GA
Liebe zur Wahrheit, Andacht und Gebetsstimmung
Rudolf Steiner: Die Mission der Wahrheit (GA 59, S. 41ff). Die Mission der Andacht (GA 59, S. 81ff). Das Wesen des Gebets (GA 58, S. 214ff). Hervorhebungen und Zwischenüberschriften H.N.
Die Mission der Wahrheit
Das Streben nach Wahrheit
Wahrheitsliebe und Selbstlosigkeit
Nach- und vorgedachte Wahrheiten
Das Belebende der vorgedachten Wahrheiten
Das Streben nach Wahrheit
[...] Der Mensch soll durch das Ich immer mehr und mehr ein Wesen werden, das seinen Mittelpunkt in sich selber hat. Aus dem Ich heraus müssen die Gedanken, Gefühle und Willens-Impulse entspringen. Je mehr der Mensch den festen und inhaltsvollen Mittelpunkt in sich hat, desto mehr strahlt aus von seiner Wesenheit, desto mehr vermag er der Welt zu geben, desto inhaltsvoller und stärker wird sein Wirken und alles, was von ihm ausgeht. [...]
[...] So wie die menschliche Seele Eigenschaften hat, die sie überwinden muß, um immer höher zu steigen, so muß sie auch in sich Kräfte ausbilden, die sie sozusagen pflegen und lieben darf, trotzdem sie in ihr aufsteigen. [...][...] und das Ausgezeichnete, das, was die Seele in sich selbst lieben darf, dasjenige, wodurch sie sich nicht zur Selbstsucht, sondern zur Selbstlosigkeit erzieht, wenn sie es liebt, – das ist die Wahrheit. Die Wahrheit erzieht die Verstandes- oder Gemütsseele. [...] Eine innere Pflege der Wahrheit ist absolut notwendig, um die Seele höher und höher steigen zu lassen.
Welche Eigenschaft der Wahrheit ist es, die den Menschen weiter und weiter führt und von Stufe zu Stufe höher bringt, wenn er sich der Wahrheit bedient? Die Wahrheit hat zu ihrem Gegenteil, als Gegenüberstehendes, die Lüge und den Irrtum. Wir wollen sehen, wie der Mensch vorwärts kommt durch die Überwindung von Irrtum und Lüge, indem er die Wahrheit zu seinem großen Ideal macht und ihm nachstrebt.
Eine höhere Wahrheit soll er anstreben, wie er andererseits den Zorn zu etwas machen muß, was sein Feind ist, den er immer mehr und mehr beseitigen muß. Wahrheit soll für ihn etwas werden, was er lieben und mit dem Innersten der Seele verbinden soll, um zu immer höheren und höheren Stufen zu gelangen. Trotzdem haben ausgezeichnete Dichter und Denker mit Recht davon gesprochen, daß der volle Besitz der Wahrheit für den Menschen gar nicht zu erreichen sein soll. Lessing zum Beispiel sagt, die reine Wahrheit sei nicht für den Menschen, sondern nur das ewige Streben nach Wahrheit. Man wird von Lessing darauf hingewiesen, daß die Wahrheit eine ferne Göttin ist, der sich der Mensch nur nähern kann, die aber im Grunde genommen nie zu erreichen ist. In dem Aufrücken der Natur der Wahrheit, in dem, daß die Seele ein höheres Streben nach Wahrheit in sich wach werden läßt, liegt, was die Seele immer weiter und weiter steigen läßt. Da es ein ewiges Streben nach der Wahrheit gibt und das Wort Wahrheit etwas so Mannigfaltiges bedeutet und ist, so wird man vernünftigerweise nur davon sprechen können, daß der Mensch die Wahrheit erfassen soll, daß er eigentlichen Wahrheitssinn entwickeln soll. Man wird daher nicht sprechen von einer einzigen umfassenden Wahrheit.
In diesem Vortrage soll nun die Idee der Wahrheit im rechten Sinne betrachtet werden; und es wird sich uns in klarer Weise zeigen, daß der Mensch durch die Entwickelung des Wahrheitssinnes in seinem Innern erfüllt wird von einer vorwärtstreibenden Kraft, die ihn zur Selbstlosigkeit führt.
Der Mensch strebt nach Wahrheit. Da wo die Menschen aus dem Bestehenden heraus versuchten, sich über die Dinge eine Anschauung zu machen, kann man auf den allerverschiedensten Gebieten des Lebens finden, daß sie da oft in der entgegengesetzten Weise sich aussprechen. Wenn man sieht, was der eine und demgegenüber der andere für Wahrheit hält, so könnte man glauben, daß das Wahrheitsstreben die Menschen zu den entgegengesetztesten Anschauungen und Meinungen bringt. Wenn man jedoch unbefangen beobachtet, wird man die Leitfäden finden können, die uns zeigen, wie es eigentlich kommt, daß die Menschen zu so verschiedenen Meinungen kommen, trotzdem sie die Wahrheit suchen. [...]
Wahrheitsliebe und Selbstlosigkeit
[...] Die erste Anforderung an den wirklichen Wahrheitssinn ist, loszukommen von sich selber; ins Auge zu fassen, was von unserem Standpunkte abhängt.
[...]
Wahrheit ist [...] etwas, was wir im Innersten erleben. Und dennoch, obwohl wir sie in uns selbst erleben, kommen wir dadurch immer mehr und mehr los von unserem Selbste durch sie. Dazu ist allerdings nötig, daß in das Streben nach Wahrheit sich wirklich nichts anderes hineinmischt als die Liebe zur Wahrheit selber. Wenn sich Leidenschaften, Triebe und Begierden, von denen die Empfindungsseele erst geläutert und gereinigt werden muß, bevor die Verstandesseele nach Wahrheit streben kann, hineinmischen, so kann der Mensch nicht los von sich; denn diese machen es, daß sein Ich sich auf einen bestimmten Gesichtspunkt stellt. Daher wird sich die Wahrheit nur dem ergeben, der versucht, bei ihrer Auffindung Leidenschaften, Begierden und Triebe in sich zu überwinden und sie nicht mitsprechen zu lassen. Liebe darf die einzige Leidenschaft sein, die beim Aufsuchen der Wahrheit nicht abgestreift werden muß. Die Wahrheit ist ein hohes Ziel. Das zeigt sich daran, daß sie sich dem Menschen heute in der eben geforderten Form nur ergibt auf einem eingeschränkten äußeren Gebiete.
Nur auf dem Gebiete der Mathematik, des Rechnens und Zählens hat die Menschheit im allgemeinen heute dieses Ziel erreicht, weil dieses das Gebiet ist, wo der Mensch seine Leidenschaften, Triebe und Begierden gezügelt hat und nicht mitsprechen läßt. [...] Die Menschen würden in bezug auf die höchsten Wahrheiten zur Einigkeit kommen, wenn sie in bezug auf diese höchsten Wahrheiten soweit wären, wie sie in bezug auf diese Wahrheit auf dem Gebiete der Mathematik schon sind. Aber diese Wahrheiten sind etwas, was wir in der innersten Seele erfassen, und dadurch, daß wir sie so erfassen, haben wir sie. Wenn hundert oder gar tausend und mehr Menschen uns widersprechen, wir haben sie doch und wissen, daß drei mal drei gleich neun ist, weil wir sie in unserem Innersten erfaßt haben. Würden die hundert und tausend Menschen, welche anderer Meinung sind, sich unabhängig machen von sich selber, so würden sie zu derselben Wahrheit kommen. [...]
