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,Der Kinderfreund’ (Serie ,Bloch’, 2007)
Im Folgenden wollen wir die geballte Dogmatik am Beispiel zweier Filme miterleben, die das Thema der Liebe zu einem Mädchen auf sehr unterschiedliche Art thematisieren – während die (überwiegende) mediale Reaktion in stets gleicher Weise das Dogma kritiklos fort- und fortsetzt.
Am 13. Juni 2007 lief im Fernsehen in der Serie ,Bloch’ die Episode ,Der Kinderfreund’ über einen ,pädophilen’ Lehrer. Da das betreffende Mädchen zwölf Jahre alt und schon sehr zart weiblich ist, kann es sich ebensogut oder sogar eher um ein parthenophiles Begehren handeln.
Die Handlung in Kürze:[1] Der massige, unkonventionelle Psychiater und Psychotherapeut Bloch bemerkt, als er seinen Stiefsohn Tommy von der Schule abholt, wie dessen Klassenlehrer Liebknecht zu einer Mitschülerin sehr zärtlich ist. Nach längerer Überlegung konfrontiert Bloch ihn unumwunden. Auf dessen Ausflüchte, Marlene brauche nur Zuwendung, da ihr Vater die Familie verlassen und die Mutter wenig Zeit habe, stellt Bloch ihn vor zwei Alternativen: Eine Therapie, oder er geht zum Direktor.
Bloch fordert von Liebknecht, seinen Beruf aufzugeben und seine Frau einzubeziehen, was dieser erst nach längerer Zeit über sich bringt. Zunächst erwischt Bloch ihn aber mit Marlene im Kino und erfährt, wie dieser auch mehrmalige Begegnungen in einem Imbiss verschwiegen hat.
Marlene sucht immer wieder die Aufmerksamkeit ihres Lehrers, und als er ihre Avancen abzuwehren beginnt, rebelliert sie und stört provokant den Unterricht.[2] Bloch versucht, für Liebknecht und seine Frau eine neue, tragfähige Beziehungsgrundlage zu ebnen.
Als die Mutter erfährt, dass jemand am Abend mit Pizza und Bier bei Marlene war, die auch einen ,Knutschfleck’ hat, fällt der Verdacht schnell auf Liebknecht. Auf die entsprechende Frage durch Blochs Lebensgefährtin lächelt Marlene nur verliebt. Auch Liebknechts Frau glaubt ihm nicht und zieht erst einmal auf Probe aus. Bloch erzählt er dann, dass er an jenem Abend vor Marlenes Haus im Auto saß und jemand bei ihr war.
Marlenes Mutter hat deren Tagebuch gelesen und bringt dies in einen Krisen-Elterabend, wo Liebknechts sofortige Entlassung gefordert wird. Doch der anwesende Bloch deckt auf, dass ein Junge bei Marlene war – der Sohn eines besonders anklägerischen Vaters. Später erwähnt Liebknecht gegenüber seiner Frau eine neue Berufsperspektive in der Erwachsenenbildung.
Die Situation eskaliert jedoch, als Marlenes Mutter einen anonymen Brief über Liebknechts Therapie erhält.[3] Damit ist er an der Schule unmittelbar unhaltbar geworden. Als er sich sehr kurz von seiner Klasse verabschiedet, rennt Marlene ihm hinterher und bittet ihn mehrfach, nicht zu gehen. Schließlich springt sie in sein Auto, und er muss mit ihr losfahren, um kein Aufsehen zu erregen. Sie bittet ihn, mit ihr zu schlafen. Dann sind beide verschwunden. Bloch ist fassungslos und hält sich bereits für schuldig an einem schlimmen Unglück. Aufgebrachte Eltern beschimpfen ihn.
Liebknechts Frau hat eine Idee, wo die Hütte im Wald, die er Bloch gegenüber einmal erwähnt hatte, eventuell sein könnte. Als Bloch mit seiner erwachsenen Tochter die Hütte sucht, werden sie von einer Gruppe Eltern verfolgt, die geradezu zur Lynchjustiz entschlossen scheinen. Bloch erfährt, dass Liebknecht, den er sogar vor einem Suizid durch Tabletten rettet, Marlene längst unterwegs abgesetzt hatte, aber ihm wird nicht geglaubt. Ein Vater wirft Feuer in die Hütte – und letztlich kann Liebknecht nur in letzter Sekunde mit vereinter Kraft aus dieser gerettet werden. Am Ende zieht er mit seiner Frau um und beginnt ein neues Leben.
Bevor ich weiter auf den Film eingehe, zunächst einige Pressestimmen.
Schlichtweg ärgerlich ist ein Untertitel des ,Tagesspiegel’, wo es heißt:[4]
Was sein kann, nicht sein darf: Ein „Bloch“-Film zum Thema Kindesmissbrauch. Die ARD spielt mit dem Feuer.
Offenbar also darf die Tatsache, dass sich manche Männer (nur) von einem jungen Mädchen erotisch angezogen fühlen, nicht einmal thematisiert werden, oder wie ist der letzte Satz zu verstehen? Der Untertitel stammt wahrscheinlich überhaupt nicht von der Autorin selbst, die im Text ,die kleine Lolita’ erwähnt und schreibt, ,die Dialoge entfernen sich erfreulich weit von den gewohnten Stereotypen’.
Auch der ,Spiegel’ lobt die Abkehr von der archaischen Schwarz-Weiß-Malerei bei dem Thema:[5]
Kinderschänder gehen immer. Wenn den Autoren deutscher Fernsehkrimis mal nichts einfällt, kramen sie gerne die Figur des Pädophilen heraus. Ein billiger Trick, um zum dramaturgischen Nulltarif die schwärzesten Alpträume und innigsten Rachegelüste des Publikums zu befeuern. Man folgt da auch beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen gerne der Logik des Boulevards, wo man das Thema ausbeutet, ohne sich ernsthaft mit ihm zu beschäftigen. Als wollte man sich auf ewig den Kindesmissbrauch als absolute Manifestation des Bösen bewahren. [...]
