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Ein ,Tatort’
,Tatort’: ,Für immer und dich’. Erstausstrahlung 10.3.2019, ARD.
Das durch die absolute Herrschaft des ,Missbrauchsdiskurses’ erzeugte Tabu erstreckt sich auf alle Liebesbeziehungen zwischen Mädchen und Männern – und in seiner brutalen Konsequenz auch auf Darstellungen einer solchen Liebe in Film und Fernsehen sowie in der Literatur. Überall da, wo es um eine solche Liebe geht, muss Missbrauch mit dabei sein. Es ist eine Art Offenbarung, wenn man dies einmal erkannt hat.►6
Schon die bloße Darstellung beweist also nicht, dass es nur Missbrauch gäbe – sondern nur, dass die Gesellschaft alles andere nicht zulässt ... und deshalb dieses Bild vermittelt. Es ist im Grunde dasselbe wie politische Propaganda. Der ,Feind’ oder das politische Programm des Gegners wird in düstersten Farben dargestellt – nicht, weil es wahr ist, sondern weil die viel differenziertere Wahrheit nicht ans Licht kommen darf. Das Gleiche gilt für die Beziehungen zwischen Männern und Mädchen.
Ein recht aktuelles Beispiel ist die ,Tatort’-Episode ,Für immer und dich’ vom März 2019.[1] Natürlich ist klar, dass ein ,Tatort’ einen kriminellen, einen Missbrauchs-Hintergrund haben muss. Dennoch ist die Folge symptomatisch für unsere gesellschaftliche Einstellung überhaupt. Auch das ganze Thema muss immer unter Missbrauchs-Aspekten behandelt werden – Fälle, wo Missbrauch nicht vorhanden ist, sind tabu, es darf sie nicht geben...
Dennoch zeigt selbst diese Episode auch das ,Dazwischen’, wenngleich ganz klar im Sinne des schleichenden Missbrauchs übersteigert (,Propaganda’!). Die Story: Ein junges Mädchen ist mit einem Mann von zuhause weggelaufen, nachdem es ihn im Chat kennengelernt und er ihr Vertrauen gewonnen hat. Über Jahre bleibt es vermisst, dann taucht es in seiner Heimatstadt wieder auf – und schließlich wird der Mann, mit dem es zusammengelebt hat, gefasst.
Aber das darf nicht die ganze Story sein, sondern der Mann muss das Mädchen mit allen Mitteln an sich binden und mit ihr so umspringen, dass man sich gleichzeitig fragt, warum sie eigentlich überhaupt noch bei ihm bleibt – und am Ende muss sie gehen, noch bevor er verhaftet wird. Denn alles andere wäre eine Überschreitung des Tabu, wäre dem Zuschauer nicht zuzumuten, denn es würden sich so ja ,die Grenzen zwischen Erwachsenen und Kindern verwischen’.
Daher beginnt die Story schon damit, dass gezeigt wird, wie der Mann (Martin) mit der inzwischen fünfzehnjährigen Emily zärtlich werden will, was mit einem Cunnilingus zwischen ihren Beinen endet, den sie völlig unbeteiligt über sich ergehen lässt, bis sie die Szene beendet, weil ihr Hund auf das Bett springt und sie fröhlich mit ihm ,knuddelt’. Die Botschaft ist also klar: ,Nur der Mann will, ein Mädchen will ,so etwas’ eigentlich gar nicht’.
Und dennoch hat Emily eine starke Bindung an Martin, ist aus freien Stücken bei ihm, obwohl sie seit anderthalb Jahren auf der Flucht sind. Sie möchte auch bei ihm sein, klammert sich an ihn, als er allein gewisse Dinge ,erledigen’ muss – bis er sie von sich stoßen muss, was erneut auf den Bruch hinsteuert, der da sein ,muss’, weil sonst der ganze ,Tatort’ keinen Sinn machen würde und das Ganze im Fernsehen nicht gezeigt werden würde.
Es wird deutlich, dass Martin einst einen Computerladen ,gegen die Wand gefahren’ hat und schon damals seiner Mutter zwanzigtausend Euro ,aus den Rippen geleiert’ hat. Er ist also schon von daher ein halber Verbrecher und ein ,ganzer Looser’ – der sich nur noch ,an Mädchen vergreifen’ kann, aber ,nichts Ganzes zustandebringt’. Auch diese Botschaft ist beim Zuschauer angekommen... Vor allem aber wurde bei einem einsamen Halt von Martin und Emily in deren Auto eingebrochen und sein Laptop geklaut, und als Martin die beiden jugendlichen Motorradfahrer verfolgt, stürzt einer von ihnen über die Böschung – Martin bleibt nichts anderes übrig als Fahrerflucht. Der Jugendliche stirbt noch in derselben Nacht, nun ist Martin also auch noch ein Mörder. Botschaft angekommen.