[...] Das ist die Mission der Wahrheit, daß wir sie immer mehr und mehr lieben und aufnehmen dürfen, und daß wir sie in uns selbst pflegen sollen. Indem wir uns in unserem Selbste der Wahrheit ergeben, wird es selbst immer stärker, und wir werden gerade dadurch loskommen von dem Selbste [...]. Die Wahrheit ist eine strenge Göttin, die deshalb auch fordert, daß sie in den Mittelpunkt einer alleinigen Liebe in unserem Selbst gestellt wird. In dem Moment, wo man nicht loskommt von sich selber und etwas anderes ihr gegenüberstellt, etwas anderes höher stellt als sie, rächt sie sich sofort. [...] Die Wahrheit richtet sich nach niemand, und finden kann sie nur derjenige, der sich ihr ergibt. Das können wir daran ersehen, daß in dem Augenblick, wo der Mensch nicht um der Wahrheit willen liebt, sondern um seiner selbst willen, weil er sich an seine Meinungen hängt, daß der Mensch in diesem Augenblicke als ein anti-soziales Wesen wirkt, das immer fort und fort herausstrebt aus der menschlichen Gemeinsamkeit. Sehen wir einmal hin auf diejenigen, die nicht danach streben, die Wahrheit um der Wahrheit willen zu lieben, die eine bestimmte Anzahl von Ansichten zu ihrer Wahrheit gemacht haben: sie lieben nichts als den Besitz ihrer Seele. Diese Menschen werden die intolerantesten sein. Diejenigen Menschen, die die Wahrheit ihrer eigenen Anschauungen und Meinungen wegen lieben, das sind jene, welche nicht dulden wollen, daß ein anderer zum Wahrheitsuchen auf ganz anderem Wege geht. [...]
Führt ehrliches Wahrheitsstreben zu allgemeinem Menschenverständnis, so führt das Umgekehrte, die Liebe zur Wahrheit um der eigenen Persönlichkeit willen, zur Zerstörung der Freiheit, zur Intoleranz der andern Persönlichkeit gegenüber. [...]
Nach- und vorgedachte Wahrheiten
Wahrheit suchen, Wahrheit durch eigene Arbeit sich erwerben kann nur ein denkendes Wesen. Indem sich der Mensch Wahrheit erwirbt durch sein Denken, muß er sich immer mehr und mehr klar werden, daß dadurch das gesamte Gebiet der Wahrheit in zwei Teile zerfällt. Für die Wahrheit gibt es zwei Formen. Diejenige, die gewonnen wird, indem wir hinschauen auf irgend etwas, was uns in der Außenwelt vorliegt, hinschauen auf die umliegende Natur, Stück für Stück sie erforschen, um ihre Wahrheiten, Gesetze und Weistümer kennenzulernen. Wenn wir also den Blick schweifen lassen über die Welt, über den Umfang des Erlebten, dann kommen wir zu jener Wahrheit, die man nennen kann „die Wahrheit des Nachdenkens“. [...]
So steht der Mensch der Welt gegenüber, und er kann voraussetzen, daß aus der Weisheit die Welt entsprungen ist, und daß er durch sein Denken dasjenige wiederfindet, was an der Produktion, an der Schöpfung der Welt beteiligt ist. Das ist die Wahrheit, die er durch Nachdenken gewinnt.
Es gibt nun noch andere Wahrheiten. Diese kann der Mensch nicht durch bloßes Nachdenken, sondern sie kann der Mensch nur gewinnen, wenn er hinausgeht über das, was im äußeren Leben gegeben werden kann. Im gewöhnlichen Leben sieht man schon, daß der Mensch, wenn er sich ein Werkzeug oder ein Instrument anfertigt, Gesetze ausdenken muß, die er nicht durch bloßes Nachdenken gewinnen kann. So könnte zum Beispiel der Mensch durch bloßes Nachdenken über die Welt keine Uhr machen; denn die Welt hat nirgends ihre Gesetze so zusammengestellt, daß eine Uhr in der äußeren Natur schon vorhanden wäre. Das ist die zweite Art von Wahrheit, die wir dadurch gewinnen können, daß wir dasjenige vorausdenken, was sich nicht im äußeren Erlebnis und nicht im äußeren Beobachten ergibt. Es gibt also zweierlei Wahrheiten, und das sind zwei streng voneinander geschiedene Gebiete der Wahrheit. Wir haben zu sondern solche Wahrheiten, die durch Nachdenken über die äußere Beobachtung für uns entstehen, und solche, die durch Vordenken entstehen.
Wodurch sind nun die letzteren wahr? [...] Dasjenige, was wir vordenken, muß sich realisieren, muß sich in die Wirklichkeit einleben können; es muß dasjenige, was wir vorgedacht haben, uns in der Wirklichkeit draußen entgegentreten können. Solcher Art sind aber auch die geisteswissenschaftlichen oder anthroposophischen Wahrheiten. Sie sind solche, die man nicht an den äußeren Erlebnissen zunächst beobachten kann.
Kein äußeres Erlebnis der Natur kann uns das, was über den ewigen Wesenskern des Menschen schon öfters betont wurde, bestätigen. Wir können unmöglich aus der äußeren Beobachtung heraus die Wahrheit gewinnen, daß das menschliche Ich immer wieder und wieder in neuen Verkörperungen erscheint. Wer zu dieser Wahrheit gelangen will, muß sich über das äußere Erlebnis erheben. Er muß in seiner Seele eine Wahrheit erfassen können, die er nicht im äußeren Erlebnis zunächst hat, aber sie muß sich auch im äußeren Leben realisieren. Man kann eine solche Wahrheit nicht so beweisen wie die erste Art Wahrheit, die wir nachgedachte Wahrheit genannt haben. Man kann sie nur beweisen dadurch, daß man ihre Anwendung im Leben zeigt. Dafür gibt es aber auch keinen anderen Beweis als eine Widerspiegelung im Leben. Wer hineinschaut in das Leben und es betrachtet mit der Erkenntnis, daß die Seele immer wiederkehrt; und betrachtet, was sich abspielt zwischen Geburt und Tod, was da die Seele immer wieder erlebt; und da betrachtet, welche Befriedigung diese Idee gewähren und welche Kraft sie im Leben geben kann, ihre Fruchtbarkeit im Leben verfolgt – und auch noch im anderen Sinne verfolgt, indem er sich zum Beispiel sagt: wie kann ich die Kraft einer Kindesseele entwickeln, wenn ich voraussetze, daß da eine Seele sich herausarbeitet, die schon immer da war? – dem leuchtet diese Wahrheit und Idee in der äußeren Wirklichkeit entgegen; sie erweist sich ihm fruchtbar. Alle anderen Beweise sind unrichtig. Einzig und allein die Bewahrheitung solcher vorgedachter Wahrheiten im Leben ist als ein Beweis ihrer Richtigkeit zu betrachten. [...] Die zweite ist eigentlich eine im Geiste erfaßte, die sich bewähren soll in der äußeren Beobachtung, im Leben.
Das Belebende der vorgedachten Wahrheiten
Wie werden nun diese zwei Gebiete der Wahrheit erzieherisch auf die menschliche Seele wirken? [...] Während die Weisheit in der Natur schöpferisch ist, während die volle Wirklichkeit aus ihr heraus sprießt, ist unsere Wahrheit nur ein Spiegelbild, eine nachgedachte und untätige; etwas, was ohnmächtig geworden ist durch unser Naturdenken. [...] Daher wirkt auch dieses Wahrheitsbild in bezug auf die Entwickelung unseres Ichs zunächst verödend und ausleerend. Die schöpferische Kraft des Ichs wird lahm und erstirbt sozusagen; das Selbst wird nicht stark und kann sich gar nicht mehr der Welt gegenüberstellen, wenn es nur nachgedachte Wahrheiten sucht. Nichts wirkt so sehr auf das Vereinsamen, auf das Veröden, auf das Zurückziehen in sein Ich, auf die Verfeindung mit der Welt, als das bloße Nachdenken über die Welt. Kalter Egoist kann der Mensch werden, wenn er bloß erforschen will, was draußen in der Welt ist. [...]
[...] Die Seele wird immer mehr und mehr austrocknen in bezug auf Gemeinschaftssinn; sie wird immer ärmer, trotzdem die Wahrheit sie reicher machen sollte. Der Mensch hört auf, wenn er bloß diese Art Wahrheit erforscht, im Gemeinsamkeitssinn Mensch zu sein. [...] Nun kommt derjenige, der ein Künstler ist. Er stellt sich mit der Seele dem, was ihm das Bild der Natur gibt, entgegen. Er denkt nicht bloß nach, sondern er läßt jene schöpferische, produktive Kraft in sich wirken. Er bringt hervor ein Kunstwerk; aber darinnen ist nicht bloß vorhanden ein Nachgedanke, sondern produktive Kraft. [...]