Die stille und unaufgeregte Episode der Reihe "Bloch" [...] stellt so gesehen einen Tabubruch dar. Hinschauen statt wegschließen: "Der Kinderfreund" [...] ist die detailgenaue, durchaus auch emotionale Annäherung an einen Pädophilen. Es geht um seine Verzweiflung, seine Einsamkeit, seine Sehnsucht. Manchmal hat man sogar ein bisschen Mitleid mit dem Mann. Ein riskanter Akt. Doch Regisseur Killian Riedhof und Autor Marco Wiersch arbeiten präzise; der schmale Grat vom Verständnis zur Verharmlosung wird niemals überschritten. [...]
Heilung klingt gut, aber wie soll das gehen? Die Macher dieses ungeschönten Krankenberichts geben sich da keinen falschen Illusionen hin. "Ein sexuelles Verlangen kann man nicht heilen", erklärt Bloch an einer Stelle. Man kann nur damit umgehen, auf dass niemand zu schaden komme. [...] Die rigorose Selbsterkundung ist ebenso unvermeidlich wie die Einsicht, die destruktive Libido bis ans Lebensende im Zaum halten zu müssen. "Ich bin ein Monster", sagt der Patient einmal, der bislang noch nicht zum Täter geworden ist. "Ich finde, Sie sind auf einem guten Weg", antwortet trocken sein Therapeut. [...]
[...] Die Erkenntnis, dass die schmerzhafte Therapie mehr pädophil motivierte Gewalt zu verhindern vermag als all die vollmundig geforderten Verwahrforderungen, bedarf eines extrem mündigen Zuschauers.
Wer billige Lösungen bevorzugt, braucht ja nur auf den nächsten revanchistischen Kinderschänderkrimi warten. Der kommt bestimmt.
Auch diesen Artikel kann man bereits kritisch kommentieren. Mitleid oder gar Verständnis gegenüber dem Protagonisten wäre also bereits ein ,riskanter Akt’? Mit anderen Worten: ihn als ,Monstrum’ zu sehen, damit ist man doch viel eher auf der ,sicheren Seite’... Und für all jene, die nicht den Mut zu tieferem Verständnis haben, ist es doch sehr, sehr befriedigend und vereinfachend, wenn ein solcher Mensch sich praktischerweise selbst als ,Monster’ sieht – und man ihm dann gnädig zugestehen kann, er sei (immerhin) auf einem ,guten Weg’. Wieviel Hochmut in einer solchen Haltung liegt, die letztlich nicht das geringste Verstehen offenbart, muss jeder selbst bemerken.
Auf einer anderen Webseite heißt es ebenfalls lobend über Film, Drehbuchautor und Darsteller:[6]
Ein herausragender Film, weil er eine Diskussion ermöglicht! [...]
Dieter Pfaffs Bloch wagt sich mit „Der Kinderfreund“ an eines der letzten Tabu-Themen. Pädophilie sorgte in der Medienwelt bislang allenfalls für grelle Schlagzeilen. Der Psychologe und Drehbuchautor Marco Wiersch näherte sich dem Thema über eine real praktizierte Form der präventiven Therapie, wie sie an der Berliner Charité erprobt wird. [...]
[...] Ein Zwiespalt auf zwei Beinen, das sprichwörtliche schlechte Gewissen. Ein verkopfter und doch empfindsamer Mensch, dem man die Seelenqualen in jeder Sekunde ansieht, einer, der sich selbst verachtet, der sich mitunter ekelt vor sich selbst. „Der Kinderfreund“ bringt einem den Leidensdruck dieses Menschen näher. Er ist kein Monster. Und mit einer Therapie wird er wahrscheinlich „harmlos“ bleiben. Hinrichs: „Aber glücklich wird so jemand wie Michael Liebknecht nie.“
In einem Artikel einer Betroffenen-Webseite heißt es:[7]
[...] Angekündigt wurde der Beitrag als der erste Fernsehfilm, der sich in differenzierter und anspruchsvoller Weise mit dem Thema Pädophilie befasst. [...]
[...] Im Mittelpunkt der einfühlsam porträtierte Lehrer Michael Liebknecht: Ein zermürbter junger Mann, immer hin- und hergerissen zwischen Gefühl und Verstand, Begehren und Gewissen. Diese innere Zerrissenheit eines Pädophilen, seine Verzweiflung und sein Selbsthass, all das wurde durchaus realistisch dargestellt. [...]
In einem Punkt bleibt allerdings ein bitterer Nachgeschmack zurück. Auch wenn es hart klingt, aber Lehrer Liebknecht hat seine Grenzen eben nicht immer eingehalten. Es kam zwar niemals zum Sex mit der 12-Jährigen Marlene, dennoch hat er sich der Schülerin in eindeutig sexueller Weise genähert und damit eine Grenze überschritten, die man als Pädophiler nicht überschreiten darf. Ganz davon abgesehen, dass er in grober Weise gegen seinen Berufsethos verstoßen hat. Sicher: Liebknecht hat sich seinem Problem gestellt und rechtzeitig die Kurve gekriegt, aber letztendlich nur auf Druck von außen.
Da hätte ich mir eher einen Pädophilen gewünscht, der seine Grenzen kennt und einhält. Einen, der auf unverfängliche und rein freundschaftliche Weise mit Kindern umgeht, dem dafür aber sein innerer Leidensdruck zu schaffen macht. Die unausweichliche Gewissheit, seine Gefühle niemals leben zu können, dazu der ständige Zwang, sich verbergen und verstecken zu müssen – all diese Dinge sind für viele Betroffene eine große Belastung. Diese Seite hätte man ruhig noch stärker thematisieren können, denn sie ist für die Betroffenen mindestens genauso bedeutsam wie der ständige Kampf, niemals zum Täter zu werden. So aber wurde letztlich doch wieder (wenn auch ungewollt) das Vorurteil vom unbeherschten Pädophilen bestätigt, der – zumindest unbehandelt – irgendwann eine Grenze überschreiten muss.
