2024
Das Wunder der Wunde
Von dem Mysterium, sich von dem Unendlichen eines Mädchens unendlich verwunden zu lassen.
In der folgenden Leseprobe meines Roman ,Minne-Wunde/r’ fasst die alte Frau Elsa im Gespräch mit der Frau des Protagonisten Daniel, der sich tief in das Mädchen Jasmin verliebt hat, in Worte, um welches eigentliche Mysterium es geht. Es geht um etwas sehr Heiliges, das man nur mit einem reinen Herzen empfinden kann.
„Es spielt ja vielleicht auch irgendwo mit... Das ist doch nicht einfach platonisch...“, wagte sie einzuwenden.
„Es ist aber auch nichts dabei, sich von einem jungen Mädchen überhaupt angezogen zu fühlen – und soll ich Ihnen sagen, warum? Weil es anziehend ist! Ein junges Mädchen ist anziehend. Warum soll man an dieser Wahrheit vorbeileben? Und auch diese Wahrheit hat nichts mit Hormonen und Begierde zu tun, sondern mit der schlichten Tatsache, dass das Mysterium der Schönheit bei einem Mädchen bis in die Haut hineinstrahlt. Und deswegen ist es sogar sehr platonisch, denn gerade Platon hat auf dieses Geheimnis heiliger Anziehung hingewiesen, das ist einfach eine tiefe Wahrheit.
Aber die Frage ist doch, was das entscheidende Geschehen ist, das umfassende, das Ganze. Was geschieht hier eigentlich? Was hat diese Seele erschüttert, ergriffen? Was hat sie verwundet...? Dass da ein schönes Mädchen erschien? Auf einem Elternabend? Mein Gott, es laufen so viele schöne Mädchen überall herum – sollte es wirklich das gewesen sein? Nein ... nicht im Geringsten. Selbstverständlich war es auch das – aber das ist nicht das Geheimnis dieses Mädchens.
Das Geheimnis ist, dass dieses Mädchen gesagt hat, durch sein Wesen gesagt hat: Es gibt noch eine ganz andere Welt, Daniel... Von ihr weißt du nichts... Aber ich zeige sie dir, sieh her... Sieh mich an... Siehst du? Du weißt davon gar nichts... Du hast keine Ahnung. Aber diese Welt ist groß, sehr groß... Und warum kennst du sie nicht? Man sollte sie kennen... Ihr sitzt hier alle, auf diesem Elternabend, und habt keine Ahnung...“
„Aber deshalb verliebt man sich doch nicht!“
„Doch, Frauke. Wenn man an einem bestimmten Punkt des Schicksals angekommen ist, verliebt man sich. Weil man ergriffen wird, bis ins Allerinnerste berührt – eben: verwundet... Verwundet von grenzenloser Schönheit.
Kein anderer Mann hat sich verliebt, hat es vielleicht einfach nur nicht gewagt... Aber Daniels Seele hat sich verliebt. So etwas geht so tief, dass es wahrscheinlich Tage braucht, bis es überhaupt bemerkt wird. Und vielleicht hat er sich selbst beschämt und leidvoll gefragt: In was habe ich mich nun eigentlich verliebt? Bis ihm mehr und mehr die heilige Erkenntnis aufging, dass hier wirklich mehr vorliegen muss als irgendeine äußere Schönheit, wie sie hunderttausendfach rumläuft – bis er begriffen hat, dass die innere Schönheit eine unendliche Welt ist und dass es diese war, die ihn nicht losließ... Dass es diese war, die sich wie ein heißer, erschütternder Strahl in seine Seele senkte – und dass er sich in dieses Geheimnis unsterblich verliebte, unterstützt von der Tatsache, dass es bis ganz nach außen strahlte, bis in das Gesicht dieses Mädchens hinein ... aber eben nur unterstützt davon. Das Geheimnis dieses Mädchens ist ihre Seele... Dieses Mädchen kann verwunden – und es ist kein Wunder, dass Daniels Seele sich verliebt hat.
