Parthenophilie

Wie man ein Mädchen lieben soll


2008 befasste sich eine ganze Tagung mit dem ,Phantasma’ der Kindsbraut.[1] Dabei blickte man auf das Motiv der Kindsbraut in den Werken Storms, aber auch anderer Autoren dieser Zeit: Kleist, Hoffmann, Heine, Stifter, Keller, Fontane. Im Tagungsband heißt es zum Begriff in der Einführung:[10f]

Als „Kindsbraut“ im engeren Sinn kann ein Mädchen gelten, das von einem erwachsenen Mann vor oder kurz nach dem Erreichen der physischen Geschlechtsreife auf das Rollenmuster „des Kindes“ [...] fixiert und [...] erotisch begehrt wird. [...]

Die Autoren bemerken das Besondere dieses Begehrens:[11]

Charakteristisch für viele der im Folgenden erörterten Verhältnisse zu „Kindsbraut“-Figuren scheint zudem das Paradox einer asexuellen Sexualität: Als vorsexuelles und häufig auch [...] androgynes Wesen wird das Kind von einem Erwachsenen begehrt, der in ihm eine eigene, unwiderruflich verlorene, vorsexuelle Kindlichkeit wiederzufinden und festzuhalten sucht. Die Artikulation dieses Begehrens aber nimmt, als diejenige eines geschlechtsreifen Erwachsenen, sexuelle Ausdrucksformen an. Das Begehren soll um der Bewahrung der gewollten Kindlichkeit willen nicht erfüllt werden, wird aber gerade durch diese fortwährend geweckt.

In einer solchen Beschreibung scheint mir das Wesentliche der Parthenophilie – um die es sich auch bei einem Mädchen ganz zu Beginn der Geschlechtsreife sehr wohl handelt – nicht erfasst. Es geht nicht um eine Art Rückkehr zur verlorenen Kindheit, sondern es geht um eine die Seele tief ergreifende Liebe zur Unschuld des Mädchens. Das ist etwas vollkommen anderes. Denn von Anfang an wird das Mädchen auch erotisch verehrt, geliebt und auch begehrt. Es wird nicht das Kind gesucht und begehrt, sondern das Mädchen, das möglicherweise noch fast Kind ist, aber eben nicht mehr wirklich, nur noch seiner Unschuld nach – aber gerade diese Unschuld behält es als Mädchen in tiefstem Sinne, all die Jahre lang, bis es zur Frau wird. [2]

Das gerade ist das Mysterium – das Mädchen als Unschuldswesen, das als Mädchen begehrt wird, nicht als Kind, ebenso wenig als Kind wie als Frau, sondern als Mädchen. Es ist gerade dies – ein zauberhaftes Wesen, das Unschuld und die Möglichkeit, begehrt werden zu können, in sich vereint. Und mit dieser Unschuld kann es das Begehren letztlich sogar zulassen – denn es ist kein Kind mehr... [3] Der erste Beitrag des Bandes kontrastiert das Motiv der ,Kindsbraut’ mit der heutigen Sicht auf Kindesmisshandlung im weitesten (sexuellen) Sinne. [4] Weilnböck schreibt:[21]

Besondere Aufmerksamkeit gebührt [...] den Handlungsaspekten von Bemächtigung, Gewalt und mentaler Verletzung, die jeglicher sexuellen oder auch nur erotischen Inbesitznahme von Kindern innewohnen: Wird die „Kindsbraut“ romantisiert und ästhetisiert? Und gerät die Darstellung in Gestaltungszusammenhänge, welche die desaströsen psychosozialen Implikationen des „Kindsbraut“-Seins und -Begehrens, etwa im Sinne einer idealisierenden Tatentschuldung, übergeht?

Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Literarisch kann sehr wohl eine Mädchengestalt sogar in einen menschlichen Abgrund getrieben werden und darum erst recht, als unschuldiges, tragisches Opfer – als reine Mädchenseele und ebenso reiner Mädchenleib – romantisiert und ästhetisiert werden. Dies nimmt der ,desaströsen Tat’ nichts von dem, was sie verurteilenswert macht, im Gegenteil, die Romantisierung des unschuldigen Opfers wirft ein helles Licht auf das Finstere derjenigen Taten, die das Mädchen zum Opfer werden ließen.