Kritisch anzumerken ist auch, dass Lehrer Liebknecht in seinem Habitus eher dem regressiven Tätertyp entspricht und nicht so sehr dem Kernpädophilen. Deutlichstes Indiz war Liebknechts eigene Aussage, dass seine pädophilen Phantasien erst im Laufe der Ehe aufgetaucht sind [...].
Hier argumentiert ein Betroffener, der selbst jederzeit ,die Grenzen einhält’. Allerdings kann man sich fragen, wie sehr hier im Kopf Grenzen akzeptiert werden, die von einer ganz bestimmten Auffassung geprägt sind.
Nehmen wir der Einfachheit halber einmal an, Liebknecht wäre kein Lehrer – und Marlene würde aber genauso für ihn schwärmen. Das Reden von ,Grenzen einhalten’ zielt doch teilweise einfach nur auf dasjenige, was sich als Auffassung etabliert hat, ohne dass es noch in irgendeiner Weise hinterfragt wird – und so hat jeder bereits die ,Schere im Kopf’.
Was, wenn das Mädchen sich Zärtlichkeit wünschen würde? Machen wir uns nichts vor: Mit vierzehn wäre Marlene frei, zu tun und zu lassen, was sie wollte, wenn Liebknecht keine Betreuungsperson wäre. Und sehr wohl kann ein Mädchen auch schon mit zwölf ein Bedürfnis nach größerer Nähe haben, als es unsere Schere im Kopf zulassen will. In einer Szene berührt Marlene im Kino absichtlich Liebknechts Hand – und wir können uns bequem auf die Vorstellung zurückziehen, dass sie das tut, weil sie um dessen eigenes Begehren weiß und ihn daher auf seinem (erwachsen-erotischen) Gebiet an sich binden will ... oder aber wir können die Vorstellung zulassen, dass auch Marlene selbst eine stärkere, auch körperliche Bindung möchte.
Und genau hier beginnt das Tabu. Allein schon die Vorstellung wehren wir ab – und fühlen uns damit fast selbst als ,halbe Pädophile’. Deswegen kann nicht sein, was nicht sein darf. Es kann aber sein. Marlene kann sich stärkere zärtliche Nähe eines erwachsenen Mannes wünschen, weil sie ihn liebt, ihn umschwärmt, ihn auf zarte, noch recht kindliche Weise begehrt.
Wie sehr wir all diese Gedanken von uns weisen, zeigt sich in dem Dialog, als Liebknecht seiner Frau gestehen muss, dass er sich in der Schule in ,jemanden’ verliebt hat. Sie vermutet zunächst eine Kollegin, dann eine Schülerin in seinem Physik-Leistungskurs. Er weint und sagt, es sei ein Mädchen aus seiner siebten Klasse. Daraufhin fällt sie aus allen Wolken und das geballte gesellschaftliche Urteil steht unmittelbar vor uns:[3, 3:50]
Das glaube ich nicht … du stehst auf kleine Mädchen!?
Abgesehen davon, dass sich hierin wie so oft in diesem Zusammenhang eine absolute Diskriminierung von Mädchen ausdrückt (Mädchen seien doch noch absolut nicht vollwertig, es sei völlig absurd und pervers, ihnen etwas abzugewinnen),[8] folgt sogleich das nächste Klischee: ,Hast du einem Mädchen was angetan?’[9] Daraufhin versichert Liebknecht: ,Nein, das würde ich nie tun, da würde ich mich gleich umbringen.’ Und trotz dieser ganz klaren Aussage, fügt Bloch oberlehrerhaft, ganz der vorbildliche Therapeut, hinzu: ,Ihr Mann versucht, gegen diese Neigung anzugehen. Sie können helfen.’
Solange der Mann sich also den kollektiven Forderungen der Gesellschaft unterwirft – seine Neigungen zu unterdrücken, gegen sie anzugehen versucht –, ist er ein gerade noch geachtetes, ja für seine ,heroische Vernunft’ sogar sehr geachtetes, wenn auch fortan und für immer argwöhnisch beäugtes Mitglied der Gesellschaft.
Aber was, wenn ein Mann und ein Mädchen sich lieben würden? Sie dürfen es schlichtweg nicht – und es ist die Aufgabe des Mannes, dies zu verhindern. In einem Dialog konfrontiert Bloch Liebknecht ganz selbstverständlich, dominant, eindringlich, geradezu intrusiv:[2, 8:50]
,Was meinen Sie denn, warum das Mädchen Ihnen über die Hand gestrichen hat? Es ist kurz davor, sich in Sie zu verlieben – und Sie wissen das! [...] Leute wie Sie nehmen so ein Kind nicht mit Gewalt. Sie sind zärtlich zu ihm, sehr aufmerksam, streicheln es, hören gut zu, laden es ins Kino ein und zu Popcorn, und irgendwann liebt Sie das Kind so sehr, dass es mit allem einverstanden ist. – Und dann [einige Jahre später, H.N.] ist Marlene erwachsen und ist verzweifelt nicht nur über den Missbrauch, sondern auch über den Gedanken, dass sie selber damit einverstanden war.’
,So was wollte ich nicht.’
,Doch, Sie wollten das. Es ist Ihnen vielleicht nicht bewusst – aber das wollten Sie.’
Der perfide Punkt dieser Darstellung ist, dass hier unterstellt wird, dass der das Mädchen liebende Mann dann, wenn dieses ,mit allem einverstanden’ ist, nicht mehr erkennen könne, was die Bedürfnisse des Mädchens sind und was nicht. Es mag sein, dass dies auf sehr viele Pädophile zutrifft, die sich dann tatsächlich ,nehmen’ würden, was sie schon immer ersehnt haben – aber auf sehr viele andere Männer trifft dies eben keineswegs zu, auch nicht auf solche, die ein Mädchen streicheln und damit, auch nach Ansicht bestimmter Pädophiler, bereits ,Grenzen übertreten’ haben.
