2008
Die tieferen Ursachen der Weltfinanzkrise
Am 21. Oktober gab es im Saal der Waldorfschule Berlin-Mitte einen bemerkenswerten Vortrag. Die Bürgerinitiative Grundeinkommen hatte Professor Bernd Senf eingeladen, der drei Stunden (!) zum Thema: „Tiefere Ursachen der Weltfinanzkrise – und Ausblick auf die Konsequenzen“ sprach. Im Folgenden gebe ich den sehr wichtigen Vortrag wieder.
Bernd Senf ist Professor an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin. Schon immer war er den „Rätseln“ unseres Wirtschaftssystems nachgegangen und hatte sich mit der Zeit immer mehr gewundert, dass niemand diese Rätsel und Widersprüche auch nur zu bemerken schien. Im Rahmen seiner Dissertation wurde er von der TU Berlin „rausgeschmissen“ und konnte sie dann aber an der FU Berlin unterbringen. So war er schon immer ein Querdenker, was auch die Titel seiner empfehlenswerten Bücher zeigen: „Der Tanz um den Gewinn“, „Die blinden Flecken der Ökonomie“, „Der Nebel um das Geld“.
Die Finanzkrise als Systemkrise – völlig ausgeblendet
Wichtig ist, dass die tieferen Ursachen der Weltfinanzkrise einmal in den Blick kommen. Was wir in den letzten Wochen erlebt haben, war zwar alles sehr aufgeregt, aber der gemeinsame Nenner aller Beiträge war, dass sie um das Wesentliche drumherum geredet haben! Die gegenwärtige Finanzkrise ist eine Systemkrise unseres bestehenden Geldsystems, das auf fragwürdigsten Fundamenten aufgebaut ist. Die „gierigen Manager“, die jetzt allenthalben im Zentrum der Kritik stehen, sind bereits eine Folge der im System verankerten Spielregeln.
Ein wesentlicher Kern dieses Geldsystems ist die Dynamik des Zinses und Zinseszines. Kinder können sich noch darüber wundern, wieso das Geld von selbst immer mehr werden soll, wieso es angeblich selbst „arbeitet“. In der Schule hat man dann die Zinsrechnung. Da wird brav mit den Formeln gerechnet, die Exponentialfunktion wird angewendet – aber die Problematik wird durchgehend nie thematisiert!
Ja, aber doch zumindest im Studium...? Im BWL-Studium wird ebenfalls überhaupt keine Frage nach den Konsequenzen der Gewinn-Orientierung als Grundprinzip unserer Wirtschaft gestellt. Mit einer „Tiefenökonomie“ käme man aus dem Erstaunen und Entsetzen nicht mehr heraus – denn der Preis ist der Raubbau an Mensch und Natur. So entstand das Buch „Der Tanz um den Gewinn“. Die Menschen unterwerfen sich dem selbstgeschaffenen Gott, sie umtanzen ihn wie von Sinnen! – Und das VWL-Studium? Die Volkswirtschaftslehre hat doch Blick auf größere Zusammenhänge zu richten? Wird hier etwas von der Problematik des Zinses gelehrt? Nichts! Der Spar- und Kreditzins wird ausschließlich als einer der wesentlichen und segensreichen Regulatoren der Marktwirtschaft vermittelt. Wie beim „Preismeachanismus“ und „Lohnmechanismus“ gilt auch hier: Angebot und Nachfrage regelt den „Preis“ des Geldes auf den „Geldmärkten“.
Nach dem Studium steckt das alles wie selbstverständlich in den Köpfen. Alles in mathematische Modelle gepackt, die Lehrbücher sind geradezu Mathematikbücher, alles ist scheinbar exakt, die Problematik wird von vornherein ausgeblendet. Die „Volkswirtschaftler“ leiden unter einem entsetzlichen Realitätsverlust – ja, wenn sie wenigstens darunter leiden würden, wären wir ja schon einen Schritt weiter! Der Neoliberalismus ist nun die dazu gehörige Ideologie, die die gesamte Welt dieser scheinbaren wirtschaftlichen „Vernunft“, dieser scheinbar mathematisch bewiesenen „Wahrheit“ unterwerfen will.
