GA
Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?
Rudolf Steiner: Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden? GA 187. Basel, 22.12.1918 bis 1.1.1919. | Hervorhebungen H.N.
1. Vortrag: Weihnachts- und Osterfest. Geburt und Tod. Das aus dem Leib verschwindende wahre Ich. Begabungen und Luzifer. Der Christus-Impuls: Egoismus-Lähmung, Wahrheits-Gewissen, Verjüngungskraft.
2. Vortrag: Verdämmern der Mysterien. Geburt des Christentums in den Leib des Römertums, die Seele des Judentums, den Geist des Griechentums. Katholizismus, Geheimgesellschaften, heutige Weltanschauung.
3. Vortrag: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit in den Lebensphasen. Natürliche Entwicklung endet. Bedeutung des Christus-Impulses. Gnosis imaginativ, Griechentum Denkkraft, neuer Keim das selbstständige kopernikanische Denken.
4. Vortrag: Alte Einweihung: Tor des Menschen, kosmische Bewegung, Tod des Todes, Christophorus. Hohlwerden des Menschen und Christus-Impuls. Neue Einweihung von der Welterkenntnis zur Menschenerkenntnis.
5. Vortrag: Vorstellung wird bloßes Bild. Freiheitsimpuls. Geister der Form und gewöhnliches Denken. Den Geistern der Persönlichkeit bewusste Imaginationen entgegentragen, die von diesen verifiziert werden.
6. Vortrag: Verlust des Christus-Verständnisses. Die Einweihung des Brunetto Latini. Die heutige Einweihung. Geistig-Ideelles als äußere Wirklichkeit, objektive Welt in das Innere hineintragen.
7. Vortrag: Wir leben langsamer und denken schneller als der äußere Weltenlauf. Walter Rathenau. Absolute Hoffnungslosigkeit oder Sich-Hinneigen zur geistigen Welt.
8. Vortrag: Geister der Persönlichkeit. Hereinschlagen des Weltenkampfes in den Menschen. Ludendorff. Zerfall der Persönlichkeit. Gestaltendes Denken und Christus-Impuls. Innerer Kampf oder äußere Kriege.
Erster Vortrag, 22. Dezember 1918
Gleich zwei mächtigen Geistessäulen hat das christliche Weltempfinden die beiden Jahresfeste, das Weihnachts- und das Osterfest, in den Jahreslauf hineingestellt, der da sein soll ein Symbolum für den menschlichen Lebenslauf. Und man darf sagen, in dem Weihnachtsgedanken und in dem Ostergedanken stehen vor der menschlichen Seele jene beiden Geistessäulen, auf denen verzeichnet sind die beiden großen Geheimnisse physischen menschlichen Daseins, auf welche der Mensch in einer ganz andern Art hinblicken muß als auf andere Ereignisse seines physischen Lebenslaufes. Gewiß, es ragt in diesen physischen Lebenslauf – durch Sinnesbetrachtung, durch Verstandesurteil, durch Gefühl und Willensinhalt – Übersinnliches herein. Aber dieses Übersinnliche ist sonst ein unmittelbar sich als Übersinnliches Ankündendes, so wie etwa die christliche Weltempfindung es versinnlichen will durch das Pfingstfest. Mit dem Weihnachtsgedanken aber und mit dem Ostergedanken ist hingewiesen auf jene beiden in dem physischen Lebenslauf sich vollziehenden Ereignisse, die durchaus ihrem äußeren Anscheine nach physische Ereignisse sind, die aber entgegen allen andern physischen Ereignissen sich, so wie sie sind, nicht unmittelbar als physische Ereignisse ankünden. Man kann mit Naturanschauung das physische Leben des Menschen überblicken, und man kann mit Naturanschauung die Außenseite dieses physischen Lebens, die äußere Offenbarung des Geistigen sinnlich schauen. Man kann aber niemals sinnlich schauen, man kann auch nicht die Außenseite, die äußere Offenbarung der zwei Grenzerlebnisse des menschlichen Lebenslaufes sinnlich schauen, ohne daß man durch das sinnliche Schauen selber auf das gewaltige Rätselhafte, auf das Geheimnisvolle dieser beiden Ereignisse hingewiesen wird. Es sind die Ereignisse von Geburt und Tod. Und im Leben des Christus Jesus – und an sie erinnernd im Weihnachts- und im Ostergedanken – stehen vor der menschlichen Seele diese beiden Ereignisse des menschlichen physischen Lebens vor dem christlichen Gemüte da.
Im Weihnachtsgedanken und im Ostergedanken will die menschliche Seele hinblicken auf die beiden großen Geheimnisse. Und so wie sie hinblickt, findet sie aus der Betrachtung lichtvolle Stärkung für den Gedanken, kraftvollen Inhalt für das menschliche Wollen, Aufrichtung des ganzen Menschen, aus welcher Lage heraus er auch immer diese Aufrichtung braucht. So wie sie dastehen, diese beiden Geistsäulen, der Weihnachtsgedanke und der Ostergedanke, so haben sie einen Ewigkeitswert.
Das menschliche Vorstellungsvermögen hat sich aber vielfach im Laufe seiner Entwickelung in verschiedener Art genähert dem großen Weihnachtsgedanken und dem großen Ostergedanken. Während in den ersten Zeiten der christlichen Entwickelung, da die Wirkung des Ereignisses von Golgatha erschütternd in viele Gemüter eingezogen ist, die Menschen allmählich sich hingefunden haben zu der Anschauung des auf Golgatha sterbenden Erlösers, während sie in dem am Kreuze hängenden Cruzifixus in den ersten Jahrhunderten des Christentums den Erlösungsgedanken empfunden haben und sich da allmählich ausgestaltet hat die große, gewaltige Imagination des sterbenden Christus am Kreuze, hat das christliche Empfinden, insbesondere als die neuere Zeit begonnen hat, sich mehr anpassend an den in der Menschheitsentwickelung heraufkommenden Materialismus, sich hingewendet zu dem Bilde des kindhaften, in die Welt tretenden, des geborenwerdenden Jesus.
Nun kann man ja allerdings sagen, daß man mit einer feineren Empfindung in der Art, wie in den verflossenen Jahrhunderten das christliche Gemüt Europas sich hingewendet hat zur Weihnachtskrippe, etwas darin finden kann von materialistischem Christentum. Das Bedürfnis – es ist nicht in einem schlimmen Sinne gemeint, wenn ich das sage –, gewissermaßen zu kosen mit dem lieben Jesulein, das ist ein triviales Bedürfnis geworden im Lauf der Jahrhunderte. Und manches heute noch als schön, oder wie manche Leute sagen, als herzig empfundene Lied auf das liebe Jesulein will uns den ernst gewordenen Zeiten gegenüber heute doch zu wenig ernst anmuten.
Aber der Ostergedanke und der Weihnachtsgedanke, sie sind ewige Säulen, ewige Denksäulen des menschlichen Gemütes. Und man kann wohl sagen, daß in unserer Zeit neuer Geistesoffenbarungen auch neues Licht sich ergießen wird über den Weihnachtsgedanken, daß der Weihnachtsgedanke in einer grandiosen Weise allmählich in neuer Gestalt empfunden werden wird. Und an uns wird es sein, zu vernehmen aus dem Weltengeschehen heraus den Ruf nach Erneuerung mancher alten Vorstellungswelt, den Ruf nach neuer Offenbarung des Geistes. An uns wird es sein, zu verstehen, wie ein neuer Weihnachtsgedanke zur Stärkung und Aufrichtung der menschlichen Seele sich herausarbeitet aus diesem Weltengeschehen.
Die Geburt und der Tod des Menschen, man mag sie noch so sehr zergliedern, noch so sehr anschauen, sie stellen sich dar als Ereignisse, die unmittelbar auf dem physischen Plane sich abspielen, und in denen Geistiges so waltet, daß niemand, der ernsthaft die Dinge betrachtet, sagen sollte, diese zwei Ereignisse, diese Erdenereignisse des menschlichen Lebens seien nicht so, daß sie unmittelbar als physische Ereignisse zeigten, indem sie sich am Menschen abspielen, wie der Mensch Bürger einer geistigen Welt ist. Keiner Naturanschauung kann es je gelingen, innerhalb dessen, was Sinne schauen können, was der Verstand begreifen kann, in Geburt und Tod etwas anderes zu finden als ein solches, in dem sich unmittelbar im Physischen das Eingreifen des Geistigen zeigt. So, in solcher Art treten nur diese beiden Ereignisse an das menschliche Gemüt heran. Und auch für das Weihnachtsereignis, für das Geburtsereignis wird das menschlich-christliche Gemüt immer tiefer und tiefer empfinden müssen den Mysteriencharakter dieses Ereignisses. [...]
Sie lenkt uns nun hin, die neue christliche Offenbarung, diesen menschlichen Lebenslauf so zu betrachten, wie ihn, man darf wohl sagen, der Christus im 20. Jahrhundert von den Menschen betrachtet haben will. Wir gedenken heute, wo wir uns versenken wollen in den Weihnachtsgedanken, eines dem Christus Jesus in den Mund gelegten Ausspruches, welcher uns so recht hinweisen kann zu dem Weihnachtsgedanken. Der Ausspruch heißt: „Und so ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel.“ „Und so ihr nicht werdet wie die Kindlein...“ es ist wahrhaft nicht eine Aufforderung dazu, allen Mysteriencharakter abzustreifen von dem Weihnachtsgedanken, und den Weihnachtsgedanken herunterzuziehen in die Trivialität des lieben Jesulein, wie viele Volks- und ähnliche Lieder, aber weniger Volks- als Kunstlieder, im Laufe der materialistischen Entwickelung des Christentums getan haben. Gerade dieser Ausspruch: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel“, er läßt uns aufschauen zu gewaltigen Impulsen, die durch die Menschheitsentwickelung wallen. Und in unserer heutigen Zeit, wo durch die Weltereignisse wahrhaftig nicht ein Anlaß gegeben ist, in triviale Weihnachtsgedanken zu verfallen, wo durch das menschliche Herz so Schmerzvolles zieht, wo dieses menschliche Herz zurückschauen muß auf Millionen von Menschen, die den Tod gefunden haben in den letzten Jahren, hinschauen muß auf unzählige Menschen, die hungern, in dieser Zeit geziemt es sich wahrlich nicht anders, als hinzuschauen auf die mächtigen, den Menschen treibenden weltgeschichtlichen Gedanken, auf die man hingelenkt werden kann durch das Wort: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein...“ und das man ergänzen kann durch das andere: „Und so ihr nicht euer Leben verbringet in dem Lichte dieses Gedankens, so könnet ihr nicht eintreten in die Reiche der Himmel.“
Indem der Mensch als Kind in die Welt eintritt, kommt er unmittelbar aus der geistigen Welt heraus. Denn das, was sich im physischen Leben vollzieht, die Erzeugung und das Wachstum seines physischen Leibes, das ist die Umkleidung desjenigen Ereignisses, das nicht anders bezeichnet werden kann als so, daß man sagt: Des Menschen tiefste Wesenheit geht heraus aus der geistigen Welt. Der Mensch wird aus dem Geiste heraus in den Leib hineingeboren. Und wenn der Rosenkreuzer sagt: Ex deo nascimur – so meint er den Menschen, insofern er in der physischen Welt auftritt. Denn dasjenige, was den Menschen zunächst umhüllt, was ihn zum physischen Ganzen hier auf dem Erdenrund macht, das ist dasjenige, was mit dem Worte Ex deo nascimur getroffen wird. Sieht man auf das Zentrum des Menschen, auf das eigentliche innere Mittelpunktswesen, dann muß man sagen: Der Mensch wandert aus dem Geiste heraus in diese physische Welt herein. [...]
Eine Trivialanschauung, die stark beeinflußt ist von materialistischer Denkungsart, die spricht in ihrer Einfalt, daß der Mensch nach und nach im Leben sein Ich entwickelt von der Geburt bis zum Tode hin, daß dieses Ich immer mächtiger und immer starker wird, immer deutlicher hervortritt. Es ist eine einfältige Denkungsart. Denn sieht man hin auf das wahre Ich des Menschen, auf dasjenige, was zur physischen Umkleidung mit der Geburt des Menschen aus der geistigen Welt heraus kommt, dann spricht man über diese ganze physische Entwickelung des Menschen anders. Dann weiß man nämlich, daß das wahre Ich des Menschen nach und nach, indem er physisch heranwächst in dem physischen Leib, aus dem Leib gerade herausverschwindet, daß es immer weniger und weniger deutlich wird, und daß dasjenige, was sich entwickelt hier in der physischen Welt zwischen Geburt und Tod, nur ein Spiegelbild geistiger Ereignisse ist, ein totes Spiegelbild eines höheren Lebens. Das ist die richtige Ausdrucksweise, daß man sagt: In den Leib hinein verschwindet nach und nach die ganze Fülle des menschlichen Wesens; sie wird immer unsichtbarer und unsichtbarer. Der Mensch lebt sein physisches Leben hier auf der Erde, indem er sich nach und nach an den Leib verliert, um sich im Tode im Geiste wiederzufinden. [...]
Und so tritt dann der Mensch als Geisteswesen in die Welt ein. Sein Leibeswesen ist, indem er Kind ist, noch unbestimmt; es hat noch wenig in Anspruch genommen das Geistige, das wie hereinschläft in das physische Dasein, das aber nur deshalb uns so wenig inhaltsvoll erscheint, weil wir es eben so wenig im gewöhnlichen physischen Leben wahrnehmen, wie wir das schlafende Ich und den schlafenden Astralleib wahrnehmen, wenn sie vom physischen und Ätherleib getrennt sind. Deshalb aber ist ein Wesen nicht unvollkommener, weil wir es nicht sehen. Das muß der Mensch mit seinem physischen Leibe erkaufen, daß er sich immer mehr und mehr eingräbt in den physischen Leib, um durch dieses Eingraben Fähigkeiten zu bekommen, die nur auf diese Weise erlangt werden können, daß sich das Geist-Seelenwesen des Menschen eine Zeitlang an das physische Dasein im physischen Leibe verliert. Daß wir uns an diesen unseren Geistursprung immerdar erinnern, daß wir erstarken in dem Gedanken: Wir sind aus dem Geiste herausgewandert in die physische Welt –, dazu steht der Weihnachtsgedanke wie eine mächtige Lichtsäule da innerhalb der christlichen Weltempfindung. Dieser Gedanke als Weihnachtsgedanke muß immer mehr und mehr erkraftet werden in der zukünftigen geistigen Entwickelung der Menschheit. Dann wird dieser Weihnachtsgedanke für diese Menschheit wieder stark werden, dann werden die Menschen wiederum dem Weihnachtsfeste so entgegenleben können, daß sie Kraft für das physische Dasein schöpfen aus diesem Weihnachtsgedanken, der sie in rechtem Sinne an ihren Geistes-ursprung erinnern kann. [...]
Unter den mancherlei Gedanken, die in die neuere Menschheitsentwickelung – ganz gewiß angeregt durch den Christus-Impuls, aber in einer zunächst verfrühten Gestalt – hereingetreten sind, ist der tief christliche, aber einer immer weitergehenden Vertiefung fähige Gedanke der Gleichheit der Menschheit vor der Welt und vor Gott, der Gleichheit aller Menschen. Aber man darf diesen Gedanken nicht in solcher Allgemeinheit hinstellen vor das Menschengemüt, wie ihn, als er zuerst tumultuarisch in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist, die Französische Revolution hingestellt hat. Man muß sich bewußt sein, daß dieses Menschenleben von der Geburt bis zum Tode in Entwickelung ist, und daß die Hauptimpulse auf dieses Menschenleben verteilt sind. [...]
Vor allen Dingen muß Verständnis fallen, christliches Verständnis fallen auf eine gewisse Seite dieses menschlichen Lebens. Laut wird es verkünden der christliche Gedanke in der Zukunft, was sich bei einzelnen Geistern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ich möchte sagen, in stammelnder Erkenntnis, wenn auch durchaus nicht deutlich, schon angekündigt hat. Wenn man erfaßt, was eine Tatsache ist, daß das Kind mit Gleichheitsgedanken in die Welt hereintritt, daß aber später im Menschen, wie heraus aus dem Geborenwerden, Ungleichheitskräfte sich entwickeln, die scheinbar nicht von dieser Erde sind, so tritt damit gerade gegenüber dem Gleichheitsgedanken ein neues gewaltiges Mysterium an den Menschen heran. Dieses Mysterium zu durchschauen und durch das Durchschauen dieses Mysteriums eine richtige Anschauung über den Menschen zu erlangen, das wird zu wichtigen und notwendigen Bedürfnissen in der zukünftigen menschlichen Seelenentwickelung von der Gegenwart ab gehören. Die Frage steht bange vor dem Menschen: Ja, die Menschen werden verschieden, wenn sie es auch noch nicht in der Kindheit sind, durch etwas, was scheinbar mit ihnen geboren ist, was im Blute liegt, durch ihre verschiedenen Begabungen und Fähigkeiten.
Die Frage der Begabungen und Fähigkeiten, welche so viele Ungleichheiten unter den Menschen bewirken, sie tritt an den Menschen heran im Zusammenhang mit dem Weihnachtsgedanken. Und das Weihnachtsfest der Zukunft, es wird in ernster Weise den Menschen immerzu gemahnen an den Ursprung seiner ihn über die Erde hin differenzierenden Begabungen, Fähigkeiten, Talente, vielleicht sogar genialen Fähigkeiten. Er wird nach diesem Ursprung fragen müssen.
Und das richtige Gleichgewicht innerhalb des physischen Daseins wird er nur erlangen, wenn er in der rechten Art auf den Ursprung seiner ihn von den andern Menschen unterscheidenden Fähigkeiten hinweisen kann. [...]
Das aber kann er nur, wenn er weiß, daß auf der einen Seite alles dasjenige, was natürliche Begabungen, Fähigkeiten, Talente, Genies vielleicht sind, luziferische Gaben sind, die luziferisch in der Welt wirken, solange sie nicht geheiligt und durchdrungen werden von alldem, was als Christus-Impuls in die Welt eintreten kann. Ein ungeheuer bedeutungsvolles Mysterium der neueren Menschheitsentwickelung berührt man, wenn man den Keim des neuen Weihnachtsgedankens erfaßt und hinweist darauf, daß der Christus verstanden und empfunden werden muß von den Menschen so, daß die Menschen nun als neutestamentliche Menschen vor dem Christus stehen und sagen: Ich habe zu der Gleichheitsprätention, zu der Gleichheitsaspiration des Kindes hinzubekommen die verschiedenen Fähigkeiten und Begabungen und Talente. Sie führen aber auf die Dauer nur zum Guten, zum Heile des Menschen, wenn diese Begabungen, diese Talente, diese Fähigkeiten gestellt werden in den Dienst des Christus Jesus, wenn der Mensch anstrebt, sein ganzes Wesen zu durchchristen, damit Luzifer entrissen werden die menschlichen Begabungen, Talente, Genies.
Das durchchristete Gemüt entreißt Luzifer dasjenige, was sonst luziferisch im physischen Dasein des Menschen wirkt. Das muß als starker Gedanke hindurchgehen durch die künftige Entwickelung der menschlichen Seele. [...] Wende dich hin, o Christ, zu dem Weihnachtsgedanken – so redet das neue Christentum – und bringe dar auf dem Altare, der zu Weihnacht aufgerichtet wird, alles dasjenige, was du an Menschendifferenzierung empfängst aus dem Blute heraus, und heilige deine Fähigkeiten, heilige deine Begabungen, heilige selbst dein Genie, indem du es beleuchtet siehst von dem Lichte, das von dem Weihnachtsbaum ausgeht. [...]
Fragen können Sie nun, angeregt durch den Ernst des Weihnachtsgedankens: Wie erfahre ich den Christus-Impuls in meiner eigenen Seele? – Oh, der Gedanke, er liegt in dem Menschen oftmals schwer!
Nun, nicht in einem Augenblick, nicht so, daß man sagen kann, unmittelbar, stürmisch pflanzt sich das in unsere Seele ein, was wir als den Christus-Impuls bezeichnen können. Und zu verschiedenen Zeiten pflanzt es sich verschieden ein. Heute hat der Mensch durch sein volles, klares, waches Bewußtsein aufzunehmen solche Weltengedanken, wie sie stammelnd mitzuteilen versucht werden durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, zu der wir uns bekennen. So wie diese Gedanken sich ihm ankündigen, wenn er sie recht versteht, können sie das Vertrauen in ihm erwecken, daß auf den Flügeln dieser Gedanken die neue Offenbarung, das heißt der neue Christus-Impuls unserer Zeit, wirklich in ihn einzieht. Und er wird ihn verspüren, wenn er nur darauf aufmerksam sein will, dieser Mensch!