Ich an seiner Stelle hätte es auch getan... Oder, vielmehr, ich habe es auch getan. Ich habe mich gewissermaßen auch in dieses Mädchen verliebt. Und zwar in ihre Eigenständigkeit, die so ganz anders ist als die aller anderen Mädchen. Dieses Mädchen hat so viele Facetten, ihr Wesen ist so einzigartig! Und dabei völlig unaufdringlich, schon das ist so berührend. Sie hat so viel Charakter – und ist dabei doch ein so liebes Mädchen, so unglaublich liebenswert...! Aber das alles ist nicht das, in das Daniels Seele sich verliebt hat, das alles hat dies ebenfalls nur unterstützt. Daniel ist unendlich berührt worden von der Bedingungslosigkeit, mit der dieses Mädchen Tiere liebt! Tiere, die sie nie gesehen hat... Von dieser Liebe habe ich gar nicht viel mitgekriegt, ich habe sie ja nur einmal gesehen. Aber es ist diese Liebe, die die Seele Ihres Gefährten bis ins Innerste berührt hat, neben allem anderen.
Dieses Mädchen hat seiner Seele sozusagen gesagt: Ihr seid alle noch gar keine Menschen ... schaut euch doch an! Ihr meint, Menschen zu sein – aber es kümmert euch nicht, wie es euren Geschwistern geht? Wie könnt ihr euch Menschen nennen? Wisst ihr nicht, was Liebe ist? Verantwortung? Heiße Verantwortungsliebe? Ich bin diesen Tieren viel näher als euch, die ihr kalt und interesselos seid!
Aber, Worte können das Mysterium immer nur umkreisen, Frauke – oder es sogar zerreden. Ich treffe es sowieso nie. Es hat Daniels Seele getroffen, und das ist niemals in Worte zu bringen. Nicht das, was sich wirklich ereignet hat und noch immer ereignet. Und man sollte es in diesem Schutzraum der Wortlosigkeit und der eigentlichen Wahrheit, die immer auch Geheimnis bleibt ... wahrnehmen lernen. Sich selbst berühren lassen von etwas Unsagbarem, das nicht sagbar ist, aber berührt. Und allein darum geht es. Um das Berührende.
Es geht hier um etwas, wozu Hunderttausende nicht den Mut haben: um das Mysterium selbst. Lernen Sie, es auf dieser heiligen Ebene zu sehen, solange Ihr Gefährte es so erlebt. Was er erlebt, ist wahr...“
„Aber dann wird man wieder eifersüchtig, dass ein vierzehnjähriges Mädchen das schafft und –“
„Und man selber nicht? Ja, man wäre selbst auch gerne so großartig, dass der eigene Mann in einem ein Mysterium sehen würde. Aber immerhin sind sie füreinander ja großartig genug, dass sie bei sich bleiben, miteinander leben – schon das ist großartig, das tut man ja nicht mit jedem! Schon das würde man nur mit ganz wenigen Menschen freiwillig tun, geschweige denn gern. So ist man füreinander sowieso viel, viel mehr, als man denkt.
Aber warum sollte man für den Anderen ein Mysterium sein, das ihm vollkommen neue Welten eröffnet? Denken Sie wirklich, Sie könnten Ihren Gefährten täglich neu ... verwunden? Durch innere Schönheit? Tut er es bei Ihnen? Auch nicht... Aber dieses Mädchen tut es mit ihm, sie verwundet ihn... Werfen Sie es ihr nicht vor! Und auch ihm nicht, Ihrem Gefährten. Es ist etwas Kostbares, verwundet zu werden. Für solche Wunder sind wir hier auf Erden. Und selbst viele der Hunderttausende von Männern, die einem jungen Mädchen hinterherlaufen, werden unsichtbar, still und verborgen von diesem Mädchen verwundet ... und verwandelt. Aber bei Daniel geschieht dies von Anfang an auf einer sehr heiligen Ebene, weil er dieses Mädchen tatsächlich mit aufrichtigsten Empfindungen liebt und verehrt – als Verwunderin, als Schönheitswesen, von dem er etwas lernen möchte, von dem er sich verwunden lassen möchte – und lernen.
