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Von der Vernichtung des Eros
Es gab einmal eine Zeit, die die künstlerischen Bereiche der Aktfotografie und auch der erotischen Fotografie kannte – als vollkommen geschützten Bereich der in sich geschützten Kunst. In den 80er Jahren setzte jedoch eine Entwicklung ein, die Kinder und Jugendliche davon vollkommen ausnahm. Nicht etwa, weil dies keine Kunst wäre – künstlerisch wertvoll, ästhetisch hoch anspruchsvoll –, sondern weil Kinder ,geschützt’ werden mussten, so umfassend und unnachgiebig, dass auch auf diesem Gebiet – dem des Sich-Fotografierenlassens – der junge Mensch völlig entmündigt wurde, sei er Kind oder Jugendlicher.
Dies zeigt deutlich, dass es nie einfach nur um den Kampf gegen eine Kinderpornografie-Industrie ging, die Verbrechen begeht, indem sie Kinder für wüste sexuelle Handlungen rekrutiert. Sondern es ging immer auch um das nie aufgegebene puritanistische Erbe, das nun in einem irrationalen Prozess auf das Kind übertragen wurde – letztlich immer verstanden als ,Minderjähriger unter achtzehn’.
Ein allmächtiges, mit ungeheurer Kraft wirkendes Dogma hat sich durchgesetzt: Wie ein Gott, aber eher ein Götze, beeinflusst dieses unsichtbare Dogma sämtliche Handlungen und Geschehnisse, fließt in die Gesetzgebung, treibt sie voran, arbeitet sie immer feiner aus, lässt Gelder fließen für Behörden, Sozialarbeiter, Gerichte. Immer mehr wird dieses eine Gebiet geregelt – das Kind –, und immer erdrückender werden die Regelungen, die ein einziges vorschreiben, den unermüdlichen Dienst für das goldene Kalb, den Schutz des Kindes. Aber nicht um das reale Kind geht es, sondern um das abstrakte Kind, dem all dieses Handeln dient, jede Minute. Das abstrakte Kind ist das goldene Kalb geworden, dem alles unterworfen wird, dem ganze Berufszweige ihre Existenz verdanken, dem ganze Behörden unaufhörlich dienen, dem Richter und Staatsanwälte unermüdlich Tage, Monate, Jahre ihres Lebens widmen.
Und wofür? Um zu definieren, wo die ,Schamregion’ dieses abstrakten Kindes genau beginnt und ob die Schenkelinnenseite auch noch dazu gehört; ob ein Baden in der Wanne bereits ,sexual conduct’ ist, wenn die Hand auf die Genitalien zu liegen kommt oder diese sogar aktiv angefasst werden, wie es kleine Kinder oftmals einfach tun. Ob sie dann, in diesem Augenblick, fotografiert werden dürfen und wie ein solches Foto dann aufgefasst werden kann; wo genau der Fokus liegt; ob es geeignet ist, im Betrachter eine ,sexuelle Reaktion’ hervorzurufen etc. – dies füllt ganze Bände, ganze Bibliotheken.
Und es geht nicht, niemals, um Pornografie – es geht um den ultimativen Schutz des Kindes. Jenem Schutz, der einem ,totalen Krieg’ gleicht, ebenfalls mit Irrsinn und völligem Realitätsverlust geführt wird. Jenem Schutz, der bedeutet, dass das reale Kind den Eltern eben entzogen wird, weil es etwas getan hat, was jedenfalls niemals bildlich festgehalten werden darf, obwohl es vollkommen normal ist – aber diese Zeit der Normalität ist für immer vorbei.
Es geht nicht um Kindesmissbrauch, es geht nicht um Pornografie, es geht um den Kampf um die Oberhoheit über das Kind, um die völlige Auslöschung jenes Bereiches, der vom Kind völlig abstrahiert (abgezogen) werden soll, obwohl das Kind ihn genauso besitzt wie der Erwachsene: die menschliche Sexualität.
Durch nun schon jahrzehntelange Konditionierung durch ganze Berufssparten, Rechtssprechung und einen Dämon, der keinerlei Widerspruch mehr zulässt, ist dieser Bereich, insofern er das minderjährige Kind, den minderjährigen Jugendlichen betrifft, aus der Wirklichkeit völlig extrahiert worden. Und damit wird felsenfest untermauert, dass die Sexualität des minderjährigen ,Kindes’ verboten ist.
