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,Informed Consent’ – Finkelhors Dogma
Wenden wir uns dem klassischen Aufsatz von 1979 von David Finkelhor zu[1] – jenem Forscher, der den heute quasi weltweit gültigen Begriff des ,informed consent’ quasi im Alleingang geprägt hat. Ich folge in der Wiedergabe und Kritik der Dissertation von Monika Rapold.[2]
Finkelhor stellt zunächst fest, dass in Bezug auf sexuelle Begegnungen zwischen Kindern und Erwachsenen die Argumentationen ,Unnatürlichkeit’, ,Gefahr vorzeitiger Sexualisierung’ und ,psychische Schäden’ eine pauschale Verurteilung nicht legitimieren können. Kinder sind keine asexuellen Wesen. Sie von Sexualität abzuschirmen, könne sogar kontraproduktiv wirken.[313f][3] Schäden zeigen sich oft gar nicht.[315][4] Übrig bleiben drei Argumente:[316]
• Unfähigkeit zu wissender Einwilligung (informed consent);
• strukturelles Machtgefälle (bei Mädchen sogar doppelt);
• Disparität der Sexualitäten.
Kinder sind nicht voll aufgeklärt, kennen nicht die soziale Bedeutung der Sexualität, Rollen und Regulationen sexueller Intimität, haben auch nicht den notwendigen Maßstab, akzeptable Partner wählen zu können. Der Einfluss des Erwachsenen ist dominant (gewohnte Unterordnung, Gehorsam, Anlehnung). Entscheidend für Finkelhor ist die Kombination: Mangel an Wissen und Macht.[317]
Dennoch kann man bei älteren Kindern heute längst von einem hohen Grad an Aufklärung ausgehen. Sinnvoller als starre Altersgrenzen wären flexiblere Ansätze. Auch bedeutet ein ,Machtgefälle’ – das auch in Erwachsenenbeziehungen meist mehr oder weniger vorhanden ist – nicht die Ausnutzung von Macht. ,Weshalb sexuelle Handlungen mit Kindern andere Maßstäbe erfordern, vermag die Theorie Finkelhors nicht zu erklären.’[318] Ebensowenig, warum außerhalb der Sexualität dieses Machtgefälle kaum einmal problematisiert wird. Zudem aber ist dieses bei den heutigen Erziehungsstilen generell am Schwinden.[319]
Die entscheidende Frage ist: Kann man den Kindern nicht die Beurteilung überlassen?
Einerseits will man durchaus teilweise kindliche Autonomie, andererseits will man den Missbrauch durch Verallgemeinerung seiner ,Definition’ bekämpfen. Definitionen jedoch, die gedanklich den Missbrauch bereits voraussetzen, sind nicht geeignet, um auf möglicherweise völlig anders gelagerte Begegnungen von Kindern und Erwachsenen angewandt zu werden. In Wirklichkeit werden also die Kinder doch entmündigt.[321][5] Finkelhors Modell ,degradiert Kinder (und Jugendliche) zu Wesen ohne respektablen Willen, sodass [...] Erwachsene sich rechtmäßig befugt sehen, anstelle der Kinder gegen intergenerationale sexuelle Kontakte zu votieren.’[324]
Man kann argumentieren, die Kinder ohne Schäden dürften nicht dazu dienen, das Gesetz aufzuweichen. Ebenso aber kann man argumentieren, dass individuell betroffene Opfer dazu missbraucht wurden, als bloße ,Fälle der Statistik’ Gesetze festzuschreiben, die anderen Mädchen Erlebnisse mit anderen Männern unmöglich machen, die für beide, insbesondere aber auch für die Mädchen selbst, erfüllend gewesen wären. – Indem man auf mögliche ,Folgen’ verweist, weicht man der eigentlichen Frage aus – was spätestens da deutlich wird, wo sich eben vielfach gar keine Folgen zeigen, weil sich keine zeigen können. Mit welcher Begründung kommt man dann?
