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Vierter Band. Leipzig 1798, S. 91-126. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[51] Brüderlichkeit im Sinne urchristlichlicher Substanz, reiner Liebe. Heute muss man im Grunde sagen: Schwesterlichkeit.
[52] C. M. Wielands sämmtliche Werke. Supplemente. Dritter Band. Leipzig 1798, S. 125-192, hier 126f. • Text auch auf Projekt Gutenberg.