Versuchen Sie es, so wie es hier gemeint ist, recht lebendig im heutigen zeitgemäßen Sinne, die Geistgedanken der Weltenlenkung in sich aufzunehmen; versuchen Sie sie aufzunehmen nicht bloß wie eine Lehre, nicht bloß wie eine Theorie, versuchen Sie sie aufzunehmen so, daß sie diese Ihre Seele im tiefsten Inneren bewegen, erwärmen, durchleuchten und durchströmen, daß Sie sie lebendig tragen. Versuchen Sie, diese Gedanken in solcher Stärke zu empfinden, daß sie Ihnen sind wie etwas, was wie durch den Leib in Ihre Seele eintritt und den Leib verändert. Versuchen Sie, alle Abstraktionen, alles Theoretische von diesen Gedanken abzustreifen. Versuchen Sie, darauf zu kommen, daß diese Gedanken solche sind, welche eine wirkliche Speise der Seele sind, versuchen Sie, darauf zu kommen, daß durch diese Gedanken nicht bloß Gedanken in Ihre Seele einziehen, sondern daß geistiges Leben, das herauskommt aus der geistigen Welt, durch diese Gedanken in unsere Seele einzieht. Machen Sie sich intim innerlichst eins mit diesen Gedanken, und Sie werden ein Dreifaches bemerken. Sie werden bemerken, daß diese Gedanken allmählich etwas in Ihnen selber austilgen, was insbesondere in unserer Zeit des Bewußtseinsseelenzeitalters so deutlich in die Menschenseelen hereinzieht: daß diese Gedanken, mögen sie sonst wie immer lauten, austilgen im Menschen die Selbstsucht! Wenn Sie zu bemerken anfangen: diese Gedanken töten den Egoismus, lähmen die Selbstsucht –, dann, meine lieben Freunde, haben Sie verspürt das Durchchristete der anthroposophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Gedanken. Und wenn Sie zweitens verspüren, daß in dem Augenblick, wo irgendwie in der Welt an Sie herantritt die Unwahrhaftigkeit, entweder indem Sie selber versucht werden, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen, oder von anderer Seite Ihnen die Unwahrhaftigkeit entgegentritt, wenn Sie verspüren, daß in dem Augenblicke, wo die Unwahrhaftigkeit in Ihre Lebenssphäre hereintritt, warnend oder auf die Wahrheit hinweisend, ein Impuls dasteht neben Ihnen, der die Unwahrheit nicht in Ihr Leben hereintreten lassen will, der Sie immerzu mahnend auffordert, mit der Wahrheit es zu halten: dann verspüren Sie wiederum gegenüber dem zum Scheine heute so vielfach neigenden Leben den lebendigen Christus-Impuls. Der Mensch wird nicht leicht gegenüber den anthroposophisch orientierten Geistgedanken lügen können oder keine Empfindung haben für den Schein und die Unwahrheit. Ein Wegweiser zum Wahrheitsempfinden, von allem übrigen Verständnis abgesehen, er kann von Ihnen gefühlt werden in den Gedanken der neuen christlichen Offenbarung. Wenn Sie es dahin bringen, nicht bloß theoretisches Verständnis zu suchen für die Geisteswissenschaft, wie man es für eine andere Wissenschaft sucht, sondern wenn Sie es dahin bringen, daß die Gedanken so in Sie eindringen, daß Sie fühlen: Es ist so, indem diese Gedanken mit meiner Seele intim werden, wie wenn sich eine zur Wahrheit mahnende Gewissensmacht neben mich hinstellte, dann haben Sie den Christus-Impuls in der zweiten Art gefunden. Und wenn Sie drittens auch noch fühlen, daß ausströmt von diesen Gedanken etwas bis in den Leib hinein, aber insbesondere in der Seele Wirkendes, Krankheit Überwindendes, den Menschen Gesundmachendes, Frischmachendes, wenn Sie verspüren die verjüngende, erfrischende krankheitsfeindliche Kraft dieser Gedanken: dann haben Sie den dritten Teil des Christus-Impulses dieser Gedanken empfunden. Denn das ist es, wonach die Menschheit mit der neuen Weisheit, mit dem neuen Geiste strebt: aus dem Geiste selber heraus die Möglichkeit zu finden, Selbstsucht zu überwinden, den Schein des Lebens zu überwinden; Selbstsucht durch Liebe, den Schein des Lebens durch die Wahrheit, das Krankmachende durch die gesunden Gedanken, die uns unmittelbar in Einklang versetzen mit den Harmonien des Weltenalls, weil sie aus den Harmonien des Weltenalls stammen. [...]
„Mein Reich“, so sagt der Christus, „ist nicht von dieser Welt.“ Ein Wort, das uns auffordert, wenn wir auf seine Geburt im rechten Sinne hinblicken, in unserer eigenen Seele zu finden den Weg nach jenem Reiche, wo Er ist, uns zu erkraften, wo Er ist, uns zu erleuchten, wenn es finster und kraftlos werden will, aus den Impulsen, die aus jener Welt sind, von der Er selber sprach, von der immerdar sein Erscheinen in der Weihenacht künden will. [...]
Zweiter Vortrag, 24. Dezember 1918
Die unsere Zeit erfüllende Stimmung ist vielleicht nicht dazu angetan, gegenwärtig bei vielen Menschen jene innere Vertiefung herbeizuführen, von der Legenden und Sagen sprechen, indem sie auf jene Nächtereihe hindeuten, die auf die Weihenacht folgt und in welcher das dazu vorbereitete Gemüt durchleben kann etwas von der geistigen Welt. Sie kennen eine solche sehr ergreifende Legende aus den Darstellungen, die auch hier gepflogen worden sind: diejenige von Olaf Asteson. Und vieles Ähnliche weist auf die Weihnachtszeit in einer so eindringlichen Weise hin.
Allein nicht nur für den intimeren Beobachter des menschlichen Gemütes, sondern auch für den, der heute im Äußeren die allgemeine Zeitstimmung ins Auge faßt, ist es klar, daß Weihnachtsstimmung, Weihnachtsimpuls erst wiederum gesucht werden muß von den Menschen. Dasjenige, was lebt in der Weihnachtserinnerung, in dem Weihnachtsgedanken, es muß in einer neuen Art die Menschenseele wieder ergreifen. Sehen wir doch einmal, um eben nach dem weiteren Umkreise der heutigen religiösen geistigen Stimmung hinzuschauen, wie wenig in der gegenwärtigen Zeit auch nur die Neigung vorhanden ist, den Christus als solchen ins Auge zu fassen, ins Seelenauge hereinzunehmen.
Wenn Sie in den Worten derjenigen, die heute glauben, von dem Christus zu reden, wenn Sie in ihren Reden nach den unterscheidenden Merkmalen zwischen dem Christus und dem Vatergott suchen, werden Sie kaum einen andern als einen Namensunterschied finden. [...] Das Besondere, das Eigentümliche, von dem gesprochen werden muß, wenn das menschliche Herz zu Christus aufschaut, das will erst wiederum gefunden werden. Und vielleicht ist gerade heute die würdigste Feier des Weihnachtsfestes die, einmal sich so recht in die Seele zu schreiben, wie die Menschheit den Christus wieder finden kann. [...]
Das Weihnachtsfest kann uns ja nicht nur erinnern, wie es das soll, an das Hereintreten des Jesus in das Erdendasein, sondern es kann uns auch erinnern gewissermaßen an die Geburt des Christentums selbst, an dies Hereintreten des Christentums in den Lauf der Erdenentwickelung. Und so sei denn heute zunächst unser geistiger Blick auf die Weihenacht, möchte ich sagen, des Christentums selbst hingelenkt, auf das Hereintreten, auf das Geborenwerden des Christentums innerhalb des Erdenbereiches. Die äußeren Tatsachen sind ja allgemein bekannt, aber sie sollten vertieft werden.
Inmitten der Bekenner des Alten Testamentes trat das Christentum in die Welt. Es trat in die Welt mit der Persönlichkeit des Christus Jesus. Wir blicken auf die Erscheinungen, die sich abgespielt haben innerhalb der Bekennerschaft des Alten Testamentes, als das Christentum geboren worden ist. Wir sehen, wie diese Bekennerschaft äußerlich in zwei voneinander geschiedenen Strömungen lebt: in der Pharisäerströmung und Sadduzäerströmung. Im Grunde ist es notwendig, alle diese Dinge von der Gegenwart ab wiederum in einem neuen Lichte anzusehen. Wenn wir uns vor die Seele führen die Art, wie wir den allgemeinen Weg anschauen, den der einzelne Mensch macht, und den Weg, den die Menschheit, den eigentlich das ganze Erdendasein macht, so wird uns dieser Weg immer deutlicher dadurch werden, daß wir ihn als einen Gleichgewichtszustand auffassen zwischen dem Luziferischen und Ahrimanischen. Aber im Grunde ist das nur die Benennung, die wir gebrauchen. Ein Bewußtsein von dem Tatsachenbestand des Luziferischen, des Ahrimanischen und des Gleichgewichtszustandes dazwischen war bei den tieferen Naturen der Menschheit immer vorhanden. Und im Grunde genommen ist das pharisäische Element innerhalb der althebräischen Entwickelung, mit seinem Gegensatz zum sadduzäischen Element, nichts anderes als der Gegensatz des Ahrimanischen und Luziferischen. In die Gleichgewichtsströmung ist hineingestellt der Jesus, der eintritt in das äußere Erdendasein. [...]
Unbekannt zunächst der großen Welt in derjenigen Zeit, in der es geboren wurde, war dieses Christentum für diejenige Welt, innerhalb welcher die damalige Geistigkeit der Menschheit lebte: innerhalb der griechischen Welt. Innerhalb des sich immer mehr und mehr ausbreitenden römischen Weltreiches, in dessen Bereich sogar das Mysterium von Golgatha durch Jesu Geburt sich vorbereitete, wußte man nicht, welch Gewichtiges sich abgespielt hatte inmitten des jüdischen Volkes. Man wußte nichts von dem Wichtigsten, das sich vorbereitete als der Sinn der Erde. Dennoch, wenn auch die Menschheit der damaligen Zeit äußerlich vorübergehen ließ dieses großartigste Ereignis der Erdenentwickelung, innerlich war mit aller damals in Betracht kommenden Welt das werdende Christentum verbunden.
Aber wie verbunden? Der Sinn dessen, was die Weihenacht birgt, er enthüllt sich doch erst im Ostergedanken. Und der Ostergedanke, der den Weihnachtsgedanken eigentlich vertieft, was ist denn sein Bedeutsames? Das Bedeutsame des Ostergedankens ist der Hinblick auf den Menschheitserlöser, der gekreuzigt stirbt: das Kreuz mit dem toten Gotte. Aus der Menschheit heraus ist die Absicht, ist die Tat entstanden, den unter ihr erscheinenden Gott zu töten. Es sollte die ganze Größe, die ganze Gewalt dieses Gedankens sich wiederum in die Seelen der Menschen hineindrücken. Der Hinblick auf die Tat, durch die der auf der Erde erschienene Gott durch die Menschen getötet worden ist, diesen Gedanken sollte man sich übersetzen in die Sprache, durch die er verstanden werden kann! Versuchen wir das wenigstens von einem Gesichtspunkte aus.
Wenn wir hinblicken auf das Mysterium von Golgatha – Sie wissen es aus meinem Buche „Das Christentum als mystische Tatsache“ –, so ist dieses Mysterium von Golgatha wie ein großer weltgeschichtlicher Zusammenfluß desjenigen, was in alten Mysterien dargestellt worden ist. Dasjenige, was in alten Mysterien als Opferhandlung, als Initiationshandlung stattfand, was in den Tempeln, man möchte sagen, mit einer eingeschränkten Geltung stattfand, wurde hinausgestellt auf den großen Plan der Weltgeschichte, spielte sich ab im Umfang des ganzen Erdendaseins. Gewissermaßen wurde die Initiation der Menschheit selbst herausgeholt aus den Tempeln und hingestellt vor die ganze Erden-Weltgeschichte.
Nun muß man sich fragen: Was dachte sich denn eigentlich der alte Mensch, der teilnehmen durfte an den Weihehandlungen der Mysterien, in jener Zeit, als die Mysterien noch ihre wirkliche, alte Bedeutung hatten? Der Mensch war vermöge seines Vorbereitungsunterrichtes für die Mysterien sich völlig klar darüber, daß dasjenige, was zunächst in der äußeren Sinneswelt sich ausbreitet, was auch der menschliche Verstand begreifen kann, eine bloße Phänomenenwelt sei, eine Welt des äußeren Sinnenscheines, daß dasjenige, was der Mensch zunächst in seinem Umkreis erlebt in seiner Wachezeit zwischen Geburt und Tod, nur die äußere Anschauung, Erscheinungsoffenbarung der inneren Wesenheit sei und daß diese innere Wesenheit aber sich im allgemeinen Leben des Menschen verbirgt. [...]
Man muß sich klarmachen, daß alles dasjenige, was der Mensch heute im materialistischen Zeitalter Wirklichkeit nennt, von dieser Mysterienanschauung als Schein erklärt worden ist, während zum Beispiel die sakramentale Handlung, der Initiationsritus, der verrichtet wurde und der heute den meisten Menschen als Phantastik gilt, den Mysterienkennern als das einzig Wirkliche galt, das ihnen im Leben entgegentreten könne. Daher wurde auch solche Mysterienhandlung nicht beliebig verrichtet, sondern zu gewissen Zeiten, wenn man der Ansicht war, daß durch die Erscheinungen des äußeren Lebens etwas durchdringen konnte von dem wahren Wesen, welches man dann gleichsam auffangen konnte durch die sakramentalen Handlungen im Mysterium. Es ist oftmals hingewiesen worden darauf, daß eine wichtige sakramentale Handlung in den Mysterien darin bestand, daß gezeigt wurde die Opferung des Gottes, das Sterben des Gottes und das Wiederauferstehen des Gottes nach drei Tagen. In dieser Mysterienhandlung war darauf hingewiesen, wie dem tieferen Durchdringer der äußeren Welt – wenn er in sie sieht – der Tod in dieser äußeren Welt verraten kann das wahre Wesen dieser Welt, wie gesucht werden muß jenseits des Todes dasjenige, was wahrhaft Wirklichkeit ist.
Aber all das, was so aus der Mysterienstimmung heraus in die Menschenseele kommen konnte, denken wir es uns zusammengefaßt im Beginne unserer christlichen Zeitrechnung als Ausdruck des Wichtigsten in den Welterscheinungen. Jemand, der im Beginne dieser christlichen Zeitrechnung mit dem Gange unserer Erdenentwickelung vollständig hätte fühlen können, er hätte sich sagen können: Es war in alten Zeiten die Möglichkeit für die Menschen vorhanden, in atavistischer Weihewissenschaft etwas von dem Göttlich-Geistigen zu erfahren. Diese Zeit ist vorbei. Überblickt man die Erdenentwickelung, so kann man sagen: In alten Zeiten, da offenbarte sich den Menschen aus dieser Erdenentwickelung heraus etwas von der göttlich-geistigen Welt. Doch die Zeit ist eingetreten, wo nichts mehr herausgeholt werden kann aus dem Welteninhalt für dasjenige, was den Menschen hinführt zum Göttlich-Geistigen. Die Welt hat verloren ihr göttlich-geistiges Leben. – So würde eine solche Seele gesagt haben. Auf was muß man blicken, wenn man diesen Sinn der Entwickelung der Erdenmenschheit ins Auge faßte? Wo ist dasjenige, was in der Zeit der Entstehung des Christentums wirklicher Erdensinn ist? Wo ist dasjenige, was ausspricht, was im Innersten gewollt wird in dieser Zeit? Zu Golgatha auf dem Kreuz: der Tod ist es! Das was früher aus der Erdenentwickelung hervorquoll, was zum Heile der Menschen war, es ist selber gestorben. In dem Hinblicke auf den toten Gott ist der wirklich tiefer in das Weltenwesen eindringenden Seele der Erdenimpuls, der tiefste Erdenimpuls selber gegeben zur Zeit der Entstehung des Christentums.
Und so empfunden, stellt sich erst die ganze Größe desjenigen dar, auf das es in diesem Zusammenhange ankommt. Das alte Weltenwissen, die alte Weltanschauung war zusammengeflossen in dem Salomonischen Tempel; aber diese alte Weltanschauung barg nichts mehr von dem, was sie groß gemacht hatte. Ein Neues mußte in die Weltentwickelung hereintreten. Und so fließen in der Zeitentwickelung unmittelbar zusammen der Niederbruch des Salomonischen Tempels und der Aufgang, die Geburt des Christentums – der Salomonische Tempel: ein symbolisches Raumesbild des Welteninhaltes; das Christentum, zusammengefaßt als Zeiterscheinung: ein neues Weltenbild. Beim Christentum ist nicht die Hauptsache irgend etwas, was als Raumesbild auftreten kann wie beim Salomonischen Tempel; beim Christentum ist das Wesentliche, daß man versteht: Die Erdenentwickelung ging bis zum Mysterium von Golgatha; das Mysterium von Golgatha hat eingegriffen, dann geht es durch den in die Menschheit sich ausgießenden Christus in dieser oder jener Weise weiter. – Das Christentum versteht nur derjenige, der es auffaßt durch Bilder, die in der Zeit ablaufen. [...] Das Werden, hingestellt nach dem Sein: das ist die innere Beziehung des geborenwerdenden Christentums zu dem Seelischen der damaligen Welt, zu dem Judentum, das dasteht im Salomonischen Tempel, der aber in der Weltenfolge zusammenbricht. In die Seele, die im alten Judentum gegeben war, wurde das Christentum hineingeboren.
Den Geist hat dieses Christentum aufgesucht im Griechentum. Wie im Judentum das Christentum die Seele aufgesucht hat, so hat es im Griechentum den Geist aufgesucht. Die Evangelien selber sind, so wie sie der Welt überliefert worden sind – abgesehen von demjenigen, was nicht überliefert worden ist –, so wie sie hinausgezogen sind in die Welt, im wesentlichen durch griechischen Geist gegangen. Die Gedanken, durch welche die Welt das Christentum denken konnte, sie sind griechische Geistesweisheit. Die ersten Verteidigungsschriften der Kirchenväter – in griechischer Sprache sind sie erschienen. So wie das Christentum hineingeboren ist in die Seele, die im Judentum gegeben war für die damalige Menschheit, so ist dieses Christentum hineingeboren in den Geist, der für die damalige Menschheit gegeben war durch das Griechentum.
Das Römertum aber gab den Leib. Das Römertum war im wesentlichen für die damalige Zeit dasjenige, was die äußere Organisation, den Reichsgedanken verwirklichen konnte. Judentum war Seele, Griechentum war Geist, Römertum war Leib – Leib natürlich in dem Sinne, wie die soziale Struktur der Menschheit Leib ist. Römertum ist im wesentlichen Gestaltung der äußeren Neigungen, Einrichtungen, und die Gedanken über die äußeren Einrichtungen leben in äußeren Einrichtungen: Leibliches in geschichtlichem Sein, Leibliches in geschichtlichem Werden. Wie das Christentum in die Seele des Judentums, in den Geist des Griechentums hineingeboren worden ist, so ist es in den Leib des Römischen Reiches hineingeboren worden.
Oberflächliche Naturen finden sogar, daß alles dasjenige, was das Christentum birgt, sich erklären ließe aus Judentum, Griechentum und Römertum. Nun ja, wie materialistische Naturforscher finden, daß alles dasjenige, was im Menschen ist, von seinen Eltern, Großeltern und so weiter abstammt, und nicht bedenken, daß die Seele aus geistigen Reichen kommt und sich nur den Leib als Kleid umlegt, so sind solche oberflächliche Naturen geneigt, zu sagen, das Christentum ist nur in demjenigen bestehend, was es sich eigentlich umgelegt hat. Das Wesentliche des Christentums tritt natürlich mit dem Christus Jesus selbst in die Welt, aber hineingeboren wird dieses Christentum in die Judenseele, in den Griechengeist und in den Leib des römischen Imperiums, des Römischen Reiches. Das ist gewissermaßen, angeschaut durch den Weihnachtsgedanken, die Geburt des Christentums selber.
Wichtig ist es, diesen Gedanken nicht bloß als einen äußeren theoretischen zu nehmen, sondern ihn wirklich zum Weihnachtsgedanken zu vertiefen, gewissermaßen lernen hinzuschauen, was dieser Gedanke eigentlich für eine Tragkraft haben kann mit Bezug auf den neu geborenwerdenden Geist, der mit den Geistern der Persönlichkeit, wie ich neulich hier angeführt habe, in das Weltenwerden hereintritt. Das, was im Weltenwerden sich einpflanzen will dem Geschehen, das hat zunächst sich durchzuringen durch dasjenige, was vom Alten bleibt. Das ist ja das Geheimnis des Weltenwerdens, daß gewissermaßen eine normal fortgehende Entwickelung da ist, und ein luziferisches und ahrimanisches Zurückbleibendes, das modifiziert, stört, aber auch in einer gewissen Weise das fortschreitende Weltenwerden trägt. Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht: Man kann dieses Ahrimanisch-Luziferische nicht einfach fliehen, man muß es ruhig ins Auge fassen, man muß sich bewußt ihm entgegenstellen, aber man soll nur nicht unbewußt diese Dinge einfach über sich ergehen lassen. Von den Weltenimpulsen bleiben gewissermaßen Schatten zurück, die weiter wirken, wenn das Neue schon da ist, die aber in ihrem luziferischen oder ahrimanischen Charakter durchschaut werden müssen. Es muß dieses Ahrimanisch-Luziferische weiter mit der Entwickelung gehen, aber es darf nicht verabsolutiert werden, es muß in seinem luziferischen und ahrimanischen Charakter durchschaut werden. Es ist zurückgeblieben Schattenhaftes vom Salomonischen Tempel, zurückgeblieben Schattenhaftes vom Griechentum, zurückgeblieben Schattenhaftes vom Römischen Reich. Vor zweitausend Jahren nahezu war es selbstverständlich, daß aus diesen dreien – aus Seele, Geist und Leib – herausgeboren wurde das Christentum. Aber Seele, Geist und Leib konnten nicht gleich verschwinden. Sie blieben in einer gewissen Weise nachwirkend. Heute ist die Zeit, wo dieser Tatbestand durchschaut werden muß, wo durchschaut werden muß das völlige Einzigartige des Christus-Impulses selbst. [...]