Die allein gültigen Grenzen setzt nicht die Gesellschaft, sondern das Mädchen. Und damit meine ich nicht die Grenzen, die sie vielleicht nicht setzt, weil sie sich selbst in zu große Zugeständnisse hineinmanövriert, die sie machen zu müssen glaubt, sondern ich meine die echten Grenzen des Mädchens. Wer ein Mädchen wirklich liebt, wird diese in jedem Moment spüren – in jedem. Und das bedeutet nicht, ein Mädchen überhaupt nicht zu berühren. Wenn das Mädchen berührt werden möchte, liegt die Grenze woanders.
Wir haben heute überhaupt keine Vorstellung mehr – oder noch nicht –, wie Berührungen zwischen einem Mädchen und einem Mann aussehen könnten, die für beide etwas tief Erfüllendes haben, ohne einem von beiden (insbesondere dem Mädchen nicht) Unrecht zu tun. Wir haben keine Vorstellung mehr, weil wir von vornherein eine aseptische Mauer errichten, obwohl das Bedürfnis nach auch körperlicher Nähe und Zärtlichkeit nicht über Nacht plötzlich da ist, sondern sehr allmählich zunimmt. Wir dagegen leugnen völlig wirklichkeitsfremd, dass auch ein zwölfjähriges Mädchen schon Bedürfnisse haben kann. Die Kunst wäre, diese Bedürfnisse zu achten – und sie weder zu ,überfahren’ noch viel zu früh ,zurückzuschrecken’ und sie auch dadurch nicht zu achten!
An einer Stelle fragt Blochs Tochter das Mädchen nach jenem noch Unbekannten, der an einem Abend bei ihr war:[5, 8:30]
,Magst du ihn denn?’
,Wen?’
,Deinen Freund.’
,Das ist kein Freund, er wollte rummachen, ist halt’n Mann!’
Hier scheint völlig deutlich zu werden, dass Marlene Zärtlichkeiten aller Art noch eindeutig ablehnt – als erwachsene Sexualität, nach der sie noch keinerlei Bedürfnis hat. Für den Zuschauer ist dies zumindest ein ,Wink mit dem Zaunpfahl’. Was aber streng genommen nur deutlich wird, ist, dass der Junge, der bei ihr war, etwas wollte, was sie nicht wollte, vielleicht sogar zudringlich geworden ist. Das ist ihr definitiv zu ,erwachsen’. Aber mit ,Mann’ meint sie nicht Mann – denn sonst würde sie nicht in Liebknecht verliebt sein –, sondern diese Art von unempathischer Körperlichkeit. Es ist also eine Art von Zärtlichkeit denkbar, die Marlene sehr wohl mit Liebknecht wünscht und erträumt, die aber das Gegenteil von dem wäre, was ,ein Mann’ ist. Das Wesen eines Mädchens ist eben viel komplexer, als es schnell mal eben konstruiert oder definiert wird.
Für Liebknecht bedeutet das: Keineswegs wünscht Marlene von und mit ihm das, was der Junge vorhatte. Und dennoch könnte es etwas sehr Ähnliches gewesen sein – nur dass sie gewusst hätte, dass Liebknecht viel zärtlicher, viel empathischer, viel liebevoller sein würde und sie sich nur bei ihm wirklich geborgen fühlen würde. Dass dies absolut nicht abwegig ist, zeigt folgender Dialog, als Marlene in sein Auto gesprungen ist, nachdem er sich von der Klasse verabschiedet hat, und er mit ihr losgefahren ist:[7, 8:30]
,Wollen Sie noch was mit mir essen?’ (bittend-sehnsüchtig)
,Ich kann nicht!’
,Warum nicht?’
,Weil … weil alle denken, dass ich was Schlimmes von dir will.’
,Weil Sie gern mit mir schlafen wollen?’
,Ja, so ungefähr, ja.’
,Können Sie ruhig.’
,Das geht nicht. Das geht nicht.’
,Ich bin nicht die Erste aus unserer Klasse, ich bin nicht blöd, ich weiß, wie das geht.’
Sie stützt sich auf sein Bein und sagt nah an seinem Ohr:
,Bitte. … Bitte...’
In dieser Szene ist völlig offensichtlich, dass Marlene ihn ,halten’ will. Schon das ,Können Sie ruhig’ zeigt, dass sie nicht die geringste Ahnung hat, wovon sie spricht, und der nächste Satz bestärkt dies noch. Aber wie sie ihn dann mit allen Mitteln zu ,bezirzen’ versucht, zeigt, dass sie keinerlei Angst oder Abscheu vor Nähe mit ihm hat, im Gegenteil, sie vielleicht in anderer Weise schon längst haben wollte...
Letztlich wissen wir es nicht. Wir wissen aber auch das Gegenteil nicht. Denn auch Marlene hat die gesellschaftliche Mauer in den Köpfen natürlich längst aufgenommen. Auch sie weiß, was sie im Grunde ,darf’ und was nicht. Dass sie sich mitten im Unterricht provokativ auf den Boden legt, offenbart, dass sie Liebknecht im Grunde derart liebt, dass sie Grenzen zu überschreiten wagt. Nur würde ein Mädchen das direkt dennoch nie von sich aus tun, nicht einem angeschwärmten Mann gegenüber. Schon die absichtliche Berührung seiner Hand im Kino und dann das Sich-Stützen auf sein Knie, um nah an seinem Ohr zu sagen, dass sie zu Zärtlichkeiten ,bereit’ ist, ist für ein Mädchen etwas Ungeheuerliches. Zu behaupten, sie könne keinesfalls Zärtlichkeiten mit Liebknecht gewollt haben, hieße, die Augen vor der Realität zu verschließen.