Im Grunde ist das Verbot bei Finkelhor Ziel und Ausgangspunkt zugleich. Er will das Verbot – und irgendeine ,Begründung’ muss es ja geben, also zimmert er sich die bestmögliche... Ein Blick für Ausnahmen oder Individuelles gibt es nicht, das Verbot ist generell gemeint. Ziel ist eigentlich die Mauer zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt. Es handelt sich um einen moralistischen Zirkelschluss: ,Er trat an zu begründen, weshalb sexuelle Interaktionen mit Kindern verwerflich sind, muß jedoch die Verwerflichkeit schon voraussetzen, um sie überhaupt begründen zu können.’[6]
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Das einzig verbleibende Argument ist die sexuelle Disparität – das selbst in der Fachliteratur nur marginal auftaucht.[325] Die kindliche Erotik mit dem Wunsch nach Zärtlichkeit trifft auf das erwachsene Begehren nach (oft genitaler, leidenschaftlicher) Sexualität.[326] Aber schon Ferenczi stellte eindeutig fest:[7]
Wird Kindern in der Zärtlichkeitsphase mehr Liebe aufgezwungen oder Liebe andere Art, als sie sich wünschen, so mag das ebenso pathogene Folgen nach sich ziehen wie die bisher fast immer herangezogene Liebesversagung. Es würde zu weit führen, hier auf all die Neurosen und alle charakterologischen Folgen hinzuweisen, die die vorzeitige Aufpfropfung leidenschaftlicher [...] Arten des Liebens auf ein noch unreifes, schuldloses Wesen nach sich zieht.
Da Kinder die ,genital geprägte, sexuelle Erregtheit eines Erwachsenen nicht nachempfinden und verstehen’ können, hat dieser das Definitionsmonopol, und die Situation ist schon deshalb strukturell gewaltsam. Erst dieses Argument greift die Frage der kindlichen Sexualität auf und macht die Rede vom ,strukturellen Gewaltverhältnis’ konkret.[327][8]
Doch dann dürften zumindest Kontakte, die nur ,kindgemäße’ Zärtlichkeiten umfassen, die das Kind auch schön findet, nicht verurteilt werden.[327] Problematisch ist weiterhin, dass stets das neuzeitliche Modell ,Kindheit’ zugrundeliegt – immer ist etwas ,fehlend’, ,mangelnd’, ,unentwickelt’, ,unvollendet’, wobei man gerade:[328]
[...] nicht ein allmähliches, kontinuierliches Hineinwachsen des Kindes in die Erwachsenenwelt annimmt und fördert, sondern bis zu einem objektiv anberaumten Zeitpunkt – strafrechtlich festgesetzt als Altersgrenze – auf einer kategorischen Trennung von Kindern und Erwachsenen besteht.
Während also überall sonst mit ,Frühförderung’ gerade auf das Kind eingedrungen wird, obwohl es noch genug Zeit hätte, vielleicht sogar bräuchte, wird hier – auch da, wo es um schlichte Zärtlichkeit geht – eine absolute Grenze errichtet, die weder der Erwachsene noch das Kind überschreiten dürfen. Und mit dem 14. Geburtstag verwandelt sich das ,Kind’ ganz plötzlich in ein sexuelles, reifes, mündiges Wesen. Warum geht es nicht um die Frage schädlicher Folgen, sondern um die generelle Tabuisierung? Rapold kommt zu dem Schluss:[330]
Der Missbrauchsdiskurs ist nicht nur durch eine moralische Verurteilung sexueller Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern charakterisiert, sondern verdankt sich wesentlich der Intention einer (Re-)Tabuisierung dieses Verbots.
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Das bedeutet: Sexualität mit Kindern ,kann’ es nicht geben. Der Gegensatz zwischen Gewalt und Einvernehmlichkeit ist völlig irrelevant, weil die ,Einvernehmlichkeit’ und die ,wissende’ Fähigkeit dazu dem Kind gerade wegdefiniert wurde.
Für Finkelhor ging es zunächst um das ,vorpubertäre’ Kind – aber die bisher schon geltenden ,Schutzaltersgrenzen’ und entmündigenden Bestimmungen wurden einfach so gelassen, wie sie waren, in Deutschland bei vierzehn Jahren. Das Gewohnheitsrecht des Staates behielt das Eigentum am kindlichen Körper einfach bei, obwohl sämtliche Begründungen dafür von Finkelhor absolut erschüttert worden waren – und er nur mit Mühe eine neue ,Begründung’ fand, die sich aber auf die Zeit vor der Pubertät beschränkte – und nicht auf das, was laut Gesetz ,Kind’ genannt wird.