Dieser Bereich wird kriminalisiert und unter hohe Strafen gestellt – sowohl was das intime Zusammensein mit einem ,Kind’ angeht, als auch den bloßen Besitz von Bildern, die keineswegs pornografisch sind, aber im Laufe der Jahre als solches definiert wurden. Und keiner kennt die genaue Grenze, sie kann auch je nach Gericht anders liegen. Wenn sie aber überschritten wurde, kann dies sehr schnell fünf, zehn oder noch mehr Jahre Gefängnis bedeuten.
Es wird völlig verleugnet und verdrängt, dass ein Kind und ein Jugendlicher eine Erotik ausstrahlen kann. Es wird auch verdrängt, dass bereits die unglaubliche Schönheit des jungen Körpers eine große Anziehung ausübt – und dass die Schönheit van sich das Lebenselement der Kunst, der Ästhetik, aber auch der Erotik ist.
Die Schönheit des Leibes, des jugendlichen Leibes, aber auch des Kindes – die faszinierende Schönheit, die bewundernswerte Schönheit, die berührende Schönheit, die ergreifende Schönheit, die verwirrende, die bezaubernde, die fesselnde, die betäubende, die umwerfende, die einen erschlagende, die nicht zu fassende, die anbetungswürdige, die absolut unschuldige, die einzigartige Schönheit des jungen Leibes – und seiner Träger.
Und all diese Worte sollen nur zum Ausdruck bringen, welche Aspekte dabei empfunden werden können.
Ästhetik, Schönheit, Anziehung und Erotik sind heilige Bereiche, in denen die Realität des Menschen, der ein dreifaltiges Wesen ist, Leib, Seele und Geist hat – in denen diese Realität umfassend angesprochen wird. Nur der puritanistische Geist wird die auch leibliche Anziehung verdammen als etwas Schlechtes, Böses, Gottloses. Nur der abstrakte Geist wird immer gleich an ,Missbrauch’ und ,Gefährdung’ denken – auch da, wo sich der Mensch im Mittelpunkt seines Seins befindet: im Ergriffenwerden vom Mysterium der Schönheit.
Eros, das Geheimnis der Erotik, ist ein Heiliges. Eros ist die heilige Macht der Anziehung. Ohne die Anziehung würde sich nie die Liebe entfalten. Eros ist der heilige Brückenbauer dessen, was wir Liebe nennen, der heilige Flügel, mit dem die Liebe sich in den Himmel erhebt. Der Mensch ist nicht Mensch, solange er die Liebe nicht kennt – die reale Liebe, die Fähigkeit, zu lieben, und zwar immer mehr.
Und es sagt viel über eine Welt, wenn sie durch die Herrschaft einer immer abstrakteren Macht den Eros selbst ausrotten will – gerade jenen der Kinder und Jugendlichen.
Indem sie den Missbrauch ausrotten will, eliminiert sie den Eros, diese heilige Kraft, gleich mit. Und sieht nicht und weiß nicht, was sie tut. Denn als der Eros starb, wurde die Welt kalt und grau... Als der Eros starb, gerade dann, entfaltete sich das Einzige, was übrigblieb – abstrakte Gefühllosigkeit auf der einen Seite und animalische Begierden auf der anderen Seite.
Der Eros, der diese Begierden vermeintlich – angeblich – hervorlockt, ist in Wirklichkeit der Beschützer vor diesen. Als heiliges Wesen zieht er den Menschen hinan, nicht hinab.
Goethe ließ seinen ,Faust II’ mit dem ,Chorus mysticus’ enden, dessen letzte Worte sind: ,Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.’ Aber auch der Eros des jungen Weiblichen überhaupt zieht hinan. Und warum? Weil gerade in ihm Ewigkeits- und Unschuldskräfte geradezu sinnlich sichtbar sind.
Der Eros des Mädchens – der Kindheit und Jugend insgesamt, insbesondere aber des Mädchens – ist der heiligste Eros überhaupt. Er macht die Seele besser, als sie ist.
