Parthenophilie

Zwischenfazit


Wir kommen mit unserer Reise durch die Literatur des 19. und vor allem mit Hauptmann dann noch des beginnenden 20. Jahrhunderts allmählich ans Ende. Deutlich ist, dass die Gestalt des Mädchens die deutschen Dichter tief beschäftigt hat: Von Novalis über Kleist, Hoffmann, Storm, Heine, Wieland, Stifter, Fontane, Altenberg, Mann bis eben zu Hauptmann – und über ihn hinaus.

Viele weitere Beispiele verlieren sich sicherlich auch im Dunkel der Geschichte oder in alten, nicht mehr besuchten Bibliotheken.

Im Mai 1894 begegnete der einundzwanzigjährige Künstler Heinrich Vogeler, der später unter anderem zur ersten Generation der Künstlerkolonie Worpswede gehörte und auch Hauptmanns ,Versunkene Glocke’ illustrierte, seiner späteren Frau Martha – damals ein vierzehnjähriges Mädchen, dessen Wesen ihn tief berührt. Er ist gerade beim Lesen von Gedichten auf einer Wiese:[1]

Während der letzten Verse kam aus dem Eichengebüsche ein hellgekleidetes schlankes Mädchen mit hängenden Zöpfen. Auf der Hand trug es eine zahme Elster. Vierzehn Jahre alt mochte es sein. Ein jüngeres rothaariges Kind folgte ihr. Sie setzten sich zwischen uns ... Das muß Martha Schröder sein, die jüngste Tochter der alten Lehrerswitwe, fühlte ich sofort. Der Eindruck dieser jungen elastischen Mädchengestalt wirkte auf mich wie etwas tief in mein Leben Eingreifendes. Ein ganz junges Menschenkind, ohne das Bedürfnis, irgendwie wirken zu wollen, interessiert an allem, was geschah, ohne jede konventionelle Hemmung.

Auch im 20. Jahrhundert – man denke nur an Hollywood oder ,Lolita’[2] – setzte sich die Liebe zum Mädchen bzw. das Begehren des Mädchens fort. Und auch hier reichen die Verzweigungen der Parthenophilie bis in mehr oder weniger unbekannte Winkel hinein.

Der Schriftsteller André Pieyre de Mandiargues (1909-1991) soll die deutschen Romantiker verehrt haben, vor allem aber den Surrealisten André Breton, er war auch mit surrealistischen Malern wie Giorgio de Chirico, Francis Picabia und insbesondere Max Ernst befreundet.[3] Im Internet findet man wenige Artikel über ihn,[4] und wir wollen hier nur einen kurzen Blick auf die Erzählungen des Bandes ,Schwelende Glut’ werfen.[5]

Bei Pieyre de Mandiargues geht es immer wieder um die Verbindung von Erotik und Gewalt. So handelt die Titelgeschichte von einer jungen Frau in Brasilien, die am Ende ermordet wird. In ,Trüber Spiegel’ geht es um einen Mann, der offenbar mit einem noch ganz jungen Mädchen Sex hat und es wegschickt, obwohl es Angst hat.[6] Er sucht es dann und verliert sich selbst in einer surrealen Situation.
In ,Die Steinhetären’ findet der Ich-Erzähler in einer aufgebrochenen Steindruse, deren Atmosphäre ihm jedoch innerhalb weniger Stunden den Tod bringt, drei wenige Zentimeter große nackte Mädchen.[7] Die Titelheldin von ,Rodogune’ ist ebenfalls ein Mädchen, das mit einem Widder lebt, der man jedoch nachsagte, sie treibe es mit ihm – so dass man dem Tier eines Nachts grausam den Kopf abtrennt.[8]
,Der Akt zwischen den Särgen’ handelt von einem nackten achtzehnjährigen Mädchen, das dem Erzähler im Traum erscheint und ihm erzählt, dass sie im Streit von ihrem Geliebten weggeschickt wurde und einem Sarghändler in die Hände fiel, eingesperrt und zum Sex gezwungen wurde.[9] In ,Der Diamant’ gerät ein Mädchen auf wundersame Weise in das Innere eines Diamanten und wird dort von einem wesenhaft werdenden Sonnenstrahl begattet.[10]

Wenn man dieses 20. Jahrhundert erlebt, sieht man jedoch vor allem eine große Entwicklung: Das Verlorengehen des im eigentlichen Sinne seelischen Empfindens. So positiv viele Entwicklungen auch waren – etwa die Ächtung des Krieges nach zwei furchtbaren Weltkriegen, die Gründung der Vereinten Nationen, die Beginne des Umwelt- und Naturschutzes, ein zunehmendes Bewusstsein der Einen Menschheit –, ging dem doch jenes andere Phänomen fortwährend parallel: der Verlust von Seele, von tieferen Seele-Trage-Kräften, die der Mensch bis dahin noch gehabt hatte.

