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Absurde Entwicklungen
Als das Missbrauchsthema seine Herrschaft antrat, geriet immer mehr aus dem Blick, dass ein Großteil der Missbrauchsfälle durch im wesentlichen Gleichaltrige stattfindet. So wurden zum Beispiel 2003 in Schweden über viertausend etwa achtzehnjährige Oberstufenschüler zu sexuellen Erlebnissen gefragt, die gegen ihren Willen erfolgt waren. Bei den Mädchen betrug der Altersunterschied des Anderen zu 39 % unter fünf Jahre, zu 35 % fünf und mehr Jahre, bei dem Rest war es unbekannt.[1]
Vielfach wird noch immer früher Geschlechtsverkehr problematisiert, erst recht mit Männern – ohne zu sehen, dass auch hier negative Effekte ganz andere Ursachen haben können und dass insbesondere das Alter des männlichen Partners ganz unwesentlich ist.
Eine US-Studie von 2003, in deren Rahmen 1.439 Studentinnen in Vermont befragt wurden, von denen 24 % mit dreizehn bis fünfzehn Jahren ihren ersten als einvernehmlich erlebten Geschlechtsverkehr hatten, zeigte zwar, dass psychologische Schwierigkeiten später tendenziell um so eher zunahmen, je früher dieser lag – aber die Kausalität kann auch in einer ganz anderen Richtung zu suchen sein. So können zum Beispiel familiäre Probleme Ursache der späteren psychologischen Probleme sein und auch dazu geführt haben, dass das Mädchen schon besonders früh außer Haus entsprechende Kontakte geknüpft hat – ein typischer Fall von Korrelation, der schnell mit Kausalität verwechelt wird.[2] Was die Studie jedenfalls auch zeigte, war, dass der Altersunterschied des Sexualpartners auf die späteren Probleme statistisch keinen Einfluss hatte. Ebensowenig war in den drei Altersgruppen die gegenwärtige sexuelle Befriedigung unterschiedlich.[3]
Ebenso aufschlussreich ist eine schwedische Zwillingsstudie von 2005/06, in der über sechstausend Zwillingspaare befragt wurden.[4] Auch hier hatten 24 % bereits mit höchstens fünfzehn Jahren einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Diese Gruppe hatte später deutlich mehr psychologische Schwierigkeiten – so in den Bereichen Cannabis, Alkohol, aktuelle Depression, Kriminalität und Jugendschwangerschaft. Durch den Vergleich mit dem Zwillingsgeschwister ohne frühen Geschlechtsverkehr konnten jedoch Einflüsse der Familie oder der sozialen Schicht stark herausgefiltert werden. Danach waren die genannten Effekte bis auf frühe Schwangerschaft nicht mehr signifikant, das heißt statistisch vom anderen Zwilling nicht mehr eindeutig verschieden.
Aber die Auswüchse der ,Missbrauchshysterie’ erklommen nur immer neue Absurditätsgipfel.
Eine Studie, in der 414 südafrikanische Oberschüler befragt wurden, definierte als ,Missbrauch’ jeden sexuellen Kontakt bis einschließlich sechzehn Jahren mit einem Erwachsenen oder aber mindestens fünf Jahre älteren Jugendlichen. Es zeigte sich, dass mehr als die Hälfte aller Schüler sexuell ,missbraucht’ worden waren. 87 % waren sexuell geküsst worden, 61 % sexuell berührt und 29 % hatten oralen oder anderen Geschlechtsverkehr erlebt. Unfassbar ist nun, wie die Studie fortfährt: Als ,Täter’ gaben die meisten Jugendlichen die Kategorie ,Freund’ an – und die überwältigende Mehrzahl der ,Opfer’, nämlich 87 %, betrachtete sich auch nicht als missbraucht.[5]
Dies zeigt, wo man heute angelangt ist: Ungerührt behandeln wissenschaftliche Studien die Frage sexuellen Missbrauchs nach abstraktesten Definitionen – in der es dann egal ist, ob dieser ,Missbrauch’ durch den Freund erfolgt, weil man sich einfach leidenschaftlich geküsst hat und niemand dies als ,Missbrauch’ wahrgenommen hat. Man muss sagen: Armes Mädchen – hast du nicht bemerkt, dass du eben missbraucht wurdest? Dein Freund ist doch schon erwachsen und du bist erst sechzehn – da musst du den Missbrauch doch bemerkt haben! Nein – man muss die Wissenschaftler und Gesetzgeber fragen: Bemerkt ihr eigentlich noch, was geschieht? Ihr behandelt als Missbrauch dasjenige, von dem ihr seht, dass es kein Missbrauch ist; dass es Liebe ist, das Schönste auf der Welt. Seid ihr von Sinnen? Wenn ihr schon Zahlen braucht – geben euch die 87 Prozent nicht zu denken? Ihr kriminalisiert mit euren Gesetzen und Studien nahezu die gesamte Jugend – und merkt es nicht einmal?
