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Die Mädchen (1896)
Wenden wir uns der zweiten Skizze zu:[1]
Ich kenne viele hübsche Mädchen hier, in dem kleinen Landstädtchen, Rosa, Maria, Gretl, Bettina, Therese – –.
,,Liebe Geschöpfe,“ denke ich, ,,ich wünsche Euch ein glückliches Leben, keine Stürme, Frieden!“
[...]
Anna ist fünfzehn Jahre alt, arm, blass, mager.
Seit fünf Tagen zahle ich ihr die ,,amerikanische Hutsche“ [eine große Schiffsschaukel, H.N.], das ,,Paradies der Kinder“, auf dem grossen Wiesenplatze.
Sie bittet nie, nimmt stumm an.
Aus den Lüften sagt sie hie und da mit den Augen: ,,Danke – – –.“
[...]
,,Ich möchte sogar zehn Gulden verhutschen –“ sagt Anna einmal, vor Vergnügen zitternd, zu den Mädchen. Diese tratschen es mir.
„Bitte sehr – –“ sage ich.
„O, es kostet Sie so schon so viel, zwei Gulden vierzig Kreuzer.“
„Wieso wissen Sie es?!“
,,Ich schreibe es mir auf ; vierundzwanzigmal zehn Kreuzer.“
„Wozu?!“
„So – –“ sagte sie und wurde rosig.
Heute sagte ich zu ihr: „Anna, hutschen wir miteinander – – –.“
„Sie werden es nicht aushalten – –“ sagte sie wie zu einem Dilettanten.
Es war wirklich wie auf dem Meere. Das Riesen-Orchestrion sang dazu und brüllte Sturm! Anna sass vis-à-vis. Wir waren allein in den Lüften. Das Orchestrion brüllte. Wir stiegen hinauf, hinunter. Wie eine gestockte Welle im Luftoceane war die Schaukel. Beim Herunter blickte ich in ihre Augen. Dann sah ich ihre Kniee, den Saum ihrer weissen Höschen – – –.
Ich sagte: „Anna, ist es Ihnen zu hoch?!“
„Nein – – –.“
Ich zog an dem Stricke in der Schaukel, hing mich an, zog, hinauf, höher, höher, höher – – – herunter!
,,Ah – – –“ sagte sie und bückte sich ganz zusammen.
„Anna, ist es zu hoch?!“
„Nein – – –.“
,,Anna – – –.“
Es war wie auf dem Meere, Sturm! Das Orchestrion heulte mit 21 Pfeifen. Hinauf – – – herunter!
Beim Aussteigen sagte ich: ,,Aennchen, Annita – – –.“
„Danke“ erwiderte sie mit ihren Augen. [...]
Auch an dieser kurzen Skizze kann eine so unendliche Fülle in der Seele erlebt werden! Was bei Altenberg immer wieder erschüttert, ist diese tiefe Atmosphäre der Unschuld.
Wo sonst als in diesem Wien der Jahrhundertwende gibt es so unschuldige fünfzehnjährige Mädchen, für die, arm und blass, eine große Schiffsschaukel die selige Freude ihrer sonst trostlosen Tage ist?
Wer sonst kann die Unschuld eines Mädchens mit so wenigen Worten schildern? ,Sie bittet nie, nimmt stumm an.’
Allein in diesen Worten liegt bereits eine ganze Welt von Begegnung. Und dann kommt der Dank aus den Augen des Mädchens, während sie schaukelt. Die Bezahlung hat sie scheu angenommen, ohne etwas zu sagen, ohne darum zu bitten...
Und wo sonst kann ein fünfzehnjähriges Mädchen so unschuldig vor Vergnügen zittern? Wissen die heutigen Seelen überhaupt noch, was das heißt? Dass es eine Unschuld gibt, die gleichsam gar nicht glauben kann, dass eine solche selige Freude ihr vergönnt sein kann?
Und dann dieses Andere – dass sie es gar nicht ihm sagt, sondern nur ihren Freundinnen, nie daran denkend, dass es auch wirklich wahr werden könnte.