Es ist sehr schwer, sich hier überhaupt verständlich zu machen, man muss dieses Phänomen empfinden – und man wird es nur empfinden, wenn man die früheren und die späteren Zeiten vergleicht, die Empfindungen, die Worte, die diese Empfindungen ausdrücken, die Art, wie gedacht und gefühlt wurde. Auch Pieyre de Mandiargues hat zweifellos Sehnsucht nach der Gestalt des Mädchens – und doch ist er längst eindeutig ein Vertreter des 20. Jahrhunderts. Das reine Urbild des Mädchens ist ihm längst entschwunden. Andere vor ihm hatten es noch empfunden, viel mehr davon.

Und so auch Hermann Hesse, dieser tief empfindsame Mann. Mit ihm kehren wir noch einmal zurück in jene Sphären, die das 20. Jahrhundert dann so gründlich und vollständig verlieren sollte.

In seinem Text ,Eine Traumfolge’ (1916) heißt es an einer Stelle:[11]

Damit glitt von mir und in mir die Welt auseinander, versank in Tränen und Tönen, nicht zu sagen wie hingegossen, wie strömend, wie gut und schmerzlich! O Weinen, o süßes Zusammenbrechen, seliges Schmelzen. Alle Bücher der Welt voll Gedanken und Gedichten sind nichts gegen eine Minute Schluchzen, wo Gefühl in Strömen wogt, Seele tief sich selber fühlt und findet. Tränen sind schmelzendes Seeleneis, dem Weinenden sind alle Engel nah. Ich weinte mich, alle Anlässe und Gründe vergessend, von der Höhe unerträglicher Spannung in die milde Dämmerung alltäglicher Gefühle hinab, ohne Gedanken, ohne Zeugen. Dazwischen flatternde Bilder: ein Sarg, darin lag ein mir so lieber, so wichtiger Mensch, doch wußte ich nicht wer. Vielleicht du selber, dachte ich, da fiel ein andres Bild mir ein, aus großer Ferne her. Hatte ich nicht einmal, vor Jahren oder in einem früheren Leben, ein wunderbares Bild gesehen: ein Volk von jungen Mädchen hoch in Lüften hausend, wolkig und schwerelos, schön und selig, leichtschwebend wie Luft und satt wie Streichmusik? Jahre flogen dazwischen, drängten mich sanft und mächtig von dem Bilde weg. Ach, vielleicht hatte mein ganzes Leben nur den Sinn gehabt, diese holden schwebenden Mädchen zu sehen, zu ihnen zu kommen, ihresgleichen zu werden! Nun sanken sie fern dahin, unerreichbar, unverstanden, unerlöst, von zweifelnder Sehnsucht müd umflattert.

Für Hesse ist eine Vision junger Mädchen hier ein allerwesentlichstes existenzielles Erlebnis. Vorbereitet wird die Erinnerung daran durch ein vollkommenes Hinter-sich-Lassen der gewöhnlichen Welt, ein Eintauchen in die erschütternde Sphäre reinster, tiefster Empfindungen, die wie in einer heiligen Katharsis alles andere schmelzen lassen. ,Dem Weinenden sind alle Engel nah’. Und auf einmal sind es Mädchen. Und dazwischen liegt das Bild des Sarges, wie wenn Hesse sich hier selbst als verstorben schaut – vor allem in seinem gewöhnlichen Selbst. Und dann folgt dieses Bild der jungen Mädchen, schwerelos, selig, hold und doch innerlich von Wirklichkeit erfüllt ,wie Streichmusik’.

Und Hesse – der Erzähler – erlebt, als sein Bewusstsein von dem Bild wieder weggedrängt wird, wie vielleicht sein ganzes Leben nur den einen Sinn gehabt hätte ... diese Mädchen zu sehen. Und nicht nur das: auch zu ihnen zu kommen. Und nicht nur das: sogar ihresgleichen zu werden... So zu werden wie sie... Und dies kann man bei Hesse tatsächlich tief empfinden: diese Sehnsucht nach Sanftheit, nach Harmonie, nach Verständnis aller Menschen untereinander – nach einer Welt, die das Wesen der Mädchen hätte!

Aber – all dies ist (noch) keine Wirklichkeit. Und so endet diese Szene ebenfalls mit einer Tragik süßer Trostlosigkeit: Die Mädchen sinken ,fern dahin’, unverstanden, unerlöst...

Dies allein ist ein erschütterndes Bild. Es ist aber ein Wahrbild. Und nur jemand wie Hesse konnte dies so tief empfinden, dass es ihm, und sei es nur literarisch, zu einer realen Vision wird. Die Botschaft der Mädchen... Diese eine Vision, die die wichtigste des ganzen Lebens ist. Wichtig vielleicht für den gesamten Fortgang der Welt: dass sie die Mädchen verstehe und zu ihnen komme...
 