In einer dänischen Studie antworteten fast sechstausend Jugendliche bei einer Befragung nach sexuellen Erfahrungen bis einschließlich vierzehn Jahren. 7 % der Jungen und 16 % der Mädchen berichteten von gesetzeswidrigen sexuellen Erfahrungen, aber nur 1 % bzw. 4 % empfanden sich als ,sicher’ oder ,vielleicht’ sexuell missbraucht.[6] Mit anderen Worten: 12 % aller schwedischen Mädchen und 6 % aller dänischen Jungen machen sexuelle Erfahrungen, in denen sie nicht missbraucht werden, durch die sie – und in jedem Fall ihre Partner – aber vom schwedischen Gesetzgeber kriminalisiert werden.
Im August 2011 verurteilte das Landgericht Nürnberg einen 24-jährigen jungen Mann wegen ,schweren sexuellen Missbrauchs’ eines dreizehnjährigen Mädchens zu zweieinhalb Jahren Gefängnis. Er hatte mit dem Mädchen sechsmal Sex gehabt. Lesen wir die Zeitungsmeldung weiter:[7]
Das Mädchen hatte während des Prozesses wiederholt beteuert, sie habe den sexuellen Kontakt mit ihrem elf Jahre älteren Freund ausdrücklich gewünscht. Die Beziehung hatte mehrere Monate gedauert. | [...] Bei der Urteilsverkündigung brach die [...] 13-Jährige in Tränen aus.
Das ist die Realität hinter einem unmenschlichen Sexualstrafrecht,►8 das nicht nur ,ohne Ansehen der Person’, sondern sogar ohne Ansehen der Umstände urteilt, verurteilt, Beziehungen auseinanderreißt, Leben ruiniert und sich in das Privateste einmischt, das es gibt: die Liebe und die Sexualität. Von zwei Menschen, die sich geliebt haben, wurde einer der beiden verurteilt und inhaftiert – und selbst Bitten und Tränen des Anderen konnten daran nichts ändern.
Strafrecht in Deutschland im 21. Jahrhundert. Nicht das Mädchen entscheidet, was zulässig ist, sondern der Gesetzgeber. Was das Mädchen als Liebe empfindet – beurteilt der Gesetzgeber ungerührt als ,schweren sexuellen Missbrauch’ und verurteilt den Älteren zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe. Eines der beiden Leben ist auf diese Weise gleichsam vernichtet, das andere Leben, das des Mädchens, schwer traumatisiert – von der Unmenschlichkeit derer, die sich angemaßt haben, hier zu urteilen.
Fußnoten
[1] Priebe G & Svedin CG (2009): Prevalence, characteristics, and associations of sexual abuse with sociodemographics and consensual sex in a population-based sample of Swedish adolescents. Journal of Child Sexual Abuse 18(1), 19-39, zitiert nach Schuster, Lexikon, S. 311. • Im Falle von Geschlechtsverkehr betrug das Verhältnis 43 % zu 41 %.
[2] In einer Korrelation haben gemeinsam auftretende Faktoren möglicherweise gemeinsame Ursachen, ohne untereinander kausal verknüpft zu sein
[3] Leitenberg H & Saltzmann H (2003): College women who had sexual intercourse when they were underage minors (13-15): age of their male partners, relation to current adjustment, and statutory rape implications. Sex Abuse 15(2), 135-147. Abstract online auf Springer Link.
[4] Donahue KL et al. (2013): Why does early sexual intercourse predict subsequent maladjustment? Exploring potential familial confounds. Health Psychology 32(2), 180-189. Artikel online auf PubMed. Conclusion: ,Early intercourse may be associated with poor psychosocial health largely due to shared familial influences rather than through a direct causal connection.’
[5] Madu SN & Peltzer K (2001): Prevalence and patterns of child sexual abuse and victim-perpetrator relationship among secondary school students in the northern province (South Africa). Archives of Sexual Behavior, 30(3), 311-321. Abstract online auf PubMed.
[6] Helweg-Larsen K & Bøving Larsen H (2006): The prevalence of unwanted and unlawful sexual experiences reported by Danish adolescents: results from a national youth survey in 2002. Acta Paediatrica 95(10), 1270-1276. Abstract online auf PubMed.
[7] dpa: Sex mit 13-Jähriger: Zweieinhalb Jahre Knast. Merkur.de, 15.8.2011.