Wir sehen den Schatten des Römischen Reiches im römischen Katholizismus heute. Dieser Schatten ist nicht das Christentum, es ist der Schatten des alten Römischen Reiches, in das hinein das Christentum geboren werden mußte, in dessen Formen noch immer fortlebt dasjenige, was dazumal als Struktur des Christentums sich herausbilden mußte. Aber wir müssen lernen, die Menschheit muß lernen unterscheiden den Schatten des alten Römischen Reiches von dem Christentum. In der Konstitution der katholischen Kirche hat man nicht dasjenige, was die Essenz des Christentums ist, das hat man überhaupt nicht in der Konstitution der christlichen Kirchen. [...]
Auch der Salomonische Tempel ist in dieser Richtung wie ein Schatten zurückgeblieben. Dasjenige, was die Geheimnisse des Salomonischen Tempels waren, ist mit einigen Ausnahmen fast restlos aufgegangen in all die maurerischen und andern Geheimgesellschaften der jetzigen Zeit. Wie die römische Kirche der Schatten des alten Römischen Reiches ist, so ist, mögen sie auch anderes behaupten wollen, – sogar wenn sie Judentum ausschließen – dasjenige, was durch diese Gesellschaften fortlebt, der Schatten des alten Judentums, der Schatten des esoterischen Jehovadienstes. [...]
Der Schatten des griechischen Geistes, in den hineingeboren werden mußte das Christentum, das ist nun – trotz aller Schönheit des Griechentums, trotz alles ästhetischen und sonstigen bedeutsamen Inhaltes des Griechentums, trotz des Wirksamen, das das Griechentum für uns hat –, das ist die moderne Weltanschauung der gebildeten Welt, die es dazu gebracht hat, daß diese furchtbare Katastrophe über die Menschheit hereingebrochen ist. Als das Griechentum gelebt hat mit seiner Weltanschauung, da war das etwas anderes. Ein jegliches ist das Rechte zu seiner Zeit. Wird es absolut genommen, wird es antiquiert weitergetragen, dann wird es der Schatten seiner selbst, und der Schatten, er ist nicht das Licht, er kann in das Gegenteil des Wesens umschlagen. [...] Der Ruf geht wie ein Engelsposaunenklang durch unsere Zeit, diese Tatbestände in ihrem wahren Wesen zu durchschauen, durch die Schatten hindurch auf das Licht zu schauen. [...]
Wer versucht, mit tieferem Verständnis dasjenige zu überschauen, was heute wahrhaftig nicht schwer ist zu sehen, wer den guten Willen hat, vorurteilslos die Blicke hinzuwenden auf das, was heute unter Menschen geschieht, der wird den Impuls zum Suchen des Lichtes empfangen. Und man sollte auf diesen inneren Antrieb in der Menschenseele heute einigen Wert legen, man sollte nicht hinhören auf diejenigen, die – je nach dem Platze, auf den sie gestellt sind – nur irgendeinen alten Schatten verteidigen wollen, sondern hinhören auf sein Eigenes, das deutlich genug sprechen muß, wenn man es nur nicht übertönen will durch das, was aus den äußeren Schattenbehauptungen heraustönt.
Man wird sich schon heute überzeugen können – wenn man hinblickt, teilnahms-, mitleidsvoll hinblickt auf dasjenige, was geschehen ist, was geschieht, was geschehen wird –, man wird schon sehen, daß eine merkwürdige, das rechte Menschliche verzerrende Gestalt vor den Menschen steht, eine Gestalt, welche an sich trägt jene Gewänder, die aus den Schatten gewoben sind, eine Gestalt, welche in sich vereinigt in Gedanken, Empfindungen, in Gefühlen und in Willensimpulsen dasjenige, was die Menschheit auf eine schiefe Bahn gebracht hat und geeignet ist, weiter auf eine schiefe Bahn zu bringen. Im Innersten dessen, was außen geschieht, leben die drei charakterisierten Schattengedanken.
Wer aber sich geeignet macht, den Blick hinzuwenden auf diese Gestalt, deren Gewand aus den Schatten gewoben ist, der bereitet sich auch in der richtigen Weise vor, nach anderem hinzuschauen: hinzuschauen nach jenem Baume, der in der Finsternis doch heute schon leuchten kann mit seinen Lichtern, nach jenem Baume, den man anschaut, wenn man sich nicht beirren läßt durch das dreifache Schattendasein, sich nicht beirren läßt von antiquierter Symbolik, von antiquiertem Kirchentum, von antiquierter materialistischer Wissenschaft, sondern reinen Herzens hinschaut auf dasjenige, was leuchten will in der Finsternis als ein wirklicher Weihnachtsbaum, unter dem da liegt das durch das Weihnachtslicht neu beleuchtete Christus-Jesuskind. Das möchte Geisteswissenschaft, anthroposophisch orientiert, letzten Endes tun: das Weihnachtslicht suchen, damit das Jesuskind, das in die Welt eingetreten ist, um erst zu wirken und dann verstanden zu werden, allmählich verstanden werden könne. In bescheidener Weise beleuchten das Größte der Ereignisse im Erdendasein, das möchte innerhalb der religiösen Menschheitsströmungen anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Man wird nicht verstehen dieses Licht, das diese Geisteswissenschaft anerkennen will als ihr Weihnachtslicht, wenn man nicht den Willen hat, das dreifache Schattendasein unserer Zeit wirklich zu durchschauen. Ernst sind die Zeiten. Und wer nicht den guten Willen hat, die Zeiten ernst zu nehmen, der wird vielleicht in dieser Inkarnation noch nicht hinschauen können auf dasjenige, was für jeden Menschen, der guten Willens ist, in dieser Zeit wahrhaftig da sein sollte zum Heilen für so viele Wunden, die sonst der Menschheit noch geschlagen werden müßten. Hinschauen müßte der Mensch, der heute guten Willens ist, auf dasjenige, was erscheinen kann, indem das Weihnachtslicht anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft entzündet wird. Das Licht ist wahrhaftig klein, und derjenige, der sich zu dem Lichte bekennt, der bleibt bescheiden. Er will nicht dieses Licht als etwas Besonderes der Welt anpreisen, denn er weiß, daß es heute noch klein und unbedeutend brennen kann, daß viele Menschen und viele Generationen werden kommen müssen, damit dasjenige, was heute noch schwach brennt, stärker brennen kann. Aber wenn auch das Licht schwach brennt, es leuchtet hin auf etwas, das nicht schwach wirkt innerhalb der Menschen-Erdenentwickelung, sondern das stark wirkt als der Menschenentwickelung tiefster Sinn; es leuchtet hin auf dasjenige, was wir nennen können: Geburt des Christentums, Weihenacht des Christentums. [...]
Fühlen wir etwas von dieser Weihenachtsstimmung, die gerade aus der Geisteswissenschaft in unsere Seele einziehen soll! [...] Aus diesem Ernste heraus, meine lieben Freunde, von ganzem Herzen: Eine heilige, feierliche Weihenacht!
Dritter Vortrag, 25. Dezember 1918
Als ich am letzten Sonntag einige Andeutungen machte über die Erneuerung des Weihnachtsgedankens, da sprach ich davon, wie der Mensch – ich meinte den wirklichen inneren Menschen, der sich, herauskommend aus der geistigen Welt, verbindet mit dem, was ihm übergeben wird aus der Vererbungsströmung heraus –, wie dieser Mensch beim Eintritt in das Dasein, das er verlebt zwischen der Geburt und dem Tod, hereinkommt mit einem gewissen Impulse der Gleichheit. [...]
Neben der Idee der Gleichheit tönt gewissermaßen durch die moderne Welt die Idee der Freiheit. [...] Ich habe immer nötig gehabt, einen Gesichtspunkt mit Bezug auf die Freiheitsidee besonders hervorzuheben, nämlich den, daß die ganze neuere Zeit, die verschiedenen philosophischen Anschauungen über die Freiheit eigentlich den Fehler gemacht haben – wenn man es Fehler nennen will –, die Frage so zu stellen: Ist der Mensch frei oder unfrei? Kann man dem Menschen freien Willen zuschreiben oder darf man ihm nur zuschreiben, daß er in einer wie absoluten Naturnotwendigkeit drinnensteht und auch aus dieser Notwendigkeit heraus seine Handlungen, seine Willensentschlüsse vollführt? – Die Fragestellung ist unrichtig. Es gibt kein solches Entweder-Oder. Man kann nicht sagen, der Mensch ist entweder frei oder unfrei, sondern er ist begriffen in der Entwickelung von der Unfreiheit zur Freiheit. Und die Art und Weise, wie Sie aufgefaßt finden den Freiheitsimpuls in meiner „Philosophie der Freiheit“, zeigt Ihnen, daß der Mensch immer freier und freier wird, daß er sich herauswindet aus der Notwendigkeit und immer mehr und mehr in ihm die Impulse wachsen, die ihm möglich machen, ein freies Wesen innerhalb der sonstigen Weltenordnung zu sein.
So hat denn der Impuls der Gleichheit seine Kulmination beim Geborenwerden – wenn auch nicht im Bewußtsein, da das noch nicht so entwickelt da schon leben kann –, dann fällt er ab. Der Impuls der Gleichheit hat also eine absteigende Entwickelung. [...] Bei der Geburt ist eine Kulmination der Gleichheitsidee da, und die Gleichheit bewegt sich in einer absteigenden Kurve. Umgekehrt ist es nun bei der Freiheitsidee. Die Freiheit bewegt sich in einer aufsteigenden Kurve und hat ihre Kulmination im Tode. Ich will damit nicht sagen, daß der Mensch, indem er durch die Pforte des Todes geht, den höchsten Gipfel eines freitätigen Wesens erreicht. Aber relativ, mit Bezug auf das Menschenleben entwickelt der Mensch den Impuls der Freiheit gegen den Moment des Todes hin immer mehr und mehr, und relativ hat er sich am meisten die Möglichkeit, ein freies Wesen zu sein, in dem Augenblick erworben, wo er durch des Todes Pforte in die geistige Welt eintritt. Während er also, indem er durch die Geburt in das physische Dasein eintritt, aus der geistigen Welt herausträgt die Gleichheit, die dann absteigt in der Entwickelung des physischen Lebenslaufes, entwickelt er gerade im physischen Lebenslaufe den Freiheitsimpuls und steigt mit dem ihm im physischen Lebenslauf erreichbaren Höchstmaß des Freiheitsimpulses durch die Pforte des Todes in die geistige Welt hinein.
Sie sehen daraus wiederum, wie einseitig oftmals das Menschenwesen betrachtet wird. Man bezieht nicht die Zeit in dieses Menschenwesen ein. Man redet vom Menschen im allgemeinen, in abstracto, weil man heute nicht geneigt ist, auf Wirklichkeiten einzugehen. Aber der Mensch ist nicht ein stehenbleibendes Wesen, er ist ein Wesen im Werden. Und je mehr er wird, je mehr er sich selbst in die Möglichkeit versetzt, zu werden, desto mehr erfüllt er gewissermaßen hier im physischen Lebenslaufe schon seine wirkliche Aufgabe. Diejenigen Menschen, die starr bleiben, die abgeneigt sind, eine Entwickelung durchzumachen, entwickeln wenig von dem, was eigentlich ihre irdische Mission ist. [...]
Nun der dritte der Impulse: die Brüderlichkeit. Ihr ist eigen, daß sie die Kulmination in einem gewissen Sinne in der Mitte des Lebens hat. [...] In der Mitte des Lebens, wenn der Mensch in seinem labilsten, das heißt schwankenden Zustand ist mit Bezug auf das Verhältnis des Seelischen zum Leiblichen, da hat der Mensch die stärkste Veranlagung, die Brüderlichkeit zu entwickeln. Er entwickelt sie nicht immer, aber er hat Veranlagung dazu. Es sind sozusagen für die Entwickelung der Brüderlichkeit die stärksten Vorbedingungen gegeben in der Lebensmitte.
So verteilen sich diese drei Impulse über das ganze menschliche Leben hin. In der Zeit, der wir entgegenleben, wird es notwendig für das Verständnis des Menschen und dann selbstverständlich auch für die sogenannte Selbsterkenntnis des Menschen, daß so etwas berücksichtigt werde. Man wird nicht zu richtigen Ideen über das Zusammenleben der Menschen kommen können, wenn man nicht wissen wird, wie sich die Impulse auf den Lebenslauf des Menschen verteilen. Man wird gewissermaßen nicht konkret leben können, wenn man diese Erkenntnis sich nicht wird erwerben wollen; denn man wird nicht wissen, wie konkret ein junger Mensch zu einem alten, ein älterer zu einem in mittleren Lebensjahren stehenden Menschen steht, wenn man nicht die besondere Konfiguration dieser inneren Impulse des menschlichen Wesens ins Auge faßt.
Fassen Sie aber das, was wir jetzt auseinandergesetzt haben, zusammen mit Betrachtungen, die wir früher hier angestellt haben über das allmähliche Jüngerwerden des ganzen Menschengeschlechtes. Erinnern Sie sich, wie ich auseinandergesetzt habe, daß die eigentümliche Abhängigkeit, welche der Mensch vom Körperlichen mit Bezug auf die seelische Entwickelung heute nur in seinen allerjüngsten Lebensjahren hat, gefühlt wurde, erlebt wurde in alten Zeiten – wir sprechen jetzt nur von nachatlantischen Zeiten – bis ins hohe Alter hinauf. [...]
Bis in die Fünfzigerjahre war in der urindischen Kultur der Mensch entwickelungsfähig. Dann verjüngte sich der Mensch, also ging das Alter des Menschengeschlechtes, das heißt, diese Entwickelungsfähigkeit zurück bis zum Ende der Vierzigerjahre während der urpersischen Zeit, und nur noch zwischen dem fünfunddreißigsten bis zweiundvierzigsten Jahre wirkte sie während der ägyptisch-chaldäischen Zeit. Während der griechisch-lateinischen Zeit war der Mensch nur entwickelungsfähig zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Jahre. In der Zeit, als das Mysterium von Golgatha geschah, war der Mensch entwickelungsfähig eben bis zum dreiunddreißigsten Jahre. Das ist das Wunderbare, das man in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit entdeckt: daß das Alter des durch den Tod auf Golgatha gehenden Christus Jesus zusammenfällt mit jenem Alter, bis zu dem die Menschheit dazumal zurückgegangen war. [...]
Das ist das Charakteristische für unsere Gegenwartsentwickelung nach dem Mysterium von Golgatha, daß wir eigentlich durch das, was dem Menschen von Natur zugeteilt ist, aus unserem Organismus heraus nichts gewinnen können von den Dreißigerjahren an. Würde nicht das Mysterium von Golgatha eingetreten sein, wir würden gewissermaßen von unseren Dreißigerjahren an hier auf der Erde herumgehen und würden uns dann sagen: Eigentlich leben wir ja nur richtig bis so zum zweiunddreißigsten, dreiunddreißigsten Jahre höchstens. Da gibt uns unser Organismus die Möglichkeit des Lebens. Dann könnten wir ebensogut sterben. Denn durch den Naturlauf, durch die elementarischen Naturereignisse können wir nichts mehr durch die Impulse unseres Organismus für unsere seelische Entwickelung gewinnen. [...] Das würden viele Menschen empfinden, daß sie wie ein lebendiger Leichnam auf der Erde herumgehen würden, wenn dieses Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre. Aber dieses Mysterium von Golgatha soll eben auch noch fruchtbar gemacht werden. Wir sollen nicht bloß unbewußt, wie es für die Menschen der Fall ist, in uns den Impuls von Golgatha aufnehmen, sondern wir sollen ihn bewußt aufnehmen. Wir sollen bewußt ihn so aufnehmen, daß wir gewissermaßen durch den Impuls von Golgatha jugendfrisch bleiben bis in das Alter hinein. Und er kann uns gesund und jugendfrisch erhalten, wenn wir ihn in der richtigen Weise bewußt aufnehmen. Und wir werden uns dann auch dieses Erfrischenden des Mysteriums von Golgatha für unser Leben bewußt werden. Und das ist wichtig, meine lieben Freunde! [...]
Weil der Mensch gewissermaßen in der Lebensmitte erstirbt durch die Kräfte des Naturlaufes, kann er sowohl den Impuls, den Instinkt der Brüderlichkeit wie namentlich den Impuls der Freiheit, den die Menschen heute so wenig aufnehmen, nicht ordentlich entwickeln, wenn er nicht lebendig macht in sich Gedanken, die unmittelbar von dem Christus-Impuls herkommen. Daher ist der Christus-Impuls unmittelbar, indem wir zu ihm uns hinwenden, die Anfeuerung zur Brüderlichkeit. In dem Maße, in dem man empfindet die Notwendigkeit der Brüderlichkeit, durchchristet man sich. Aber der Mensch würde allein während des Restes der Erdenzeit – in künftigen Entwickelungen wird es anders sein – nicht dahin kommen, die ganze Stärke des Freiheitsimpulses zu entwickeln. Da tritt dasjenige in unsere Erdenentwickelung als Menschen ein, was beim Tode des Christus Jesus ausgeflossen ist und sich mit der Erdenentwickelung der Menschheit vereinigt hat. Daher ist Christus im wesentlichen auch der Führer der heutigen Menschheit zur Freiheit. [...]
Solch eine innerliche Durchdringung des Menschenwesens mit dem Christus-Prinzip, das ist es, was als ein neuer Weihnachtsgedanke aufgenommen werden muß vom Menschenwissen. Wissen muß man, wie der Mensch mit der Gleichheit aus der geistigen Welt herauskommt. Das ist etwas, was ihm mitgegeben wird, was gewissermaßen aus dem Vatergott ist. Dann kann aber die Kulmination der Brüderlichkeit in der richtigen Weise nur durch des Sohnes Hilfe und durch den mit dem Geist vereinigten Christus die Entwickelung zum Freiheitsimpuls gegen den Tod hin in die Menschheitsentwickelung eintreten.
Dieses Mitwirken des Christus-Impulses in der konkreten Menschheitsausgestaltung, das ist dasjenige, was von jetzt ab in das Bewußtsein der Seelen aufgenommen werden muß. Das allein wird richtig heilsam sein, wenn die Forderungen der Menschen immer drängender und brennender werden in bezug darauf, wie man gestalten soll die soziale Struktur. Aber in dieser sozialen Struktur leben Kinder, junge, mittlere und alte Leute, und eine soziale Struktur, die alle umfaßt, wird man nur finden können, wenn man weiß, daß Mensch nicht einfach gleich Mensch ist. Das fünfjährige Kind ist Mensch, der zwanzigjährige Jüngling, die zwanzigjährige Jungfrau ist Mensch, der vierzigjährige Mensch ist Mensch, alles ist Mensch. Aber dieses chaotische Durcheinanderwerfen, das bringt es nicht zu einer solchen Erkenntnis des Menschen, wie sie notwendig ist, um die Forderungen der Zukunft, der Gegenwart auch, zu erfüllen. Das chaotische Durcheinanderwerfen bringt es höchstens dazu, daß man meint: Mensch ist Mensch, also muß er mit zwanzig Jahren ungefähr ins Parlament gewählt werden. – Diese Dinge sind zerstörend für die wirkliche soziale Struktur. Sie beruhen darauf, daß der Mensch in der Gegenwart nicht eintreten will in die Menschenbeobachtung und das daraus hervorgehende Menschheitsbewußtsein, welches den Menschen konkret so nimmt, wie er ist. Aber konkret genommen ist die Abstraktion Mensch, Mensch, Mensch, gar nicht vorhanden, sondern es ist immer ein konkreter Mensch eines bestimmten Lebensalters mit bestimmten Impulsen. Menschenerkenntnis muß erworben werden; aber sie muß erworben werden, wenn man die Entwickelung desjenigen, was als Wesenskern im Menschen von der Geburt bis zum Tode lebt, ins Auge faßt. Das ist etwas, was auftreten muß! [...]