Die unsichtbar herrschende dogmatische Macht will diesen Eros jedoch vernichten. Sie will um jeden Preis das ,unerotische Kind’, nicht nur asexuell, sondern auch ohne jeden heiligen Hauch von Eros.
Man darf dem ,Kind’ (Minderjährigen) gegenüber nichts empfinden. Wie einem geschlechtslosen Menschen soll man ihm gegenübertreten und ihn abstrakt, neutral, einfach nur als ,Mensch’ behandeln. Man soll nicht empfinden, dass er außerdem noch – nicht darauf reduziert, sondern um dieses erweitert – Junge oder aber Mädchen ist. Das soll man übergehen, man soll seine Empfindungen verleugnen, man soll professionell, abstrakt, distanziert, gefühllos agieren. Gefühle nur für den allgemeinen Menschen, nicht aber das Mädchen.
Was hier erlebbar gemacht werden soll, ist nur deshalb so schwierig zum Erleben zu bringen, weil unser Denken auf ,Missbrauch’ bereits geradezu geeicht ist. Wir sind mit der unsichtbar-dogmatischen Macht bereits aufgewachsen, haben sie Jahr um Jahr in uns aufgesogen und können das ,Empfinden des Mädchenseins’ gar nicht mehr anders denken, als dass bereits in diesem Moment Missbrauch droht, weil man einem Mädchen gegenüber eben nicht empfinden darf, dass es Mädchen ist. Oder wenn, dann auch wieder nur völlig abstrakt: ,Ja, natürlich ist das ein Mädchen, das sehe ich auch. Hast du etwa ein Problem damit?’
Nein, man hat kein Problem damit, im Gegenteil – man spürt das Wesen eines Mädchens... Der Eros eines Mädchens ist ein grundsätzlich anderer als der Eros eines Jungen. Und man spürt die Unterschiede. Auch die Unterschiede zwischen jedem einzelnen Menschen. Aber so, wie es auch den Eros jedes einzelnen Menschen gibt, so gibt es auch den Eros des Mädchens. Und dieser ist eine heilige Macht – er ist es, der das Mädchen umschwebt, von ihm ausgeht und das Mädchen selbst auch zu einer heiligen Macht werden lässt.
Kann man nicht erleben, empfinden, wie gerade dies der allergrößte Schutz gegen jeglichen Missbrauch ist?
Aber woher kommt dann der Missbrauch? Er kommt immer, in jedem Fall, daher, dass dieser Eros nicht empfunden wird. Er kommt daher, dass Menschen niederen Begierden und Trieben folgen, anstatt diesen Eros zu empfinden. Statt sich dem geflügelten heiligen Wesen Eros hinzugeben, der die Seele hinanziehen würde, folgen sie bloßen Trieben und werden von diesen hinabgezogen. Nicht Eros ist schuld, sondern die Tatsache, dass sie ihm nicht folgen.
Aber wenn doch die Erotik diese Triebe gerade aufruft? Das tut sie nur bei seelisch kranken, moralisch verworfenen Menschen – die Triebe so aufzurufen, dass Missbrauch und Übergriffe stattfinden. Der unmoralische Mensch folgt dem Trieb, der moralische seinem Gewissen. Bei dem moralischen Menschen weckt der Eros eine Liebe, im durchaus umfassenden Sinne, er weckt das Beste im Menschen. Bei dem unmoralischen Menschen wecken die Triebe, die vom Eros auch geweckt werden, das Böse, das Nicht-Hören auf das Gewissen.
In Wirklichkeit erweckt der Eros nicht die Triebe, sondern nur das Begehren. Und in Wirklichkeit erweckt er nicht einmal das Begehren, sondern nur die Liebe. Man kann nur begehren, was man liebt.
Der Eros weckt also die Liebe, die Liebe weckt das Begehren oder erwacht in der Gestalt des Begehrens, das aber kein triebhaftes Begehren, sondern ein reines Begehren ist, ein sehr unschuldiges. Erst in einem nächsten Schritt erwacht durch die Anwesenheit des Begehrens auch der Trieb – und wenn er mächtig genug ist und von einer Seele beheimatet, die ihr Gewissen zum Schweigen gebracht hat, reißt nun er, der Trieb, alles an sich und unterwirft sich auch das Begehren. Er sieht und empfindet nicht den reinen Eros, der von dem Mädchen ausging – sondern er fühlt nur sich und handelt nach seiner eigenen Natur. Und der Mensch wird Trieb-Täter...