Erstaunlicherweise steht im Gesetz nicht einmal etwas von der mangelnden Zustimmungsfähigkeit des Kindes. Bestraft wird ohne jede Begründung. Es mag sein, dass in dicken Kommentaren dann Verschiedenes steht. Dennoch: Es wird vielfach vom ,Jahrhundert des Kindes’ gesprochen. In den letzten zweihundert Jahren hat sich einiges getan. Kinder sind nicht mehr die unterdrückten Wesen, die ,mal schnell’ missbraucht werden können, wenn der Gesetzgeber dem nicht einen generellen Riegel vorschiebt. Kinder können reden. Sexuelle Handlungen sind auch unter Erwachsenen nicht verboten – bzw. sind es doch, wenn ein Erwachsener ,Nein’ sagt. Auch hier hat es der Gesetzgeber geschafft, deutlich zu machen, dass bereits ein ,Nein’ auch Nein heißt.
Ein Kind kann auch ,nein’ sagen – oder anders deutlich machen, dass es etwas nicht möchte. Natürlich sind vor Gericht Würgemale leichter nachzuweisen als eine Abwehr in der Mimik. Aber Frauen bekommen inzwischen vor Gericht auch dann Recht, wenn sie keine Würgemale haben.
Nichts spräche dagegen, nur dasjenige mit Strafe zu bewehren, was das Kind nicht möchte. Diese Regelung wäre genauso wirkungsvoll, würde aber endlich nicht mehr das Kind entmündigen und seine angebliche ,Selbstbestimmung’ zum Phantom werden lassen – im Grunde eine Verspottung des Kindes. Wie können jemals andere Handlungen strafbar sein als diejenigen, die ein Mensch nicht möchte?
Aber Finkelhor hat eine unüberwindliche Grenze gezogen: Er spricht dem Kind die Fähigkeit ab, beurteilen zu können, was es möchte. Das Kind ist in seiner ,Begründung’ tatsächlich unmündig. Es ist zwar bereits begrenzt geschäftsfähig, aber es ist unfähig, über seinen Körper zu bestimmen. Nicht das Kind darf entscheiden, wer es streichelt und wo es gestreichelt werden will – sondern der Gesetzgeber.
Das Sexualstrafrecht des 21. Jahrhunderts ist ein Anachronismus. Es hat das Jahrhundert des Kindes und dessen Mündigwerden verschlafen. Es hat innerhalb von zweihundert Jahren nicht vermocht, in den Gesetzestext die drei Wörtchen ,gegen seinen Willen’ einzufügen und so dem Kind seine Selbstbestimmung wiederzugeben. Der Schutz des Kindes hat sich im Zeitalter der Mündigkeit unversehens in eine neue Leibeigenschaft verwandelt. Bis vierzehn ist das Kind Leibeigener des Staates.
Und dieser Staat widerspricht eklatant den Grundsätzen der Menschenrechte der Französischen Nationalversammlung von 1789. Er ermöglicht nicht alles, was einem anderen nicht schadet – und was dieser vielleicht sogar möchte, ohne dass es irgendwelchen Dritten schadet. Und er setzt nicht nur Strafen fest, die unbedingt und offensichtlich notwendig sind – sondern sogar Strafen für das, was allein privateste Sache wäre, nämlich die eigene Sexualität.
All dies beruht auch auf einem anachronistischen Welt- und Menschenbild.
Versetzen wir uns einmal einige Jahrhunderte zurück. Im Mittelalter waren die Menschen vielfältigst in Arbeiten eingebunden, in Machtungleichgewichte, Kinder hatten bereits in frühem Alter mitzuarbeiten, man konnte sich auch nicht groß um sie kümmern. Wer in diesem Umfeld ein Kind missbrauchen wollte, der hat es eben getan, zwischen Tür und Angel und ohne dass es jemand mitbekam. Das Kind hatte ja keine Rechte, würde sich auch schämen, man bräuchte ihm nur ein wenig zu drohen – und so weiter. Die Erwachsenen hatten einen Zehn- bis Zwölfstundentag, hatten vielleicht vier, fünf, sechs Kinder zu versorgen, jedes einzelne lief nur so mit. Wenn es jetzt einen ,Missbrauchsfall’ gab, hätte man kaum gewusst, wohin sich wenden, man hätte gar nicht gewusst, wann, man hätte weder Zeit noch Geld noch Mut gehabt. So ein Fall wäre einem über den Kopf gewachsen, und man hätte dem Kind gesagt: ,Vergiss es einfach.’