Gestern habe ich Sie hingewiesen auf etwas, was in die Menschheitsentwickelung eingetreten ist mit dem Christentum, indem das Christentum gewissermaßen herausgeboren ist aus der jüdischen Seele, aus dem griechischen Geist, aus dem römischen Leib. Das sind gewissermaßen die Hüllen des Christentums geworden. Aber im Christentum ist das lebendige Ich darinnen, und das kann wiederum abgesondert betrachtet werden, indem man zurückblickt auf diese Geburt des Christentums. Für die äußere Geschichtsschreibung ist diese Geburt des Christentums ziemlich chaotisch geworden. Dasjenige, was heute gewöhnlich – sei es von katholischer, sei es von protestantischer Seite – geschrieben wird über die ersten Jahrhunderte des Christentums, ist eine ziemlich chaotische Weisheit. Manches, was gelebt hat in den ersten Jahrhunderten des Christentums, ist überhaupt gerade für die Theologen der Gegenwart seiner eigentlichen Wesenheit nach entweder ganz vergessen oder zu einem Horror, könnte man sagen, geworden. Denn lesen Sie nur nach, in welche sonderbaren Konvulsionen des Intellektuellen, Konvulsionen, daß die Leute fast schon, möchte ich sagen, bis zu einer Art intellektueller Epilepsie kommen, wenn sie charakterisieren sollen dasjenige, was in den ersten Jahrhunderten des Christentums als Gnosis gelebt hat. Das ist schon so eine Art Teufel, so etwas Dämonisches, etwas, das man nur ja nicht ordentlich hereinlassen soll in das menschliche Leben, diese Gnosis! Und wenn nun gar solch ein Theologe oder sonstiger offizieller Vertreter dieses oder jenes Bekenntnisses die Anthroposophie anschuldigen kann, daß sie etwas gemein hätte mit der Gnosis, dann glaubt er schon, das Allerschlimmste gesagt zu haben.
Nun, alldem liegt aber zugrunde, daß in den ersten Jahrhunderten der Entwickelung des Christentums diese Gnosis in der Tat viel bedeutsamer in das geistige Leben der europäischen Menschheit eingriff, soweit sie dazumal für die Zivilisation in Betracht kam, als man heute glaubt. Man hat auf der einen Seite gar keine Vorstellung davon, was diese Gnosis eigentlich war, und hat auf der andern Seite, ich möchte sagen, eine geheimnisvolle Furcht. Es ist diese Gnosis für die meisten gegenwärtigen offiziellen Vertreter dieses oder jenes Religionsbekenntnisses etwas Horribles. Man kann sie aber nun wirklich betrachten ohne besondere Sympathie und Antipathie, rein als etwas Tatsächliches. Dann muß man die Sache wohl geisteswissenschaftlich studieren, weil die äußere Geschichte nicht viel bietet. Die kirchliche Entwickelung des Abendlandes hat dafür gesorgt, daß eigentlich alle historischen Denkmäler dieser Gnosis mit Stumpf und Stiel ziemlich ausgerottet wurden. Es ist nur Weniges, wie Sie wissen, und was nur ein unklares Bild von der Gnosis wiedergibt, wie die „Pistis Sophia“ und dergleichen, übriggeblieben. Sonst weiß man aus der Gnosis nur die Sätze, die von den Kirchenvätern widerlegt werden. Also im Grunde genommen kennt man die Gnosis nur aus der Schriftstellerei der Gegner, während das, was äußerlich historisch eine Vorstellung von ihr geben könnte, ziemlich mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden ist.
Nun würde aber ein verständiges Betrachten der theologischen Entwickelung des Abendlandes – nur findet ein solches verständiges Betrachten in der Regel nicht statt – die Menschen auch auf diesem Punkte bedenklicher machen. Man würde zum Beispiel, wenn man verständig die Entwickelung der christlichen Dogmatik betrachtete, darauf kommen, daß diese christliche Dogmatik doch noch in etwas anderem wurzeln müsse als in irgendeiner bloßen Willkür oder dergleichen. Im Grunde wurzeln diese Dogmen alle in der Gnosis. Nur ist das Lebendige der Gnosis abgestreift worden und die abstrakten Gedanken und Begriffshülsen sind geblieben, so daß man in den Dogmen diesen lebendigen Ursprung nicht mehr erkennt. Dieser lebendige Ursprung liegt aber eigentlich in der Gnosis. Wenn Sie die Gnosis, soweit sie geisteswissenschaftlich studiert werden kann, wirklich verfolgen, dann wirft sich einem auch ein gewisses Licht auf die wenigen Dinge, die historisch übriggelassen worden sind von den Gegnern der Gnosis. Und dann sagen Sie sich wahrscheinlich: Diese Gnosis weist hin auf die ganz ausgebreitete, sehr konkrete atavistische Hellseherweltanschauung der alten Zeiten, die in ihren Resten noch ziemlich vorhanden war in der Zeit des ersten nachatlantischen Kulturzeitraumes, im zweiten schon weniger; dann sind im dritten die letzten Reste des alten Hellsehertums über die Welt bearbeitet worden und sind eben in der Gnosis in einem wunderbaren Begriffssystem, das aber ganz außerordentlich bildlich ist, zutage getreten. Wer von diesem Punkte aus die Gnosis ansieht, wer in der Lage ist, auch nur historisch zurückzugehen zu den spärlichen Resten, die dann in der heidnischen Gnosis reichlicher als in der christlichen Literatur zutage gefördert werden können, der findet, daß in dieser Gnosis tatsächlich wunderbare Weisheitsschätze schon da waren, eine Weisheit, die sich auf eine Welt bezog, von der die Menschen gegenwärtig überhaupt nichts wissen wollen. [...]
Aber solche Bilder, solche Imaginationen, die eigentlich ganz anschaulich sind, sie waren zahlreich und umfangreich vorhanden in dem, was als Gnosis herrschte. Man hat im Alten Testament eigentlich nur Reste: diejenigen Reste, die die jüdische Überlieferung behalten hat, von einer umfangreichen Bilderweisheit, die in der alten Gnosis enthalten war, vorzugsweise im Oriente lebte, deren Strahlen aber herüberwirkten ins Abendland, und die eigentlich erst im 3., 4. Jahrhundert für das Abendland mehr oder weniger verglommen sind, dann noch nachgewirkt haben bei den Waldensern und Katharern, aber doch verglommen sind.
Wie es ausgeschaut hat in den ersten christlichen Jahrhunderten in den Seelen der Menschen, in denen nicht etwa bloß die Vorstellungen lebten, die heute bei den Katholiken leben, sondern in denen durchaus Nachklänge dieser mächtigen Bilderwelt der Gnosis lebendig waren, davon machen sich die heutigen Menschen nicht viele Begriffe. [...]
Das, was die Leute sich so ausgedacht haben als den Ursprung der Mythologie und so weiter, ist eben bloßer Irrtum. Und es wissen die Menschen heute nicht, auf was eigentlich sich die Worte, die Begriffe beziehen, von denen da gesprochen wurde. Gewisse, ich möchte sagen, deutliche Hinweise, wie die Dinge gemeint sind, können daher auch gar nicht mehr richtig berücksichtigt werden. Plato hat die Leute noch sehr genau darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch, indem er hier im physischen Leibe lebt, sich an etwas erinnert, was er vor diesem physischen Leben in der geistigen Welt erlebt hat. Aber mit diesem platonischen Gedächtniswissen wissen die heutigen Philosophen nichts anzufangen. Das sei auch so etwas, was Plato phantasiert habe – während Plato eben noch wußte, daß die griechische Seele schon so veranlagt war, aber nur die letzten Reste dieser Veranlagung noch hatte, etwas in sich zu entwickeln, was vor der Geburt in der geistigen Welt erlebt war. [...] Und die Gnosis enthielt dasjenige, was bei der Geburt mitgebracht wurde in die physische Welt herein. Und bis zu einem gewissen Grade war es den Menschen möglich bis zum ägyptisch-chaldäischen Zeitraum hin, also bis in das 8. Jahrhundert der vorchristlichen Zeitrechnung, vieles mitzubringen aus der Zeit, die zwischen Tod und neuer Geburt durchlebt wurde. Was da mitgebracht wurde und in Begriffe, in Ideen gekleidet wurde, das ist Gnosis. Das lebte dann fort im griechisch-lateinischen Zeitraum, wo es nicht mehr unmittelbar wahrgenommen wurde, wo es als ein Erbgut in Ideen noch vorhanden war, wo nur auserlesene Geister den Ursprung wußten, wie Plato, in einem geringen Grade auch Aristoteles. [...]
Die Menschen sind heute ungeheuer stolz auf ihre Denkkraft, aber sie können eigentlich mit dieser Denkkraft furchtbar wenig begreifen. Die heutige Denkkraft ist nämlich ein Gegenstand, auf den man nicht besonders stolz sein kann, denn es wird sehr wenig damit begriffen. Die Denkkraft, die zum Beispiel die Griechen entwickelten, war anderer Natur. Die war so, daß, indem man durch die Geburt durchging, die Bilder der Erlebnisse vor der Geburt gewissermaßen verlorengingen; aber jene Denkkraft blieb noch, die man vor der Geburt brauchte, um mit diesen Bildern einen vernünftigen Sinn zu verbinden. Das ist das Eigentümliche bei dem griechischen Denken, daß es nämlich ganz verschieden ist von unserem sogenannten normalen Denken. Denn dieses griechische Denken ist das, was man lernen kann an dem Verarbeiten der Imaginationen, die man gehabt hat vor der Geburt. An die Imaginationen vor der Geburt erinnerte man sich wenig, aber das Wesentliche, was da blieb, war der Scharfsinn, den man brauchte vor der Geburt, um sich zurechtzufinden in der Welt, über die man sich Imaginationen machte. Und das ist gerade die Entwickelung des vierten nachatlantischen Zeitraumes, der, wie Sie wissen, bis in das 15. nachchristliche Jahrhundert hereinging, das ist gerade das Wesentliche, daß diese Denkkraft abnimmt. Und jetzt im fünften Zeitraum müssen wir sie aus der Erdenkultur heraus wieder entwickeln. [...]
Das ist das eigentümliche Zusammenwirken in den ersten christlichen Jahrhunderten.
Das Mysterium von Golgatha bricht herein, es wird das Christentum geboren. Die abnehmende Denkkraft, die im Orient noch sehr lebendig ist, aber auch nach Griechenland herübergreift, sucht dieses Ereignis zu verstehen. Die Römer haben wenig Verständnis dafür. Diese Denkkraft aber sucht gewissermaßen das Ereignis von Golgatha zu begreifen vom Standpunkt des Denkens vor der Geburt, vom Standpunkt des Denkens in der geistigen Welt drinnen. Aber jetzt tritt etwas Eigentümliches ein: Dieses gnostische Denken, das steht nun auch dem Mysterium von Golgatha gegenüber. Sehen Sie sich die gnostischen Lehren über das Mysterium von Golgatha an, jene Lehren, die so horribel sind für den heutigen, namentlich christlichen Theologen: da wird vieles aus den alten atavistischen Lehren oder aus solchen Lehren, die eben mit dieser Denkkraft durchsetzt sind, viel Großes und Gewaltiges über den Christus gesagt, das heute ketzerisch, furchtbar ketzerisch ist. Langsam und allmählich nimmt diese Fähigkeit der gnostischen Denkkraft ab. Wir sehen sie noch bei Manes im 3. Jahrhundert, und wir sehen sie noch übergehen auf die Katharer – lauter ketzerische Leute im katholischen Sinne –: da ist eine große, gewaltige, grandiose Auffassung des Mysteriums von Golgatha. Das schmilzt merkwürdigerweise zusammen in den ersten Jahrhunderten, und man beschränkt sich darauf, möglichst wenig Denkscharfsinn auf das Mysterium von Golgatha und sein Verständnis zu verwenden. Und diese zwei Dinge liegen im Kampfe: auf der einen Seite die gnostische Lehre, mit einem mächtigen spirituellen Denken das Mysterium von Golgatha begreifen wollend, und dann das andere, rechnend mit dem, was kommen soll, rechnend mit der nicht mehr vorhandenen Denkkraft, mit dem unscharfsinnigen Denken – daher möglichst abstrakt, so wenig wie möglich gebend, um das Mysterium von Golgatha zu verstehen. Es schrumpft das Geheimnis von Golgatha als kosmisches Geheimnis fast in die paar Sätze zusammen, die den Anfang des Johannes-Evangeliums bilden: vom Logos und seinem Eintritt in die Welt und seinem Schicksal in der Welt – möglichst wenig Begriffe, denn es soll gerechnet werden mit dem, was abfallende Denkkraft ist.
Und so sehen wir, wie die gnostische Auffassung des Christentums verglimmt, wie aufkommt eine andere Auffassung des Christentums, die wenig, möglichst wenige Begriffe geltend machen will. Aber natürlich geht eines in das andere über. Solche Begriffe wie das Trinitätsdogma oder andere Dogmen werden herübergenommen aus gnostischen Anschauungen und eben hier verabstrahiert, in Begriffshülsen gebracht. [...] Sie können es studieren von Etappe zu Etappe, Sie können es studieren selbst in einem inneren Seelenkampfe, wenn Sie hinschauen auf Augustinns, der in seiner Jugend bekannt wird mit dem gnostischen Mamchäertum, aber das nicht verdauen kann und dann sich zur sogenannten Einfachheit wendet, primitive Begriffe bildet. Die Begriffe werden immer primitiver und primitiver. Nur geht bei Augustinus schon der erste Morgenstrahl desjenigen auf, was nun wiederum erworben werden muß: die Erkenntnis vom Menschen aus, vom konkreten Menschen aus. In den alten gnostischen Zeiten hat man versucht, von der Welt auszugehen und zum Menschen hinzugehen. Nunmehr muß vom Menschen ausgegangen werden und durch Menschenerkenntnis wiederum Welterkenntnis erworben werden. Vom Menschen zum Kosmos wird man künftig gehen müssen; in alten Zeiten ist man vom Kosmos zum Menschen gegangen. [...] Die Hauptsache, worauf es ankommt, ist, daß immer unfähiger und unfähiger die Menschheit sich erweist, aufzunehmen dasjenige, was aus den geistigen Welten hereinstrahlt, was in Form einer imaginativen Weisheit bei den Alten vorhanden war, was in der Gnosis wirkte, von der dann zurückblieb scharfsinnige Denkkraft, die noch bei den Griechen vorhanden war. So daß in der griechischen Weisheit vieles, wenn es auch in abstrakte Begriffe gebannt ist, so wirkt, daß man noch gewissermaßen die Ideen hatte, die eigentlich etwas verstehen können von der geistigen Welt. Das hört dann auf, man kann nichts mehr verstehen von der geistigen Welt mit den Ideen, die eben verglimmen.
Es ist das merkwürdig im Griechentum, daß der heutige Mensch sehr leicht bei den griechischen Ideen das Gefühl haben kann: sie sind eigentlich auf etwas ganz anderes anwendbar, als worauf sie angewendet werden. Die Griechen haben noch die Ideen, aber nicht mehr die Imaginationen. Besonders bei Aristoteles ist das so unendlich auffällig. Es ist sehr merkwürdig: Sie wissen, es gibt ganze Bibliotheken über Aristoteles. Alles bei Aristoteles wird so oder so ausgelegt, die Leute streiten sich selbst darüber, ob Aristoteles ein wiederholtes Erdenleben oder die Präexistenz angenommen habe. Das rührt alles davon her, weil seine Worte so oder so ausgelegt werden können, weil Aristoteles mit einem Begriffssystem arbeitete, das auf eine übersinnliche Welt anwendbar ist, aber keine Anschauung mehr von ihr hatte. Plato hatte noch viel mehr Verständnis dafür, kann daher sein Begriffssystem in jenem Sinne mehr ausarbeiten; aber Aristoteles ist schon in abstrakten Begriffen befangen und kann daher nicht mehr hinblicken auf dasjenige, worauf sich die Gedankenformen beziehen, die er ausbildet. Das ist das Eigentümliche, daß in den ersten Jahrhunderten im Kampfe liegt eine Auffassung des Mysteriums von Golgatha, die dieses Mysterium von Golgatha beleuchtet mit dem Lichte der übersinnlichen Welt, und daß dann die Notwendigkeit sich herausbildet, die zum Fanatismus wird, dieses zurückzuweisen. [...]
Wir können von Jahrhundert zu Jahrhundert, möchte ich sagen, verfolgen, wie den Leuten vorliegt das Mysterium von Golgatha als ein ungeheuer Bedeutsames, das in die Erdenentwickelung eingreift, wie ihnen aber entschwindet die Möglichkeit, mit irgendwelchen Begriffssystemen dieses Mysterium von Golgatha zu begreifen, oder überhaupt die Welt kosmisch zu begreifen. Sehen Sie auf das Werk aus dem 9. Jahrhundert, „Die Einteilung der Natur“ von Scotus Erigena. Da ist noch viel vorhanden an Bildern, wenn sie auch verabstrahiert sind, diese Bilder eines Weltenwerdens. Vier Etappen eines Weltenwerdens führt Scotus Erigena sehr schön an, aber überall ungenügende Begriffe. Man sieht, er ist nicht imstande, das Netz seiner Begriffe auszuspannen und verständlich, plausibel zu machen dasjenige, was er eigentlich zusammenfassen will. Überall reißen, möchte ich sagen, die Fäden der Begriffe ab. Das ist sehr interessant, wie sich dieses von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr zeigt, wie endlich ein Tiefstand im Spinnen von Begriffsfäden im 15. Jahrhundert eintritt. Da beginnt dann wiederum ein Aufstieg, der aber im Allerelementarsten steckenbleibt. [...]
Das ist das Gemeinsame dieses Zeitalters in der Wende des vierten zum fünften nachatlantischen Zeitraum in der Mitte des Mittelalters, daß man weder in der aufkeimenden Naturbeobachtung, noch in dem Geoffenbarten der Heilswahrheiten genügende Begriffe hat, genügende Begriffe anwenden kann. Sehen Sie, wie die damals wirkende Scholastik in diesem Falle ist: Sie hat auf der einen Seite die religiöse Offenbarung, aber sie kann keine Begriffe aus der Zeitbildung heraus gewinnen, um diese religiöse Offenbarung zu verarbeiten. Anwenden muß diese Scholastik den Aristotelismus; der muß erneuert werden. Man greift zurück zum Griechentum, zu Aristoteles, um diese Begriffe zu haben, um damit die religiösen Offenbarungen zu durchdringen. Und mit dem griechischen Verstande verarbeitet man die religiösen Offenbarungen, weil die Zeitbildung, wenn ich mich des paradoxen Ausdruckes bedienen soll, keinen Verstand hat. [...] Dann erst kommt, wie aus grauer Geistestiefe herauf wiederum bis heute noch nicht sehr weit entwickelt, ein selbständiges Denken: das kopernikanische, galileische Denken, das sich weiter ausbilden muß, um sich nun wiederum zu erheben in übersinnliche Regionen.
So kann man in die Seele, gewissermaßen in das Ich des Christentums hineinblicken, das sich nur umhüllt hat mit der jüdischen Seele, dem griechischen Geist, dem römischen Leib. Aber dieses Christentum selbst mußte seinem Ich nach Rechnung tragen dem Verglimmen des übersinnlichen Verständnisses, und daher gewissermaßen zusammenschrumpfen lassen die umfassende gnostische Weisheit, man kann schon sagen, zu dem Wenigen, was den Anfang des Johannes-Evangeliums bildet. Denn im wesentlichen besteht die Entwickelung des Christentums in dem Sieg der Johannes-Evangeliumworte über die Gnosis. Dann ist natürlich alles in Fanatismus übergegangen und die Gnosis ist mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden.
Das sind auch Dinge, die zu der Geburt des Christentums gehören. Das ist etwas, was man berücksichtigen muß, wenn man so recht den Impuls in sich aufnehmen will für das neu sich entwickeln müssende Menschheitsbewußtsein, für den neuen Weihnachtsgedanken. Wir müssen wiederum zu einer Art von Erkenntnis kommen, die sich auf das Übersinnliche bezieht. Dazu müssen wir das in das Menschenwesen hereinwirkende Übersinnliche durchschauen, damit wir es erweitern können in das Kosmische hinaus. Wir müssen Anthroposophie, Menschenweisheit erringen, die kosmisches Empfinden wiederum erzeugen kann. Und das ist der Weg. In alten Zeiten konnte der Mensch die Welt überschauen, indem er durch die Geburt mit den Erinnerungen an die Erlebnisse ins Dasein hereintrat, die er vor der Geburt gehabt hat. Da war ihm diese Welt, die ein Abbild ist der Geisteswelt, eine Antwort auf Fragen, die er mitgebracht hat durch die Geburt ins Dasein. Jetzt steht der Mensch dieser Welt gegenüber, bringt nichts mit, muß mit so primitiven Begriffen arbeiten wie denen, mit welchen etwa die heutige Naturanschauung arbeitet. Aber er muß sich wiederum hinaufarbeiten, er muß jetzt vom Menschen ausgehen, um vom Menschen zum Kosmos aufzusteigen. Im Menschen muß die Erkenntnis des Kosmos geboren werden. Dies ist auch etwas vom Weihnachtsgedanken, wie er sich in der Gegenwart ausbilden soll, damit er in die Zukunft hinein fruchtbar werden kann.
Vierter Vortrag, 27. Dezember 1918
[...] Wenn man auf die Entwickelung des Christentums eingehen will, so kann man es nicht anders – und Sie sehen das schon aus meinem Buche „Das Christentum als mystische Tatsache“ –, als indem man auch zeigt, inwiefern sich das Christentum aus dem Mysterienwesen der vorchristlichen Zeit heraus entwickelt hat. Es ist heute im allgemeinen nicht leicht, über das Mysterienwesen zu sprechen aus dem Grunde, weil im Entwickelungsgange der Menschheit – durch notwendige Gesetzmäßigkeit ist dies bedingt – gerade der Zeitpunkt, die Epoche, besser gesagt, eingetreten ist, in gewissem Sinne stecken wir noch drinnen, in der das Mysterienwesen zurückgegangen ist, in der es nicht mehr jene Rolle spielen kann, die es zum Beispiele gespielt hat in der Zeit, in der sich das Christentum, so wie aus anderem, so auch aus dem Mysterienwesen heraus entwickelt hat. [...]