Ein zutiefst verantwortungsvoller, pädophil empfindender Mensch, der selbst nie einen sexuellen Kontakt irgendeiner Art zulassen würde, formuliert es genau übereinstimmend, aber verbunden mit seiner eigenen Haltung, mit folgenden Worten:[10]
Ich hege die feste Überzeugung, dass meine Liebe zu Kindern so stark ist, dass ich sie niemals, weder durch geschickte Manipulation, noch mit Gewalt, zu sexuellen Handlungen bringen würde. [...] Wenn ich einem Mädchen freundlich, aufmerksam und zuvorkommend begegne, dann hat das natürlich etwas mit Sympathie und zärtlichen, liebevollen Empfindungen zu tun, ‒ aber es erwächst daraus keine übermächtige sexuelle Begierde, die alle freundlichen Bekundungen der Intention unterwirft, das Mädchen „ins Bett zu bekommen“.
Womit wir auch schon beim leidlichen Thema der „einvernehmlichen Sexualität“ wären. Glaube ich daran, dass es diese zwischen Kindern und Erwachsenen gibt? Nun, ich halte sie zwischen einem Mädchen zu Beginn der Pubertät, sagen wir ab 12, und einem erwachsenen Mann unter bestimmten und unbestimmten Voraussetzungen in Ausnahmefällen nicht für völlig ausgeschlossen (Schock!). Aber die Wahrscheinlichkeit, ein solches Mädchen zu treffen, das sich wissentlich und willentlich auf sexuelle Handlungen mit einem Erwachsenen einlässt und davon keinen Schaden nimmt, halte ich für so gering, dass ich eben solche Sexualkontakte grundlegend ablehne. Die Gefahr, eine Kinderseele zu zerstören, ist viel zu groß!
Das ist entscheidend. Es wären tiefe Schicksalsbegegnungen, in denen ein Mädchen wirklich auch zärtlich mit diesem und genau diesem einen Mann sein wollen würde...
Liebknecht aber sehnt sich sehr wohl tief nach solcher Zärtlichkeit mit dem Mädchen. Der Höhepunkt der Episode ist jene Szene, wo Bloch ihn dazu bringt, seine Phantasien mit Marlene auszusprechen – und dann einen Blickwechsel einfordert:[7, 2:00][11]
,Ich würde Marlene in mein Auto bitten und mit ihr wegfahren. ... Ich weiß einen Platz, da würde ich mit ihr hinfahren ... und dann würden wir spazieren gehen. ... Dann würden wir zu Abend essen. ... Dann würden wir uns hinlegen. Es gibt da nur ein Bett. ... Sie hat ein Nachthemd an. Ich würde ihr ganz vorsichtig über das Nachthemd streicheln. ... Ich würde ihr das Nachthemd ein Stückchen hochziehen.’
,Stopp. Und jetzt erzählen Sie weiter aus Marlenes Sicht.’
Mein Lehrer liegt vor mir. ... Ich seh nur seine Brust. ... Er atmet ganz komisch. Er ist anders als sonst. ... Er fasst mich überall an.’
,Und ist das ein gutes Gefühl?’
,Nein. Ich versuche nur, an etwas Schönes zu denken. Weg zu sein.’
,Und gelingt dir das?’
,Nein.’
,Und wo fasst er jetzt hin?’
,Zwischen meine Beine’
,Ist das gut?’
,Nein. Es tut weh. Ich hab Angst.’
,Und dann?’
,Ich sage ihm, er soll mich in Ruhe lassen. Ich mag das nicht, das ist meins.’
,Und lässt er dich in Ruhe? … Was denkst du über Herrn Liebknecht?’
,Ich denke, dass er mir die ganze Zeit etwas vorgespielt hat, um das hier zu machen.’
,Und du, was machst du dann?’
,Ich warte, bis er schläft, dann renne ich in den Wald.’
,Magst du Herrn Liebknecht noch?’
,Nein, ich hasse ihn, ich hasse ihn!’
Dieser Dialog ist absolut beeindruckend. Er repräsentiert das, was als ,Perspektivwechsel des Täters’ bezeichnet und in dem erwähnten Therapieprojekt der Charité ebenfalls gefordert wird.
Es ist beeindruckend, wie dies Liebknecht auf Anhieb gelingt – geradezu perfekt, wodurch es zugleich unglaubwürdig wird. Wie auch immer – dass er in dieser Weise Marlenes Perspektive einnehmen kann, zeigt seine Liebe. Ein ,Triebtäter’ könnte dies schlichtweg nicht.
Völlig unglaubwürdig und unrealistisch wird diese Szene aber dadurch, dass Liebknecht bereits vorher eindrücklich gesagt hatte, dass er sich lieber umbringen würde, als einem Mädchen etwas zu tun. Was er hier jedoch schildert, ist ein Überwältigtwerden von seinem Begehren und seiner Sehnsucht, bis dahin, dass er schildert, er könnte ihr ,zwischen die Beine fassen’, obwohl er im nächsten Moment Schmerzen und Angst des Mädchens beschreibt! Wenn man ein Mädchen wirklich liebt, ist ein solches Szenario nahezu völlig ausgeschlossen.[12] Zudem ist es absolut nicht wahr, dass er Marlene auch nur einen Moment etwas ,vorgespielt’ hat. Er hat sie immer geliebt – und zwar in Wirklichkeit. Und deshalb schildert Liebknecht nach dem Perspektivwechsel nicht sein wahres Wesen, sondern eine grauenvolle Karikatur, für die er sich, vom Dogma indoktriniert, selbst hält.
Wie eine einsame Situation in einer Hütte wirklich abgelaufen wäre, kann niemand wissen – jedenfalls aber nicht so. Vielleicht wäre es mit einer Enttäuschung von Marlene verbunden gewesen – aber nicht in dieser Form. Vielleicht wäre es eine sehr zärtliche Begegnung geworden – in einer Form, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Liebknecht jedenfalls hatte bei weitem genug Empathie, dass letztlich alles möglich wäre. Es hängt nur von Marlene ab und davon, was sie wirklich wollte – und das können selbst wir nicht wahrhaft wissen.