Ich will damit nur den ungeheuren Unterschied zu unserer heutigen Zeit erlebbar machen. Und gleichzeitig hätte es früher auch unter den Erwachsenen niemanden gegeben, der die Zeit gehabt hätte, sich jungen Menschen oder gar Kindern zuzuwenden. Wie gesagt, hatten die Erwachsenen einen Zehn- oder Zwölfstundentag, hatten täglich genügend Sorgen für das bloße Überleben – und waren ja nicht einmal mit ihren eigenen Ehegatten zärtlich. Der Begriff ,Zärtlichkeit’ existierte damals eben noch kaum – weil er aufgefressen wurde vom realen übrigen Leben. Kinder und Jugendliche waren damals überhaupt nicht im Blick – höchstens eben für den Missbraucher, der seinen Trieb etwa an einem Dienstmädchen oder einer Nachbarstochter befriedigte. Dass man sich von einem jungen Menschen in anderer Weise angezogen fühlen konnte, ihn vielleicht sogar lieben konnte, das lag außer aller Reichweite. Allein der Begriff und das Empfinden der Romantik wurde ja überhaupt erst um 1800 herum geboren!
All dies zeigt, wie ungeheuer viel seit 1789 geschehen ist. Kinder müssen heute nicht nur davor geschützt werden, zum Sexualobjekt zu werden. Das Recht muss heute auch in die Richtung entwickelt werden, Kinder voll und ganz zu Rechtssubjekten zu machen – und die geschützte Selbstbestimmung an die zurückzugeben, denen sie gehört.
Des Weiteren wurde die Sexualität in den früheren Jahrhunderten noch vollkommen anders angeschaut. Sie wurde, wir erinnern uns, nur unter dem Aspekt der gottgewollten Zeugungsfähigkeit gesehen – und alles andere wurde bis in allerjüngste Zeit als sündig verdammt. Selbst unter Eheleuten gab es oftmals zwar eine Art ,Ehepflicht’ aber keine Zärtlichkeit in diesem Sinne, wenn überhaupt. Es war undenkbar, die Sexualität als etwas Erfüllendes, Befriedigendes, Befreiendes, Wunderschönes anzusehen und zu erleben – und jenseits jeglicher Vorstellung lag es, dieses Erleben, das man ohnehin nicht kannte – weder sündlose Sexualität noch Zärtlichkeit überhaupt –, mit einem jungen Menschen zu verbinden.
Aus diesen absolut vormodernen Zeiten stammt aber das Sexualstrafrecht – bis heute. Erinnern wir uns noch einmal an das preußische Strafrecht von 1794:
§ 1054. Jede an einer solchen unerwachsenen Person verübte Unzucht wird als Nothzüchtigung angesehen.
Der einzige Unterschied zu heute besteht darin, dass man nicht mehr von ,Unzucht’, sondern ,modern’ von sexueller Handlung spricht – und dass man es nicht nötig hat, diese als ,Notzucht’ oder Vergewaltigung anzusehen, weil man sie ja ohnehin bestraft.
Aber es gibt noch einen Unterschied: Die oben genannte ,Unzucht’ betraf tatsächlich eine Vergewaltigung, zumindest Geschlechtsverkehr, der nur deshalb nicht immer ,Notzucht’ war, weil ein Kind sich vielleicht manchmal aus Angst noch nicht richtig wehrte. Dort wo es nicht um ,Beyschlaf’ ging, war die ,Unzucht’ vom preußischen Strafrecht eigentlich gar nicht mehr richtig abgedeckt. Im Grunde war auch hier immer Geschlechtsverkehr gemeint – was naheliegt, da eben andere Formen der Zärtlichkeit kaum praktiziert wurden. Es ist daher zweifelhaft, ob ein Kuss oder das Streicheln des Leibes einschließlich der Brust vom preußischen Staat bereits mit ,Unzucht’ bezeichnet worden wären.
Obwohl also die Kinder mündiger geworden sind, ist das Sexualstrafrecht strenger geworden – nach außen hin hat es die Kinder dadurch noch mehr ,geschützt’, nach innen hin, aus Sicht des Kindes, jedoch noch mehr entmündigt. Diese Entwicklung ist absurd. Man arbeitet im Zeitalter der Mündigkeit mit einer sich verschärfenden Entmündigung – wo drei Wörtchen reichen würden, um dem Schutz und der Mündigkeit gerecht zu werden.