In jedem anderen Fall, wo eine Seele den Trieb längst verwandelt hat, wo er überhaupt nie in dieser Form zur Entwicklung kam, sondern in viel unschuldigerer Weise, geschieht etwas völlig anderes.
Auch hier weckt der Eros die Liebe, die Liebe weckt das Begehren oder erwacht in der Gestalt des Begehrens, das aber sehr rein und unschuldig ist – und so bleibt es. Der ,Trieb’ wäre dann nur, dass die Seele den inneren Antrieb, das innere Bedürfnis empfinden könnte, ein solches Mädchen kennenzulernen. Es würde nicht unbedingt bedeuten, dies auch zu tun, es würde nur bedeuten, diese Art von Wunsch innerlich zu empfinden. Es ist eine Folge des Eros und der Liebe.
Alles Übrige ist so, wie es etwas weiter oben in Worte gefasst wurde. Es wird der Eros empfunden, das aber bedeutet, die ganze, tiefe Schönheit. Und sie ist es, die die Seele hinanzieht.
Der Eros ist Anziehung. Er selbst zieht die Seele aber nur zum Mädchen. Das Mädchen selbst ist es dann, das die Seele im eigentlichen Sinne hinanzieht. Der Eros ist nur der heilige Vermittler dieses noch viel heiligeren Prozesses. Er zieht die Seele zum Mädchen – und das Mädchen zieht die Seele zu sich, aber nun gemeint, zu seinem eigentlichen Wesen, dem Wesen des Mädchens.
Und was ist dieses Wesen? Es ist Unschuld. Es ist reinste Unschuld, so, wie sie nur ein Mädchen haben kann. Deswegen ist der Eros des Mädchens ein so besonderer. Aber er ist nur die Anziehung dieser Unschuld. Hat er sein Werk getan, steht die Seele vor der Unschuld selbst. Und nun beginnt eine heilige Verwandlung (der Seele), die man sich nicht tiefgreifend genug vorstellen kann.
Die Seele wird von der Unschuld, von dem Wesen des Mädchens, mit gleichsam heiliger Substanz durchdrungen. Die Begegnung mit dem Wesen des Mädchens ist wie die Berührung eines Engels.
Dies also ist das Wirken des Eros. Er führt die Seele zum Mädchen – zum Wesen des Mädchens...►11
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Solche Versuche, das Wesentliche zum Ausdruck zu bringen, verhallen natürlich ungehört bei denen, die innerlich nicht einmal im Ansatz mitgehen können – und die stereotyp und ungerührt immer nur weiter darauf verweisen, dass ,Erotik’ und ,erotische Bilder’ junger Mädchen nur auf die Lust ungezählter potzenzieller ,Missbraucher’ wirken oder gar nur das ,lüstern-pornografische Interesse degenerierter Männerseelen’ befriedigen würden.
Doch die so Antwortenden hätten das Wesentliche nicht einmal im Ansatz begriffen – weil sie sich auch gar nicht darum bemühen. Sie hätten weder das Wesen von Kunst, von Ästhetik, noch dasjenige von Schönheit und von dem wahren Geheimnis des Eros verstanden, begriffen, erlebt, weil sie es in sich selbst nicht zugelassen haben – nicht zugelassen, dass es auch in ihnen ein Erleben wird; nicht zugelassen, dass es sich in seiner ganzen Heiligkeit offenbaren kann.
Sie haben etwas sehr, sehr Wesentliches versäumt – und sind weiterhin im Abstrakten geblieben.
Nicht der vielfach reale Missbrauch ist das Abstrakte, er ist sogar eine furchtbare Tatsache, sondern dass dieser Missbrauch dazu missbraucht wird, den Eros zu vernichten. Ein winziger Bruchteil aller Missbrauchsfälle dürfte auf erotische Fotos zurückzuführen sein – der übrige Teil auf die vollkommen anders gelagerte Pornografie, insbesondere aber schlicht und einfach auf Seelen, die ihren niedersten Trieben ohne Bedenken freien Lauf lassen und es einfach tun – ein Mädchen zu missbrauchen, ohne dass sie für diese schändliche Tat vorher irgendwelche anderen Bilder gebraucht hätten als jene, die ohnehin in ihrem gewissenlosen Kopf und ihrer kranken Psyche allgegenwärtig waren.