Eine starke Empfindung von einer gewissen Tatsache war den Menschen jener alten Zeiten eigen, die sich überhaupt irgendwelche Rätsel der Erkenntnis vorlegten. Die Tatsache war diesen Menschen bekannt, daß – wie man sich auch mit äußeren Anschauungen bemühen mag, in das Wesen der Welt einzudringen – man in dieses Wesen der Welt durch äußere Anschauung nicht eindringen könne. Man muß, um das ganze Gewicht dieser Erkenntnis jener alten Zeiten sich vor die Seele zu rücken, sogar berücksichtigen, daß wir von Zeiten sprechen, in denen die weitaus größte Anzahl der Menschen sogar noch eine volle äußere Anschauung hatte von geistigen elementaren Tatsachen. Es war nicht so für diese Menschen, wie es heute für die große Mehrzahl der Menschen ist, daß sie nur die Impression der äußeren Sinne wahrnahmen; sie nahmen noch geistig Wesenhaftes wahr, diese Leute, gewissermaßen durch die Naturerscheinungen hindurch. Sie nahmen auch Wirkungen wahr, die sich durchaus nicht erschöpften in dem, was wir heute Naturvorgänge nennen. Dennoch, trotzdem diese Leute von der Offenbarung von elementarischen Geistern überhaupt in der Natur sprachen, waren sie doch tief davon durchdrungen, daß diese Anschauungen der äußeren Welt – und seien sie noch so hellseherisch – zum wahren Wesen dieser Welt nicht führen können, daß dieses wahre Wesen der Welt auf besonderem Wege gesucht werden müsse. Diese besonderen Wege sind dann schön zusammengefaßt in der griechischen Weltanschauung in dem Worte „ Erkenne dich selbst“.
Sucht man nach der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes „Erkenne dich selbst“, so wird man etwa das Folgende finden. Man wird finden, daß die Kraft dieses Wortes hervorgegangen ist aus der Einsicht, daß, wie weit man auch die Außenwelt überblicken mag, wie weit man auch eindringen mag in die Außenwelt, man nicht nur nicht das Wesen dieser Außenwelt selbst findet, sondern man findet auch nicht das Wesen des Menschen. Einfach mit Worten der heutigen Weltanschauung ausgesprochen, könnte man sagen: Diese Leute waren davon überzeugt, Naturanschauung kann keine Aufklärung geben über das Wesen des Menschen. Dagegen waren sie auf der andern Seite davon überzeugt, daß dieses Wesen des Menschen zusammenhängt mit der ganzen in der Welt ausgebreiteten Natur, daß also, wenn es dem Menschen gelingt, in sein eigenes Wesen einzudringen, er imstande wäre, durch die Erkenntnis seines eigenen Wesens auch über diese Welt etwas Wesenhaftes zu wissen. Aus der Welt, davon waren sie überzeugt, können sie zunächst nicht über dieses Wesen der Welt sich aufklären. Aber aus dem Wesen des Menschen, der ja ein Glied dieser Welt ist, können sie, wenn sie es erkennen können, auch über das Wesen der Welt Aufklärung gewinnen. [...]
Der Mensch wurde also zum Tore des Menschen geführt; er sollte da den Menschen selbst kennenlernen. Er lernte dasjenige, was er nur äußerlich anstarren konnte, namentlich in der Sternenwelt, in sich selbst kennen.
Er lernte in sich selbst kennen, wie er als eigentlicher Mensch nicht nur eingegliedert ist in einen irdischen Leib, der aus den Reichen der Erdennatur zusammengesetzt ist, sondern er lernte auch kennen, wie in sein ganzes menschliches Wesen eingeflossen ist dasjenige, was von der gesamten außerirdischen Sternenwelt ausgeht. Der Mensch entdeckte durch seine Selbsterkenntnis, könnte man sagen, die Natur des Sternenhimmels. Er lernte kennen, wie er von Stufe zu Stufe herabgestiegen ist, gewissermaßen von Himmel zu Himmel herabgestiegen ist, bevor er auf der Erde angelangt ist und in einem irdischen Leibe verkörpert wurde. Und er sollte beim Tore des Menschen diese Stufen – ihrer acht wurden gewöhnlich aufgeführt – wieder hinaufsteigen. Er sollte gewissermaßen während seiner Einweihung den Rückweg antreten durch diejenigen Stufen hindurch, durch die er herabgestiegen ist, bis er hier in einem physischen Leibe geboren worden ist.
Solch eine Erkenntnis kann nicht erworben werden – ich spreche jetzt immer von vorchristlicher Mysterienerkenntnis –, ohne daß das ganze Wesen des Menschen ergriffen wird. Die Vorbereitung, die der Einzuweihende in jenen Zeiten durchzumachen hatte, von ihr macht sich der heutige Mensch nicht gern einen Begriff – ich wähle meine Worte so, daß sie möglichst genau die Tatsache ausdrücken –, weil er durch diese Begriffe irritiert wird. Der Mensch möchte heute womöglich auch die Einweihung durchmachen wie etwas, was man so gelegentlich mitnimmt auf seinen Lebensweg, was man so nebenher absolviert. Er möchte sich informieren – wie man das heute nennt – über das, was zu den Erkenntnissen führt; er möchte jedenfalls, der heutige Mensch, nicht gern das erleben, was jene alten Leute, die die Einweihung suchten, erleben mußten. In seiner ganzen menschlichen Wesenheit von der Vorbereitung zur Erkenntnis ergriffen werden, ein anderer Mensch werden, das möchte er nicht gern. Diese Leute aber mußten sich dazu entschließen, ein anderer Mensch zu werden. [...] Dasjenige aber, was für den alten Menschen wesentliche Vorbereitung war, das war, daß er durchzumachen hatte jenen inneren Seelenzustand, der sich nur mit einem Worte dadurch bezeichnen läßt, daß man sagt: er mußte durchgeführt werden in stärkstem Maße durch jene Furcht, welche der Mensch immer empfindet, wenn er wahrhaftig und wirklich vor ein ihm gänzlich Unbekanntes geführt wird mit vollem Bewußtsein. Das war gerade das Wesentliche bei den alten Einweihungen, daß die Menschen wirklich am intensivsten die Empfindung in sich aufzunehmen hatten: sie stehen vor etwas, wovor sie nicht stehen können irgendwie im äußeren Leben.
Mit all den Seelenkräften, mit denen man im äußeren Leben auch heute noch wirtschaftet, läßt sich diese Seelenverfassung nicht erreichen. [...] Die Seelenverfassung, mit der man – halten Sie das fest, daß ich immer in jenem alten Sinne spreche – in jenen alten Zeiten erkennen wollte, ist eine wesentlich andere. Sie durfte nichts gemein haben mit den Seelenkräften, die für das äußere Leben dienlich sind, die mußten sozusagen aus ganz andern Regionen des Menschen hergenommen werden. Diese Regionen sind immer im Menschen vorhanden, aber der Mensch hat eine heillose Furcht, sie irgendwie zu handhaben. Geradezu voll absichtlich wurde jene Region in Tätigkeit versetzt bei dem Einzuweihenden, die gerade der moderne Mensch, der gewöhnliche profane Mensch auch in der damaligen Zeit, in sich selber mied, zu der er nicht seine Zuflucht nehmen wollte, über die er sich gern Illusionen macht, sich gern betäuben läßt. Daher wird das äußerlich – was aber mehr innerlich verstanden werden sollte – geschildert als das Erregen einer Reihe von Furchtzuständen, die allerdings durchgemacht werden mußten, weil in der Seele des Menschen nur das zur beabsichtigten Erkenntnis hingeleitet werden kann, was in solcher Region liegt, vor der sich der Mensch im gewöhnlichen äußeren Leben fürchtet. [...]
Für uns ist besonders wichtig das Ergebnis, das sich für den Menschen dann herausstellte, wenn er an dieses Tor des Menschen hingeführt worden ist. Der Mensch hörte auf, nachdem er begriffen hatte den ganzen Sinn seines Hingestelltseins vor das Tor des Menschen, sich als das Tier – verzeihen Sie den Ausdruck – auf zwei Beinen zu betrachten, das eine Zusammenfassung der übrigen Naturreiche hier auf dieser Erde ist. Er fing an, sich als ein Bürger der ganzen Welt zu betrachten, er fing an, sich zu den Himmeln zugehörig zu betrachten, die man sehen kann, und auch zu denen, die man nicht sehen kann. Er fing an, sich eins zu fühlen mit dem ganzen Kosmos, sich wirklich als Mikrokosmos zu fühlen, nicht bloß als eine kleine Erde, sondern als eine kleine Welt sich zu fühlen. Er fühlte seinen Zusammenhang mit Planeten und Fixsternen, fühlte sich also herausgeboren aus dem Weltenall. Gewissermaßen könnte man sagen, er fühlte, wie sein Wesen nicht endet bei den Fingerspitzen, den Ohrenspitzen, Zehenspitzen, sondern wie sein Wesen sich fortsetzt über diese seine von der Erde her genommene Leiblichkeit durch die unendlichen Räume, und durch diese unendlichen Räume noch hindurch in die Geistigkeit hinein. Das war das Ergebnis.
Versuchen Sie nicht, dieses Ergebnis allzusehr in einen abstrakten Begriff zu verwandeln, denn von diesem abstrakten Begriff haben Sie wirklich nicht viel. Zu sagen, der Mensch ist ein Mikrokosmos, eine kleine Welt, und da nur den abstrakten Gedanken zu haben, das ist nicht sehr viel; das ist eigentlich bloß eine Illusion, bloß eine Täuschung. Denn dasjenige, um was es sich bei diesen alten Mysterien handelte, war das unmittelbare Erlebnis. Wirklich hatte der Einzuweihende erlebt beim Tor des Menschen, wie er verwandt ist mit Merkur, Mars mit der Sonne, mit dem Jupiter, mit dem Monde. Wirklich hatte er erlebt, daß jene Hieroglyphen, die im Weltenraume stehen und die von der Sonne durchlaufen werden – scheinbar, wie wir heute selbstverständlich sagen –, die Bilder des Tierkreises mit seiner eigenen Existenz etwas zu tun haben. Erst dieses konkrete Wissen, das auf Erlebnis beruhte, machte dasjenige aus, was ich jetzt als Ergebnis bezeichne. Nicht hat man dasselbe, wenn man diese Dinge heute übersetzt in abstrakte Begriffe. Wenn man heute die alten Erlebnisse in den abstrakten Begriff übersetzt: dieser Stern hat diesen Einfluß, jener Stern hat jenen Einfluß und so weiter, so sind das eben abstrakte Begriffe. Für jene alten Zeiten handelte es sich um das unmittelbare Erlebnis, um das wirkliche Hinaufsteigen durch die verschiedenen Stufen, durch die der Mensch vorgeburtlich heruntergestiegen ist. Erst dann, wenn der Mensch dieses lebendige Bewußtsein hatte, wenn er aus dem Erlebnis wußte, daß er ein Mikrokosmos ist, erst dann fühlte man ihn reif, eine zweite Stufe, einen zweiten Grad aufzusteigen, der damals der eigentliche Grad der Selbsterkenntnis war. Da konnte der Mensch erleben, was er selbst ist.
Dasjenige also, was ich vorhin charakterisiert habe als das Wesen, das auch das Wesen der Welt ist, war aber für den Menschen der damaligen Zeit nur im Menschen selbst zu finden; daher mußte man, wollte man im Weltenall Einlaß finden, durch das Tor des Menschen gehen. Innerhalb dieses zweiten Grades kam gewissermaßen alles in Bewegung, was im ersten Grade wie ein erlebtes Wissen erfahren worden war. Dieses In-Bewegung-Kommen – es ist heute sogar noch schwierig, eine Vorstellung zu geben von diesem In-Bewegung-Kommen von Erlebnissen. Man lernte im zweiten Grade nicht nur kennen, wie man zugeteilt ist dem Makrokosmos, sondern man wurde eingesponnen in die ganze Bewegung des Makrokosmos. Man ging gewissermaßen mit der Sonne durch den Tierkreis, man lernte kennen dadurch, daß man mit der Sonne durch den Tierkreis ging, auch den ganzen Weg, welchen irgendein äußerer Eindruck auf den Menschen selber macht. Der Mensch kennt, wenn er der Außenwelt mit dem gewöhnlichen Erkenntnisvermögen gegenübersteht, nur den Anfang eines sehr ausführlichen Prozesses. Sie sehen eine Farbe, machen sich die Vorstellung der Farbe, behalten vielleicht diese Vorstellung im Gedächtnis, in der Erinnerung, aber weiter geht es nicht. Das sind drei Stufen. Wenn man das als etwas Vollendetes betrachten würde, so wäre das gerade so, wie wenn man den Tageslauf, der zwölf Stunden mit der Sonne hat, nur drei Stunden lang betrachten wollte. Denn alles dasjenige, was der Mensch als eine Impression von außen aufnimmt, was er eigentlich höchstens bis zu der Gedächtnisvorstellung verfolgt, das macht in ihm von der Gedächtnisvorstellung an einen weiteren Prozeß durch, durch weitere neun Stufen. [...] So lernte der Mensch sich selbst kennen. Er lernte aber damit auch die Geheimnisse der großen Welt kennen. Lernte er im ersten Grade kennen, wie er drinnensteht in der Welt, so lernte er im zweiten Grade kennen, wie er sich bewegt innerhalb der Welt.
Ohne diese Erkenntnisse als Lebenserkenntnisse ist nicht dasjenige zu erreichen, was jeder in den dritten Grad, in die dritte Stufe Einzuweihende in den alten Zeiten wirklich durchzumachen hatte. Wir leben eben in einer Epoche, in der es dem Menschen natürlich ist, alles Dreigliedrige, wenn ich im Mysteriensinne sprechen soll, überhaupt zu leugnen, überhaupt aus dem menschlichen Bewußtsein alles Dreigliedrige auszulöschen. Denn der Mensch, ob er es nun zugibt oder nicht, pocht heute eigentlich auf die ganze Welt als in Raum und Zeit beschlossen. [...]
Das wird eben dem heutigen Menschen ungeheuer schwierig, sich vorzustellen, daß von einem gewissen Punkte des Erkenntnisweges aus der Mensch nicht nur in andere Raumesteile und in andere Zeiten kommt, sondern aus Zeit und Raum herauskommt, daß erst dann eigentlich das wirkliche Übersinnliche beginnt, wenn man nicht nur die Sinneseindrücke und ihre zeitlichen Prozesse verläßt, sondern Raum und Zeit selbst, wenn man in ganz andere Daseinsbedingungen eintritt als in die Daseinsbedingungen, die Raum und Zeit umschließen. [...]
Diese dritte Stufe, dieser dritte Grad wurde mit einem Worte bezeichnet, das man etwa in deutscher Sprache so ausdrücken kann: Der Einzuweihende ging durch das „Tor des Todes“. Das heißt, er wußte sich jetzt wirklich außerhalb des Raumes, in dem sich das leibliche Menschenleben zwischen Geburt und Tod abspielt, und außerhalb der Zeit, in welcher dieses Menschenleben verläuft. Er wußte sich, jenseits von Zeit und Raum, im Dauernden zu bewegen. Er lernte erkennen dasjenige, was schon in die Sinneswelt hereinragt, wie ich öfter jetzt betont habe, aber mit dem, womit es in die Sinneswelt hereinragt, nicht innerhalb dieser Sinnenwelt begriffen werden kann, weil es schon Geistiges enthält. Er lernte sich befassen mit dem Tode, mit alldem, was mit dem Tode zusammenhängt. Das war im wesentlichen der Inhalt dieses dritten Grades. [...] Man wußte jetzt einen Begriff zu verbinden mit dem Worte: außerhalb seines Leibes zu sein, wobei dieses „außerhalb“ eben dann nicht räumlich aufgefaßt worden ist, sondern überräumlich aufzufassen war. Also man wußte damit einen erlebbaren Begriff zu verbinden. Da war es auch, wo die Menschen ablegten den Glauben an die gewöhnliche profane Religion, die die Religion ihres Volkes war. Da legten die Menschen vor allen Dingen ab am Tore des Todes die Vorstellung: Du stehst hier auf der Erde, deine Götter oder dein Gott sind irgendwo außer dir. – Da wußte sich der Mensch einig mit seinem Gotte, da unterschied sich der Mensch nicht mehr von seinem Gotte, da wußte er sich mit ihm völlig verbunden. Es war im wesentlichen erlebte Unsterblichkeit, die dieser dritte Grad dem Menschen brachte. Es war erlebte Unsterblichkeit dadurch, daß der Mensch dasjenige, was sterblich an ihm ist, verlassen konnte, daß er sich trennen konnte von demjenigen, was an ihm sterblich ist.
Aber vergessen wir nicht über diesem Ergebnis den ganzen Weg. Der ganze Weg bestand darin, daß der Mensch sich selbst erkennen gelernt hat. Jetzt war der Mensch nicht mehr in sich selbst, jetzt war er in der Außenwelt. Er hatte das mit in die Außenwelt hineingetragen, was er durch das Eindringen in sich selbst kennengelernt hat. Das ist das Wesentliche dieser vorchristlichen Einweihung, daß der Mensch in sich selbst ging, um in sich selbst etwas zu finden, was er dann mitnahm in die Außenwelt und was ihm in der Außenwelt, indem er sich von sich selbst getrennt hat, erst in der richtigen Weise aufleuchtete, so daß er sich dann mit dem Wesen der Außenwelt verbunden fühlte. Er ging in sich, um aus sich herauszugehen. Er ging in sich, weil er in sich etwas finden konnte von dem Wesen der Welt, was er nur in sich finden konnte, was er draußen nicht hätte finden können, was er aber nur draußen wirklich erleben konnte. [...]
Dann, nachdem der Mensch den außerordentlich schwierigen dritten Grad durchgemacht hatte, war er ohne weiteres reif für den vierten Grad. Und man kann sagen: Einfach dadurch, daß er eine Zeitlang praktiziert hatte, zu leben im dritten Grade, war er reif für den vierten Grad in einer Weise, wie man es vom heutigen Menschen sehr schwer behaupten könnte. Denn der heutige Mensch wird – das liegt einfach in der Zeitepoche – nicht eigentlich reif innerhalb des dritten Grades. Er kommt anders nicht leicht aus der Raumes- und Zeitenvorstellung heraus als durch gewisse Kraftvorstellungen, die aber gesucht werden müssen auf andern Wegen – darüber werde ich in den nächsten Tagen sprechen –, als sie in alten Zeiten verfolgt wurden. Mit dem, was der Mensch aus sich heraus nun in die Außenwelt hineingetragen hatte, wurde er zum Bewußtsein dieses vierten Grades erhoben, und er wurde das, was man in späteren Sprachen übertragen und übersetzen konnte mit den Worten: ein „Christophor“, ein Christus-Träger. [...]
Nehmen wir nun einmal, um uns in dieser Betrachtung weiterzuhelfen, hypothetisch an, es wäre auf der Erde das Mysterium von Golgatha nicht geschehen, die Erdenentwickelung wäre bis zum heutigen Tage verflossen, ohne daß das Mysterium von Golgatha geschehen wäre. [...] Was wäre für dasjenige, was da durch die Mysterien in alten Zeiten am Menschen beobachtet worden ist eingetreten?
[...] Dasjenige, was der Mensch in der alten Seelenverfassung noch in sich gefunden hat als mit dem Wesen der Welt zusammenhängend, was er nicht finden konnte in der äußeren Welt, was er eben auf dem Wege der Selbsterkenntnis suchen mußte, um es dann als Welterkenntnis zu haben, jenes innere menschliche Wesenszentrum, das er dann mitnehmen konnte in die Außenwelt, um zum Christophor zu werden, das findet der Mensch heute nicht in sich, das ist nicht mehr da. Das ist wichtig, daß man das ins Auge faßt! [...] Das ist verlorengegangen, ist aus der Menschenwesenheit heraus verschwunden. Die menschliche Organisation ist heute eine andere, als sie in alten Zeiten war.
Wenn wir die Sache anders aussprechen, so können wir so sagen: Der Mensch fand, wenn auch dunkel, wenn auch nicht in vollbewußten Begriffen, in jenen alten Zeiten, indem er in sich hineinging, doch sein Ich. Das widerspricht nicht dem, daß man sagt, daß das Ich in einer gewissen Weise durch das Christentum erst geboren worden ist. Deshalb sage ich: Wenn auch dunkel, wenn auch nicht in vollbewußten Begriffen, der Mensch fand doch sein Ich. Es war als aktives Bewußtsein erst durch das Christentum geboren worden, aber der Mensch fand sein Ich. Denn von diesem Ich, von diesem wirklichen, wahren Ich ist im Menschen der damaligen Zeit etwas zurückgeblieben, nachdem er geboren worden ist. Sie werden sagen: Soll nun jetzt etwa der Mensch heute nicht sein Ich finden? – Nein, er findet es auch nicht: das wirkliche Ich macht einen Stillstand, indem wir geboren werden. Dasjenige, was wir erleben als unser Ich, ist nur ein Spiegelbild des Ich. Das ist nur etwas, was das vorgeburtliche Ich in uns abspiegelt. Wir erleben in der Tat nur ein Spiegelbild des Ich, etwas vom wirklichen Ich erleben wir nur ganz indirekt. Das, wovon die Psychologen, die sogenannten Seelenforscher als vom Ich reden, ist nur ein Spiegelbild; das verhält sich zum wirklichen Ich so, wie das Bild, das Sie von sich im Spiegel sehen, sich zu Ihnen verhält. Aber dieses wirkliche Ich, das während der Zeit des atavistischen Hellsehens und bis in die christlichen Zeiten herein gefunden werden konnte, ist heute nicht in dem Menschen, der auf seine eigene Wesenheit – insofern die eigene Wesenheit verbunden ist mit dem Leibe – hinschaut. Nur indirekt erlebt der Mensch etwas von seinem Ich, dann, wenn er mit andern Menschen in Beziehung tritt und sich das Karma abspielt. [...]