Dann die scheue Scham, dass es schon so viel gekostet habe.[2] Das Mädchen hat es sich genau aufgeschrieben, wie ein Tagebuch heiliger Freude und ihres materiellen ,Wertes’, wie ein Geheimnis, tief dankbar und staunend über diese Menge von Geschenktem...[3]
Berührend ist auch, wie Altenberg das Mädchen mit ,Sie’ anredet – voller Achtung, mit fünfzehn ist sie bereits alt genug für diese Anrede. Allein dies sollte den ganzen Charakter Altenbergs offenbaren. Er fragt sie dann, wozu sie sich aufschreibe, was er ihr doch gerne gibt. Sie sagt nur ein Wort: ,So’, das heißt: ,nur so’ – und errötet...
Vielleicht errötet sie, weil sie sich schämt, dass sie es so genau nimmt; dass sie aufschreibt, was für sie so besonders ist, diese herrliche Schaukel. Vielleicht aber auch, weil es für sie besonders ist, dass dieser liebe Mann ihr, einem einfachen, armen Mädchen so oft die Schaukel bezahlt. Dann errötet sie, weil auch sie eine Art Zuneigung empfindet, wie sie erst Mädchen in diesem Alter zu empfinden beginnen...
Altenberg kommt dann mit ihr. Es stört ihn nicht, dass sie es ihm nicht zutraut – er hält auch diese Bemerkung des Mädchens einfach fest. Sie sind in der Luft ganz allein. Es geht aufregend immer höher. Altenberg schaut in die Mädchenaugen – aber er kann es nicht vermeiden, auch kurz etwas anderes zu erblicken: den Saum ihrer Höschen, als beim Herunterschaukeln der Fahrtwind ihr Kleid hochschlagen lässt.
Auch dies erwähnt Altenberg nur kurz – es ist Teil des ganzen, lebendigen Geschehens. Es ist auch Teil der Parthenophilie. Und es ist Teil der Unschuld. Denn alle – das Mädchen, Altenberg und die ganze Szene, sind vollkommen unschuldig. Der Wind gibt kurz das Höschen des Mädchens preis. Das Mädchen merkt es vielleicht gar nicht, oder es stört sie nicht, es ist auch nur der Saum. Und was soll daran schlimm sein? Aber es offenbart die Heiligkeit ihres Leibes – die heilige Schönheit der armen, blassen Anna. Fünfzehn Jahre – und selig wie ein Kind.
,Ah – – – sagte sie und bückte sich ganz zusammen.’ Da ist es wieder: dieses selige Erschauern, dieses Zittern vor Vergnügen. Und die Meisterschaft Altenbergs ist es, dass er diese Momente festhält, skizziert – aber man muss sie auch lesen können, und das ebenso tief.
Und dann sind diese seligen Minuten vorbei. Und Altenberg kann nicht anders, als sie hingegeben mit Kosenamen zu nennen – und auch das nimmt sie hin, stumm, unschuldig, vielleicht sogar freudig, denn sie dankt ihm ihrerseits: auch wieder in tiefster Unschuld, nur mit ihrem Blick...
Ich kenne niemanden, der die Mädchen und auch die Mädchenliebe, die Liebe zum Mädchen, unschuldiger beschreiben kann als Altenberg.
Fußnoten
[1],Landstädtchen’, zweite Hälfte: ,Die Mädchen’, in: Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 4.1904, S. 232-234. Archive.org.
[2] In grober Näherung hatten zwei Gulden etwa die heutige Kaufkraft von vierzig Euro – was tatsächlich für Altenberg auch viel Geld war. Die Kaufkraftparität des Gulden und der Krone zum Euro. www.1133.at.
[3] Dies erinnert an die rührende Szene, wo sich auch Mignon unbeholfen genau notiert hat, was ihr bescheidener Reichtum ist, den sie in der Ur-Fassung des ,Wilhelm Meister’ vor diesem ausbreitet, damit er sie loskaufe. Wilhelm Meisters theatralische Sendung, III, 8. Siehe Seite 344.