Erotik führt nicht zum Missbrauch. Auch dies kann nur krankhaft verirrten Gedanken entspringen, die nicht bis zum Wesen einer Sache vorzudringen vermögen.
Die Erotik ist genauso heilig wie, sagen wir, die Hilflosigkeit. Die Hilflosigkeit etwa einer alten Frau führt auch nur den krankhaften Geist in die Versuchung, den Trieb und die Tat, ihr die Handtasche zu entreißen. So führt auch nur der krankhafte Geist den ebenso krankhaften Trieb in die Versuchung, einem Mädchen seine Unschuld zu entreißen.
In der gesunden Seele führen heilige Tatsachen zu heiligsten Regungen der Seele. In der gesunden Seele führt Hilflosigkeit zu Mitleid. Und in derselben Seele führt Eros zu Liebe.
Man kann es nicht anders sagen. All jene, die die Erotik und damit den Eros selbst verurteilen, haben nichts verstanden – weil sie nichts von dem hier Beschriebenen empfunden haben.
Natürlich – die Erotik hat sich immer auch an das Begehren im sexuellen Sinne gewandt. Und weil der Mensch ein Ganzes ist, ist das Begehren von diesem Bereich auch niemals kategorisch getrennt. Und weil ein Mädchen auch ein Mensch ist, ist es ganz natürlich, dass man seine Schönheit und seine große Anziehung auch leiblich und damit sexuell begehrt.
Aber Begehren heißt nicht missbrauchen – es heißt begehren. Wer hier noch immer nicht den grundlegenden Unterschied begreift, dem ist nicht mehr zu helfen. Das Begehren selbst kann zum Heiligsten und auch zum Unheiligsten führen – das ist immer so. Und wiederum gleicht der, der das Begehren auslöschen wollte, dem, der, um dem Bösen zu entgehen, das Leben selbst auslöschen wollte.
Begehren lebt als Realität in einer Mitte zwischen dem nach unten Ziehenden und dem nach oben Ziehenden, zwischen dem Unheiligen und dem Heiligen. Begehren lebt in der Mitte zwischen Lust und Liebe.
Begehren ist nicht Lust – und wo doch, ist es gleichzeitig genauso sehr Liebe. Die wahre Liebe kann nicht missbrauchen – und sie verhindert jeden Missbrauch. Aber nicht, indem sie den Eros abzuschaffen versucht (was den Missbrauch niemals verhindert),[1] sondern indem sie selbst das Gegenteil von Missbrauch ist – aber auch von bloßer Lust.
Bloße Lust ist die Offenbarung des Egoismus. Aber unsere ganze Welt als kapitalistische basiert ebenfalls auf diesem Egoismus. Werden vielleicht die ,Kinder’ deshalb so fanatisch ,geschützt’, weil man ein schlechtes Gewissen hat, dass man um sie eine Welt errichtet hat, in der es von Egoismus und seinen hässlichen Folgen nur so wimmelt? Der ,Kinderschutz’ als institutionalisierter Ablasshandel gegenüber dem unkindlichen, zutiefst schuldigen Missbrauch der gesamten Welt? Gegenüber einem kalt-technischen Untätigbleiben und Sich-Abfinden auf allen übrigen Gebieten?
Es scheint, als hätte die Welt im ,Kind’ die Projektion eines letzten ,Paradieses’, das um jeden Preis zu schützen ist, obwohl dieselbe Welt rund um das Kind alles Paradiesische immer weiter zerstört. Das Kind als Rettungsanker für das eigene schlechte Gewissen. Und Hass gegen alle, die die Erotik des Kindes verteidigen, weil dies ein Angriff auf den wahnwitzigen Götzen ist, an dem man sich festhält. Das um jeden Preis zu schützende, abstrakte, nur im Kopf bestehende Kind, dem alles geopfert wird, das der Fetisch schlechthin geworden ist, die alles überwältigende Obsession.