Von Geldschöpfung und faulen Krediten
Eine eng damit zusammenhängende Problematik ist die der Geldschöpfung. Diese wird von noch weniger Menschen durchschaut, man ist hier wirklich noch ganz im Stadium des Märchens vom Klapperstorch. Der erste Glaube ist: Alles Geld kommt von den unabhängigen Zentralbanken und ist eng an die Realwirtschaft gekoppelt. Nun, mit Realwirtschaft hat das Ganze nichts mehr zu tun. Der gesamte Geldverkehr ist zunehmend bargeldlos. Jede einfache Bank hat die Möglichkeit, Geld aus dem Nichts zu schöpfen und einem Kreditnehmer aufs Konto zu buchen – für den Kredit nimmt die Bank dann Zinsen... Was hat aber die Geldschöpfung mit der Finanzkrise zu tun? Riesige Kredite haben die gigantischen Spekulationsblasen auf den Immobilienmärkten, an den Aktien-, Wertpapier- und Devisenbörsen erst ermöglicht! Wenn Flutwellen von Geld an die Börsen strömen, geht der Kurs „automatisch“ in die Höhe. Die Spekulationsblasen wurden geradezu gefüttert, und zwar gerade durch die US-Notenbank, die zufällig „Fed“ heißt (Federal Reserve System).
Es dauert jedoch 30-40 Jahre, bis aufgrund des Zinseszinssystems gravierende Dynamiken entstehen, die dann immer schwerwiegender werden. Die Südostasienkrise 1997 war schon ein Riesenschrecken, aber war damals noch weit weg... Jetzt ist die Krise im Zentrum der Weltwirtschaft angekommen.
Die Finanzkrise ist eine Kredit- und Zinskrise. Sie begann als Immobilien- bzw. Hypothekenkrise: In den USA wurden den Menschen jahrelang Kredite „hinterhergeschmissen“, viele gerieten in die Schuldenfalle, wurden zahlungsunfähig. So kam es zu einer Riesensumme „fauler“ ausstehender Forderungen, Banken gerieten in Bedrängnis. Diese faulen Kredite wurden mit „besseren“ Krediten zu einem Paket geschnürt – natürlich von Ratingagenturen sehr positiv bewertet – und mit Rabatt an andere Banken, Fonds, Versicherungen und Investmentgesellschaften verkauft (die dann versuchen konnten, die Schulen einzutreiben). Da über diese und andere Querverbindungen im Grunde jede Bank mit jeder verbandelt und Schuldner bzw. Gläubiger ist, ist der Ruin einer Bank eine Gefahr für das gesamte Finanzsystem. Und weil alle diese Banken und Fonds diese zum Himmel stinkenden Kredite gekauft haben, wurden diese ganzen faulen Forderungen wie mit einer Zentrifuge auf der ganzen Welt verteilt. Alle großen Banken stecken mit in der Krise drin!
Es ist eigentlich ein ganz einfaches Gesetz: Den durch den Zins sich immer schneller vermehrenden Vermögen stehen ebenso schnell steigende Schulden gegenüber – und umgekehrt. Diese einfache Regel könnte schon in der Grundschule gelernt werden! Man weiß, dass die Vermögen in den letzten Jahrzehnten immens angestiegen sind, ebenso die Verschuldung (von Staat, Unternehmen, privaten Haushalten und weltweit in den ärmeren Ländern) – es wird jedoch kollektiv verdrängt, dass das einen untrennbaren Zusammenhang bildet!