Je reifer die jungen Menschen werden – und wieviel kann heute bereits ein Sechsjähriger wünschen, beurteilen, fordern und auch durchschauen –, desto mehr Aufwand wird getrieben, den Kindern dasjenige, was sie entwickeln, gleich wieder abzusprechen. Die Kinder sollen heute schon im Kindergarten mit Computern umgehen, sie werden heute schon in der Grundschule mit dem weiten Weltgeschehen konfrontiert – und verstehen sogar sehr vieles davon –, aber es soll einem Kind nicht möglich sein, zu beurteilen, wann es von wem in welcher Weise gestreichelt werden will?
Eine solche Absurdität können sich nur Sozialwissenschaftler oder Strafrechtler ausdenken, die alles daran setzen, das überkommende Strafrecht um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Denen es nicht um das Kind geht, sondern nur um ihren eigenen Ruhm, einen unüberwindlichen Riegel erfunden zu haben, der das Kind für immer entmündigt – zumindest bis zu derjenigen Grenze, die man als Grenze seiner Unmündigkeit definiert. Warum es danach auf einmal urteilsfähig sein soll, braucht man nicht einmal zu erklären.
Das entmündigte Kind und das moderne Sexualstrafrecht – sie sind der größte Sieg derjenigen Kräfte, denen es weniger um Schutz als um Bestrafung geht, weniger um Schutz der Selbstbestimmung als um ihren Entzug, weniger um die Verwirklichung der Erkenntnisse der Französischen Nationalversammlung und ihrer ultramodernen Grundsätze als um deren Beseitigung.
Und wer dies nicht glaubt, der male sich selbst einmal eine Szene zwischen einem Mann und einem Mädchen aus, das den Mann lange genug kennt, um mit ihm eng vertraut zu sein – die Entwicklung einer Zärtlichkeit, die das Mädchen selbst wunderschön findet, obwohl oder gerade weil sie auch körperlich ist, sogar das Sexuelle berührend... Es ist egal, wie man sich diese Szene ausmalt, entscheidend ist nur, dass das Mädchen dies absolut will – und dass es hinterher sich kaum erinnern kann, einmal so schöne Momente erlebt zu haben.
Der Gesetzgeber aber würde dies, wenn er davon erfährt, verfolgen, in Gestalt der Exekutive, und würde den Mann vor Gericht bringen, wo der Richter ihn zu Gefängnis verurteilen würde – egal, wie sehr das Mädchen beteuert, dass es dies wollte, und in Tränen ausbricht, weil es nicht will, dass der Mann ins Gefängnis geworfen wird.
Strafrecht im 21. Jahrhundert... Unmenschlich. Anachronistisch. Allen wissenschaftlichen Studien widersprechend. Unfähig, drei Worte zu ändern...
Der Alttestamentler Haag schrieb in einem Werk, das die Bibel vom Vorwurf der Leibfeindlichkeit befreien wollte, über die spätere Leibfeindlichkeit des Christentums und den aufkommenden ,erschreckenden Rigorismus’:[9]
Jeder Sexualakt wird von der Person und ihren psychischen und menschlichen Bedingtheiten getrennt. Details lösen sich vom Ganzen. Sexualität wird grundsätzlich als böse oder doch wenigstens als bedrohend eingeschätzt.
Genau dies gilt auch für das moderne Sexualstrafrecht. Der Einzelfall und der gesamte menschliche Kontext spielt letztlich keine Rolle mehr...