Liebknecht aber hält sich für Abschaum:[9, 0:10] ,Lassen Sie mich in Ruhe. Ich bin Dreck, ich bin der letzte Dreck und ich bin Müll.’
Seiner Partnerin sagte Bloch, als die Situation eskalierte:[7, 0:00] ,Der Mann hat noch nichts gemacht, er hat es nur gedacht! ... Dieser Mann tut etwas, wozu die meisten Menschen keinen Mut haben! ... Er stellt sich seinen Abgründen!’ Und auch seine Frau sagt der Polizei:[8, 3:10] ,Mein Mann liebt Kinder, vielleicht ein bisschen zu viel, aber er wird ihnen nichts tun!’
Hier geht sehr viel durcheinander. Die entscheidende Frage ist, was eine Gesellschaft als ,Abgründe’ definiert. Es ist verlogen und paranoid, bereits von ,Abgründen’ zu sprechen, wenn man zu einem Mädchen zärtlich ist. Nur aufgrund dieser Verlogenheit kann eine solche Gesellschaft Menschen im Handumdrehen zu ,Monstern’ abstempeln – sämtliche Begriffe verkehren sich hier, und es entsteht das völlige Chaos.
Der einzige Maßstab ist das Mädchen. Liebknecht ist kein ,Dreck’, im Gegenteil. Er hat Marlene sogar Halt gegeben, als sie niemanden sonst hatte, selbst ihre Mutter ständig beschäftigt war. Doch die Eltern sehen ihren eigenen Missbrauch nicht – wer aber einem Mädchen Zuneigung und Zärtlichkeit gibt, die das Mädchen zu Beginn des Filmes eindeutig genießt ... der ist ein Monster.
Die hässlichen, weil hasserfüllten Eltern, die Bloch zur Hütte folgen, sind von einem Lynchmob nicht weit entfernt. Sogar Blochs Tochter wird geradezu brutal das Handy aus der Hand gerissen, als sie die Polizei holen will. Überall findet Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern statt[13] – doch nichts wird derart dämonisiert wie ,vielleicht ein bisschen zu viel’ Liebe. Dabei braucht ein Kind dieses ,Zuviel’ vielleicht gerade dringlich, weil die übrige Umwelt ihm nur ein Zuwenig gibt. Diesen Missbrauch würden die Gutmenschen aber nie zugeben...
Und so bleibt die Welt schwarzweiß: Der mit der Liebe zum Mädchen ist das Monster, die anderen sind die Guten... Und von all den Vernachlässigungen, Demütigungen überall in der Nachbarschaft oder von all den nach Liebe hungernden Kindern wird nicht gesprochen. Verlogene Welt!
Und gleichzeitig kann die eigene Erkenntnis, dass ein Mädchen erotisch anziehend sein kann und man sich in ein Mädchen verlieben kann, stets vorbildlich und erfolgreich abgespalten werden. Abstrakt-intellektuell kann man dies immer anerkennen, so heißt es zum Beispiel in einem weiteren Zeitungsartikel souverän kommentierend:[14]
[...] die junge Marlene (schöne Nymphe, leicht geschminkt: Chantel Brathwaite).
Aber natürlich würde der Autor selbst nie etwas für ein solches Mädchen empfinden – niemals! ,Nymphe’ ist hier nur die nüchtern applizierte Kategorie des Darstellungstyps. Die Schauspielerin spielt eben eine ,Nymphe’, die sich zart lolitahaft in den Lehrer verliebt hat. Uns als Kommentator lässt das völlig kalt. Und deshalb ist Liebknecht ja so monströs – weil wir nie auch nur im Ansatz von so einem kindlichen, noch ganz unvollständigen, Welten von unserem rationalen Verstand entfernten Mädchen berührt sein würden, erst recht nicht erotisch! In hundert Jahren nicht... Und so wird die Verdrängung auch in hundert Jahren noch perfekt vonstatten gehen...
Ähnlich auch folgende Rezension unter dem Titel (!) ,Therapie für ein Monster’:[15]
[...] So wird jene Szene zum Höhepunkt des Dramas, als Bloch seinen Patienten Liebknecht in eine therapeutische Inversion zwingt. Wo der Pädophile also in die Rolle des Mädchens schlüpfen muss, um sich mit ihren Gefühlen auseinander zu setzen. Bis zum Äußersten. Ein Horror für beide Männer. Und für uns Zuschauer.
[...] Doch heute Abend erhalten wir eine ernsthafte Lektion in Sachen Vorurteile.
Wir können zwar Marlene bzw. ihre Darstellung völlig ohne erotische Empfindungen als ,Nymphe’ abhandeln, aber sobald es zu der Schlüsselszene kommt, müssen selbstverständlich auch unsere Emotionen pflichtgemäß hoch schlagen: ,Ein Horror für beide Männer. Und für uns Zuschauer.’ Selbstverständlich! Wem hier nicht die Gänsehaut kommt, der kann sich gleich selbst bei der Charité melden. Unterhalb von ,Horror’ läuft hier gar nichts. Und wieder haben wir aus einem Menschen ein Monster gemacht. Da gehen auch wir gern ,bis zum Äußersten’! Was dann noch die Erwähnung einer ,ernsthaften Lektion in Sachen Vorurteile’ soll, bleibt rätselhaft.[16]
Den Vogel in Verlogenheit aber schießt wie immer ,Bild’ ab. Dort heißt es gewohnt reißerisch schon im Titel: ,Wirbel um Pädophilen-Film’, und dann weiter:[17]
Es waren beklemmende Szenen, die Millionen TV-Zuschauern den Hals zuschnürten. [...]
Brachte das TV-Drama Verständnis für diese Täter auf? Oder war es wichtige Aufklärung? [...]
Der Lehrer sollte ihm exakt beschreiben, was er in seiner Fantasie mit dem Mädchen macht. Kurz vor dem Geschlechtsakt stoppte ihn der TV-Psychologe. Forderte den Mann auf, sich in die Situation der Schülerin zu versetzen und ihre Qualen zu beschreiben. [...]