Zu ihrem Geburtstag macht Martin Emily ein Geschenk – aufgeregt rät sie, was es sein könnte: Kopfhörer? Eine Powerbank? Eine SIM-Karte (sie darf nicht ins Internet!) – oder wenigstens weiße Schokolade? Nein – es ist ein T-Shirt, das ihr nicht gefällt, und es sind Slips mit kindlichen Motiven darauf. Botschaft angekommen. Martin verfolgt nur seine ,pädophilen’ Tendenzen, während er für die eigentlichen Wünsche des Mädchens völlig unempathisch ist. Aber es kommt noch schlimmer – es kommt zum realen Konflikt. Als Emily nicht will, dass Martin ihr die Slips anzieht, wird sein Machtimpuls getriggert, und er zieht ihr gewaltsam das Höschen aus, nennt sie ,kleine Schlampe’ und vergeht sich an ihrem Hinterteil, bis er wieder zu Bewusstsein kommt und erschüttert erkennt, was eben geschehen ist.
Dennoch kommt es wieder zur Versöhnung, denn er legt seinen Kopf auf ihren Bauch und gesteht: ,Manchmal denk ich, du magst mich gar nicht mehr...’ Sie steht zwar noch immer unter dem Schock des eben Geschehenen, aber sie sagt ,doch’, und meint es auch so – und fragt, ob sie morgen baden gehen können. Dies geschieht auch, und im Wasser ist sie mit Martin ausgelassen, fröhlich und auch zärtlich. Es ist das Verdienst des Regisseurs, auch diese Ebene voll zu zeigen.
Dann findet Emily auf dem Laptop ein Video, das den Sex mit ihr zeigt – auch wenn Martin nicht damit handelt, hat er es heimlich aufgenommen, und sie ist entsetzt. Sie geht wieder zu einer Tankstelle, wo sie, als der Hund einmal weglief, ein Mädchen kennengelernt hat – und von wo Martin sie wegholt, weil sie kein Risiko eingehen darf. Sie fragt nach dem ,Mord’, von dem sie inzwischen erfahren hat, sagt, sie müssen zur Polizei gehen. Martin fragt sie, ob sie das zwischen ihnen nicht mehr wolle – aber selbst hier sagt sie ,doch’. Noch einmal fragt er sie, was sie will. Sie weiß es nicht. Er fragt, ob sie ,wieder zurück zu Mama’ wolle – und sie sagt aufrichtig ,nein’.
Dann aber beginnt der endgültige Bruch: Er sagt ihr, ,in diesen Scheißhochhäusern’ vermisse einen ,keine Sau’, und: ,Die wollen dich gar nicht zurück!’ Daraufhin schlägt sie ihn im Affekt, denn diese Vorstellung (und Lüge) erträgt sie doch nicht, und zugleich beißt der Hund Martin, weil er Emily helfen will.
Aber selbst das alles reicht noch nicht – wenig später bringt Martin den Hund, der ein Risiko für ihre Entdeckung ist, heimlich um. Und erst als sie dies herausfindet, während Martin vergeblich versucht, von seiner Mutter erneut Geld zu bekommen, ist Emily am Ende – und packt verzweifelt ihre Sachen. Sie begegnen einander vor der alten Skihütte, als Martin sie abholen will. Verzweifelt fragt sie, ob er sie jetzt auch totschlagen wolle. Als Martin erkennt, dass ihm alles entgleitet, zieht er tatsächlich ein Messer – sie könne jetzt nicht einfach gehen. Aber mit Tränen in den Augen tut sie es, sie drückt sich an ihm vorbei und geht langsam.
Da setzt Martin das Messer an seinen eigenen Hals. Aber Emily sagt mit Tränen: ,Du und ich, das war doch nicht für die Ewigkeit. Das war doch klar...’ In dem Moment kommen die beiden Freiburger Kommissare an, bergen Emily, die zu ihrer Mutter will, in ihrem Wagen, und Martin wird abgeführt. Musik setzt ein, Rio Reisers ,Für immer und dich’, und die Blicke von Martin und Emily begegnen einander das letzte Mal: Emily hat noch immer Tränen in den Augen, und man sieht ... auch sie hat unendlich viel verloren... Auch sie hat Martin wirklich geliebt.
*
Als sie in den letzten Szenen die Freiburger Innenstadt wieder betritt, wird an ihren Wahrnehmungen deutlich, dass es wie eine Rückkehr in das Leben selbst ist. Alles, was sie in den letzten anderthalb Jahren vermeiden musste, ist wieder da: andere Menschen, Lächeln, freundliche Begegnungen, eben das Leben... Am Ende fallen sich Mutter und Tochter um den Hals, die Mutter hat Emily die ganze Zeit unendlich vermisst. Ihre jüngere Schwester rückt dann auf dem Bettrand zögerlich näher an sie heran – das Eis der langen Entfremdung bricht, und zum ersten Mal lächelt Emily in Freiheit ... und das Leben hat sie wieder...