Das ist gerade das Charakteristische des Zeitalters der Bewußtseinsseele, daß der Mensch sein Ich nur als Spiegelbild erhält, damit er in das Zeitalter des Geistselbstes hineinlebt und das Ich anders gestaltet, in neuer Gestalt wieder erleben kann. Nur wird er es anders erleben, als er es heute gerne möchte! Heute möchte der Mensch sein Ich, das er nur als Spiegelbild erlebt, alles eher nennen als das, was sich ihm im zukünftigen sechsten nachatlantischen Zeitraum als solches präsentieren wird. Jene mystischen Anwandlungen, wie sie heute die Menschen noch haben: durch Hineinbrüten in ihr Inneres das wahre Ich zu finden – das sie sogar das göttliche Ich nennen! –, solche Anwandlungen werden die Menschen in der Zukunft seltener haben. Aber gewöhnen werden sie sich müssen, dieses Ich nur in der Außenwelt zu sehen. Das Sonderbare wird eintreten, daß jeder andere, der uns begegnet und der etwas mit uns zu tun hat, mehr mit unserem Ich zu tun haben wird als dasjenige, was da in der Haut eingeschlossen ist. So steuert der Mensch auf das soziale Zeitalter zu, daß er sich in Zukunft sagen wird: Mein Selbst ist bei all denen, die mir da draußen begegnen; am wenigsten ist es da drinnen. Ich bekomme, indem ich als physischer Mensch zwischen Geburt und Tod lebe, mein Selbst von allem Möglichen, nur nicht von dem, was da in meiner Haut eingeschlossen ist.
Dieses, was so paradox erscheint, es bereitet sich heute indirekt vor dadurch, daß die Menschen ein wenig empfinden lernen, wie sie in dem, was sie ihr Ich nennen, in diesem Spiegelbild drinnen eigentlich furchtbar wenig sind. Ich habe neulich einmal davon gesprochen, wie man dadurch auf die Wahrheit kommen kann, daß man sich seine Biographie, aber sachlich, vor Augen führt und sich fragt, was man eigentlich dem und jenem Menschen verdankt von seiner Geburt ab. Man wird sich allmählich so langsam auflösen in die Einflüsse, die von andern kommen; man wird außerordentlich wenig finden in dem, was man als sein eigentliches Ich zu betrachten hat, das, wie gesagt, doch nur ein Spiegelbild ist. Etwas grotesk gesprochen, kann man sagen: In jenen Zeiten, in denen das Mysterium von Golgatha sich abgespielt hat, ist der Mensch ausgehöhlt worden, ist er hohl geworden. Das ist das Bedeutsame, daß man erkennen lernt das Mysterium von Golgatha als Impuls, indem man es in seiner Wechselbeziehung zu diesem Hohlwerden des Menschen betrachtet. Der Mensch muß, wenn er von der Wirklichkeit spricht, sich klar sein, daß der Platz irgendwie ausgefüllt sein muß, den er früher hat noch finden können, sagen wir, in den ägyptisch-chaldäischen Königsmysterien. Der wurde damals noch etwas ausgefüllt von dem wirklichen Ich, das heute haltmacht, wenn der Mensch geboren wird, oder wenigstens in den ersten Kindheitsjahren haltmacht, es scheint noch etwas herein in die ersten Kindheitsjahre. Und diesen Platz, ihn nahm der Christus-Impuls ein. [...]
Also in dem Bedeutungsloswerden der alten Mysterienprinzipien zeigt sich die große Bedeutung des Christus-Mysteriums, von dem ich gesagt habe – Sie können das in meinem Buche „Das Christentum als mystische Tatsache“ nachlesen –: Dasjenige, was früher in den Tiefen der Mysterien erlebt worden ist, was den Menschen zum Christophor gemacht hat, ist hinausgestellt worden in den großen Plan der Weltgeschichte und vollzieht sich als eine äußere Tatsache. Das ist Tatsache. Daraus werden Sie aber auch ersehen, daß das Einweihungsprinzip selber seit jenen alten Zeiten eine Änderung erfahren mußte, eine Wandlung durchmachen mußte, denn dasjenige, was sich die alten Mysterien als das im Menschen zu Suchende vorgesetzt haben, das kann heute nicht gefunden werden. [...]
Das ist eben eingetreten im Laufe der Entwickelung der Erde, daß der Mensch die Möglichkeit verloren hat, in sich selber jene Wesenheit zu suchen, die dann zum Licht der Weltwesenheit wurde. Heute findet der Mensch einen Hohlraum in sich, wenn er auf dieselbe Weise sucht.
Aber im Weltengang ist es auch nicht bedeutungslos, wenn man etwas verliert: Man wird dadurch ein anderer. Man trägt – wenn ich das weiter ausdehne, was ich eben besprochen habe – sich als Mensch durch die Welt mit jenem Hohlraum. Das gibt einem aber wiederum besondere Fähigkeiten. Und so wahr es ist, daß gewisse alte Fähigkeiten verlorengegangen sind, so wahr ist es aber auch, daß gerade durch den Verlust jener Fähigkeiten neue erworben worden sind, die nun wiederum so ausgebildet werden können wie die alten Fähigkeiten im alten Sinne. Das heißt mit andern Worten: Der Weg, der gemacht worden ist durch das Tor des Menschen bis zum Tor des Todes, der muß heute in anderer Weise gemacht werden. Das hängt zusammen mit dem, was ich gesagt habe: Die Geister der Persönlichkeit nehmen einen neuen Charakter an. Mit diesem neuen Charakter der Geister der Persönlichkeit hängt im wesentlichen zusammen die neue Initiation.
Es wurde gewissermaßen zuerst eine Pause gemacht in der Menschheitsentwickelung mit der Initiation. Im 19. Jahrhundert namentlich war der Mensch weit von ihr weggerückt. Erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts kam wiederum die Möglichkeit des Nahegerücktwerdens der wirklichen lebendigen Initiation. Und diese wirkliche lebendige Initiation bereitet sich vor, aber sie wird in einer ganz andern Weise verlaufen, als jene frühere verlaufen ist, die ich heute – um Ihnen eine Vorbereitung zu geben zum tieferen Verständnis des Christentums – von einem gewissen Gesichtspunkte aus geschildert habe. Dasjenige, was damals ganz vergeblich war: in der sich ausbreitenden äußeren Welt irgend etwas Wesenhaftes zu suchen, das wird gerade dadurch möglich, daß wir innerlich so hohl werden. Und das wird immer mehr eintreten und ist bis zu einem gewissen Grade heute schon möglich und kann heute schon erreicht werden durch solche Erkenntniswege, die geschildert werden in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“. Dasjenige, was heute zu erlangen möglich ist, das ist, in einer gewissen Weise mit denselben Seelenfähigkeiten, wenn man sie nur richtig anwendet, mit denen man in die äußere Welt hineinsieht, tiefer in diese äußere Welt hineinzuschauen. Die Naturwissenschaft tut das nicht, sie will nur bis zu Gesetzen vordringen, sogenannten Naturgesetzen. Diese Naturgesetze sind ja Abstraktionen. [...] Solch eine Persönlichkeit wie Goethe sucht über die Naturgesetze hinauszudringen. Und das ist das Bemerkenswerte an Goethe und an dem Goetheanismus, das, was so wenig verstanden wird: Goethe suchte über die Naturgesetze hinauszudringen zu der Naturgestaltung, zu den Formen. Daher begründete er gerade eine Morphologie im höheren Sinne, eine spirituelle Morphologie. Er versuchte nicht das festzuhalten, was die äußeren Sinne geben, sondern das Sich-Formende, dasjenige, was die äußeren Sinne nicht geben, was sich aber versteckt in den Formen. So daß wir heute wirklich von etwas Parallelem sprechen können zum Tor des Menschen: Wir können sprechen vom „Tor der Naturformen“. Ich möchte sagen, die Morgenröte war schon gegeben, aber in einer etwas noch dunklen Art, als aus der chaotisch mittelalterlichen Mystik heraus solch ein Mann wie Jakob Böhme, wenn auch in seiner Sprache, von den sieben Naturformen sprach. Aber es ist eben nicht sehr deutlich und nicht sehr umfassend bei Jakob Böhme. Dasjenige aber, wozu die moderne Initiation immer mehr kommen muß, das sind diese Formen, die sich in den äußeren Sinnesformen als über das Räumlich-Zeitliche hinausgehend zeigen. [...]
Ich habe Ihnen in Betrachtungen, die wir angestellt haben, gesagt: In gerader Fortsetzung von dieser Goetheschen Pflanzen- und Tierweltmetamorphose, die Goethe nur in elementarer Weise ausgebildet hat, liegt die wahre Durchdringung der wiederholten Erdenleben. Goethe betrachtet das farbige Blütenblatt als umgewandeltes Pflanzenblatt, er betrachtet den Schädelknochen als umgewandelten Rückenwirbelknochen. Es war ein Anfang. Wenn man nach derselben Betrachtungsweise ihn fortsetzt, kommt man nur bis zu den Formen, aber eben bis an das Tor der Naturformen, kommt zu imaginativer Einsicht in diese Naturformen. Und da kommt man dazu, wirklich nicht bloß auf die Schädelknochen hinzusehen, die umgewandelte Wirbelknochen sind, sondern auf den ganzen menschlichen Schädel. Man kommt darauf, daß dieser ganze menschliche Kopf die umgewandelte Menschengestalt ist aus dem vorherigen Leben, nur kopflos gedacht. Das, was Sie heute an sich tragen außer dem Kopf, der übrige Körper, geht natürlich seiner Materie nach in die Erde über; aber das Übersinnliche der Formen, das geht durch das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, und das ist Kopf der nächsten Inkarnation. [...]
An Materie brauchen Sie gar nicht zu denken. Sie haben auch jetzt nicht dieselbe Materie, die Sie vor sieben Jahren in sich getragen haben. Sie brauchen nur an die sich verwandelnde, an die verwandelte Form zu denken. Es ist ebenso eine erste Stufe, wie das Tor des Menschen im alten Sinne eine erste Stufe war: es ist das Tor der Formen. Und indem man erfaßt hat lebendig dieses Tor der Formen, kann man eintreten in das „Tor des Lebens“, wo man es nicht mehr mit Formen zu tun hat, sondern mit Lebensstufen, mit Lebenselementen. Das würde demjenigen entsprechen, was ich vorhin bei der alten ägyptischen Königseinweihung charakterisiert habe als den zweiten Grad. Und das Dritte ist gleichbedeutend mit dem Eintreten in das Tor des Todes: es ist die Initiation in die verschiedenen Bewußtseine. Der Mensch kennt ja zwischen Geburt und Tod nur das eine Bewußtsein; doch dieses ist nur eines unter zunächst sieben. Aber mit diesen verschiedenen Bewußtseinen muß man rechnen, wenn man die Welt überhaupt verstehen will. Bedenken Sie doch nur, daß Sie die Skizze haben von diesen drei aufeinanderfolgenden Dingen in meiner „Geheimwissenschaft im Umriß“. Ich habe sie für die Weltentwickelung gegeben. Sie haben da die verschiedenen Bewußtseinsformen Saturn, Sonne, Mond, Erde und so weiter, die sieben Bewußtseinsformen. Der Mensch geht in jeder dieser Stufen, von denen eine die Erde ist, durch ein Bewußtsein hindurch. Er absolviert sieben verschiedene Bewußtseinsstufen, auf jeder dieser Bewußtseinsstufen, also Saturn, Sonne und so weiter, sieben Lebensstufen und in jeder Lebensstufe sieben Stufen der Form. Das, was wir beschreiben in unseren Kulturstufen als altindische; alt-persische, ägyptisch-chaldäische, griechisch-lateinische Stufe, unsere jetzige, das sind auch Formen. Da leben wir im Tor der Formen. [...]
So daß die alte Initiation eben im wesentlichen von der Menschenerkenntnis zur Welterkenntnis ging, die neue von der Welterkenntnis zurückgeht zur Menschenerkenntnis.
Aber das ist vom Initiationsstandpunkt aus charakterisiert. Da stehen Sie gewissermaßen auf der einen Seite; auf der andern Seite zeigt sich Ihnen das Spiegelbild davon. Sie müssen, um diese Welterkenntnis zu erlangen, eben von einer neuen Menschenerkenntnis erst ausgehen. [...] Die alte Zeit kam durch ihre Menschenerkenntnis zu einem Ergebnis, das eben Welterkenntnis war. Theoretisch gesprochen, könnte man sagen: Der Mensch machte etwas als Lebensprozeß durch, und dann, wenn er fertig war, war das Welterkenntnis; er ging dadurch in seinem Bewußtsein von der Welterkenntnis aus und konnte dann wiederum auf den Menschen zurückschließen. Heute, wenn Sie von dieser Welterkenntnis durch Form, Leben und Bewußtsein ausgehen, erlangen Sie eigentlich dadurch – sehen Sie es in meiner „Geheimwissenschaft“ an – im wesentlichen Menschenerkenntnis. Es verschwindet eigentlich alles übrige in der Naturerkenntnis: der Mensch wird einem verständlich. Und ebenso wird einem, wie ich Ihnen gezeigt habe, der Mensch erst verständlich als dreigliedriges Wesen – als Sinnes-Nervenwesen, als rhythmisches Wesen, als Stoffwechselwesen – dadurch, daß man diese Welterkenntnis erwirbt. Und von dem Menschen aus kann man dann wiederum zur Welterkenntnis übergehen.
Das sind keine Widersprüche. Solches werden Sie auf Schritt und Tritt finden, wenn Sie in die Wahrheitswelt eintreten wollen. [...] Dem Leben nach mußte der alte Mensch von der Welt zum Menschen gehen, der neue Mensch vom Menschen zur Welt; der Erkenntnis nach ging der alte Mensch vom Menschen zur Welt, der neue Mensch von der Welt zum Menschen. Das ist dasjenige, was notwendig ist. Das ist wiederum für den modernen Menschen etwas Unbequemes, aber ein jegliches muß heute den Durchgang gewinnen durch das, was das Schwanken ist, durch jene Unsicherheit! Bedenken Sie nur, in dem zweiten Grade der ägyptischen Königseinweihung kam der Mensch in das Schwanken hinein, in die Drehung. Heute muß der Mensch, wenn er wirklich durch die Formen hineinstrebt in das Leben, sich in jene Möglichkeit versetzen lassen, wo er sich sagt: Und wenn ich mir noch so schöne Begriffe durch dieses oder jenes hergebrachte Bekenntnis geben lasse, diese Begriffe mögen alle recht schön sein, aber ich komme doch durch sie nicht an die Wirklichkeit heran, wenn ich nicht auch den entgegengesetzten Begriff mir hinstellen kann.
Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß das Mysterium von Golgatha selbst notwendig macht, die beiden entgegengesetzten Begriffe zu haben, indem Sie sich sagen: Ganz gewiß war es eine schlechte Tat, wenn Menschen den Gott, der in einem Menschen verkörpert ist, morden. Aber ganz gewiß war diese Tat der Ausgangspunkt des Christentums. Denn, wäre der Mord auf Golgatha nicht geschehen, so gäbe es das Christentum seiner Realität nach nicht. Dieses Paradoxon einer übersinnlichen Tatsache gegenüber kann ein Musterbeispiel sein für manche Paradoxa, mit denen Sie sich abfinden müssen, wenn Sie wirklich hinüberkommen wollen in das Begreifen der übersinnlichen Welt, denn ohne das läßt sich nicht hinüberkommen. Früher brauchte man die Furcht, heute braucht man das Überschreiten jenes Abgrundes, der dem Menschen vorkommt wie das Stehen ohne einen Schwerpunkt im Weltenall. Aber durch das muß durchgegangen werden, damit nicht mehr auf Begriffe geschworen wird, sondern damit Begriffe als etwas angesehen werden, was die Dinge von verschiedenen Seiten beleuchtet, wie die Bilder, die man von einem Baum aufnimmt, der von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. [...]
Fünfter Vortrag, 28. Dezember 1918
[...] Wir haben gestern versucht zu zeigen, wie namentlich das, was man das Zentrum des menschlichen Seelenlebens nennen kann, das eigentliche Ich-Bewußtsein, vor einer intimeren Betrachtung sich ganz anders zeigt in älteren Zeiten als in neueren Zeiten, in unserer Gegenwart. Und ich habe versucht, diesen Unterschied dadurch zu charakterisieren, daß ich sagte: Für ältere Zeiten, namentlich also für vorchristliche Zeiten, haben wir es mit einem Selbstbewußtsein beim Menschen zu tun, welches noch reale Elemente in sich enthält, Wirklichkeitselemente, während in diesem unserem Zeitraum, der im wesentlichen die Entwickelung der Bewußtseinsseele darstellt, wir es bei dem, was der Mensch bewußt sein Ich nennt, nur zu tun haben mit einem Spiegelbilde des wahren Ich. [...]
Nun habe ich vor einiger Zeit auf die objektive Tatsache hingewiesen, die diesem ganzen Werden zugrunde liegt, hingewiesen darauf, daß innerhalb der Menschheitsentwickelung, wenn man sich fragte: Welche Impulse, welche Kräfte sind im Werden der Erde tätig? – verfolgt werden konnten diejenigen göttlich-geistigen Wesenheiten – man könnte ebensogut von irgend etwas anderem her die Bezeichnung wählen –, welche die Bibel die Schöpfer, Elohim nennt. Wir nennen sie die Geister der Form. Aber ich habe von den verschiedensten Gesichtspunkten aus darauf hingewiesen, daß diese Geister der Form – wenn man den Ausdruck brauchen darf, trotzdem er etwas trivial klingt – ihre Rolle bis zu einem gewissen Grade für die wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit eigentlich ausgespielt haben, und daß andere geistige Wesenheiten eintreten in die Rolle der Schöpfer.
[...] Für andere Gesichtspunkte mögen andere Umwandlungen bedeutungsvoller sein, für das innere Seelenleben des Menschen ist die Umwandlung, auf die ich hier hindeute, gegen die nächste Zukunft zu die bedeutungsschwerste in historischen Zeiten.
Nun wollen wir sie heute von einem etwas andern Gesichtspunkte aus noch betrachten, als wir das gestern und in den verflossenen Tagen getan haben. Wenn wir die Seelenverfassung des alten Griechentums, des alten Ägyptertums, der alten chaldäischen Zeit genauer ins Auge fassen, dann zeigt sich, daß diese Seelenverfassung vor allen Dingen nicht eine solche Zweigliederung zeigte wie die Seelenverfassung des heutigen Menschen. [...] Das Vorstellungs- und das Willensleben waren in früheren Zeiten viel enger miteinander verbunden als heute, und sie werden sich immer mehr und mehr spalten. Und das Vorstellungsleben, das wir einzig und allein mit dem Bewußtsein heute erfassen können – mit dem gewöhnlichen, nicht mit dem hellseherischen Bewußtsein –, das ist eben nur ein Spiegelbild der Wirklichkeit, das bietet ein bloßes Spiegelbild einer Wirklichkeit, und darin ist auch dasjenige, was der Mensch von seinem Ich erfaßt, zunächst enthalten. Dagegen erlebt der Mensch sein Willensleben wie im Schlafe. Was eigentlich im Willen pulsiert, das ist für den Menschen so unbewußt, wie die Tatsachen des Schlafes für ihn unbewußt sind. Aber so, wie der Mensch weiß, daß er geschlafen hat, trotzdem er während des Schlafes nichts von sich weiß, so weiß er auch mit dem gewöhnlichen Bewußtsein vom Willen, trotzdem er eigentlich alles Gewollte verschläft. [...] Der Mensch täuscht sich, wenn er glaubt, daß er von seinem Willen etwas anderes weiß, als was er vom Schlaf weiß. Man weiß im Bewußtsein vom Vorstellungsleben, und hinein in das Vorstellungsleben schieben sich schwarze Flecken: das sind die Willensimpulse. Aber der Mensch erlebt die Willensimpulse so wenig, wie er die Schlafzustände erlebt.
Nun war für das ältere, das vorchristliche Bewußtsein, die Dunkelheit des Willens nicht so groß, wie sie heute ist. Der Mensch schlief mit Bezug auf seinen Willen nicht so stark; der instinktive Wille wirkte, er war durchleuchtet vom Vorstellungsleben. Die Vorstellungen waren dadurch nicht solche bloße Spiegelbilder, wie sie heute sind. Heute sind sie Spiegelbilder. So daß der Mensch auf einer Seite das Vorstellungsleben hat, das eigentlich Spiegelbild der Wirklichkeit ist, und eine Art durch das bewußte Leben hindurchgehenden Schlafzustands: das Willensleben. [...]