Nach Schätzungen gibt es in Deutschland jährlich 60 000 Fälle von Kindesmissbrauch. [...]
„Es ist nicht akzeptabel, so einen Film zu zeigen, weil er unterschwellig die krankhafte Denkweise des Pädophilen toleriert“, sagt die Trauma-Therapeutin Roslies Wille-Nopens (70), die seit 30 Jahren Pädophile behandelt. [...]
Bei ,Bild’ geht es nicht einmal mehr nur um ,Horror’, nein, Millionen Zuschauern wurde der ,Hals zugeschnürt’. Allein schon diese verlogene Distanzierung könnte einen erbrechen lassen.
Dann der nächste Absatz: Hatte der Film eine wichtige Aufklärungsfunktion, oder brachte er (etwa!) Verständnis für ,diese Täter’ auf? Dass möglicherweise gerade Verständnis und ein Abrücken von der Schwarz-weiß-Dämonologie ein Stück Aufklärung sein würde, wird von ,Bild’ geschickt als unmöglich hingestellt.
Der nächste Absatz: ,was er in seiner Fantasie mit dem Mädchen macht’. Liebknecht hatte diese Fantasien nie gehabt! Bloch hat ihn dazu gebracht, sie das erste Mal wirklich zu haben. Wer ein Mädchen liebt, braucht keinerlei detaillierte Fantasien, um sich nach Zärtlichkeit mit ihr zu sehnen. Auch den ,Geschlechtsakt’ interpretiert ,Bild’ schlicht und einfach hinzu – denn möglicherweise wollte Liebknecht zunächst (oder überhaupt) nur, dass auch Marlene diese Berührung zwischen ihren Beinen als schön empfinden würde.[18]
Aber dann, so ,Bild’, habe Liebknecht sich in Marlene hineinversetzt, um ihre ,Qualen’ zu beschreiben. Darunter geht es also nicht. Wir befinden uns fortwährend in einem Horrorpanoptikum: Horror, zugeschnürte Hälse, Qualen...
Die einzige Qual von Marlene war, von Liebknecht enttäuscht worden zu sein – weil er begann, sie zu meiden und nicht mehr zärtlich zu ihr zu sein. Das war die Situation des Mädchens – und niemand, schon gar nicht ,Bild’, versetzt sich wirklich in Marlene hinein!
Aber ,Bild’ ist noch nicht fertig. Übergangslos wird die geschätzte jährliche Zahl der Fälle von ,Kindesmissbrauch’ referiert – und natürlich unterschlagen, dass maximal ein Viertel dieser Fälle auf echt pädophile Täter zurückgeht, während alle übrigen Fälle regressive oder antisoziale Täter und übrigens auch Frauen betreffen.[19]
Und schließlich gabelt ,Bild’ noch irgendeine Therapeutin aus Celle auf, die den Film sogar am liebsten zensieren würde, weil er ,unterschwellig’ die ,krankhafte’ Denkweise ,des’ Pädophilen ,toleriert’. Genau – lieber nicht zeigen, damit wir bei unserem Weltbild bleiben können: ,der’ Pädophile ist ein Monster. Fertig. Wegsperren.
Auch ,Bild’ interessiert nicht, dass sämtliche andere Formen von Kindesmissbrauch weit überwiegen. 2018 etwa wurde in über fünfzigtausend Fällen von den Jugendämtern eine ,Kindeswohlgefährdung’ festgestellt – ein Anstieg von zehn Prozent zum Vorjahr! Nur 5 % der Fälle betreffen sexuelle Gewalt, 26 % körperliche Misshandlung, 31 % psychische Misshandlung und 60 % Vernachlässigung.[20] All diese Täter und Kinder interessieren nicht – denn wir müssen das Bild des ,Monsters’ pflegen... Dieses ist gerade die Projektionsfläche, durch die wir für alles andere die Augen schön zu halten können...
Fußnoten
[1] Die Episode ist in neun Abschnitten à zehn Minuten auf YouTube zu sehen. Angaben von Abschnitt und Minute im Folgenden in hochgestellten eckigen Klammern.
[2] Es sei langweilig etc., sie legt sich sogar auf den Boden.[3, ab 7:20]
[3] Die Information kann nur auf jene Ursula zurückgehen, zu der Liebknechts Frau gezogen war.
[4] Barbara Sichtermann: Lehrer liebt Schülerin. Tagesspiegel.de, 12.6.2007. Auch für die direkt folgenden Zitate.
[5] Christian Buß: Mensch und Monstrum. Spiegel.de, 13.6.2007.
[6] Rainer Tittelbach: Reihe „Bloch – Der Kinderfreund“. www.tittelbach.tv, anlässlich der Wiederholung im NDR am 27.3.2017.
[7] TV-Kritik: Der Kinderfreund. schicksal-und-herausforderung.de, 14.6.2007 / 30.4.2011.
[8] Man vergleiche die Worte einer Ehefrau, wenn ein Mann eine jüngere Frau zu lieben begonnen hat: ,Was willst du denn mit der Schlampe!?’ Die Tatsache muss schlicht abgewehrt und abgewertet werden – hier also sind es ,kleine’ (!) Mädchen. Die Frau flüchtet sich verachtend in das Entsetzen über das als ,pervers’ kodierte Begehren.
[9] Das brutale Klischee liegt eben darin, dass ein gegenüber Mädchen etwas empfindender Mann massiv triebgesteuert sei, ein gegenüber Frauen etwas empfindender Mann jedoch nicht. Oder dass jener die Grenzen eines Mädchens eher überschreiten würde als dieser die einer Frau. Das Klischee liegt darin, dem Ersteren bloßes niederes Begehren zu unterstellen und an Empfindungen von Liebe nicht einmal zu denken. Die Liebe aber ist stets jene Kraft, die jeden Missbrauch und jedes ,etwas Antun’ verhindert... Lieblos aber tut man selber dem Liebenden Unendliches an, indem man ihm all diese Dinge unterstellt.