Anders sieht es aus, wenn zunächst die Frage ganz offen ist, um welches Geschehen es überhaupt geht – etwa auch im realen Leben, aber auch in der Literatur. Es ist keineswegs schon an sich eine Verletzung eines jungen Mädchens, wenn es erotisiert wird – es kann sogar das genaue Gegenteil sein. Die Liebe zum Mädchen kann sich diesem vorsichtiger und zarter nähern als der gewöhnliche Mensch, dessen Seele durch Lieblosigkeit gerade abgestumpft ist. Zumindest geht es dort, wo es sich um wahre Parthenophilie handelt, niemals um Besitznahme, sondern um aufrichtige Verehrung und Liebe. Dass das junge Mädchen mit dieser Liebe in sehr vielen Fällen gar nichts anzufangen weiß, macht die Tragik der Parthenophilie aus. Es ist aber auch möglich, dass es mit der tiefen, aufrichtigen Zuneigung sehr wohl sehr viel anzufangen weiß – wie mehrere Biografien und auch Beispiele der Literatur zeigen. [5] ►5,6,10

Im weiteren Verlauf weist Weilnböck darauf hin, dass die Forschung gezeigt habe, dass es bei sexuellen Übergriffen auf Kinder weniger um sexuelle, als vielmehr um elementare emotionale Bedürfnisse gehe, die in der frühen Kindheit nicht befriedigt wurden, es handele sich also um ein ,zutiefst narzisstisches Geschehen’. [6]
Bei Übergriffen mag letzteres zweifellos der Fall sein – denn dann hat man es in der Tat mit einem zutiefst selbstbezogenen Tun zu tun, bei dem das jeweilige Opfer gerade einmal als Objekt wahrgenommen wird, aber auch nicht viel anders.
Jedes eindimensionale Erklärungsmodell verkennt nun aber, dass die Seele des Menschen über simple ,Psychokausalität’ weit hinausgeht.

Zum einen kann ein Mensch, dem elementare emotionale Bedürfnisse in der Kindheit in nicht geringem Grade versagt blieben, in seinem späteren Leben gerade besonders liebesfähig werden, weil die Seele weiß, was sie vermisst hat, und weil sie sich ebensosehr danach sehnt, diese Emotionalität zu ,bekommen’, wie, sie ihrerseits zu geben.
Und zum anderen kann umgekehrt gerade auch ein Mensch, der in der Kindheit mit emotionaler Zuwendung gesegnet war, später dennoch gerade eine Liebe zum Mädchen empfinden – nicht, weil er etwas ,nachzuholen’ hätte, sondern weil die Seele, gleich, in welchem Reifestadium sie ist, sich nach Unschuld sehnt und Unschuld liebt, es sei denn, sie unterdrückt diese Empfindung, oder sie ist ihr ausgetrieben worden. Diese Überlegung behauptet nichts Geringeres, als dass der Seele die Liebe zum Mädchen durchaus natürlich ist – und dass eher gesellschaftliche Normen oder eigenes inneres ,Grobwerden’ dazu führen, dass diese Liebe innerlich nicht mehr zugelassen wird.

Man kann es einmal sehr deutlich zum Ausdruck bringen: ,Heißen Sex’ wird man mit einem zwölfjährigen Mädchen sicher nicht haben können – wenn einem daran etwas liegt. Aber zärtliche Zuneigung und ein zutiefst sanftes Empfinden der Seele des Anderen wird man umgekehrt mit einer Frau kaum haben können, sicher nicht über eine gewisse, recht kurze Phase der ,Verliebtheit’ hinaus. [7]

Weilnböck schreibt, in ,missbräuchlichen/„kindsbrautlichen“ Interaktionszusammenhängen’ wirke vor allem eines traumatisch: der Vertrauensbruch, ,die Beziehungs- und Identitätsverwirrung des sich entwickelnden kindlichen Selbst und der Sicherheitsverlust’.[26] Damit soll gesagt werden, dass das Kind darauf angewiesen sei, Kind sein zu dürfen und den Erwachsenen als beschützende und nicht übergriffige Instanz wahrnehmen zu können.