[...] Da verwirklicht er im Leben seine Gedanken; da ist er etwas, was nach dem Vorbilde der schaffenden Natur selber wirkt. In einem solchen Falle ist der Mensch, wenn er über die bloße Beobachtung hinausgeht, wenn er nicht bloß nachdenkt, sondern in der Seele etwas aufsteigen läßt, was ihm die bloße Beobachtung nicht geben kann. Alle geisteswissenschaftlichen Wahrheiten sind solche, bei denen die Seele produktiv veranlagt sein muß. Hier muß die Seele Vordenker sein. Alles bloße Nachdenken ist bei diesen Wahrheiten vom Übel und führt zur Täuschung in bezug auf die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. [...] Es wird also bei der zweiten Art Wahrheit der Kreis enger, aber die produktiven Kräfte erhöhen sich; die Seele wird frisch und weiter und weiter. Sie wird selbst immer göttlicher und göttlicher in sich, wenn sie das in sich nachbildet, was das Wesentliche ist in der schöpferischen, göttlichen Tätigkeit in der Welt. [...] Diejenige Wahrheit aber, die nicht an dem äußeren Erlebnis gewonnen wird, sie ist schöpferisch; und aus ihrer Kraft weist sie dem Menschen eine Stelle im Weltall an, wo er Mittätiger ist an dem, was in die Zukunft hinein entsteht.
[...] Das Vorgedachte ist etwas, was ein Anfang ist für ein Hineinwachsen in die Zukunft. So wird der Mensch ein Bürger, ein Schaffender für die Zukunft. Er erstreckt die Kraft seines Ichs von dem Punkte der Gegenwart in die Zukunft hinein, indem er nicht bloß das Nachgedachte, sondern auch das Vorgedachte in den Wahrheiten zu seinem Eigentume macht. Das ist das Befreiende der vorgedachten Wahrheiten. Derjenige, der sozusagen selber mittätig ist auf dem Gebiete des Wahrheitsstrebens, der wird bald erfahren, wie ihn das bloße Nachdenken verarmt; und er wird es begreiflich finden, wie der bloße Nachdenker immer öder und abstrakter wird und seinen Geist mit öden Begriffs-Gespinsten und blutleeren Abstraktionen erfüllt. Das kann dazu führen, daß der Geist zum Zweifel darüber kommt, ob er an der Weltengestaltung teilhaben kann. Wie herausgestoßen und zum bloßen Genuß der Wahrheit verurteilt kann sich der Mensch fühlen, wenn er bloß ein Nachdenker der Wahrheit ist. Das aber, was vorgedachte Wahrheit ist und uns als solche im Leben entgegentritt, das erfüllt die Seele und macht sie warm, erfüllt sie mit neuer Kraft auf jeder Stufe des Lebens. Beseligend ist es für den Menschen, wenn er solche vorgedachte Wahrheiten zu erfassen vermag, um dann den Erscheinungen des Lebens gegenüberzutreten und sich zu sagen: jetzt verstehe ich nicht bloß, was da ist, sondern was da ist, wird nun erklärlich, weil ich vorher etwas davon gewußt habe. Nun können wir mit den geisteswissenschaftlichen Wahrheiten auch an den Menschen herantreten. Unverständlich bleiben uns die Menschen, wenn wir bloß die nachgedachten Wahrheiten kennen. Haben wir dagegen die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten, da werden uns die Menschen immer verständlicher; und wir werden auch immer mehr Interesse finden können an der Welt und mit der Welt immer mehr verwachsen. Freude und Genugtuung werden wir empfinden darüber, daß uns die Bestätigung der vorgedachten Wahrheiten in Wirklichkeit entgegentritt. Das ist das Beseligende und Befriedigende an den geisteswissenschaftlichen Wahrheiten, daß sie zuerst erfaßt werden müssen, bevor sie sich im Leben realisieren können; und daß der Mensch dadurch immer reicher und reicher wird. [...] Wir erleben dadurch allmählich ein völliges Hineinverweben in die Erscheinungen, mit denen wir eins werden. Wir kommen immer mehr los von unserem Selbste, während wir dagegen zum raffinierten Egoisten werden durch die nachgedachten Wahrheiten. Um das Bestehen und die Bewahrheitung der vorgedachten Wahrheiten zu finden, müssen wir sie erst haben; und dazu ist nötig, daß wir aus uns heraustreten und ins Leben hineintreten, um ihre Anwendung auf jedem Gebiete des Lebens zu suchen. [...]
Die Mission der Andacht
Liebe und Ergebung als Führer zu wahrer Erkenntnis
Die Bedeutung des starken, selbsttätigen Denkens
Läuterung und Stärkung der Seele
Liebe und Ergebung als Führer zu wahrer Erkenntnis
Das Nichtsinnliche ist zunächst für den Menschen nicht da. Will er es aber in sein Wissen aufnehmen, will er seine Bewußtseinsseele davon durchdringen, dann muß er, weil der Gegenstand des Wissens außen nicht da ist, von innen einen Antrieb empfangen; von innen muß der Impuls dazu ausgehen. Dieser Impuls, der von innen ausgeht, muß das Denken anregen, muß das Denken durchströmen und durchsetzen; wenn aber ein solcher Impuls von der Seele ausgehen soll, so kann er nur von den Kräften ausgehen, die in der Seele sind, und das sind Gefühl und Wille außer dem Denken. Und wenn das Denken sich nicht anregen läßt von den beiden, wird es nie getrieben werden in eine übersinnliche Welt. [...]
Zunächst könnte überhaupt jemand daran Anstoß nehmen, daß das Gefühl ein Führer zum Wissen sein soll. Eine einfache Erwägung kann uns jedoch zeigen, daß das Gefühl unter allen Umständen ein Führer sein muß zum Wissen. Wer es ernst nimmt mit dem Wissen, wird ohne Zweifel zugeben, daß der Mensch in bezug auf die Erwerbung seines Wissens logisch vorgehen soll, daß Logik ihn durchsetzen und ihn führen soll. Durch die Logik sollen diejenigen Dinge, die wir in unser Wissen aufnehmen, bewiesen werden. Der Logik bedienen wir uns als Instrument, um das, was wir in das Wissen aufnehmen, zu beweisen. Wenn aber Logik dieses Instrument ist, wodurch kann wieder die Logik bewiesen werden? Da kann man sagen: sie kann durch sich selbst bewiesen werden. Dann aber muß es wenigstens eine Möglichkeit geben, bevor man anfängt, Logik mit Logik zu beweisen, sie mit dem Gefühl zu umfassen. Logisches Denken kann zunächst nicht bewiesen werden durch logisches Denken, sondern lediglich durch das Gefühl, und alles, was Logik ist, wird zunächst bewiesen durch das Gefühl, durch das untrügliche, in der menschlichen Seele befindliche Wahrheitsgefühl. So sieht man an diesem klassischen Beispiel, daß Logik selber das Gefühl zur Grundlage hat, daß das Gefühl die Grundlage abgibt für das Denken. Das Gefühl muß den Anstoß geben zur Bewahrheitung des Denkens. Welcher Art muß das Gefühl werden, wenn es nicht nur den Anstoß geben soll zum Denken überhaupt, sondern zu einem Denken über Welten, die zunächst dem Menschen unbekannt sind, die der Mensch zunächst nicht überschauen kann?