[10] Mein Name sei Gabriel. schicksal-und-herausforderung.de, Pädo-Erfahrungen.
[11] Bloch fragt mehrmals ,Und dann?’, dies ist hier weggelassen.
[12] Selbst zahllose allgemein auf Kinder fixierte Pädophile sagen aus, dass sie nur handeln können, wenn ,es dem Kind auch gefällt’. Liebknecht, der erstens sehr schüchtern und zweitens ausschließlich in Marlene verliebt ist, würde noch viel genauer sofort merken, wenn Marlene etwas nicht mehr gefällt. – Liebknecht drückt hier vielleicht eine Phantasie aus, aber er würde nie so handeln, wie er es hier in seiner schlimmsten Innenschau beschreibt, die nur dadurch zustande kommt, dass er sich ohnehin für ein ,Monster’ hält. Das Ende ist geradezu absurd. Es würde implizieren, dass Liebknecht sie in der Hütte festhielte. Marlene muss nicht angstvoll warten, bis er schläft, um in den Wald zu fliehen, die Situation würde sich ganz anders auflösen, viel konfliktfreier. • Am Ende des ,Perspektivwechsels’ sagt Liebknecht verzweifelt:[7, 5:50] ,Ich will das nicht! Ich bin ein Monster!’ Bloch erwidert: ,Ich finde, Sie sind auf einem guten Weg!’ Weit mehr als das: Auch hier beweist Liebknecht, dass er in Wirklichkeit nie so handeln würde. • Später, als Bloch Liebknecht allein in der Hütte findet, behauptet dieser zunächst, gemäß dem Monster-Bild, das insbesondere auch seine Umwelt von ihm hat:[8, 8:10] ,Sie ist weggerannt. Das Kind ist weggerannt.’ ,Was haben Sie mit ihr gemacht?’ ,Sie wollte ’n bisschen ficken.’ ,Das haben Sie nicht getan.’ ,Doch. Es wollte ficken. Dann hat es geheult. Und dann ist es in den Wald gerannt.’ Bloch verlässt die Hütte, währenddessen schluckt Liebknecht Tabletten, um sich umzubringen. Dann erkennt Bloch, dass dies völlig unmöglich ist:[8, 9:45] ,Warum lügen Sie mich an? Warum spielen Sie mir so ein Theater vor? ,Es wollte mit mir ficken!’ So können Sie nicht mal über Marlene denken! ’ • Und das ist die reine Wahrheit. Liebknechts Liebe zu Marlene ist viel zu groß, um all dies wirklich zu meinen. Er reproduziert hier nur das grauenhafte Bild, das seine Umwelt und (deswegen) er selbst von sich hat – das aber nicht einmal ansatzweise wahr ist.
[13] Zufällig war das nächste YouTube-Video nach ,Der Kinderfreund’ der Fernsehfilm ,Schattenkinder’ (2007), in dem ein kleines Mädchen von einer psychisch kranken, aber nicht unbedingt auffälligen Mutter zu Tode ,bemuttert’ wird. Wikipedia: Schattenkinder (Film). • Und in ähnlicher Weise gibt es viele, extrem perfide, unauffällige Formen von Missbrauch, über die fast nie gesprochen wird, an denen Kinder aber unendlich leiden und schließlich teilweise sogar gänzlich zugrundegehen...
[14] Arnold Hohmann: Ein Lehrer stellt sich seinen Abgründen. www.wr.de, 12.6.2007.
[15] Therapie für ein Monster. telekritik.de, 13.6.2007. • Webseite 2022 nicht mehr in Funktion.
[16] Offenbar will der Autor sich nur als aufgeklärt und bereit für Perspektivwechsel hinstellen – er steckt aber eben gerade voller Vorurteile. ,Doch heute Abend erhalten wir eine ernsthafte Lektion in Sachen Vorurteile. Allein das macht den Film so wichtig. Und Bloch unersetzlich – für die wirklich kranken Dinge in den Köpfen mancher Leute. Ja, Bloch ist tatsächlich einer, der des anderen Last tragen kann. Im Fernsehen!’ Ebd. • Bloch ist tatsächlich hundertmal weiter als dieser selbstgefällige, ,politisch hochkorrekte’ Schreiber.
[17] Bea Swietczak: Wirbel um Pädophilen-Film in der ARD. Bild.de, 13.6.2007. • Sogar das Alter des Mädchens wird falsch mit ,13’ angegeben.
[18] Diese Möglichkeit sollte man einmal sehr ernst nehmen. Viele Pädophile befriedigen sich hinterher selbst und wollen das geliebte Kind gar nicht mit ihrer (genitalen) Sexualität belasten. • Dass Marlene ihm sogar angeboten hat, mit ihm zu ,schlafen’ und er am Ende seiner Frau und Bloch gesteht, dass er beinahe ,ja gesagt’ hätte, ist etwas anderes. Bloch erwidert mit Recht: ,Aber Sie haben es nicht getan!’[9, 7:40] – Die Sehnsuchtsphantasien sind eben etwas grundsätzlich anderes als das reale Handeln. Auch mit einer Frau wird man nur schlafen, wenn sie es auch selbst möchte. • Dazu, dass Liebknecht sie in Wirklichkeit nicht einmal ,zwischen den Beinen’ angefasst hätte, siehe oben, Seite 418f.
[19] Sind alle Missbrauchstäter pädophil? www.schicksal-und-herausforderung.de.
[20] Deutlich mehr sexuelle Gewalt gegen Kinder. ÄrzteZeitung, 6.9.2019. • 2019 stieg die Zahl der Fälle erneut um 10 % auf rund 55.000. Die Prozentanteile blieben fast gleich. Kinderschutz: Jugendämter melden erneut 10 % mehr Kindeswohlgefährdungen. www.destatis.de, 27.8.2020.