Aus der Physik weiß man, dass eine ständig steigende Spannung sich irgendwann blitzartig entlädt. Überträgt man das auf die Börsen, drohen gigantische Kursstürze, damit aber auch riesige Kreditausfälle, weil zahlreiche Teilnehmer des „großen Spiels“ ihre Kredite dann nicht mehr zurückzahlen können. Also wird noch mehr Geld an die Börsen gepumpt – zum Beispiel von der US-Notenbank, die keineswegs unabhängig ist, höchstens von demokratischer Kontrolle. Sie ist seit ihrer Gründung bis heute ein privates Bankenkartell! Das ist fast das bestgehütete „Bankgeheimnis“...
Ganz langsamer Beginn – und katastrophales Ende
Die Zinslasten der verschuldeten Haushalte, Unternehmen und des Staates werden immer größer, doch die Wirtschaftsideologen argumentieren hier: Das ist alles kein Problem, wenn das Bruttosozialprodukt ebenfalls wächst – dann können auch mehr Steuern erhoben werden und so weiter... Das Problem ist nur: Außer zu Zeiten des Wirtschaftswunders (!) sind die Wachstumsraten der Realwirtschaft immer kleiner als der Zins! Während der ersten Wirtschaftskrise in den 60er Jahren reichte noch eine Konjunkturspritze von nur 5,3 Milliarden DM – heute sind wir „weiter“ und reden angesichts der „Finanzkrise“ schon von Haftungssummen in Höhe von 480 Milliarden Euro...
Als die Volkswirtschaft nach dem Krieg bei Null anfing, herrschten paradiesische Zustände: Die Wirtschaft wuchs wundersam, die Arbeitnehmer wurden jeweils an den Produktionszuwächsen beteiligt, Inflationsausgleich war ohnehin selbstverständlich. Dann wuchsen die Vermögen derer, die bereits Vermögen hatten, immer stärker, während dem eine wachsende Verschuldung von Staat und Unternehmen gegenüberstand. Es kam zu wachsenden Verteilungskämpfen. Der Staat musste hier und da immer mehr kürzen. Und obwohl der „Gesamtkuchen“ des Bruttosozialprodukts noch immer wächst, sinkt inzwischen der Anteil, der wirklich verteilt werden kann (der Rest sind die exponentiell wachsenden Riesenvermögen). Und während für Bildung, Hartz-IV-Empfänger usw. kaum noch Geld da ist und immer mehr gespart wird, werden auf der anderen Seite innerhalb von zwei Wochen Gesetze durchgepeitscht, mit denen sich der Staat nochmals mit weiteren 100en Milliarden Euro verschuldet! Historisch führten solche Krisenszenarien am Ende immer wieder zu einer Hyperinflation und/oder einem völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch – und einer schlagartigen Entwertung von Vermögen und Schulden...
Die Blindheit gegenüber der Zinsproblematik erfüllt alle Voraussetzungen eines Wahnsinns. Doch während in einem solchen Fall der Einzelne in der Psychiatrie landet, erhält er im Wirtschaftsleben den Status eines „Weisen“ in einem Sachverständigenrat oder einen Nobelpreis...
Es wurde einmal errechnet, was ein zu Beginn der Zeitrechnung mit 5% Zinseszins angelegter Pfennig heute wert wäre. Was glauben Sie? Bernd Senf lässt seine Studenten das oft mit dem Taschenrechner ausrechnen. Die Reaktion ist immer wieder: „Ich muss mich vertippt haben“ – „Na, sagen Sie doch mal...“ – ungläubiges Blicken auf das Display. „2,38 mal 10 hoch 42“. Senf schreibt es an die Tafel:
2.380.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000
Jetzt kommen schlaue Studenten und sagen: „Jahaaa, Pfennige!“. Senf streicht zwei Nullen weg und schreibt DM dahinter, ersetzt vorne die 2.3 durch eine 1.2, und schon sind es Euro. Und das war nur ein Pfennig. Er führt die Rechnung weiter: Die Studenten sollen ausrechnen, welche Goldmenge der gigantischen Zahl entspricht. Es ist ein Vielfaches der Erdkugel! Genauer gesagt: Hunderte Milliarden Goldkugeln vom Gewicht der Erde. Der Wert eines Pfennigs nach 2000 Jahren Zinseszins...