Das ist sehr wohl in den meisten Fällen richtig – jedoch nicht in allen. Weilnböck errichtet hier wie sehr viele andere eine künstliche und absolute Grenze. Die erste Suggestion liegt bereits in der völligen Gleichsetzung von ,Kindsbraut’ und ,Missbrauch’. Der zweite Fehler liegt in der völligen Ausblendung der Frage, wann denn zum Beispiel das Kind übergeht in die Jugend, in der naturgemäß auch eine langsame erotische Öffnung geschieht. Der dritte Fehlschluss besteht darin, eine Erotisierung und eine auch erotische Liebe zum Kind automatisch mit einer ,Beziehungsverwirrung’ gleichzusetzen bzw. diese per se als nachteilig, ja ,traumatisch’ zu definieren.

Der entscheidende Aspekt liegt vielmehr immer in dem konkreten Verhältnis – und dieses kann gar nicht von außen beurteilt werden, bevor es sich überhaupt konkret offenbart. Es gibt Verhältnisse, in denen sich eine Beziehung zwischen einem ,Kind’ und einem Erwachsenen gerade vertieft – getragen von der Liebe des Erwachsenen und dem um so größeren, berechtigten (!) Vertrauen des Kindes –, anstatt sich zu ,verwirren’. Eine Verwirrung mag auch beteiligt sein, aber nicht in der Form, dass sie traumatisch wirkt, im Gegenteil. Man denke an unzählige, allzu oft gar nicht bekannt werdende Beispiele inniger Verhältnisse zwischen jungen Mädchen und erwachsenen Männern, die nichts von Missbrauch oder Traumata aufweisen – sondern nur von einem tief getragenen Hineinwachsen in das Leben, beschützter als nur je ein anderes Mädchen. [8]

In all diesen Beziehungen ist es sehr wohl immer so, dass der Mann das Mädchen auch erotisiert, was aber gerade der ausschlaggebende Faktor dafür ist, dass er es zutiefst verehrt und liebt. Oder man kann es auch umgekehrt sagen: Gerade weil er es zutiefst liebt, erotisiert er es auch, die Liebe macht nicht vorher Halt. Wie auch immer, der entscheidenste Punkt in all diesen Beziehungen ist, dass der Mann nicht ,narzisstisch’ das Mädchen emotional ,ausnutzen’ muss, sondern vielmehr fähig ist, in großer Selbstlosigkeit emotionale Nähe, Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit zu geben – etwas, was bei allen Betrachtungsweisen, die nur von ,Beziehungs- und Identitätsverwirrung’ sprechen, nie auch nur ansatzweise in den Blick kommt.

Es gibt Beziehungen, in denen eine Erotisierung ganz klar zu einem traumatischen Vertrauensverlust führt – und es gibt Beziehungen, in denen dadurch (weil die Erotisierung ganz wesentlich innerseelisch bleibt) gerade das Gegenteil eintritt. Alles hängt von den konkreten Umständen ab, letztlich, um es ganz deutlich zu sagen, von dem Mädchen – und wie es sich zu dem Mann und seiner ganz offensichtlichen Zuneigung stellt. Das ist die entscheidende Frage und das entscheidende Kriterium.

In Goethes ,Wilhelm Meister’ war es Mignon, die Wilhelm geliebt hat – mehr als umgekehrt. Sie, das zwölfjährige Mädchen, war es, die an Liebeskummer starb. Das darf man nie vergessen. Schon ein zwölfjähriges Mädchen kann sich in innigster Liebe, die längst nichts rein Kindliches mehr hat, einem Mann zuwenden – und sich in einer Liebe verzehren, die im Grunde das Urphänomen unschuldigster Erotik ist.

Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, dass auch ein Mann in dieser zutiefst zarten Weise ein Mädchen erotisieren kann, wenn auch von seinem Standpunkt aus, was aber nicht bedeuten muss, dass es weniger zart oder zärtlich ist. Das ist so, weil die Liebe zum Mädchen ja gerade durch das Mädchen ausgelöst wird – und das Mädchen ein zutiefst zartes Geschöpf ist. Auch die Parthenophilie muss also, in ihrem Urphänomen, ein zutiefst zartes Geschehen sein. Es ist eben nicht die Liebe zu einer Frau, sondern die Liebe zu einem Mädchen. Wer eine solche mit dem gleichen Maßstab beurteilt wie die übliche, gleichaltrige Liebe, der hat das Phänomen nicht verstanden. Dann müssen aber auch alle Schlussfolgerungen in die Irre gehen.

Weilnböck bringt schließlich sogar die Melancholie mit dem Missbrauch in Verbindung:[30]

[...] weil sie die verinnerlichte beziehungsdynamische Bindung an die Täterfigur [...] sowie den eigenen psychotraumatischen Schuldkomplex nicht zu lösen vermag, sondern in einer bittersüß ambivalenten Befangenheit leztlich sogar goutiert.