Die Eigenschaft, die das Gefühl annehmen muß, um zu einem Unbekannten zu führen, das muß eine Kraft sein, die aus dem Innern heraus hinstrebt zu dem Unbekannten, zu dem, was man noch nicht kennt. Wenn die menschliche Seele hinstrebt zu irgend etwas anderem; wenn diese menschliche Seele umfassen will etwas anderes mit dem Gefühl, ein solches Gefühl nennt man Liebe. [...] Liebe zum Übersinnlichen, bevor man imstande ist, es mit dem Lichte des Gedankens zu durchdringen, ist möglich, ist notwendig. Aber auch der Wille kann sich durchströmen mit einer Kraft, welche hinausgeht nach dem unbekannten Übersinnlichen, bevor das Denken an dieses Übersinnliche heran kann. Diejenige Eigenschaft des Willens, durch welche der Mensch die Ziele und die Absichten des Unbekannten ausführen will in seinem Willen, bevor er dieses Unbekannte umfassen kann mit dem Lichte des Gedankens, das ist die Ergebenheit in dieses Übersinnliche. So kann der Wille entwickeln die Ergebenheit in das Unbekannte, das Gefühl kann entwickeln die Liebe zum Unbekannten; und wenn sich beide vereinigen, Ergebenheit des Willens in das Unbekannte und Liebe zu diesem Unbekannten, dann entsteht durch ihre Vereinigung dasjenige, was wir im wahren Sinne des Wortes Andacht nennen. [...] Niemals wird die Bewußtseinsseele zu einem Wissen kommen auch über ein äußeres Ding, wenn sie sich diesem Ding nicht mit Liebe und Ergebenheit nähert; denn unsere Seele geht vorüber an den Dingen, denen sie sich nicht nähert mit Liebe und Ergebenheit oder mit anderen Worten in Andacht. Diese ist der Führer zur Erkenntnis, zum Wissen des Unbekannten. [...]
Die Bedeutung des starken, selbsttätigen Denkens
Nach dem Ewigen, nach dem, womit sich die Seele immer mehr vereinigen will, fühlt die Seele sich mächtig hingezogen durch die Kraft der Andacht in sich selber. Nun aber hat das Ich zwei Seiten. Das Ich hat die Notwendigkeit, seine Selbststärke und Selbsttätigkeit immer mehr und mehr zu erhöhen, immer mehr und mehr ein inhaltsvolles Selbst zu werden. [...] Wenn der Wille des eigenen Selbstes abgetötet wird, dann will der Mensch nicht mehr selber, dann hat er den Willen zum Verzicht auf eigenes Handeln gebracht; dann will das Andere oder der Andere, dem man ergeben ist, dann hat man sich selbst verloren. [...] Nur das vom Ich durchglühte Ergebenheits-Gefühl, die Ergebenheit, in die man sich hinein versenkt und das Ich mitnimmt, nur die kann zum Heile sein für die menschliche Seele. Wodurch kann aber die Ergebenheit das Ich überall mit hineinnehmen? – Das Ich, das Selbst des Menschen kann sich nirgends hinführen lassen als ein menschliches Selbst, wenn es nicht das Wissen, das denkende Wissen von sich bewahrt. In der Bewußtseinsseele ist zunächst wie eine natürliche Gabe das Denken ausgebildet. Das Denken ist es, was einzig und allein das Ich vor einem Sichverlieren behüten kann, wenn es durch Ergebenheit hinausgeht in die Welt. Kann der Wille der Führer sein für die menschliche Seele, um aus sich herauszugehen, so muß diese menschliche Seele, wenn sie zu irgend etwas außerhalb geführt worden ist durch den Willen, Anspruch machen darauf, daß sie da, wo sie die Grenze dieses Äußeren verläßt, von dem Lichte des Denkens erhellt wird. Das Denken kann nicht von innen herausführen; das Herausführen geschieht durch die Ergebenheit; dann muß sogleich das Denken in Anwendung kommen und muß, sobald der Wille hinausgeführt hat, sich anstrengen, mit dem Lichte des Gedankens dasjenige zu durchdringen, dem die Seele ergeben ist. [...]
[...] Was wird im besonderen Liebe dann, [...] wenn es das Unbekannte nicht von dem Lichte des Gedankens und von dem Lichte des vernünftigen Urteils durchstrahlen lassen will? Eine solche Liebe wird zu dem, was man Schwärmerei nennt. [...] Wenn die Schwärmerei immer mehr die Seele ergreift, wird sie zu dem, was man einen fortdauernden Traumzustand oder Schlafwandel der Seele nennen kann. [...]
[...] Die schwärmerische Seele, die in einem Liebesgefühlstraum dahinwandelt, wie im Schlafe durch das Leben geht, die denkträge Seele, die nicht volles Selbstbewußtsein hinaustragen will in die Welt, die ist geeignet dazu, in blinder Weise alles zu glauben, weil sie notwendig einen Hang dazu haben muß, nicht durch eigene innere Anstrengung, die das Denken erfordert, nicht durch die Selbsttätigkeit des Denkens in die Dinge einzudringen, sondern sich Wahrheit und Wissen über die Dinge diktieren zu lassen. Dazu braucht man nicht selbsttätig aus dem Innern heraus schöpferisch zu denken. Damit wir ein Äußeres, das uns durch die Sinne dargeboten wird, erkennen, dazu brauchen wir ein selbst-schöpferisches Denken; damit wir das Übersinnliche erkennen, und in welcher Form immer das Übersinnliche unsere Erkenntnis sein soll, darf niemals das Übersinnliche von uns in irgend einer Weise mit Ausschluß des Denkens gewußt sein wollen. In dem Augenblicke, wo wir es durch bloße Beobachtung erfassen wollen, sind wir in bezug auf das Übersinnliche allen möglichen Täuschungen und Irrtümern ausgesetzt. Und alle Irrtümer und aller Aberglaube und alles dasjenige, wodurch man in irgend einer Weise unrichtig oder lügenhaft in das Übersinnliche hineingeführt werden kann, alles das kann letzten Endes nur darauf beruhen, daß der Mensch in bezug auf sein Selbstbewußtsein sich nicht durchleuchten läßt von dem selbstschöpferischen Denken. Niemand kann es passieren, daß er in der Aufnahme von irgend etwas, was Kunde bringen soll aus der geistigen Welt, betrogen wird, wenn er den Willen zum selbsttätigen Denken hat. Das ist aber auch das wirklich einzige Mittel; ein anderes ausreichendes Mittel gibt es gar nicht. [...]
Läuterung und Stärkung der Seele
Wenn Liebe und Ergebenheit durchströmt und durchglüht sind von dem richtigen Selbstgefühl, so werden sie zu Stufen, die uns immer höher und höher leiten und immer höher aufwärts führen. Die richtige Andacht, in welcher Form sie auch immer die Seele durchsetzt und durchglüht – sei es in der Gebets- oder in anderer Form – kann nie in die Irre gehen; dasjenige lernt man am besten kennen, zu dem man zuerst in Andacht, das heißt in Liebe und Hingebung erglüht war. – Und eine gesunde Erziehung wird insbesondere berücksichtigen müssen, welche Kraft in bezug auf die Entwickelung der Seele ihr der Impuls der Andacht geben kann. Dem Kind ist ein großer Teil der Welt unbekannt; will man es in der besten Weise zum Erkennen und Beurteilen des ihm Unbekannten anleiten, so erweckt man die Andacht zu diesem Unbekannten; und nie wird man sich täuschen darin, daß eine richtig geleitete Andacht wirklich zu dem in der Welt führt, was wahre Lebenserfahrung auf allen Gebieten genannt werden kann.
Oh, es ist etwas Bedeutsames für diese menschliche Seele auch im späteren Leben, wenn sie zurückschauen kann in die Kindheit und viel, viel Verehrung bis zur Andacht gebracht hat. [...] Diese Andacht kann insbesondere leiten, wenn wir die höchsten Fragen, die Rätsel des Daseins suchen wollen. Sie kann uns ein Führer sein, wenn wir diese wichtigsten Aufgaben der Seele zu lösen versuchen, suchen wollen nach dem, zu dem wir hinaufstreben und mit dem wir uns vereinigen wollen. Hier ist gerade die Andacht eine Kraft, die uns hinaufzieht und dadurch, daß sie uns heranzieht, kräftigend und festigend auf den seelischen Organismus des Menschen wirkt. Wie ist das möglich? Versuche man einmal, sich aus dem äußeren Ausdruck der Andacht klarzumachen, wie gerade in der äußeren Geste des Menschen die Andacht wirkt. Sie wirkt gerade da, wo die bedeutendste Fähigkeit des Menschen sich entwickelt, als äußerer Ausdruck. Was tut der andächtige Mensch im äußeren Ausdruck? Er beugt das Knie, faltet die Hände und bewegt das Haupt zu dem in Andacht verehrten Wesen oder Gegenstand.