Nun kann man die Frage aufwerfen: Was liegt eigentlich diesem Spalten des menschlichen Willens- und Vorstellungswesens, der beiden Pole, in das Vorstellungsleben, das nur Spiegelbild geworden ist, und in das in die unbewußten Regionen hinuntergedrängte Willensleben, das verschlafen wird, was liegt denn dem eigentlich zugrunde? Dem liegt zugrunde, daß sich heraufringt im Menschenwerden in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit der Impuls der Freiheit.
[...] Die Geister der Persönlichkeit treten an die Stelle der Geister der Form. Subjektiv geht einher mit dieser äußeren objektiven Entwickelungstatsache das Herausringen des Freiheitsimpulses aus der menschlichen Seele. Wie auch die Ereignisse äußerlich sich abspielen mögen, was auch noch alles chaotisch geschehen mag, dasjenige, was da ringt schon in diesem Geschehen in der Gegenwart und der nächsten Zukunft entgegen, das ist, daß der Mensch gerade im Zeitalter der Bewußtseinsseele, in dem wir seit dem 15. Jahrhundert drinnen leben, sich zum Darleben des Freiheitsimpulses durchringt. Verständnis des Freiheitsimpulses, das ist dasjenige, was gesucht wird von der modernen Menschheit und immer mehr gesucht werden wird.
Aber diese Freiheit, sie kann nur als ein Impuls sich aus der menschlichen Seele herausringen, wenn diese menschliche Seele dazu die Möglichkeit hat. In älteren Zeiten war die Freiheit in ihrem vollen Umfange nicht möglich aus dem einfachen Grunde, weil vor dem Zeitalter der Bewußtseinsseele in jeder Beziehung das Instinktive im Menschen gewirkt hat. Wenn der Mensch in sein Bewußtsein nur dasjenige aufnehmen kann, was im Grunde genommen zwar aus einer Wirklichkeit, aber einer instinktiv bewußten Wirklichkeit, in sein Bewußtsein heraufspielt, kann er nicht frei sein. Die Naturwissenschaft rechnet heute noch immer mit der Unfreiheit, mit der innerlichen Notwendigkeit, weil sie diese Tatsache nicht kennt, daß in unserem Bewußtsein, wie es sich heute entwickelt, in dem Bewußtsein, das wir gerade durch die Naturwissenschaft ausbilden können – die naturwissenschaftlichen Begriffe zeigen dieses Spiegelbildbewußtsein sogar im stärksten Maße –, keine realen Impulse leben; da lebt nichts, was etwa nur heraufstößt aus unserer eigenen körperlichen oder seelischen oder geistigen Realität. In unserem Bewußtsein, besonders wenn wir rein ausbilden das, was ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ genannt habe das reine Denken, da lebt im Spiegelbild allerdings die Wirklichkeit, aber eben im Spiegelbild. Sobald Sie in einer Wirklichkeit drinnenstehen, sind Sie durch die Wirklichkeit bedrängt, denn die Wirklichkeit ist etwas, und wenn sie noch so schwach auf Sie wirkt, sie ist ein Element der Notwendigkeit, sie bedrängt Sie, Sie müssen ihr folgen. Wenn aber ein Spiegelbild auf Ihre Seele wirkt: ein Spiegelbild enthält keine Aktivität, enthält nichts von Kraft. Ein Spiegelbild ist eben ein bloßes Bild, das drängt die Seele nicht, das zwingt die Seele nicht. In dem Zeitalter, in dem das Bewußtsein dahin tendiert, Spiegelbilder zu haben, in dem Zeitalter kann sich zugleich der Impuls der Freiheit ausbilden. Durch alles übrige würde der Mensch gedrängt, etwas zu tun. Wenn er in solchen bewußten Vorstellungen lebt, die Bilder sind und nur Bilder sind, die nur eine Wirklichkeit abspiegeln, nicht eine Wirklichkeit sind, kann ihn keine Wirklichkeit bedrängen. In diesem Zeitalter kann er seinen Impuls der Freiheit ausbilden. Das ist die geheimnisvolle Tatsache, die hinter dem Leben der Gegenwart steht. Daß die Menschen dazu gekommen sind, in diesem Zeitalter Materialisten zu werden, hängt damit zusammen, daß die Menschen fühlen: in dem Innenleben, das sie da anschauen, lebt nichts Wirkliches, da leben bloß Bilder. Und das andere wird natürlich nur innerhalb der Sinneswelt gesucht. Das ist wahr, man kann innerhalb des menschlichen Inneren keine Wirklichkeit finden, weder eine geistige noch eine physische; man kann nur Bilder finden. Das war nicht immer so, es ist eben in diesem Zeitalter so. Daher ist unser Zeitalter geeignet, den Materialismus auszubilden, weil es ein Unsinn geworden ist, zu sagen: Ich denke, also bin ich. – Man müßte sagen: Ich denke, also bin ich nicht! – Das heißt, meine Gedanken sind nur Bilder. Indem ich mich als denkend ergreife, bin ich nicht, sondern ich bin eben nur Bild. Aber dieses Bildsein ist dasjenige, was in mir die Möglichkeit der Freiheitsentwickelung gibt.
[...] Gründlich zeigt sich die Wahrheit dieser Tatsache erst dann, wenn man wieder eingeht auf die Initiationswissenschaft, die wirkliche Geisteswissenschaft. Da müssen Sie nur die Tatsache ins Auge fassen, daß die Menschen eigentlich, insofern sie heute denkerisch oder wissenschaftlich tätig sind, im Grunde sehr stark von den ererbten Begriffen einer älteren Zeit leben.
[...] Aber wer diese heutige Naturwissenschaft nicht gedankenlos betrachtet, sondern sie innerlich erfassen kann hinsichtlich ihrer Vorstellungsweise, der weiß, daß alle die Begriffe, mit denen die Naturwissenschaft arbeitet, alle Ideen sogar – nicht die einzelnen Naturgesetze, aber die Formen der Naturgesetze –, wenn man den Goetheanismus ausnimmt, der eine ganz neue Erscheinung ist, aber die gebräuchliche, triviale Naturwissenschaft, im Grunde genommen vererbte Begriffe sind. Die Experimente enthalten Neues, die Beobachtungen enthalten Neues, die Begriffe sind nirgends neu, die sind vererbt. Aber wenn man nun die eine oder andere dieser Richtungen aufmerksam macht auf die Wirklichkeit, dann werden sie fürchterlich zornig, richtig zornig werden sie. Denn diesen Ursprung werden sie verleugnen.
Woher rührt denn eigentlich das sich aufgeklärtest dünkende moderne Denken her? Es ist nur ein Kind einer alten Religion. Gewiß, die religiösen Vorstellungen hat man abgeworfen, an den Zeus, an den Jahve glauben die Leute nicht mehr – mancher auch nicht an den Christus. Aber die Art, wie gedacht worden ist in den Zeiten, als man an Zeus, an Jahve, an Ormuzd, Osiris geglaubt hat, die Art des menschlichen Denkens ist geblieben. Man wendet sie heute auf Sauerstoff, Wasserstoff, auf Elektronen, Ionen oder auf Hertzsche Wellen an – das Objekt macht es nicht aus –: die Art des Denkens ist dieselbe. Erst durch die Geisteswissenschaft kann neues Denken verwendet werden für die übersinnliche Welt und auch für die sinnliche Welt. Und einen elementaren Anfang für die Naturwissenschaft, wie ich öfter erwähnt habe, hat Goethe mit seiner Morphologie gemacht, die deshalb auch bekämpft wird von den antiquierten Anschauungen. Auch mit seiner Physik hat Goethe einen Anfang gemacht. Aber die Fruchtbarkeit dieses Anfanges wird heute noch wenig eingesehen.
Also man arbeitet mit dem, was geblieben ist. Und das ist auch schließlich begreiflich; denn in einem Zeitalter, wo das Bewußtsein nicht ausgefüllt wird von Wirklichkeitselementen, sondern nur von Spiegelbildern, kann das Bewußtsein selber auch zu keinem besonderen Inhalt kommen, wenn es nur auf sich angewiesen ist als gewöhnliches alltägliches Bewußtsein.
[...] Daher habe ich schon in den achtziger Jahren in meinen Einleitungsschriften zu Goethes Morphologie scharf darauf hingewiesen und es gesperrt drucken lassen, daß ich Goethe anzuschauen habe als den Kopernikus und Kepler der organischen Welt, um den Weg anzudeuten, der gerade hinführt in die übersinnlichen Gebiete hinein, aber ausgeht von dem guten Boden, der auf diese Weise elementar geschaffen worden ist. Also von dem alten Visionären, das heißt dem alten atavistischen, übersinnlichen Anschauen gehen die Vorstellungsarten aus, die heute noch immer in den Menschenköpfen spuken. In dieser ganzen Entwickelung des menschlichen Bewußtseins sind eben die alten Schöpfer, die Geister der Form tätig. Sie offenbarten sich dem übersinnlich entwickelten Bewußtsein. Für denjenigen, der in dem neuen Geistesleben drinnensteht, offenbaren sich jetzt nicht mehr diese Geister, sondern die Geister der Persönlichkeit.
Sie können mich nun fragen: Was ist da für ein Unterschied? Dieser Unterschied zeigt sich eben innerhalb der Initiationswissenschaft. Deshalb steht der moderne Geisteswissenschafter noch sehr fremd gegenüber dem Allgemeinbewußtsein, selbst dem allgemeinen Wissenschaftsbewußtsein, weil dieses Wissenschaftsbewußtsein nur ein wenig in sich glimmend hat den Galileismus, Kopernikanismus, Goetheanismus, ganz elementar, aber allgemein noch beherrscht wird von der Denkungsweise der alten Visionäre. Das ist das Eigentümliche dieser Geister der Form, welche die alten Visionen gegeben haben, daß sie belebt haben im Menschen die Vorstellungen, die in den alten Religionen tätig waren, die auch im Christentum bis heute tätig waren. Das ist das Eigentümliche, daß, indem sich offenbarten diese Geister der Form, die man Schöpfer nannte, sie sich zunächst offenbarten durch Imaginationen, Imaginationen, die unwillkürlich im Menschen entstehen. [...]
Nun findet man heute den Weg zu den Geistern der Persönlichkeit. Da ist nun ein gewaltiger Unterschied. Denn diese Geister der Persönlichkeit geben dem, der zu ihnen dringen will, nicht Imaginationen, sondern er muß sich die Imaginationen selber erarbeiten, er muß den Geistern der Persönlichkeit entgegenkommen. Den Geistern der Form brauchte man nicht entgegenzukommen. Da konnte man, wie man es nennen mag, ein gottbegnadeter Mensch sein: dann gaben einem die Geister der Form in visionärer Art ihre Imaginationen. Diesen Weg suchen heute noch viele, denn er ist bequemer, aus dem Grunde, weil er heute nur noch pathologisch erreichbar ist. Der Mensch hat sich entwickelt, und das, was in alten Zeiten psychologisch war, ist heute pathologisch. Alles Visionäre und dasjenige, was auf unwillkürlichen Imaginationen beruht, ist heute pathologisch und drückt heute den Menschen unter sein Niveau herunter. Was heute vom Menschen gefordert wird, der zur Initiationswissenschaft oder eigentlich zur Initiationsanschauung vordringen will, das ist, daß er ganz bewußt seine Imaginationen ausbildet; denn die Geister der Persönlichkeit geben ihm keine Imaginationen, er muß sie ihnen entgegentragen. Dagegen findet ein anderes heute noch statt. Wenn Sie gültige Imaginationen ausbilden, wenn Sie sich gültige Imaginationen erarbeiten, dann treffen Sie auf Ihrem übersinnlichen Erkenntnisweg mit den Geistern der Persönlichkeit zusammen und Sie spüren die Kraft, welche Ihnen diese Imaginationen bewahrheiten, sie Ihnen zur Objektivität machen will.
Im Elementarsten wird in der Regel der Gang beim Geistesforscher heute so sein, daß er versucht, sich die Imaginationen aus den tüchtigsten, besten Erkenntnissen des modernen Wissens zu gewinnen. Deshalb habe ich immer darauf hingewiesen, daß die moderne Naturwissenschaft die beste Vorbereitung ist auch für die Geistesforschung. Denn sie gibt die Möglichkeit, zu fruchtbaren Bildvorstellungen aufzusteigen, besonders wenn man sie im Goetheschen Sinne betreibt. Aber selbstverständlich kann man sich Bilder machen, die bloß phantastische sind; man kann alles mögliche Zeug zusammenflicken zu irgendwelchen willkürlichen Imaginationen. Diese Imaginationen, die man sich macht, die müssen erst verifiziert werden, indem einem die Geister der Persönlichkeit entgegenkommen mit Inspirationen und Intuitionen. Und Inspirationen und Intuitionen bekommt man schon von den Geistern der Persönlichkeit. Man weiß ganz genau: Du stehst in Verbindung mit denjenigen Geistern, die sich aus grauer Geistestiefe der heutigen Menschheit enthüllen, aber sie bleiben für dich unfruchtbar, wenn du ihnen nicht eine Sprache entgegenbringst. – Denn diese Geister behalten die Imaginationen für sich. Die Geister der Form setzten die Imaginationen vor den übersinnlich erkennenden Menschen hin, die Geister der Persönlichkeit behalten die Imaginationen für sich, und man muß sich mit ihnen verständigen, so wie man sich auch mit den Menschen verständigen muß, indem man zwar Gedanken sich machen muß, die er auch hat, aber die Gedanken, die er hat, müssen durch gegenseitigen Verkehr von ihm auf einen andern und von einem andern auf ihn übergehen. So müßte man in einem freien Verkehr mit den Geistern der Persönlichkeit verkehren. Das ganze innere Gefüge des geistigen Lebens ändert sich. Jenes Unwillkürliche, welches den alten Offenbarungen zugrunde lag, das mündet selbst ein in einen gewissen Impuls, der in freier Aktivität erlebt wird. Derjenige, der nicht an der Oberfläche des Weltgeschehens schwimmen will, sondern sich einlassen will auf dasjenige, was wirklich sich vollziehen kann, der verfolgt heute dieses Weltgeschehen in der Weise, daß er sich bewußt wird – vielleicht zuerst durch ganz an der Oberfläche Liegendes –, daß sich ein neuer Weltenplan realisieren will, daß gewissermaßen hinter dem äußerlich verfolgbaren Geschehen geistig sich etwas vollziehen will. Das ist dasjenige, was man, ich möchte sagen, spüren kann aus dem Weltgeschehen heraus, aber es bleibt bei sehr vagen Vorstellungen.
Insbesondere auf dem Gebiete des sozialen Lebens kann mancher das Gefühl haben, es will sich etwas realisieren, es will etwas geschehen, aber man muß, wenn man verstehen soll, was geschehen will, diesem Geschehenwollen entgegentragen dasjenige, was man sich nur selber erarbeiten kann. Was ich Ihnen als eine Art – aber nur eine Art, weil es nicht Programm, sondern Wirklichkeit ist – notwendiger sozialer Impulse vorgetragen habe, ist auf diese Weise gewonnen. Deshalb kann ich immer sagen: Es ist nicht etwas Ausgedachtes, auch nicht etwas aus irgendeinem Ideal heraus – was man heute Ideal nennt – Gebildetes, sondern es ist dasjenige, was sich verwirklichen will und sich auch verwirklichen wird, nur in Begriffe gefaßt. Aber man kann es nicht in Begriffe fassen, wenn man sich nicht die Möglichkeit zuerst erarbeitet, zu Bildern zu kommen, die dann verifiziert werden, bewahrheitet, erhärtet werden von den Geistern der Persönlichkeit, die den neuen Weltenplan spinnen.
Diese Entwickelung der neueren Zeit fordert schon von uns, daß wir uns einlassen können darauf, alles Antiquierte abzustreifen, auch alles in der landläufigen Wissenschaft Antiquierte abzustreifen und wirklich in die neuen Denkformen uns hineinzufinden, damit wir innerhalb dieser neuen Denkformen nicht zu antiquierten Visionen kommen, sondern zu mit vollem Willen aufgebauten Imaginationen, die wir dann entgegenhalten dem objektiven geistigen Weltgeschehen und von ihm verifiziert bekommen. Das ist ein so radikaler Unterschied gegenüber allem früheren übersinnlichen Erkennen, daß sich die zahlreich vorhandenen, auf früheres übersinnliches Erkennen stützenden Menschen mit Händen und Füßen sträuben gegen diese absolute Umwandlung alles übersinnlichen Erkennens. Denn es ist etwas verlangt von Menschen, die Übersinnliches erkennen wollen, was radikal, ursprünglich und elementar ist, was zu den Quellen vordringen will und was Abrechnung halten will und muß mit alldem, was nur – bewußt oder unbewußt – antiquiert ist. Daher wird so wenig Wert gelegt innerhalb derjenigen Geisteswissenschaft, die hier vorgetragen wird, auf all das Überlieferte. Dieses Überlieferte ist gewiß ein Ehrwürdiges, aber wir stehen halt einmal an dem Wendepunkt der Menschheitsentwickelung, wo wir in bezug auf solche Sachen gründlich erkennen müssen, daß das Überlieferte sich ausgelebt hat und daß Neues erworben werden muß. [...] Kommt man zu demjenigen Bewußtsein, das außerhalb des Leibes und außerhalb des Lebenslaufes erworben wird, das wirklich im Geistigen drinnensteht, dann fließen Wille und Vorstellung wieder zusammen zu einer Realität. Und dasjenige, was nur Architektur ist, das heißt nur Form, was leblose Formen, leblose Symbole sind, das erhält innerliches Leben. Und dasjenige, was finsterer bloßer Glaube ist, das wird Wissen, konkretes sich wandelndes Wissen. Beides vereinigt sich, beides wird etwas Lebendiges. Das ist dasjenige, was von der Menschheit erlebt werden muß. [...]
Denken Sie nur, wieviel heute noch gearbeitet wird mit antiquierten Begriffen! Gewiß, es kann auf mancherlei Gebieten noch Nützliches damit geleistet werden. Aber die Menschheit würde in das Erstarren hineinkommen, in das Gelähmtwerden, das Vertrocknetwerden, wenn nicht dasjenige, was antiquiert ist, einem andern weichen würde, das innerliches Leben enthält. [...]
Sechster Vortrag, 29. Dezember 1918
[...] Verfolgen Sie – was man eigentlich auch schon aus der äußeren Geschichte wissen kann –, wie beim Eintritt des Christus-Impulses in die Welt noch ein gewisser stark leuchtender Überrest der Gnosis da war, wie in den ersten Jahrhunderten versucht worden ist, den Christus-Impuls und seinen Durchgang durch das Mysterium von Golgatha mit Hilfe der durch die Gnosis erworbenen Begriffe zu verstehen. Da war viel gesagt in diesen Begriffen, die auf ganz andere Dinge gingen als die Begriffe, die man heute aus der äußeren Welt gewinnen kann, da war viel gesagt von dem, wie sich die Welt entwickelt hat, wie der Christus in dieser Weltentwickelung war, wie es zu seinem Herabsteigen zu der Menschheit gekommen ist, wie es zu seiner Vereinigung mit der menschlichen Wesenheit gekommen ist. Da war wiederum manches gesagt über den Rückgang des Christus zu der geistigen Welt, die dann die geistige Erdenwelt ist. Kurz, es waren leuchtende, weit leuchtende, umfassende Vorstellungen, die Erbgut waren der Urweisheit der Menschheit, in welche man gefaßt hat dasjenige, was man sagen wollte über das Mysterium von Golgatha. Die Kirche hat in den ersten Jahrhunderten gründlich dafür gesorgt, daß bis auf spärliche, nicht viel sagende Überreste die Vorstellungen der alten Gnosis verlorengegangen sind. Und ich habe Ihnen angedeutet, wie man sich heute geradezu bemüht, wo man kann, eine unbequem werdende Weltanschauung dadurch zu verketzern, daß man sagt, sie wolle eine alte Gnosis wieder aufwärmen, womit man glaubt, etwas furchtbar Schlimmes zu sagen.
Dann trat an die Stelle dieser Auffassung des Mysteriums von Golgatha eine andere, welche rechnete mit den primitiver und immer primitiver werdenden menschlichen Begriffen, welche damit rechnete, daß die Menschen nichts mehr in sich lebendig machen können von den umfassenden, weit leuchtenden gnostischen Vorstellungen. Und ich sagte Ihnen, es blieb der Rest, der den Anfang des Johannes-Evangeliums bildet; der ist eigentlich nichts mehr als ein Hinweis darauf, daß der Christus etwas zu tun habe mit dem übersinnlich wahrnehmbaren Logos, dem Weltenworte, daß als solcher der Christus der Schöpfer alles desjenigen ist, was den Menschen umgibt, was der Mensch erlebt. [...] Man wollte, ich möchte sagen, immer mehr und mehr einfache Begriffe, zu deren Fassung man sich nicht sehr anzustrengen brauchte. Daher auch der eigentümliche Weg, den die Erklärung der Evangelien machte. Während man in den ersten Jahrhunderten noch durchaus das Bewußtsein hatte, daß die Evangelien aus geistigen Tiefen heraus zu erklären sind, versuchte man immer mehr, die Evangelien als bloße Erzählungen des Erdenlebens jenes Wesens aufzufassen, über das man mit Bezug auf seinen kosmischen Zusammenhang eben nicht mehr geltend machen wollte – wenigstens durch menschliches Wissen – als den Anfang des Johannes-Evangeliums und einige Abstraktionen wie die Trinitätsabstraktion und dergleichen. Diese hat man aus den abstrakten Formen herausgeschält, aus den alten gnostischen Vorstellungen, die man aber ihres gnostischen Impulses entkleidete und in Form von Dogmen den Gläubigen hingab. Immer primitiver und primitiver wurden aber die Evangelieninterpretationen. Sie sollten immer mehr werden eine bloße Erzählung eben über das Wesen, um dessen Wesenheit man sich nicht viel von höheren übersinnlichen Gesichtspunkten aus bekümmerte, über das Wesen, das da auf der Erde gelebt hat und das der Christus Jesus genannt wird.