Dem ist zu entgegnen, dass die aus einem Missbrauch und Vertrauensbruch im weitesten Sinne hervorgehende Depression sich sehr wohl auch in melancholischer Stimmung äußern kann, dass aber Melancholie ebenso oft nicht das Geringste mit einem Missbrauch zu tun hat – sondern vielmehr mit höheren, reinen Idealen. Ist dies der Fall, wird ein Mädchen, das eine solche Melancholie kennt, mit Sicherheit aber kaum durch Gleichaltrige getröstet werden können, sehr wohl aber durch einen innerlich gereiften Mann, der ihm gerade neues Vertrauen in die Welt geben kann, weil es sich von ihm getragen fühlt.

Auch hier gilt wieder: Was vom Mann aus gesehen zartes, liebendes Erotisieren ist, ist vom Mädchen aus erfahren gerade tiefste Zuneigung des Mannes – etwas, was gerade das melancholische Mädchen zutiefst braucht. Nicht Missbrauch ist hier die Realität, sondern gleichsam heiligste Ergänzung, Heilung, Hilfe – also auch wiederum: eine Art Ideal.

Und dann bringt Weilnböck auch ,frühe Talente und Fähigkeiten’ in seinen Zusammenhang:[31]

Das liebreizende Mädchen, das so frappierend gut mit Erwachsenen umgehen kann und so manches bei ihnen zu bewirken vermag, die faszinierende Person, die sich so virtuos in alle möglichen sozialen Kontexte einzufügen [...] vermag [...] – sie alle fühlen sich innerlich leer, unecht, unwirklich und angstvoll, und sie tendieren dazu, in (selbst-)destruktiver Weise zu agieren. [9]

Das mag alles in einem Teil der Fälle richtig sein – und auf die jeweilige innere Seelentragik hinweisen. Aber es bedeutet selbst in diesen Fällen weder, dass ein Missbrauch vorausgegangen sein muss, noch, dass er notwendigerweise angezogen wird.

Aber nehmen wir die Bemerkung einmal ernst. Was ist denn, wenn ein so liebreizendes Mädchen in Erscheinung tritt? Vielleicht fühlt es sich nur deshalb ,leer’, weil es Begegnung sucht – und nicht findet, nicht wirklich. Vielleicht genießt jeder ihren Liebreiz, aber niemand ist innerlich reif genug, zu spüren, worum dieses Mädchen eigentlich bittet und wonach es sich sehnt. Kann das Mädchen etwas dafür? Dafür, dass es zugleich ein viel höheres Ideal von Begegnung und Zusammensein hat als die gewöhnliche Oberflächlichkeit? Dass es das Zusammensein mit Erwachsenen gerade sucht, weil es hier eher die Erfüllung seiner Bedürfnisse erhofft, aber selbst hier zumeist enttäuscht wird? Kann es sein, dass ein solches Mädchen sich nur deshalb leer fühlt, weil die Welt, die es umgibt, leer und unecht ist – und aus keinem anderen Grund? Viele in dieser Weise leidende Seelen fühlen sich nur deshalb ,unecht’, weil sie sich fortwährend verkannt fühlen. Weil sie im Grunde fortwährend rufen und bitten, sich sehnen und hoffen – und doch immer enttäuscht werden. Sie fühlen sich unecht, weil sie sich in einer Welt bewegen müssen, die viel weniger Liebe besitzt, als sie ersehnen – und auch selbst haben. Sie fühlen sich fremd in dieser Welt – und ihr Liebreiz ist zugleich die zarte Offenbarung ihrer Verzweiflung. Und so findet an diesen Seelen Missbrauch eigentlich fortwährend statt – durch all jene, die sie gar nicht in ihrem wahren Wesen erkennen. Gerettet wird eine solche Seele gerade durch eine andere, reife Seele, die sie zutiefst liebt, buchstäblich mit Leibe und Seele.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass auch die ,liebreizende’ Seele nicht unreif ist, im Gegenteil. Auch sie ist reifer als die umgebende Welt, denn auch sie besitzt mehr Liebe. Gerade deshalb sehnt sie sich so nach ebenso tiefer Liebe, nach etwas, was ihrem Innersten entsprechen würde. Und nur deshalb ist sie liebreizend, weil sie in Wirklichkeit eine ungeheure Tiefe hat. Sie ruft (reizt) Liebe hervor – aber die meisten Menschen erkennen das wahre Geschehen überhaupt nicht. Die meisten Menschen sind so unreif und selbstsüchtig, narzisstisch, dass sie diesen Liebreiz nur ihrerseits genießen. Und nur ein Einzelner liebt dieses Mädchen so aufrichtig und unendlich, dass man von ... Parthenophilie sprechen muss. Und diese beiden Seelen sind dann füreinander bestimmt.