Das sind diejenigen Organe des Menschen, durch die sich das Ich, und vor allen Dingen dasjenige, was wir die höheren Seelenglieder des Menschen nennen, am intensivsten ausleben kann. Der Mensch steht physisch aufrecht im Leben durch seine stramm gehaltenen Beine. Der Mensch wird ein Segnender im Leben, das heißt er strahlt die Wesenheit seines eigenen Ichs durch seine Hände aus; und er wird ein solcher, der Himmel und Erde beobachtet durch dasjenige, was in seinem Haupte ist durch Bewegung seines Hauptes. Die Beobachtung der Menschen aber lehrt uns ferner, daß in selbstbewußter Tatkraft unsere Beine am besten gestreckt werden, wenn sie sich zuerst dazu verstanden haben, gegenüber dem wirklich zu Verehrenden die Knie zu beugen. Denn in dem Knie-Beugen liegt die Aufnahme einer Kraft, die wie in unsern Organismus hineinstrebt. Diejenigen Knie, die sich strecken, ohne jemals gelernt zu haben, sich in Andacht in die Kniebeuge zu begeben, die spreizen nur dasjenige, was sie immer gehabt, die spreizen die eigene Nichtigkeit, zu der sie nichts hinzugefügt haben. Die Beine aber, die sich bequemt haben zum Kniebeugen, nehmen mit dem Strecken der Knie eine neue Kraft auf, und jetzt spreizt sich nicht die Nichtigkeit, sondern das, was neu aufgenommen wurde. Diejenigen Hände, die segnen wollen, die trösten wollen, ohne daß sie vorher in Ehrfurcht und Andacht sich gefaltet haben, die können nicht viel hingeben von Liebe und Segen als ihre eigene Nichtigkeit. Die Hand aber, welche gelernt hat sich zu falten, die hat mit dem Falten zur Andacht eine Kraft aufgenommen, die jetzt die Hand durchströmen kann; und sie ist eine mächtig vom Selbste durchzogene Hand geworden. Denn der Weg jener Kraft, die durch gefaltete Hände aufgenommen wird, der Weg geht, bevor er sich in die Hände ergießt, durch das menschliche Herz und entzündet die Liebe; und die Andacht der gefalteten Hände wird, indem sie geht durch das Herz und in die Hände fließt, zum Segen. Der Kopf, der die ganze Welt beschaut, der überall seine Augen hinrichtet und seine Ohren hineinspreizt, mag noch so viel durchmessen mit Augen und Ohren, er kann überall den Dingen nur seine eigene Leerheit gegenüberstellen. Jener Kopf aber, der sich in Andacht zu den Dingen hingeneigt hat, der wird wiederum aus der Andacht eine Kraft schöpfen, die ihn durchströmt; der wird nicht seine eigene Leerheit, sondern die Gefühle, die er durch die Andacht aufgenommen hat, den Dingen entgegenbringen. [...]
Durch diese Selbsterziehung, durch die Andacht werden hinaufgehoben des Menschen dunkle Gefühle und Triebe, hinaufgehoben des Menschen Gefühle von Sympathie und Antipathie zu den Dingen. Jene Gefühle von Sympathie und Antipathie, die unbewußt oder unterbewußt in unsere Seele hereintreten, ohne daß wir ein Urteil darüber haben, ohne daß sie vom Licht durchleuchtet sind, gerade diese Gefühle werden heraufgeläutert dadurch, daß sich das Ich in der Andacht erzieht und immer mehr und mehr in die höheren Seelenglieder heraufdringt. Dadurch wird alles dasjenige, was Sympathie und Antipathie ist, was wie dunkle Gewalt wirkt, welche irren kann, von dem Lichte der Seele durchsetzt. Was früher unerleuchtete Sympathie und Antipathie war, wird Urteil, Gefühlsurteil, das wird entweder ästhetischer Geschmack oder richtig geleitetes moralisches Gefühl. Die Seele, die sich in Andacht erzogen hat, wird ihre dunkle Sympathie und Antipathie, ihre dunklen Lust- und Unlust-Gefühle läutern zu dem, was man nennen kann: Gefühl für das Schöne und Gefühl für das Gute. [...] Andacht ist die Selbsterziehung der Seele von den dunklen Trieben und Instinkten, von den Begierden und Leidenschaften des Lebens zu den moralischen Idealen des Lebens. Andacht ist etwas, was wir wie einen Keim in die Seele hineinsäen: und er geht auf.
[...] Wer das Leben wirklich beobachtet, der kann sehen, daß bei Kindern, die viel aufgenommen haben von gut geleiteter Andacht, diese Saat im Alter aufgeht. Eine solche Andacht erscheint im Alter als Kraft, im Leben zu wirken. Kraft ist dasjenige, was als das Gegenteil der Andacht, die in der Jugend gepflegt worden ist, im Alter erscheint. [...]
Das Wesen des Gebets
Die Mystik und die Welt der Seele
Vergangenheit – aufrichtige Ahnung eines Höheren
Zukunft – tatkräftiges Ergebenheitsgefühl
Erwärmende und erleuchtende Kraft
Egoismus und Selbstlosigkeit
Bequeme Geistesleugnung
Die Mystik und die Welt der Seele
In dem Vortrage „Was ist Mystik?“ wurde hier vor acht Tagen von jener besonderen Art mystischer Versenkung gesprochen, die im Mittelalter in der Zeit von Meister Eckhart angefangen bis zu Angelus Silesius hervorgetreten ist. Diese besondere Art mystischer Versenkung wurde dadurch charakterisiert, daß der Mystiker versucht, frei und unabhängig zu werden von all jenen Erlebnissen, die durch die äußere Welt in unserer Seele angeregt werden, und daß er versucht vorzudringen zu jener Erfahrung, zu jenem Erlebnis, das ihm zeigt: wenn auch alles aus unserer Seele, was den gewöhnlichen Ereignissen des Tages entstammt, ausgelöscht wird, und sozusagen die Seele sich in sich selbst zurückzieht, so bleibt innerhalb dieser menschlichen Seele eine Welt für sich, eine Welt, die ja immer da ist, die nur überleuchtet wird von den sonst so mächtig und gewaltig auf den Menschen wirkenden äußeren Erlebnissen, und die deshalb zunächst nur als ein schwaches Licht erscheint; als ein so schwaches Licht, daß sie wohl von vielen Menschen gar nicht beachtet wird. Darum nennt der Mystiker diese innere Seelenwelt zunächst das „Fünklein“. Aber er ist sich klar, daß dieses unscheinbare Fünklein seiner Seelenerlebnisse angefacht werden kann zu einer mächtigen Flamme, die dann erleuchtet die Quellen und Untergründe des Daseins; mit anderen Worten: die den Menschen auf dem Wege in die eigene Seele hinführt zu der Erkenntnis seines eigenen Ursprunges, was man ja wohl „Gott-Erkenntnis“ nennen kann. [...]
[...] So erscheint uns – gerade mit Rücksicht auf jenen Vortrag vor acht Tagen – die mittelalterliche Mystik wie die große, wunderbare Vorschule der Geistesforschung. Und wie sollte das auch anders sein? Will denn der Geistesforscher etwa anderes, als jenes Fünklein, von dem die Mystiker gesprochen, durch seine eigenen inneren Kräfte zur Entfaltung bringen? Er unterscheidet sich ja von den Mystikern nur dadurch, daß sie glaubten, in ruhiger Seele sich hingeben zu dürfen jenem kleinen leuchtenden Fünklein, damit es von selber anfange, immer herrlicher zu brennen und zu leuchten; während der Geistesforscher sich klar ist, daß der Mensch seine Fähigkeiten und Kräfte, die von der Weisheit der Welt in seinen Willen gestellt sind, anwenden muß auf die Vergrößerung jenes Fünkchens.