In mehreren Romanen schildere ich gelingende Begegnungen zwischen einem Mann und einem Mädchen.►10 Zärtlichkeit ist in jedem Alter möglich. Und auch ein dreizehnjähriges Mädchen kann schon sehr empfänglich für Zärtlichkeiten sein, die weit in den erotischen und damit auch sexuellen Bereich hineingehen. Was zwischen einem Mann und einem Mädchen geschieht, wenn auch das Mädchen es wunderschön findet, dürfte eigentlich nie von irgendeinem Strafrecht sanktioniert werden. Aber die Schere beginnt schon im Kopf, wenn es etwa in einem Buch über Missbrauch pauschal und geradezu selbstherrlich heißt:[10]
In den Medien sind immer wieder Texte zu lesen, in denen es heißt, dass jemand „Sex mit einer Dreizehnjährigen“ hatte. [...] All dieses gibt es in der Alltagssprache, aber es beschreibt etwas, was es so per definitionem nicht geben kann. Sex – zu deutsch Geschlechtsverkehr (prosaisch) oder Liebesspiel (poetisch) – findet zwischen Menschen einvernehmlich und auf Augenhöhe statt. „Sex mit Kindern“ ist also ein beschönigender Ausdruck zur Verschleierung der Wahrheit, dass hier von den Machtverhältnissen her und auch nach dem Gesetz sexuelle Gewalt vorliegt.
So kann nur jemand schreiben, der sich nicht einmal mehr vorstellen kann, dass es zwischen Mann und Mädchen wahre, zutiefst vertrauensvolle Zärtlichkeit geben kann. Und dass Zärtlichkeit noch nie Grenzen kannte, wenn es nicht die Grenzen der Beteiligten selbst waren. Selbstverständlich kann auch schon ein dreizehnjähriges Mädchen unter bestimmten Bedingungen, die sie selbst ganz allein setzt, das Liebesspiel mit einem anderen Menschen, der ihr im Alter weit voraus ist, möglicherweise wunderschön finden. Körperliche Zärtlichkeit ist etwas Wunderschönes, wenn man einander voll vertrauen kann und dies gegenseitig möchte.
Da, wo gegenseitige Anziehung und tiefe Zuneigung da sind,[11] ist es absurd, die Einvernehmlichkeit und die Augenhöhe zu leugnen oder überhaupt solche in dieser Situation völlig abstrakt werdenden Begriffe zu verwenden, die nur da gelten, wo nicht der volle Wille beider Beteiligten vorhanden ist. Zu behaupten, dass er gar nicht da sein kann, ist nicht nur eine perverse Demütigung des Mädchens, sondern auch der Zärtlichkeit selbst. Man sollte sich einmal tief überlegen, was man hier eigentlich behauptet! In wirklichen Zärtlichkeitsbeziehungen und -begegnungen löst sich der Begriff und das Phänomen der ,Macht’ vollständig auf – es ist einfach nicht mehr vorhanden, weil es nur noch um Begegnung geht, zärtliche körperliche und seelische Begegnung.[12] Wer das nicht ernstnehmen kann, weil das Mädchen erst dreizehn ist, der sollte sich einmal aufrichtig überlegen, was für ein Menschenbild er eigentlich hat.
Selten sieht es sogar ein Gericht (!) einmal so klar, wie jene kanadische Richterin (!), die einen vierzigjährigen Cowboy freisprach, der eine gegenseitige Liebesbeziehung mit einem fünfzehnjährigen Mädchen gehabt hatte:[13]
Justice Smith noted the teen did not want to file a report to police and remained friends with the older man long after their sexual relationship ended.
The Crown argued Poncelet occupied a position of trust over the girl by virtue of his role as her coach, and as a result, she was more vulnerable to him.
The judge disagreed.
"It is difficult to see any inherent power imbalance and vulnerability in their relationship as seen through the lens of the young person's subjective experience," Smith said. [...]
"Something more than an age difference must exist in order to find the inherent power imbalance and vulnerability that is associated with trust relationships," Smith said.
Fußnoten
[1] Finkelhor D (1979): What’s wrong with sex between adults and children? Ethics and the problem of sexual abuse. American Journal of Orthopsychiatry 49(4), 692-697.
[2]● Monika Rapold: Schweigende Lämmer und reißende Wölfe, moralische Helden und coole Zyniker: zum öffentlichen Diskurs über ,sexuellen Kindesmissbrauch’ in Deutschland. Herbolzheim 2002, hier S. 313-330. Im Folgenden Seitenangaben in hochgestellten eckigen Klammern.
[3] Nämlich nicht nur ihre sexuelle Entwicklung beeinträchtigen, sondern sie auch für Missbrauch besonders anfällig machen.