In der Welt geht es eigentlich fortwährend um die Liebe – und ihre Enttäuschung, durch den Mangel an Liebe. Aber gerade die melancholischen Seelen, gerade die frühen Talente, gerade die liebreizenden Seelen – sie alle sehnen sich am meisten nach Liebe, und sie haben auch am meisten Liebe. Zugleich werden sie am meisten enttäuscht – und auch am meisten missbraucht. Das alles ist ein großer Zusammenhang. Parthenophilie durchbricht diesen Zusammenhang, weil die wahre Parthenophilie nicht missbraucht, sondern liebt – und eine solche Seele, die die Liebe gerade fortwährend vergeblich sucht, zutiefst retten kann, bis hin zu einem seligen Erlöstwerden.

Unsere Welt erstickt an Kälte und Härte – und gerade die Mädchen leiden darunter am meisten, insbesondere wenn sie noch empfindsam und also wahrhaft Mädchen sind. Auch die Parthenophilie ist eine unmittelbare Reaktion auf diese Welt. Nicht eine Flucht zurück in die Kindheit, im Gegenteil. Aber eine Liebe zu dem, was einzig und allein noch unschuldig ist: dem Mädchen. Und zu seinem in dieser Welt so sehr verlorenen Wesen. So sollte man es auch einmal sehen – dann würde man sehr, sehr viel von der Parthenophilie und vom Mädchen verstehen...

Und noch einmal Weilnböck:[33]

So z. B. kann in Folge einer beziehungsmissbräuchlichen Frühbiografie eine posttraumatische Affektdisposition entstanden sein, in der ein unbewusster Drang zur Verletzung des eigenen Körpers wirksam ist. Dieser Drang mag aber [...] im Gewand von patriotisch begeisterter Kampfeslust und männlich strotzendem Freundschaftskult oder als ekstatisches Erleben von Natur, Landschaft, körperlicher Bewegung und elementaren Naturkräften zum Ausdruck kommen [...]. Oder aber [...] in einer unbewussten Tendenz zur mutwilligen Gefährdung der eigenen gesellschaftlichen Stellung und finanziellen Situation oder als Neigung zu zwanghafter Delinquenz, die wiederum in einer durch unbewusste Schuldgefühle bedingten Suche nach Bestrafung motiviert ist.

Wenn man diesen Gedanken nachsinnt, wird deutlich, dass man letztlich alles mit angeblichem Missbrauch ,erklären’ kann. Wir leben in einer materialistischen Zeit. Heute wird es mehr und mehr vollkommen unverständlich, dass diese Phänomene ganz, ganz andere Ursachen haben können.

Eine krasse Unlogik ist bereits wirksam, wenn von einem unbewussten Verletzungsdrang zu ekstatischem Naturerleben und körperlicher Bewegung fortgeschritten wird, denn was soll das eine mit dem anderen zu tun haben? Nichts! Auch hier gilt wieder, dass Ekstase und Suche nach elementaren Erfahrungen mit der Leere, Kälte und Abstraktheit der Welt zu tun haben – und dass dies ein Missbrauch der Seele ist, aus dem die Seele sich zu befreien sucht. Ebenso ist es mit der ,mutwilligen Gefährdung der eigenen gesellschaftlichen Stellung’. Wieviele Menschen brechen wohl aus ihrer ,Stellung’ aus, weil sie missbraucht wurden – und wieviele, weil die Stellung und alles drumherum selbst ein Missbrauch ist, ein fortwährender Missbrauch der eigentlichen Menschenseele?