Wenn so die mystische Stimmung eine gute Vorbereitung ist und überall hinweist auf Geistesforschung, so dürfen wir andererseits wiederum sagen: Eine Vorbereitung, eine Vorstufe zu jener mystischen Versenkung, wie sie in der Zeit des Mittelalters hervorgetreten ist, ist diejenige Seelentätigkeit, welche uns heute etwas genauer beschäftigen soll, und die man im wahren Sinne das Gebet nennen kann. [...]
[...]
Wir müssen uns klar werden, daß so etwas, was wie die Seele in lebendiger Entwickelung lebt, nicht nur von der Vergangenheit kommt und in die Zukunft weiterschreitet, sondern daß sie in jedem Augenblick ihres gegenwärtigen Lebens etwas in sich trägt von der Vergangenheit – und sogar in gewisser Weise etwas von der Zukunft. In den Augenblick, den wir die Gegenwart nennen, erstrecken sich hinein, insbesondere für das Seelenleben, die Wirkungen von der Vergangenheit und die Wirkungen, die wie aus der Zukunft uns entgegeneilen. [...] In jedem Moment, wo sich die Seele fürchtet und ängstet, beweist sie durch die Realität ihrer Gefühle und Empfindungen, daß sie nicht nur mit den Wirkungen der Vergangenheit rechnet, sondern daß sie in sich selber lebensvoll rechnet mit dem, was aus der Zukunft in sie hineineilt. Das seien nur einzelne Andeutungen. Wer das Seelenleben ausmessen will, wird Zahlreiches finden, das vielleicht widerspricht den Abstraktionen des Verstandes, die da sagen: das Zukünftige ist noch nicht da; es kann deshalb noch nicht wirken! das sich aber in seiner lebendigen Realität zeigt, wenn wir auf das unmittelbare Seelenleben eben hinblicken.
Vergangenheit – aufrichtige Ahnung eines Höheren
[...] Wenn wir nun dasjenige genauer betrachten, was aus der Vergangenheit hereinlebt in unsere Seele, da müssen wir sagen: Unter dem Eindrucke des in der Vergangenheit Erlebten ist unsere Seele geworden. Wie wir die Erlebnisse der Vergangenheit angewendet haben, so sind wir heute, und wir tragen das Vermächtnis unserer Taten, unseres Fühlens und Denkens aus der Vergangenheit in unserer Seele. Wir sind so, wie wir geworden sind. Wenn wir nun zurückblicken wollen von unserem heutigen Standpunkt auf unsere früheren Erlebnisse, namentlich auf jene Erlebnisse, an deren Zustandekommen und Verwertung für unsere Seele wir selber beteiligt waren, wenn wir also die Erinnerung schweifen lassen in die Vergangenheit, werden wir gar oft, wenn wir Einkehr halten in uns, auch zu einem Urteil über uns selber kommen und uns sagen: Jetzt sind wir so; und so, wie wir sind, sind wir imstande, zu manchem, was in unserer Vergangenheit sich abgespielt hat, durch uns selbst nicht „Ja“ zu sagen; wir sind fähig geworden, jetzt mit manchem nicht einverstanden zu sein, vielleicht mancher Tat der Vergangenheit uns sogar zu schämen. Wenn wir so unsere Gegenwart an unsere Vergangenheit anreihen, dann wird uns ein Gefühl von dem überschleichen, was wir so nennen können: O, es ist etwas in uns, was unendlich viel reicher, unendlich viel bedeutsamer ist als das, was wir durch unsern Willen, durch unser Bewußtsein, durch unsere individuellen Kräfte aus uns gemacht haben! Denn gäbe es nicht in uns etwas, was hinausragt über das, was wir aus uns gemacht haben, so könnten wir uns auch nicht selber tadeln, auch uns nicht selber erkennen. Wir müssen sagen: In uns lebt etwas, was größer ist als das, was wir bisher an uns selber ausgenützt haben! Wenn wir ein solches Urteil in ein Gefühl verwandeln, dann werden wir hinschauen auf das uns Bekannte, das wir in unsern vergangenen Taten und Erlebnissen beobachten können; und das klar vor uns liegen kann – so klar als eben die Erinnerung möglich ist –, und wir werden dieses Klare, Offenliegende vergleichen können mit etwas in uns, was größer ist als das Offenliegende, mit etwas in der Seele, was sich herausarbeiten will, was uns anleitet, uns über uns selbst zu stellen und uns zu beurteilen auf dem Standpunkte der Gegenwart. Kurz, wir werden etwas in uns ahnen, was über uns selber hinausragt, wenn wir jenen Strom ansehen, der aus der Vergangenheit in die Seele fließt. Und diese Ahnung eines Größeren in uns selber ist im Grunde das erste Aufleuchten des inneren Gottesgefühles in der Seele; ein Gefühl davon, daß in uns selber etwas lebt, was größer ist als alles, was zunächst in unsere Willkür gestellt ist, und das bewirkt, daß das Gottesgefühl in uns erwacht, daß wir hinschauen auf etwas, was uns über unser engbegrenztes Ich hinausführt zu einem geistig-göttlichen Ich. So spricht eine in das Gefühl, in die Empfindung verwandelte Betrachtung der Vergangenheit.
[...]
[...] Wenn so die Seele – sei es im Urteil oder in Reue und Scham über sich selber – das Mächtige im Strom aus der Vergangenheit in sich hineinfließen fühlt, dann erzeugt sich das, was man nennen könnte die Andacht gegenüber dem Göttlichen, das uns aus der Vergangenheit anschaut. Und diese Andacht gegenüber dem Göttlichen, das uns aus der Vergangenheit anschaut, das wir ahnen können als etwas, was auf uns wirkt, dem wir aber mit unserm Bewußtsein nicht gewachsen sind, erzeugt die eine Gebetsstimmung – denn es gibt zwei Gebetsstimmungen –; jene Gebetsstimmung, die wir bezeichnen können als diejenige, welche zur Gottinnigkeit führt. Denn was wird die Seele wollen können, wenn sie still und intim sich diesen Empfindungen und Gefühlen gegenüber solcher Vergangenheit hingibt? Sie wird wollen können, daß das Mächtigere, das sie unbenutzt gelassen hat, das sie mit ihrem Ich nicht durchdrungen hat, in ihr gegenwärtig werde. [...]
Zukunft – tatkräftiges Ergebenheitsgefühl
[...] Was macht uns aus der Zukunft herein in einer ähnlichen Weise mangelhaft? Was hemmt aus der Zukunft unsere Entwickelung, unseren Aufstieg zum Geistigen?
Da brauchen wir nur daran zu denken, daß gerade jene Gefühle und Empfindungen, die wir schon nennen konnten, fressen an unserem Seelenleben: Angst und Furcht vor dem Unbekannten der Zukunft. Gibt es aber etwas, was in die Seele sich ergießen kann als Kraft der Sicherheit gegenüber dem Zukünftigen? – Ja, das gibt es. Richtig wird es aber in der Seele nur wirken, wenn es als Gebetsstimmung auftritt. Und das ist das, was man nennen kann das Ergebenheitsgefühl gegenüber dem, was aus dem dunklen Schoß der Zukunft in unsere Seele eintritt. [...]