Auch diese Botschaft ist angekommen. Aber man kann sich einmal fragen: Wie müsste eine Welt aussehen, in der ein Mann und ein Mädchen nicht über alle Berge fliehen müssen, um zusammensein zu können? In der Eltern, Polizei und Gesellschaft es zulassen könnten, dass ein Mann und ein Mädchen zusammen sind – und in der ein Mädchen selbst und allein die freie Entscheidung hat, ob es das will?
Letztlich ist der ,Tatort’ eine Ansammlung von Absurditäten. Und man muss sich doch einmal fragen, warum Emily bei Martin bleibt, wenn sie nicht auch eine tiefe Zuneigung zu ihm gehabt hat – trotz völlig einseitiger sexueller Annäherungen, Momenten brutaler Demütigung, geschmackloser Geschenke, eines Sexvideos, Lügen in Bezug auf die Mutter, eines entbehrungsreichen Lebens ohne andere Kontakte – und warum erst der Mord an ihrem geliebten Hund den eigentlichen Bruch herbeiführt.
Und gleichzeitig muss man sich fragen, ob die Gesellschaft, konditioniert durch solche ,Tatorts’ und anderes, wirklich glaubt, dass es keine anderen Beziehungen zwischen Männern und Mädchen gibt?
In einer Szene kommt es zwischen den beiden Polizisten, Kommissarin Tobler und Kommissar Berg, zu folgendem Dialog – beginnend und endend mit Tobler, der Frau:[2]
,Teenager ist eins der meistgesuchten Wörter auf Pornoseiten. Ich find’s zum Kotzen. Erwachsene Männer, die nackte Mädchen gucken.’
,Naja, es gibt auch erwachsene Frauen, die nackte Jungs gucken.’
,Selten.’
,Das ist eben die Biologie, Reiz-Reaktionsschema. Die meisten Menschen finden junge, nackte Körper sexuell interessant.’
,Ja, dann finde ich halt unsere Biologie auch zum Kotzen.’
Über dieses Vorurteil geht es nicht hinaus – Männer, die auf Pornoseiten nackte Mädchen suchen und ,gucken’. Und Reiz-Reaktions-Schema. Und die hilflose Bemerkung der Frau, dass dann eben auch ,unsere Biologie’ selbst ,zum Kotzen’ sei. Und warum? Weil laut Vorurteil der Mann das Mädchen zum bloßen Sexobjekt machen würde – und das ist eben Missbrauch.
Was aber spricht gegen die tiefgreifende und vielfältige Anziehung, die ein junges Mädchen auf einen Mann ausüben kann und ausübt? Gegen das ,Reiz-Reaktions-Schema’, dass einem bei dem Anblick eines leckeren Essens das Wasser im Munde zusammenläuft oder dass man beim Anblick eines lächelnden Menschen dieses Lächeln erwidert, hat schließlich auch niemand etwas. Nicht die Anziehung an sich ist ,zum Kotzen’, sondern was manche Männer daraus machen – ohne Rücksicht auf die Seele eines Mädchens und manchmal auch ohne Rücksicht auf seinen Körper.
Die Anziehung ist nicht das Problem – die Seele mancher Männer ist es. Wo nur die körperliche Befriedigung im Vordergrund und im Mittelpunkt steht – die eigene (und gegebenenfalls die Illusion von der des Mädchens) –, da ist die Frage der Seele und die des Glücks des Mädchens weit, weit weg. Missbrauch beginnt mit Egoismus, mit Ego-Trips, die den anderen nicht sehen, weil sie es vielleicht auch nie gelernt und sehr früh wieder verlernt haben.
Wie man weiß, sind viele Missbraucher früher selbst missbraucht worden – was keine Entschuldigung ist, sehr wohl aber zu einer Erklärung beiträgt. Zugleich schafft auch unsere ganze Gesellschaft Missbrauch, weil sie in ihrem Wirtschaftssystem den Egoismus voraussetzt, fördert und an vorderster Stelle platziert. Unsere Gesellschaft bringt Egoisten hervor – und man wundert sich, wo der Missbrauch herkommt? Wie unsere Gesellschaft mit Menschen umgeht – Alten, Kranken, Kindern, Arbeitslosen, Bettlern und vielen anderen –, ist allzuoft selbst Missbrauch. Wir haben es als Menschheit noch überhaupt nicht geschafft, eine wahre menschliche Gesellschaftsform zu begründen – und wir hören bereits auf, sie überhaupt denken zu können.
Nicht die Biologie ist das Problem – sondern die Seele ... an die wir aber immer weniger glauben.
Fußnoten
[1] Wiederholungen siehe www.fernsehserien.de, Tatort, Folge 1087.
[2] Siehe auch: Reihe „Tatort – Für immer und dich“. www.tittelbach.tv.