Und wieviele Männer gefährden mutwillig – und keineswegs unbewusst – ihre Stellung um eines Mädchens willen? Wurden sie etwa auch missbraucht? Nein, sondern sie empfinden ein lebendiges, liebreizendes, unschuldiges Mädchen als unendlich kostbarer als welche gesellschaftliche Stellung auch immer, mit all ihren toten Konventionen und Routinen. Dies nicht zur Kenntnis zu nehmen und die Diskussion stattdessen in einer immer abstrakteren Missbrauchsrhetorik und Räsonniererei zu ersticken, ist ein Sündenfall der Sozialwissenschaften. Gerade sie, die Sozialwissenschaften, hätten die Aufgabe, den fortwährenden Missbrauch aufzudecken – dem auch wiederum gerade die Mädchen zum Opfer fallen, weil sie so empfindsam, so gutherzig, so idealistisch sind, dem aber darüberhinaus alle Menschen zum Opfer fallen, in jeder Minute, ununterbrochen.

Man könnte sogar den ,Missbrauchsdiskurs’ tiefenpsychologisch zu erklären versuchen. Dann ist das fortwährende Reden vom Missbrauch eine Art verzweifelte Projektion, um das eigene Schuldgefühl zu betäuben – und nicht spüren zu müssen, dass man tief innerlich auch missbraucht wurde und wird. Um nicht sehen zu müssen, dass man selbst auch leer und unecht ist. Und dass man nur deshalb kraftstrotzende abstrakte Deutungen assoziiert und konstruiert, um die realere Wirklichkeit nicht anschauen und empfinden zu müssen. Und die zwanghafte Delinquenz besteht dann im fortwährenden Abgleiten in abstraktere Deutungsmuster, die einen aber gerade mit der übrigen Zunft vereinen – ein zwanghaftes, narzisstisches Eifern um Anerkennung, verbunden mit einer tiefen Angst vor dem Verlust der gesellschaftlichen Stellung. Da es sich aber um eine Kollektivangst handelt, kann man sicher sein, dass alle die abstrakten, aber falschen Deutungsmuster teilen – die gewährleisten, dass man sich der wirklichen Realität nicht stellen muss.

Die Tragik des Mädchens ist, dass es bei jeder Form des Missbrauchs das Hauptopfer ist. Aber man macht es einmal mehr zum Opfer, wenn man es zum bloß gewöhnlichen ,Missbrauchsopfer’ herabwürdigt, ohne den anderen Aspekt zu sehen. Denn gerade das Mädchen ist die Botin, die der Welt ihre Härte und ihren Mangel an Liebe immer wieder offenbart. Man schlägt ihm sozusagen ins Gesicht, wenn man diese Offenbarung abwehrt.

Im Grunde spricht das Mädchen:

,Es geht nicht darum, dass manche uns als Kindsbraut, als Mädchen, lieben. Es geht darum, dass ihr alle nicht begreifen und nicht mehr empfinden könnt, wie sehr die Welt missbraucht wird – durch bloße Konventionen und Routinen, durch abstraktes Denken, das auf Empfindungen völlig verzichten kann, durch Konkurrenzkampf und Effektivität auf dem Rücken der Menschen, durch Ökonomisierung aller Lebensbereiche, durch Vernichtung der Natur, durch tägliche Abstumpfung. Und ihr alle macht mit – und ihr alle redet nicht darüber, genau wie das perfekte Missbrauchsopfer. Aber ihr seid ebensosehr Täter. Und ihr alle missbraucht mich. Denn ich kann in einer solchen Welt nicht leben, ich ersticke. Ich ersticke bei lebendigem Leibe. Ich kann in eurer Welt nicht leben! Denn ich bin ein Mädchen...’

Ein Mädchen will geliebt werden – und es hat selbst so viel Liebe im Herzen, während die Welt um das Mädchen herum seelisch immer mehr erkaltet, woran die Mädchen heute ebenso zugrundegehen, wie einst Mignon.

,Die Vernunft ist grausam. Das Herz ist besser.’
- Mignon
 

Fußnoten


[1]● Malte Stein, Regina Fasold & Heinrich Detering (Hg.): Zwischen Mignon und Lulu. Das Phantasma der Kindsbraut in Biedermeier und Realismus. Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, Band 7. Berlin 2010. Der Band versammelte Beiträge einer Tagung auf Husum vom 18. bis 21. September 2008. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.

[2] In Wirklichkeit ist die Unschuld des Mädchens ist eine andere als die des Kindes – so wie auch die Erotik des Mädchens eine andere ist als die der Frau. Die Erotik des Mädchens ist unschuldig, und die Unschuld des Mädchens ist bereits erotisch.