In ihrer idealen Gestalt wäre diese Ergebenheit jene Seelenstimmung, die sich immer sagen könnte: Was auch kommt, was mir auch die nächste Stunde, der nächste Morgen bringen mag, ich kann es zunächst, wenn es mir ganz unbekannt ist, durch keine Furcht und Angst ändern. Ich erwarte es mit vollkommenster innerer Seelenruhe, mit vollkommener Meeresstille des Gemütes! Jene Erfahrung, die sich aus einem solchen Ergebenheitsgefühl gegenüber den Zukunftsereignissen ergibt, geht dahin, daß derjenige, der so gelassen, mit vollständiger Meeresstille des Gemütes der Zukunft entgegenleben kann und dennoch seine Energie, seine Tatkraft in keiner Weise darunter leiden läßt, die Kräfte seiner Seele in der intensivsten Weise, in der freiesten Art zu entfalten vermag. [...]
Dieses Ergebenheitsgefühl kann sich die Seele nicht auf einen Machtspruch geben, nicht durch eine aus dem Nichts hervorgeholte Willkür. Dieses Ergebenheitsgefühl ist das Resultat dessen, was man die andere Gebetsstimmung nennen kann, jene Gebetsstimmung, welche sich richtet an die Zukunft und ihren von Weisheit durchdrungenen Lauf der Ereignisse. Hingabe an das, was man göttliche Weisheit in den Ereignissen nennt; Hervorrufen in sich selber immer wieder den Gedanken, die Empfindung, den Impuls des Gemütslebens, daß das, was da kommen werde, sein muß, und daß es nach irgendeiner Richtung seine guten Wirkungen haben müsse: das Hervorrufen dieser Stimmung in der Seele und das Ausleben dieser Stimmung in Worten, in Empfindungen, in Ideen, das ist die zweite Art der Gebetsstimmung, die Stimmung des Ergebenheitsgebetes.
[...]
Erwärmende und erleuchtende Kraft
Gebetsstimmung führt uns also auf der einen Seite zur Betrachtung unseres engbegrenzten Ich, das aus der Vergangenheit herauf in die Gegenwart gearbeitet hat, und das, wenn wir es ansehen, uns klar zeigt, wie unendlich mehr in uns ist, als wir benutzt haben; und auf der andern Seite führt uns diese Betrachtung in die Zukunft und zeigt uns, wie aus dem unbekannten Schoß der Zukunft unendlich viel mehr in das Ich hineinfließen kann, als dieses Ich bereits in der Gegenwart erfaßt hat. In eine dieser zwei Stimmungen hinein ist jede Gebetsstimmung zu bringen. Wenn wir so die Stimmung des Gebets erfassen und das Gebet als einen Ausdruck dieser Stimmung, dann werden wir in dem Gebete selber jene Kraft finden, die uns über uns selbst hinausführt. Denn was ist denn das Gebet anders, wenn es so in uns auftritt, als das Aufleuchten jener Kraft in uns, die hinaus will über das, was unser Ich in einem Augenblicke war! [...]
[...]
Da haben wir das Gebet erfaßt, wie es eine wirkende Kraft in uns selber ist. Daher sehen wir in dem Gebet eine Ursache in uns, die unmittelbare Wirkungen nach sich zieht, nämlich die Vergrößerung und Entwickelung unseres Ich. Wir brauchen dann gar nicht besondere äußere Wirkungen abzuwarten; sondern wir sind uns klar: Wir haben mit dem Gebete selber etwas in unsere Seele gesenkt, das wir erleuchtende und erwärmende Kraft nennen können. Erleuchtende Kraft, weil wir die Seele frei machen gegenüber dem, was uns aus der Zukunft entgegeneilt, und sie geeignet machen, das aufzunehmen, was uns aus dem dunklen Schoß der Zukunft werden kann; erwärmend wirken wir auf die Seele, weil wir sagen können: Zwar haben wir in der Vergangenheit versäumt, völlig das Göttliche in unserem Ich zur Entfaltung zu bringen; jetzt aber haben wir uns in unseren Empfindungen und Gefühlen mit ihm durchdrungen, und es kann wirken in uns. [...]
Wenn wir so das Wesen des Gebetes betrachten, werden wir uns nicht wundern, daß gerade die großen Mystiker in der Hingabe an das Gebet die beste Vorschule fanden für das, was sie in der mystischen Versenkung dann suchten. Sie leiteten sozusagen die Stimmung ihrer Seele durch das Gebet vorher hin zu jenem Punkt, wo sie dann fähig wurden, das charakterisierte „Fünklein“ aufleuchten zu lassen. Gerade durch die Vergangenheitsbetrachtung kann uns erklärlich erscheinen jene tiefe Innigkeit, jene wunderbare Intimität des Seelenlebens, die den Menschen beim wahren Gebet überkommen kann. Es ist doch das Erleben, das Erfahren in der Außenwelt, was uns uns selber entfremdet, auch ganz genau das gleiche, das in der Vergangenheit das in uns Mächtigere – unser bewußtes Ich – nicht hat aufkommen lassen. Wir waren hingegeben den äußeren Eindrücken, wir gingen auf in dem Mannigfaltigen des äußeren Lebens, was uns zerstreut und uns nicht zur Sammlung kommen läßt. Das ist aber dasselbe, was die mächtigere, stärkere Gotteskraft in uns nicht zur Entfaltung kommen ließ. Jetzt aber, wo wir dies in einer solchen Stimmung der Gottinnigkeit in uns entfalten, fühlen wir uns in uns selber nicht hingegeben an die zerstreuenden Wirkungen der Außenwelt. Das ist es, was uns mit jener unsäglichen, wunderbaren Wärme des In-sich-seins erfüllt wie mit einer inneren Seligkeit, was wirkliche innere Gottdurchwärmung genannt werden kann. Und wie die Wärme im Kosmos es ist, welche bei den höheren Wesen als Innenwärme physisch auftritt, und dadurch aus den niederen Wesen, welche die gleiche Wärme haben wie die Umgebung, die höheren Wesen erst gestaltet; wie diese physische Wärme das Wesen materiell in sich verinnerlicht, so ist es die durch das Gebet erzeugte Seelenwärme, die aus einem Seelenwesen, das sich in der Außenwelt verliert, ein solches macht, das sich in sich selber zusammenschließt. [...]
[...] Wie ein dichter Schleier steht die Außenwelt vor uns. Wenn wir aber das Ergebenheitsgefühl, die Gebetsstimmung entwickeln gegenüber dem, was aus dem dunklen Schoß der Zukunft uns entgegentritt, dann können wir erfahren, wie wir allen Wesen der Außenwelt gegenübertreten können mit dem Gefühl derselben Sicherheit und Hoffnung, das uns aus dem Ergebenheitsgefühl strömt. Wir können uns dann allen Dingen gegenüber sagen: Weisheit der Welt ist es, die uns entgegenleuchten wird! [...] So fühlen wir jenes Hingegebensein an die Welt, das uns uns selber entfremdet, überwunden durch die Gebetswärme, die uns mit uns selber zusammenschließt. Und wenn wir die Gebetswärme in sich zur Entfaltung bringen bis zum Ergebenheitsgefühl, welches das Gebet durchströmen kann, dann entzündet sich die Gebetswärme zum Gebetslicht. Wir treten jetzt neuerdings aus uns heraus und wissen: Wenn wir jetzt mit der Außenwelt uns vereinigen und die Blicke richten auf alles, was in der Umwelt ist, dann fühlen wir uns nicht zerstreut und uns selber entfremdet in ihr; sondern dann fühlen wir, wie das, was unserer Seele Bestes ist, aus der Seele herausfließt, und fühlen uns vereint mit dem, was uns aus der Umwelt heraus entgegenleuchtet.
[...]