Und warum denn wohl? Weil auch er nicht so großartig ist, wie er bisher vielleicht dachte, weil alle das von sich denken. Er hat Ihnen also überhaupt nichts voraus, nur dieses Mädchen hat in seinen Augen allen etwas voraus, und es ist wahr... Sie müssen also überhaupt nicht eifersüchtig werden, denn wozu? Indem seine Seele sich in dieses Mädchen verliebt, bekennt sie nicht, dass dieses Mädchen besser sei als Sie, sondern bekennt in erster Linie, dass dieses Mädchen besser, viel besser ist als er... Darum geht es...“
„Sie haben wahrscheinlich Recht... Es ist nur so ein Reflex, dass man natürlich eifersüchtig wird...“
„Selbstverständlich. Das ist der Reflex unser aller Faulheit. Man möchte bereits perfekt sein, ohne etwas dafür zu tun. Man möchte der absolute Held sein, gerade für den Partner – ohne etwas dafür zu tun. Aber man ist nun mal nur der, der man ist. Auch Ihr Gefährte ist nicht mehr als das. Deswegen hat sich ja niemand anders in dieses Mädchen verliebt – weil Mut dazu gehört, sich erschüttern zu lassen, denn das ist ja gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass da jemand grenzenlos viel schöner ist als man selbst... Welcher Mann – ich wiederhole: gerade welcher Mann – würde sich eine solche Erkenntnis zumuten wollen? Ihr Mann hat das getan – und schon das wäre ein Grund, stolz auf ihn zu sein. Denn er ist bereits damit nicht wie fast alle anderen Männer, die vor allem auf sich etwas zugutehalten wollen. Indem er dieses Mädchen zu verehren begonnen hat, hat er eigentlich im gleichen Atemzug die Erkenntnis bestätigt, wie durchschnittlich er eigentlich ist, wie armselig zum Beispiel in den Augen eines Mädchens, vor denen er vielleicht nicht einmal würdig ist, von ihr auch nur zu lernen... Verstehen Sie, was ich meine?
Ihr Mann kann sich vor diesem Mädchen nur gering fühlen – und vielleicht stört sie auch dies. Aber ich sage Ihnen: Die Demut ist die hohe Schule zu eigener innerer Schönheit. Das gilt auch für einen Mann. Und glauben Sie nicht, dass es an Ihrer Würde kratzt, wenn sich Ihr Gefährte einem Mädchen zuwendet, von Ihnen scheinbar, zumindest zeitweise, abwendet, und sich vor diesem Mädchen fast demütigt, was er vor Ihnen nicht tut.
Die Demut kommt aus seiner Liebe, und diese Liebe ist eine, die so nicht erwidert wird, er muss sich also demütigen können, um überhaupt in der Nähe dieses Mädchens sein zu dürfen. Und dass er den Mut dazu hat, beweist die Aufrichtigkeit seiner Liebe und die Größe seines Charakters – ganz im Gegenteil zur öffentlichen Meinung. Denn groß ist nicht, wer sich vor einem Mädchen nicht beugen will, sondern wer die Fähigkeit genau dazu hat! Denn die Wahrheit ist: Dieses Mädchen ist schöner als er und als fast alle anderen Menschen. Das ist einfach die Wahrheit. Und sich vor der Wahrheit zu beugen, das ist Größe... Hier wird der innere Hochmut und die eigene innere Faulheit gebrochen. Und das ist der erste Schritt zu einem zarten Aufblühen eigener innerer Schönheit. Schämen Sie sich also nicht, dass ihr Mann sich vor einem Mädchen demütigt. Seien Sie stolz darauf. Ihr Gefährte ist schon damit viel schöner, viel berührender als hunderttausend andere Männer...“
„So habe ich es noch nie betrachtet...“
„Deswegen sind Sie ja hier...“, lächelte Elsa. „Und wissen Sie, was Sie schön macht? Ihre Bereitschaft, alles immer auch anders zu betrachten, als Sie es bisher getan haben...“