[3] Das Mädchen ist keineswegs androgyn, sondern tief weiblich. Der Unterschied zur Frau ist nicht etwa das Nicht-Weibliche, sondern das Unschuldige, das noch nicht (offen) Sexuelle, sehr wohl aber bereits weiblich tief Anziehende. Das Mädchen ist noch nicht sexuell, aber die Möglichkeit dazu ist bereits zart – oder sogar längst – da. Zugleich wird sie überleuchtet von seelischer Unschuld, Reinheit des Herzens. Das Mädchen ist ein Engel – aber keineswegs asexuell. Es ist mehr als ein Engel.

[4]● Harald Weilnböck: Das literarische Motiv der „Kindsbraut“ und/ oder empirische Erfahrungen der (sexuellen) Kindesmisshandlung, in: op. cit., S. 13-35.

[5] Natürlich geht es in den seltesten Fällen wirklich um eine ausgesprochene ,Kindsbraut’. Aber selbst Shakespeares Julia war nicht einmal vierzehn Jahre alt. Zwar wurde sie ,nur’ von dem wenige Jahre älteren Romeo geliebt, doch beweist dies nicht weniger, dass sie längst liebesfähig war.

[6] Martin Ehlert-Balzer: Sexueller Mißbrauch in der Psychotherapie: Eine Einführung, in: Hertha Richter-Appelt (Hg.): Verführung – Trauma – Mißbrauch. Gießen 1997, S. 125-146, hier 134.[25]

[7] Es sei denn, auch die Frau ist zutiefst feminin und romantisch – aber das Wesen der Zartheit wird in unserer Zeit ja regelrecht lächerlich gemacht, als unwesentlich oder sogar ,kontraproduktiv’ für das ,eigene Weiterkommen’ abgetan. Mädchen haben diese Fähigkeit zu echter Zartheit noch... Sie sind damit, dies kann nicht oft genug wiederholt werden, Zukunfts-Botinnen. Denn ohne diese Qualität werden alle menschlichen Verhältnisse, aber auch dieser wunderbare Planet insgesamt, zugrundegehen.

[8] Vergleiche meine Romane ,Mädchenliebe’, ,Mädchenhüter’ (2016), ,Unmöglich, sagten sie’, ,Erinnerungen einer Volljährigen’, ,Wintermädchen’ (2018), ,Die zarte Eros’ (2022) und weitere. • ,Verwirrt’ sind hier einzig und allein die dogmatischen Interpreten, die selbst ein Mädchen – das schon lange kein ,Kind’ mehr ist – noch infantilisieren, weil in ihrem dualen Weltbild (Kind oder Frau) nichts anderes vorkommt; oder aber selbst Jugendliche noch infantilisiert und entmündigt werden, wobei der Begriff sich erneut in bloßen Schein auflöst.

[9] Ohne dass Weilnböck dies erwähnt, hatte schon 1932 Ferenczi den klassischen Hinweis darauf gegeben, wo er sich auf ausgeprägten Missbrauch, etwa Inzest, bezieht: .[...] daß man bei der Identifizierung [mit dem Aggressor, H.N.] einen zweiten Mechanismus am Werke sieht, von dessen Existenz ich wenigstens wenig wußte. Ich meine das plötzliche, überraschende, wie auf Zauberschlag erfolgende Aufblühen neuer Fähigkeiten nach Erschüterung. [...] Höchste Not, besonders Todesangst, scheint die Macht zu haben, latente Dispositionen, die, noch unbesetzt, in tiefer Ruhe auf das Heranreifen warteten, plötzlich zu erwecken und in Tätigkeit zu versetzen. Das sexuell angegriffene Kind kann die in ihm virtuell vorgebildeten zukünftigen Fähigkeiten, die zur Ehe, zur Mutterschaft, zum Vatersein gehören und alle Empfindungen eines ausgereiften Menschen, unter dem Drucke der traumatischen Notwendigkeit plötzlich zur Entfaltung bringen. Man darf da getrost, im Gegensatz zur uns geläufigen Regression, von traumatischer (pathologischer) Progression oder Frühreife sprechen. Es liegt nahe, an das schnelle Reif- oder Süßwerden von Früchten zu denken, die der Schnabel eines Vogels verletzt hat, oder an die Frühreife wurmstichigen Obstes.’ Sandor Ferenczi (1933): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft). Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 19 (1/2), 5-15, hier 13.