Fußnoten


[1] Heinrich Vogeler: Werden. Erinnerungen. Fischerhude 1989, S. 32, zitiert nach Andrea Bramberger: Die Kindfrau. Lust, Provokation, Spiel. München 2000, S. 177. • Die 1901 geschlossene Ehe verlief schließlich nicht glücklich: ,In Vogelers Traumwelt war kein Platz für das reale Leben. Martha, die er in ein phantasiertes Frauenbild presste und die er nur aus schützender Entfernung lieben konnte, entglitt ihm immer mehr.’ Wikipedia: Heinrich Vogeler.

[2] Zu beidem siehe sehr ausführlich den sechsten Band.

[3] Benedikt Dürner (2017): Der lyrische Triebtäter André Pieyre de Mandiargues. Gewalt und Erotik im Gedichtband L’Âge de craie. promptus 3, 83-105.

[4] Zu ,Schwelende Glut’ siehe Werner Zeller: Der Akt zwischen den Särgen. ZEIT 42/1989, Zeit.de, 13.10.1989. • Zu seinem Roman ,Der Rand’ (,La Marge’, 1967), für den er den Prix Goncourt erhielt, siehe Peter Urban-Halle: Im Land der grünen Rasse. NZZ, 3.11.2012. ,Die wenigen Lichtblicke sind mysteriös-erotische Einzelbilder: ein seilspringendes Mädchen, eine Fünfjährige, die sich mit einem Stofffetzen von Sergines Nachthemd entfernt, eine schöne Negerin im weissen Kleid. Und der einzige Engel – aber ist das nicht auch ein Wesen des Jenseits? – ist die junge Juanita „mit den bitteren Augen und der kühlen Nase“, die er dreimal aufs Zimmer begleitet.’ Ebd.

[5]● André Pieyre de Mandiargues: Schwelende Glut. Frankfurt am Main 1988. .

[6],[...] und die niederhängenden Blüten hatten einen scharfen, süßen Duft, der uns beide verwirrte, weil er dem deinen ähnlich war, Kind, wenn die Mandel deines weißen Bauchs auf unserem heimlichen Bett sich auftat’.[21] • ,Daß ich deine Ängste genoß, Kind, und vielleicht sogar deine Tränen, das leugne ich nicht [...]. Ja, es tat mir wohl, daß du preisgegeben wurdest. Ich habe eine bizarre, starke Neigung für alles, was preisgegeben ist, für das, was vor allem am Abend sich in höchster Not befindet [...]. Aber jener Hang ermangelt nicht einer gewissen Zärtlichkeit, und ich weiß, daß ich keiner Liebe fähig bin, deren Teil sie nicht bildet.’[23] • ,Nirgendwo [...] gewahrte ich die Gestalt, die meinen Augen eingefugt war wie das Wunschtraumbild einer Märchenfee, die man bittet, endlich Frau zu werden und zu einem zu kommen.’[25]

[7],Ihre Haut war von der Farbe reifer [roter, H.N.] Johannisbeeren und so durchsichtig, daß das Skelett ein wenig zu sehen war [...]. Zwei von ihnen weinten und breiteten sich das lange Haar über die Körper, als schämten sie sich ihrer Nacktheit. Die andere dagegen [...] reckte sich [...] und während sie, die Hände im Nacken verschränkt, um sich besser zur Geltung zu bringen [...].’[38f] • ,[...] und ihre Brüste waren von der ein wenig lilienhaften Anmut, wie man sie nur bei sehr jungen Mädchen wahrnimmt.’[41] • Durch ihre ,Befreiung’ verbrennen sie jedoch zu Staub.[41]

[8] Der Erzähler macht deutlich, dass es sich um Verleumdungen handelte, denn Rodogune lag ,in ihrem jungfräulichen Bett’.[64]

[9] Das Mädchen erzählt, wie es seine Vergewaltigung völlig gleichgültig erlebt, sich selbst wie ganz von außen betrachtend.[95f]

[10],[...] sie hatte schwarzes, zu zwei Zöpfen geflochtendes Haar; sie lagen dort, wo die kleinen Brüste waren, auf einem Kleid aus absonderlich gemustertem Stoff.’[104] • ,Im Jungfräulichen und im Reinen [eines Diamanten, H.N.] gibt es einen Grad, der durch sein Übermaß zu erschrecken vermag.’[115]

[11] Hermann Hesse: Eine Traumfolge, in: Marie Smith (Hg.): Traumwelten. Nobelpreisträger schreiben Fantasy-Geschichten. Bergisch-Gladbach 1994, S. 115-132, hier 129.