Nicht die, die von der Erotik des Kindes berührt sind, sind von einer ,Obsession’ besessen – sondern jene, die sie leugnen, mit aller Kraft der Verdrängung, die sie aufbringen können. So, wie eine Frau, um irgendetwas hysterisch zu unterdrücken, einen Putz- oder Waschzwang entwickelt, so unterdrückt die ganze heutige Gesellschaft ihr schlechtes Gewissen in Bezug auf das Kind (eines, das sie zumindest haben sollte) mit dem krankhaften Waschzwang, alles auszulöschen, was die Erotik des Kindes sichtbar machen könnte.
Es ist, wie wenn eine unselbstständige Mutter sich an ihr Kind klammern würde – es ist wie eine klammernde Liebe, die ein Kind nicht gehen lassen kann, weil es ihr einziger Lebensinhalt geworden ist. So verhält sich die Gesellschaft gegenüber dem Kind. Sie baut um das Kind groteske Gesetzgebungen und Schutzvorkehrungen, sie thematisiert fortwährend die unendliche Bedrohtheit des Kindes – durch Missbrauch, durch Inzest, durch unsittliche Berührungen, durch Pornografie, durch Erotik –, sie packt das Kind in einen Elfenbeinturm, den sie dann anbetet.
Dies ist das ,Drama des begabten Kindes’ – aber hier ist es nicht das Kind, das sich, wie in dem hervorragenden Buch von Alice Miller geschildert,[2] mit seiner ganzen Empathie den Erwachsenen anpasst und so sein wahres Selbst verliert, sondern hier ist es noch viel mehr als schon dort der Erwachsene, der sich das Kind unterwirft, um es für all seine Projektionen zu missbrauchen. Das Kind ist leider dazu begabt, all diese Projektionen aufnehmen zu können. Es ist das perfekte Opfer für die innerpsychischen Probleme der Erwachsenen.
Es ist wirklich so, wie Finkelhor sagt: Das Kind kann dies alles noch nicht beurteilen. Aber es ist so, wie Miller sagt: Das Kind weiß nicht, was für ein übles Geschehen sich vollzieht – es ist mittendrin Opfer all dessen. Es ist Opfer seiner Ent-Sexualisierung, seiner Ent-Erotisierung, es ist Opfer seiner Tabu-isierung, seiner Kriminalisierung, seiner Entmündigung und seiner Instrumentalisierung – als perfektes Ziel aller Übersprungshandlungen des übrigen schlechten Gewissens. So, wie schlechte Eltern, die keine Zeit für das wirkliche Kind haben, dem Kind alles kaufen, einen Berg von Spielzeug und Kleidung, so kauft sich die heutige Welt von dem Kind frei, indem sie alles auf das Kind überträgt, was sie an ,Unschuld’ nur finden kann. Und sie opfert sich für das Kind auf – Tag und Nacht arbeitet sie an neuen Gesetzen, die das Kind noch besser schützen, die seine ,sexuelle Selbstbestimmung’ noch besser fremdverwalten und die es noch besser ermöglichen, dass diese Welt gegenüber den Kindern ein ,gutes’ Gewissen haben kann.
Und bei alledem geschieht ein Wahnsinn – ein Wahnsinn, der das Kind erstickt und der überhaupt alles erstickt.
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Ich will dies noch einmal von einem anderen Punkt aus erlebbar zu machen versuchen. In einem Bericht des ,Focus’ über David Hamilton und seine Bilder heißt es:[3]
Die Schönheit und Erotik seiner jungen Mädchen verkauften sich millionenfach: als Alben und Poster. [...]
Anfang der 90er Jahre kamen seine Aktbilder immer häufiger ins Kreuzfeuer der Kritik. Man fand sie kitschig und kritisierte seine Vorstellung von „perfekter Weiblichkeit“. Vor allem aus Amerika und Großbritannien wurden Vorwürfe der Softpornografie und der latenten Pädophilie laut. Der Verkauf seiner Bücher wurde teilweise für Minderjährige verboten und Protestmärsche organisiert. Heute wirken seine Filme und Mädchenakte in der verklärenden Weichzeichner-Optik eher harmlos.