Der Krebs der sozialen Ordnung – das letzte Tabu?
Wenn ein Teil eines Organismus exponentiell wächst, ist das Krebs. Der Zins ist der Krebs der sozialen Ordnung – und er zehrt nun bereits so an deren Kräften, dass sie dem Tode verfällt.
Ein weiteres Scheinargument, das in allen Köpfen steckt, ist: Der Zins dient doch letztlich allen – jeder hat durch sein Sparbuch etwas davon. Doch was man sich meist nicht klarmacht, ist folgendes: Den Riesenvermögen stehen Riesenschulden gegenüber, die uns alle betreffen. Unternehmen und Staat sind hoch verschuldet, das schlägt sich in entsprechendem Maße auf die Preise jeder Ware, jeder Dienstleistung und der Steuerbelastung nieder. Helmut Creutz („Das Geldsyndrom“) hat sich viele Jahre mit dieser Frage befasst und errechnet, dass wir von jedem Euro, den wir für etwas (inkl. Steuern) bezahlen, 40% für die Zinsen zahlen, die die Vermögen weiter steigen lassen. Das heißt: Der Zins bedeutet für mindestens 85% aller Menschen eine Belastung, selbst wenn man so reich wäre, dass man jährlich eintausend Euro Zinsen kassiert. Nur für die Superreichen ist der Zins von Nutzen – ihr Vermögen steigt in der Tat exponentiell, immer schneller...
Erinnern wir uns einmal an das „finstere“ Mittelalter. Dort mussten die armen Bauern dem Feudalherren und der Kirche den „Zehnten“ abtreten. Das waren unter einer besonders knechtenden Herrschaft manchmal sogar 20%. Im Grunde waren das geradezu paradiesische Zustände! Heute fließen von jedem Euro 40% in die Taschen der ohnehin schon Reichen!
Der Zins ist eine Riesenpumpstation – ein Umverteilungsmechanismus: Von Arm zu Reich, jeden Tag, jede Nacht – und keiner hat‘s gemerkt und kapiert. Selbst der stärkste Staubsauger hat irgendwann maximale Saugkraft. Der Zins jedoch ist unersättlich. Er fordert einen immer weiteren, immer schnelleren Anstieg der Vermögen – eine immer weiter wachsende Verschuldung. [Haben Sie sich einmal gefragt, woher die vielen netten Kreditangebote in den letzten Jahren kommen? Die Lockungen, alles „auf Pump“ zu kaufen?]
Der Zins ist ein absolutes Tabu. Er hat das ganze 20. Jahrhundert überdauert – ein Jahrhundert, in dem fast alle anderen Tabus gefallen sind. Und auch in den letzten Wochen hat kein Kommentar auch nur annähernd den Blick auf dieses Problem gerichtet. Alle geschürten „Rettungspakete“ treiben stattdessen den Staat in noch höhere Schulden. Die künftigen Jahre werden noch mehr Kürzungen im Sozialen, im Bildungswesen, in den bisher „öffentlichen“ Bereichen erleben. Woher kommt der Name „Staatsbürger“? Nun, letztlich ist er es, der für den Staat bürgen muss... Und frei nach Reinhard Mey: „Wo sind die Milliarden hin ... wo sind sie geblie-ie-ben ... Wann wird man je verstehn? Wann wird man je ... verstehn?“
Weitere Vertiefung:
Videomitschnitt des gesamten Vortrags.
Zwei Texte von mir:
Die Welt im Rachen des Mammon. Vom Widersinn des Zinses
Eine andere Welt ist möglich – ein Grundsatzpapier