[4] Siehe zum Beispiel Larry L. Constantine: The Effects of Early Sexual Experience. A Review and Synthesis of Research, in: ders. & Floyd M. Martinson (Hg.): Children and Sex. New Findings, New Perspectives. Boston 1981, p. 217-244. • Constantine untersuchte dreißig Studien. In dreizehn zeigte die Mehrheit keine negativen Folgen.[315]
[5] So schreibt Kavemann: ,Gewalt ist immer eine überaus individuelle Erfahrung. Was Gewalt ist, was sie bedeutet und wie sie sich auswirkt, das kann die einzelne Frau, das einzelne Mädchen nur für sich selber sagen. Niemand von uns kann hingehen und für eine andere sagen: „Da hast Du ja noch einmal Glück gehabt. Das was Dir passiert ist, ist ja nicht so schlimm wie das, was andere erlebt haben“. Gewalt ist immer schlimm.’ Barbara Kavemann: Sexueller Mißbrauch im Kindesalter – Einführung in die Problematik, in: Joachim Walter (Hg.): Sexueller Mißbrauch im Kindesalter. Heidelberg 1989, S. 11-34, hier 17.[321] • Das heißt, niemand darf einem Mädchen eine Gewalterfahrung ausreden – aber offenbar bleibt kein Raum dafür, dass ein Mädchen eine Erfahrung haben darf, die es nicht als Gewalt bezeichnet, der ,Kinderschützer’ (oder Gesetzgeber) aber schon...
[6] Sebastian Anders: Das impotente Kind. Die tautologische Argumentationsbasis anerkannter Experten für Kinderschändereien aller Art. Gigi 38, Juli 2005. • Siehe auch: „Es geht um Lust“. Kinder müssen nicht sexualisiert werden, sie sind bereits sexuelle Wesen, sagen Silke Moritz und Sven Vöth-Kleine von der Beratungsstelle Pro Familia in Hamburg. Ein Problem damit hätten bloß die Erwachsenen, die das nicht akzeptierten. taz.de, 19.1.2013.
[7] Sandor Ferenczi (1933): Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind (Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft). Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 19(1/2), 5-15, hier 13. Archive.org.
[8] So schreibt Lautmann: ,Die deutsche Sexualforschung hat mit dem Gesichtspunkt der Ungleichzeitigkeit eine eigenständige Position markiert, an deren kritischer Potenz die Pädophilie nicht vorbeikommt. Daß die sexuelle Handlungsfähigkeit eines Kindes erst partiell ausgebildet ist, daß seine Sexualobjekte und -ziele erst vorbereitet, aber noch nicht gefestigt sind, das läßt sich einfach nicht bestreiten.’ Rüdiger Lautmann: Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen. Hamburg 1994, S. 53.[327]
[9] Herbert Haag & Katharina Elliger: „Stört nicht die Liebe“. Die Diskriminierung der Sexualität – ein Verrat an der Bibel. Olten 1986, S. 42.
[10] Christian Füller. Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen. München 2015, S. 11.
[11] Ich spreche hier wirklich von Liebe eines Mannes zu einem Mädchen und auch von umgekehrt tiefer Zuneigung. Es geht hier nicht um sexuelle Ausbeutung, sondern im Gegenteil um tiefe seelische Nähe! • Ich zitiere noch einmal Fuller: ,Der Missbrauch entspringt unserer Sexualität in Kombination mit dem Missbrauch von Macht.’ Ebd., S. 254. Ganz genau! Da, wo Macht weder miss- noch überhaupt gebraucht wird, kann auch von Missbrauch niemals die Rede sein! Jeder wirklich Liebende legt alle Macht ab und verzichtet auf sie, er besitzt sie gar nicht mehr. Tut er es, ist er kein Liebender mehr. Die Liebe manipuliert nicht.
[12] Schon Fourier schrieb über die Liebe: ,Keine andere [Leidenschaft] überwindet so mühelos alle Entfernungen; das einfache Hirtenmädchen wird einem König ebenbürtig, sobald die Liebe es befiehlt. Schon in dieser Welt schafft sie eine spontante Gleichheit, welche die Religionen erst im Jenseits vorsehen.’ Charles Fourier: Aus der Neuen Liebeswelt, übers. Eva Moldenhauer. Berlin 1977, S. 59, dort zitiert Ouevres complètes, Band VII ,Le Nouveau Monde amoureux’ (um 1818), Paris 1967, S. 17.
[13] Robert Koopmans: Sex between man, 40, and girl, 15, ruled not criminal. Vancouver Sun, 26.2.2008. www.pressreader.com.