Egoismus und Selbstlosigkeit
[...] So angesehen ist das Gebet die Vorstufe der mystischen Versenkung, wie die mystische Versenkung selber die Vorstufe ist alles dessen, was wir Geistesforschung nennen können. Und es wird uns auch schon aus der Charakteristik des Gebetes erklärlich erscheinen, was öfter hier erwähnt worden ist: daß wir im Grunde genommen eigentlich Irrtum über Irrtum auf unsere Seele laden, wenn wir glauben, wir könnten das Göttliche, sozusagen den Gott, mystisch nur in uns selber finden. Diesen Fehler haben allerdings Mystiker und auch sonst christlich gesinnte Leute des Mittelalters vielfach gemacht. Sie haben ihn gemacht, weil die Gebetsstimmung gerade während der Zeiten des Mittelalters anfing sich zu durchtränken mit Egoismus; mit jenem Egoismus, durch den die Seele sich sagt: Ich will vollkommener und immer vollkommener werden und an nichts anderes denken als an dieses Immer-vollkommener-werden. Im Grunde genommen ist es nur ein Nachklang jener egoistischen Sehnsucht nach bloßer innerer Vollkommenheit, wenn eine verkehrte theosophische Strömung heute davon spricht, daß der Mensch, wenn er nur absehe von allem Äußeren, den Gott in der eigenen Seele finden könne.
Wir haben ja gesehen, daß es zwei Gebetsströmungen gibt: die eine führt zur Erwärmung unseres Inneren, die andere führt im Ergebenheitsgefühl wiederum hinaus in die Welt und führt gerade zur Erleuchtung und zur wahren Erkenntnis. Wer so die Gebetsstimmung betrachtet, wird bald sehen, daß diejenige Erkenntnis, die wir uns mit den gewöhnlichen Mitteln des Verstandes erarbeiten, unfruchtbar ist in gewisser Beziehung gegenüber einer anderen Erkenntnis. Wer Gebetsstimmung kennt, der kennt jene Zurückgezogenheit der Seele in sich selber, wo sie sich aus der Mannigfaltigkeit der Welt, die sie zerstreut, herauslöst, wo sie sich in sich selber sammelt und in sich selber das erlebt, was man nennen kann: völliges In-sich-geschlossen-sein und Bei-sich-sein, sich erinnernd an das, was erhaben ist über den Augenblick, was aus Vergangenheit und Zukunft hereinragt in die Seele. Wer diese Stimmung kennt, wo windstill, sinnenstill unsere ganze Umgebung wird, wo nur die schönsten Gedanken und Empfindungen, deren wir fähig sind, die Seele im Innern zusammenhalten, wo vielleicht auch diese zuletzt schwinden und nur eine Grundempfindung in der Seele lebt, die nach zwei Seiten hinweist: nach dem Gotte, der sich aus der Vergangenheit, nach dem Gotte, der sich aus der Zukunft ankündigt, – wer diese Stimmungen kennt und mit ihnen zu leben weiß, der weiß auch, daß es für die Seele solche großen Momente gibt, wo sie sich sagt: Ich habe jetzt einmal abgesehen von dem, was ich bewußt durch mein Denken zustande bringen kann an Gescheitheit, habe abgesehen von dem, was ich zustande bringen kann durch meine Empfindungen, habe abgesehen von jenen Idealen, welche ich fassen kann durch mein Wollen, zu dem ich bisher erzogen worden bin; ich habe alles aus meiner Seele herausgefegt. Ich war hingegeben meinen höchsten Gedanken und Empfindungen; ich habe auch diese aus meiner Seele gefegt und nur die eben charakterisierte Grundempfindung leben lassen. Wer solche Empfindungen kennt, der weiß: Wie uns die Wunder der Natur entgegentreten, wenn wir das reine Auge auf die Natur richten, so leuchten hinein in unsere Seele neue Empfindungen, die wir bisher nicht gewahr werden konnten. Willensimpulse und Ideale sprießen auf in der Seele, welche uns bisher fremd waren, so daß die fruchtbarsten Momente in dieser Grundstimmung erwachen.
[...]
[...] Aber allerdings ist aus dem Mittelalter etwas heraufgezogen, was das Gebet und die Gebetsstimmung heute etwas unrein machen kann, und was man nur mit dem Worte „ Egoismus“ bezeichnen kann.
Wenn man durch das Gebet nur in sich selber hineinkommen will, sich nur in seinem Innern vervollkommnen will – wie das auch mancher mittelalterliche Christ nur wollte, vielleicht auch heute noch will –, wenn man nicht auch durch die Erleuchtung den Blick wieder in die Welt, nach außen, senden will, dann stellt sich das Gebet dar als etwas, was zu gleicher Zeit den Menschen dazu bringt, sich von der Welt abzusondern, weltenfremd und weltenfern zu sein. Das war bei vielen Menschen der Fall, die das Gebet im Sinne von falscher Askese und Einsiedelei benutzten. Solche Menschen wollten nicht nur vollkommen sein im Sinne der Rose, die sich schmückt, um den Garten schön zu machen, sondern sie wollten noch vollkommen sein wegen ihres eigenen Selbstes, um in der Seele die eigene Seligkeit zu finden. Wer in der Seele den Gott sucht und nicht wieder mit diesen gefundenen Kräften hinausgehen will in die Welt, der wird dann schon finden, daß sich solches Beginnen in gewisser Weise rächt. [...] Wenn ich nur mit Reue und Schamgefühl in die Vergangenheit blicke und sage: Es ist etwas Mächtiges in mir, das ich in meinen bisherigen Erlebnissen nicht ausgeprägt habe, von dem ich mich aber jetzt erfüllen lassen will, damit ich vollkommen werde, dann tritt allerdings diese Stimmung nach dem Vollkommenen hin in gewisser Weise auf. Aber das andere, das Unvollkommene, das in der Seele sitzt, das macht sich als eine Gegenkraft geltend, stürmt um so wuchtiger hervor und zeigt sich als Versuchung und Leidenschaft. In dem Augenblicke, wo sich die Seele ernstlich gefunden hat in innerlicher Durchwärmung und Gottinnigkeit, und den Gott wiederum in allen Werken, wo er sich offenbart, sucht, wo sie nach Erleuchtung strebt: da wird sie finden, daß sie schon herauskommt aus sich selber und sich entfernt von dem engen, egoistischen Ich, und daß Heilung, Sänftigung der inneren Leidenschaften und Stürme eintritt. Deshalb ist es so schlimm, wenn in der Gebetsstimmung, in der mystischen Versenkung oder Meditation sich ein Egoistisches beimischt. Wenn wir den Gott finden wollen und ihn dann nur in unserer Seele halten wollen, dann zeigt sich, daß unser Egoismus ungesund ist, daß er sich hinauf erhalten hat bis in die höchsten Bestrebungen unserer Seele; und dann rächt sich diese egoistische Stimmung. Nur dann können wir geheilt werden, wenn wir, nachdem wir den Gott in uns gefunden haben, dasjenige, was wir nun in uns haben, selbstlos über die Welt ausgießen in unseren Gedanken, Empfindungen, in unserem Willen und in unseren Taten.
[...]
Bequeme Geistesleugnung
Solche Betrachtungen wie diese über „das Wesen des Gebetes“ sind heute nicht beliebt. Heute hört man etwa: Nun, was sollte denn das Gebet an dem Lauf der Welt ändern können [...]? Der Gang der Welt geht doch nach notwendigen Gesetzen, die wir nicht ändern können! Wer wirklich eine Kraft erkennen will, muß sie da suchen, wo sie ist. Wir haben heute die Kraft des Gebetes in der menschlichen Seele gesucht und haben gefunden, daß sie etwas ist, was die Seele vorwärts bringt. Und wer da weiß, daß in der Welt der Geist es ist, der wirkt – nicht der phantastische, abstrakte, sondern der konkrete Geist –, und daß die menschliche Seele dem Reich des Geistes angehört, der wird auch wissen, daß nicht nur materielle Kräfte in der Welt nach äußerlich notwendigen Gesetzen wirken, sondern daß alles, was geistige Wesenheiten sind, in der Welt auch dann wirkt, wenn die Wirkungen dieser Kräfte und Wesenheiten für das äußere Auge und für die äußere Wissenschaft nicht sichtbar sind. [...]
[...] Kräfte zeigen sich in ihren Wirkungen. Es ist leicht, Kräfte zu leugnen, wenn man ihre Wirkungen gar nicht hervorruft. Wie sollte der ein Recht haben, die Kraft des Gebetes zu leugnen, der gar nicht versucht hat, das Gebet in sich wirksam werden zu lassen! [...]