Dieser kleine Absatz zeigt unendlich viel gleichzeitig. Er zeigt zum einen, dass es von Anfang an um das Geheimnis der Schönheit und das zarte Geheimnis der Erotik ging – und nicht etwa um Pornografie. Millionen Menschen werden sich nicht pornografische Bilder in die Zimmer gehängt haben, sondern es waren Bilder, die eine berückende Schönheit hatten und haben.
Des weiteren zeigen die nächsten Sätze nicht etwa das Wesen der Hamilton-Bilder, sondern den Wandel der völlig kontextbedingten gesellschaftlichen Auffassungen. Das Zeitalter der Feministen musste die ,perfekte Weiblichkeit’ kritisieren, obwohl die Weiblichkeit keineswegs perfekt, sondern höchst individuell, immer aber wunderschön war. Schon hier wurde der Unterschied zwischen Perfektion und Schönheit völlig missachtet. In gleicher Weise deutet der Begriff ,Kitsch’ in vielen Fällen nur auf die mangelnde tiefere Empfindsamkeit des oberflächlich gewordenen Beobachters.
Es folgt dann die uns nun ausgiebig bekannte Hysterie derer, die die Erotik vernichten wollten und selbst in der Erotik schon Pornografie sahen, weil der Kampf um die Kindheit und Jugend seine fanatische Phase erreicht hatte – in der es nicht mehr um Pornografie, sondern um Ideologie, Projektion und absolute Unterwerfung ging. Die Grenze zwischen Jugend und Erwachsenenalter musste hermetisch sein – und die Jugend musste sterilisiert werden, vollkommen asexuell.
Und dann sehen wir als letztes den Kommentar des ,aufgeklärten Zeitgenossen’: Heute würden Hamiltons Mädchenakte ,eher harmlos’ wirken. Natürlich – in einer Zeit, in der die Seele einerseits mit viel ,härteren’ Darstellungen bombardiert wird und andererseits sich das ,Hyperkorrekte’ zueigen gemacht hat, das Computerhafte, das Managermäßige, das Abgeklärte, den ,Alles-schon-dagewesen’-Habitus. Die heutige Seele ist empfindungslos geworden. Sie hat den Prozess der völligen Sexualisierung des Lebens und gleichzeitig den der ,Pornografie’-Gesetze, die den Blick sogar auf den nackten Leib der Jugend streng neutral halten, erfolgreich durchlaufen und ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Sie ist übersättigt von Eindrücken – und kann doch keinen einzigen Eindruck mehr wahrhaft empfinden.
Nachdem die Hamilton-Bilder in den 70er und auch noch 80er Jahren für die Seele vor Schönheit und Erotik noch sprühten, nannte man sie in den 90er Jahren ,Kitsch’ und ,Inszenierung des Perfekten’ oder aber ,Pornografie’ (ein merkwürdiger Widerspruch in sich selbst) und schließlich, heute, ,eher harmlos’, also abgeklärter ,Schnee von gestern’.
Erst empfand die Seele noch die wirkliche Schönheit – dann wurde sie politisch korrekt und meinte, ,Kitsch’ und ,Inszenierung’ zu empfinden, dann wurde sie politisch noch korrekter und vermeinte plötzlich, Pornografie zu entdecken, und zuletzt war sie selbst derart entfremdet von sich, dass sie darin gar nichts mehr sah, nicht einmal in negativer Hinsicht mehr berührt wurde. Die politische Korrektheit hatte ihre Vollendung erreicht: Die Seele betrachtete die Hamilton-Bilder nur noch so, wie man auch eine Zeitungsüberschrift betrachtet. Ohne jede innere Anteilnahme.
Das ist das wahre Zerstörungswerk der Vernichter des Eros, insbesondere des Eros der Mädchen...
Fußnoten
[1] Sondern, wie wir sahen, den Eros umgekehrt sogar noch steigert, weil das Verbotene eben regelrecht anzieht, also erst recht erotisch ist – nun aber immer mehr mit dem Trieb verknüpft, allein schon mit dem Trieb der ,Übertretung’.
[2] Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Suhrkamp 1979.
[3] dpa: David Hamilton: Auch mit 80 „Girls, Girls, Girls“ im Kopf. Focus.de, 9.4.2013.