Dann kam immer mehr die Notwendigkeit, die Evangelien auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und es kam damit der Protestantismus herauf. Er hielt zunächst noch fest an den Evangelien. Und solange ein Zusammenhang, ein Erkenntniszusammenhang bestand mit dem Johannes-Evangelium, so lange konnte man auch in einer gewissen Beziehung doch eine Art Band finden, das die einzelnen Seelen verbindet mit den kosmischen Höhen, in die man doch aufschauen muß, wenn man von dem wirklichen Christus reden will.
Aber es ging immer mehr verloren, man kann sagen, nicht bloß das Verständnis, sondern auch die Hinneigung zu dem Johannes-Evangelium. Die Folge davon war, daß ein richtiger Zusammenhang mit dem Christus-Impuls, mit jener Wesenheit, welche in dem Leibe des Jesus lebte, dem neueren Protestantismus, dem denkenden Christentum überhaupt verlorengegangen ist. Der Christus-Begriff schwand immer mehr dahin, indem man zuerst die Interpretation beschränkt hat auf die irdischen Schicksale, menschlich erzählt, des Christus Jesus. Es schwand, weil man die Sache immer mehr und mehr ins materialistische Fahrwasser brachte, völlig die Möglichkeit, den Christus-Begriff noch zu haben: der menschliche Jesus blieb zurück. Und so wurden die Evangelien immer mehr als eine bloße Beschreibung des menschlichen Lebens Jesu genommen. Und an diese Beschreibung knüpfte sich in einer sehr abstrakten Form der Glaube an Unsterblichkeit, an die göttliche Wesenheit und dergleichen – ich habe über den Glaubensbegriff gestern gesprochen. Kein Wunder ist es, daß überhaupt nach und nach die Menschen wenig mehr zu sagen wußten, wenn die Vorstellung des Christus Jesus angeschlagen wurde. Man nahm gewissermaßen Christus auf der einen Seite, Jesus auf der andern Seite wie Synonyma, wie etwas, was dasselbe bezeichnet. Und was war die Folge, eine Folge, die gar nicht anders als eintreten konnte? Die Folge war, daß endlich diese Schilderung des bloßen irdischen Lebens eines Jesus, aus der das Bewußtsein des Zusammenhanges mit dem Christus geschwunden war, daß diese Beschreibung auch das Wesen des Jesus selbst verlor, und überhaupt allen Zusammenhang mit den Anfängen des Christentums verlor. Denn indem man nach und nach auf die bloßen materiellen Evangelien noch zurückging, auf nichts anderes als auf diese materiellen Evangelien, kam man zu der sogenannten Evangelienkritik selber. Und die konnte zu keinem andern Ergebnis führen, als daß die Tatsache des Mysteriums von Golgatha und was damit zusammenhängt, sich nicht historisch beweisen läßt, weil die Evangelien keine historischen Urkunden sind. Man verlor zuletzt den Zusammenhang mit dem Jesus selbst. So wie man in der neueren Wissenschaft über Beweise denkt, konnte da nicht bewiesen werden. Da man aber bei der modernen Wissenschaft bleiben wollte, auch wenn man Theologe war oder ist, verlor man nach und nach auch den Jesus-Begriff, da es äußere, historisch nachweisbare Urkunden nicht gibt. [...]
Das ist durchaus festzuhalten, daß der Weg zu dem Christus Jesus in unserer Zeit ein übersinnlicher werden muß, daß er nur gegangen werden kann von jener Wissenschaft, die selbst übersinnliche Methoden sucht, aber mit dem wissenschaftlichen Gewissen der modernen Naturanschauung rechnet.
Immer wird es gut sein für diese moderne Art, einen übersinnlichen Weg auch zu dem Christus zu finden, sich klarzumachen, wie bis in unsere Tage herein die Umwandlungen der Initiationswissenschaft, des Initiationswissens sich abgespielt, abgewickelt haben. Und aus diesem Grunde möchte ich heute noch einmal auf etwas hinweisen, auf das ich hier an diesem Ort schon vor einiger Zeit, aber von einem andern Gesichtspunkte aus, hingewiesen habe.
Wir wissen, daß mit Bezug auf diese Dinge der große Umschwung verstanden werden muß, den die äußere Geschichte verschweigt, der sich in der neueren Entwickelung vollzogen hat gegen das 15. Jahrhundert hin und eben im 15. Jahrhundert hauptsächlich vollzogen hat. Aber er bereitete sich schon vorher vor. Wir wissen, dieser Umschwung ist für uns das Auftreten der fünften nachatlantischen Kulturperiode, welche die vierte, die griechisch-lateinische Kulturperiode ablöst.
Nun ist es selbst schon für die äußere Wissenschaft eine Frage geworden, allerdings nur für einige verständigere Gelehrte, wie sich das erklären läßt, was man gewöhnlich nur nennt das Heraufkommen der Renaissancezeit – aber damit ist die Sache nur höchst äußerlich gekennzeichnet –, also dasjenige, was sich vom 12., 13., 14. bis ins 15. Jahrhundert hinein mit elementarer Gewalt über die gebildete Welt hin abspielt. Ein merkwürdiger Drang, eine merkwürdige Sehnsucht – äußere Gelehrte haben das schon ausgesprochen – lebte auch in den Menschen und läßt sich nicht durch äußere Gründe erklären. Es zeigt sich, daß etwas Elementares in den Menschen wallt und wogt und sie zu einer bestimmten Seelenverfassung bringt.
[...] Es ist so, daß man verspürt: Es muß etwas verglimmen. Man erlebt noch gewisse Dinge in der Seele, die man nach einiger Zeit wieder anders erleben muß. Man muß sich gewissermaßen beeilen – wenn man mit der Entwickelung Schritt halten will –, diese Dinge noch zu erleben, denn die Menschheit wird sie später nach dem Umschwung nicht mehr erleben können. [...] Annähernd bis zum Mysterium von Golgatha – nur geringe Ausnahmefälle abgerechnet – war, man kann schon sagen, der notwendige Weg, um zur Initiation zu kommen, der, daß man erwählt wurde von irgendeinem den Mysterien angehörigen Priesterweisen, der aus gewissen Erkenntnissen heraus die Leute wählte, die er zur Initiation, zum Durchmachen der Grade bestimmen konnte. Es schwand diese Notwendigkeit nach und nach dahin, nachdem sich das Mysterium von Golgatha abgespielt hatte, obwohl die Initiation, an den alten Mysterien orientiert, auf die neuen Verhältnisse eingerichtet wurde. Solche Mysterien hat es immer gegeben, Mysterien, die dann in die neueren Geheimgesellschaften übergegangen sind und, nur mehr in abstrakten Symbolen, zumeist alte Einweihungszeremonien und Einweihungsvorgänge nachahmen, die nicht mehr an den Menschen herandringen, während die wirkliche Initiation immer weniger und weniger in solchen Geheimgesellschaften erlangt wird, weil die Menschen nicht vordringen zu dem Erleben desjenigen, was sich vor ihren Augen symbolisch abspielt. Es geschahen aber in immer weiterem und weiterem Maße – und charakteristisch gerade am Ausgang der vierten nachatlantischen Kulturperiode – Einweihungen, die, ich möchte sagen, von der geistigen Welt aus selbst geleitet wurden, wo also nicht der Initiationspriester den Betreffenden auswählte, sondern wo die Auswahl von der geistigen Welt selbst gemacht wurde. [...] Und ich habe schon, wie gesagt, vor einiger Zeit darauf hingewiesen, wie aufzufassen ist als eine wirkliche Initiation die Einweihung, die auf solche Art erfahren hat der Lehrer und Meister des Dante, Brunetto Latini.
Äußerlich erzählt, nimmt sich dasjenige, was als ein höchst Wichtiges Brunetto Latini schildert, wie eine Art Novelle aus, eine Novelle, die allerdings legendarischen Charakter hat. Brunetto Latini will seine Einweihung schildern, seine Initiation. Er schildert sie etwa in der folgenden Weise, und Sie werden aus dieser Weise erkennen, wie die Erlebnisse der Initiation des Brunetto Latini dann gewirkt haben auf die ganze Komposition und Phantasiegestaltung des Danteschen großen Gedichtes, der „Commedia“. Brunetto Latini – er war Gesandter beim König von Kastilien für seine Vaterstadt Florenz – erzählt, wie er die Reise zurückmachen mußte von seinem Gesandtschaftsposten und wie er, als er schon nahe seiner Vaterstadt Florenz war, erfuhr, daß seine Partei, die welfische Partei, unterlegen war; daß also alles, was ihn verbunden hat mit Florenz, gewissermaßen unterminiert sei, daß er mit Bezug auf die äußeren Verhältnisse plötzlich keinen Boden unter den Füßen mehr fühlt. [...] Jetzt erzählt er weiter, nachdem er aufmerksam gemacht hat auf diese Umstände, auf diese Tatsache, wie er geführt wurde in einen Wald, wie er durch geistige Führung aus dem Wald hingeleitet wird auf einen Berg, der umgeben ist von der ganzen Schöpfung, soweit sie ihm bekannt war.
[...] Nun schildert Brunetto Latini, wie die Schöpfung sich um den Berg ausbreitet, wie ihm auf dem Berg eine riesige Frauengestalt erscheint, auf deren Worte hin, auf deren Wortangaben hin sich diese Schöpfung, die um den Berg ist, wandelt und ändert, andere Formen annimmt. Und so wie Brunetto Latini spricht, so erkennt man: er spricht so über diese Frauengestalt, wie in den alten Einweihungsmysterien gesprochen worden ist über Proserpina. Nun hat die Vorstellung über die Proserpina eben die Wandlung durchgemacht von der alten Griechenzeit bis zum Ausgang der griechisch-lateinischen Zeit. [...] Bei den alten Griechen, wenn sie von der Proserpina sprachen, oder bei den Ägyptern, wenn sie von der Isis sprachen, handelte es sich mehr um die Schilderung dessen, was in allem Ruhenden lebt, in allem, was bleibt, was durch alles Bleibende hindurchzieht. Bei Brunetto Latini handelt es sich darum, zu schildern, wie ein gewisser Kraftimpuls – der Isis-Impuls, der Proserpina-Impuls, als Impuls der „Natura“, so heißt die Gestalt bei Brunetto Latini –, durch alles hindurchgeht, aber alles in Bewegung setzt, fortwährend wandelt. Das ist der große Unterschied.
Damit ist ihm aber der Anstoß gegeben – indem er schaut, wie sich alles wandelt, indem er diese auf das Geheiß der Göttin Natura sich wandelnde Schöpfung schaut –, nun in der neuen Art Selbsterkenntnis zu üben. Die übt er natürlich nicht so, wie es heute die mystischen Bequemlinge beschreiben, sondern er übt sie in konkreten Einzelheiten. Brunetto Latini beschreibt, wie er nun, nachdem er diese sich wandelnde Schöpfung geschaut hat, die Welt der menschlichen Sinne schaut. Er lernt den Menschen nach und nach von außen kennen. Es ist ein Unterschied, ob man die äußere Welt, welche die Sinne einfach im gewöhnlichen Bewußtsein wahrnehmen, schaut und beschreibt, oder ob man das beschreibt, was in den Sinnen, also schon innerlich im Menschen vor sich geht. [...]
Dann dringt er weiter von außen nach innen ins Menschliche vor: er gelangt dann zu den vier Temperamenten. Da lernt man schon erkennen, wie der Mensch nun nicht in dem Inneren der Sinnesregion ist, sondern wie er ist, indem der melancholische, der cholerische, der phlegmatische, der sanguinische Impuls ineinander wirken, wie die Menschen sich dann äußerlich differenzieren, indem irgendeiner dieser vier Impulse die Oberhand gewinnt. Man kommt dann durch die Region der Sinne weiter in das menschliche Innere zu der Region der Temperamente. [...]
Sie sehen, Brunetto Latini schildert stückweise seine Initiation. Zugrunde liegt eine geistige Führung. Dann gelangt er schon in eine Region, in welcher der Mensch sich nicht mehr recht von der Außenwelt unterscheiden kann. Wenn der Mensch die Region seiner Sinne und die Region der Temperamente beobachtet, dann kann er sich noch sehr gut von der Außenwelt unterscheiden; aber dann kommt er in eine Region, in der er sich wenig noch unterscheiden kann, in der sozusagen sein Wesen mit der Außenwelt zusammenfließt: er kommt in die Region der vier Elemente. Da erlebt der Mensch sein Weben innerhalb von Erde, Wasser, Feuer und Luft, wie er mit diesen im Weltenall lebt. Er unterscheidet sich nicht mehr sehr stark mit Bezug auf seine Subjektivität von der äußeren Objektivität. [...]
Dann schildert er, wie er weiter kommt in die Region der Planeten, wie er durch die Planetenregion durchgeht, und wie er dann, nachdem er durch die Planetenregion durchgegangen ist, den Ozean durchirrt, im Ozean den Ort erreicht, den die verschiedensten Mystiker bezeichnen als den Ort der Säulen des Herkules. Dann geht er hinaus über die Säulen des Herkules und ist nun vorbereitet, nachdem ihn dieses „Erkenne dich selbst“ bis zu den Säulen des Herkules getrieben hat, aufzunehmen ein Wissen, eine Erkenntnis über die übersinnliche Welt. Die Säulen des Herkules sind für die Mystiker – insbesondere für die Mystiker der Zeit, von der ich jetzt spreche – dasjenige Erlebnis, durch das man noch stärker, als es bei den vier Elementen oder bei den Planeten der Fall ist, ganz aus dem Menschen herauskommt und die äußere Geistwelt betritt, die dann erst in der dritten Initiationsstufe in ihren konkreten Wesenheiten sich zeigt. Aber man betritt sie wie einen sich ausbreitenden Ozean, wie eine allgemeine Geistigkeit, im ersten Grade, den Brunetto Latini hier schildert. Er schildert dann weiter, wie – was ja sein mußte, nachdem er soweit gekommen war – eine starke Versuchung an ihn herantritt. Diese Versuchung, die schildert er sehr sachgemäß. Er schildert, wie er in die Notwendigkeit versetzt wird, neue Vorstellungen sich zu bilden über Gut und Böse, weil eben verlorengeht dasjenige, was ihn über Gut und Böse, solange er in der Sinneswelt war, aufgeklärt hat. Er schildert dann, wie er diese neuen Vorstellungen über Gut und Böse wirklich erlangt, wie er dadurch, daß er alles das durchgemacht hat, gewissermaßen ein anderer Mensch geworden ist, ein Teilnehmer an der geistigen Welt. Man sieht an der Schilderung des Brunetto Latini ganz genau, wie jemand, der durch eine geistige Wesenheit selbst geführt wird, in dieser Zeit des ausgehenden griechisch-lateinischen Zeitalters von der sinnlichen in die übersinnliche Welt hineingeht. [...]
Nun kann uns schon die Frage als bedeutsam interessieren: Wie änderte sich das in kurzen Zeiträumen? Nicht lange, ein paar Jahrhunderte sind vergangen seit dem, was ich geschildert habe. Wie ändert sich in kurzen Zeiträumen das, was da der Mensch im Unterbewußtsein durchmacht und was in der Initiation ins Bewußtsein herauftritt? Natürlich, je höhere Initiationsstufen der Mensch erlangt, desto mehr, ich möchte sagen, verschwindet für seinen Geistesblick dasjenige, was bei den ersten Stufen gar sehr in Betracht kommt. Aber bei den ersten Stufen muß man wirklich hinschauen auf dasjenige, was eigentlich das Bedeutsame ist. Denn diese ersten Stufen stellen gerade das dar, was sich in den weitaus meisten Menschenseelen eben tatsächlich abspielt, auch wenn sie es nicht wissen, auch wenn sie sich nicht dazu herbeilassen, durch Geisteswissenschaft oder gar durch Initiation ins Wissen heraufzuheben, was sich unbewußt in ihrem tieferen Menschen eigentlich immer abspielt. [...]
Wenn der Mensch heute gleich vor die Sinne hintreten würde oder in die Sinne hinein wollte, so würde er sich der Gefahr aussetzen, innerhalb der Sinnesregion ziemlich im Finstern zu sein. Er würde gewissermaßen ohne eine ordentliche Beleuchtung in der Sinnesregion sich aufhalten müssen und dann nichts Ordentliches auch unterscheiden können in dieser Sinnesregion. Heute ist nämlich notwendig, daß vor dieser Sinnesregion noch ein anderes Erlebnis durchgemacht wird. Das Durchmachen dieses andern Erlebnisses bereitet einen erst in der rechten Weise vor, in diese Sinnesregion eindringen zu können. Und dieses Erlebnis habe ich Ihnen gestern schon angeführt. Es ist einfach die Möglichkeit, Geistig-Ideelles als äußerliche Wirklichkeit in der Metamorphose der Gestaltung der Welt zu schauen. [...] Also dieses In-die-Möglichkeit-versetzt-Sein, die Welt nicht als fertige, ruhige Gestaltung hinzunehmen, sondern in der unmittelbar vorliegenden Gestalt den Hinweis auf eine andere Gestalt zu sehen, das Versetztsein in diese Möglichkeit, das ist schon eine notwendige Vorstufe der gegenwärtigen Initiation. [...]
Heute muß man zuerst dasjenige, was den Menschen umhüllt, betrachten. In diesem den Menschen Umhüllenden, was vor der Region der Sinne äußerlich liegt, da prägen sich die Metamorphosen des Lebens aus. Es liegt vor den Sinnen. Das muß man bewußt durchschreiten.
Nun geht man auch heute durch Sinnesregion, Temperamentenregion, Elementenregion, Planetenregion durch. Dann aber ist es notwendig, bevor man sich heute durch die Säulen des Herkules in den freien Ozean der Geistigkeit begibt, daß wiederum eine Einschiebung geschieht. [...] Brunetto Latini erlebte, gewissermaßen als das erste Zeichen seiner Führung durch eine Geistwesenheit, das, was ihm die Mitteilung war, daß seine Vaterstadt für ihn unterhöhlt sei. Es ist das ein Ereignis, das in den Menschen Brunetto Latini hineinspielt, das aber doch seinem Tatsacheninhalte nach äußerlich war, von der Außenwelt hineinspielte. Dieses Ereignis, das ihn so stark erschütterte, daß er eben mit seinem Geistig-Seelischen aus dem Leiblichen herausging, schilderte er als etwas, was in sein Leben eintrat, was in seinem Leben vorging. Man kann sagen, dieses Ereignis wird von ihm nicht bewußt, sondern wie etwas geschildert, was an ihn herantritt wie ein Schicksalsereignis.
Ein solches Ereignis, oder eigentlich ein ähnliches – Sie werden darauf auch hingewiesen finden an einer Stelle meines Buches „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ –, muß der heute zu Initiierende ganz bewußt durchmachen. Aber es muß bei ihm ein inneres Erlebnis sein, das er nicht wie Brunetto Latini im Zusammenhang mit der Außenwelt, sondern das er innerlich durchmacht: irgend etwas, was innerlich stark verwandelnd auf den Menschen wirkt. Solche Ereignisse gibt es schon im Leben der weitaus meisten Menschen, nur beachten es die Menschen kaum stark. Wer sein Leben überblickt, wird schon sehen können, daß Ereignisse – wenn ich so sagen darf, trotzdem das trivial ist – allerersten Ranges, und insbesondere ein Ereignis allerersten Ranges in das Leben hereinspielen.
Man versuche nur einmal, nicht so sehr nach der äußerlichen Bedeutung, sondern nach dem inneren Wandel, den es im Menschen hervorbringt, auf ein solches Ereignis im Leben zurückzublicken. Man wird dann auf eines aufmerksam sein, auf das man eigentlich recht aufmerksam sein sollte: Man wird aufmerksam werden darauf, daß eben solche Ereignisse in dem Leben der Menschen nicht tief genug genommen werden. Sie können unendlich viel tiefer, das heißt erschütternder, bemerkbarer im Leben genommen werden, als es heute geschieht. Man kann schon durch eine gewisse allgemein-menschliche Innerlichkeit manches im Leben vertieft spüren, aber es wird doch gegenüber dem, was man namentlich von Ereignissen allerersten Ranges erleben kann, über eine gewisse Oberflächlichkeit nicht hinauskommen, wenn man nur bei dem gewöhnlichen Menschlichen bleibt. Denn solche Ereignisse, wie ich sie meine, die lassen sich eigentlich nicht im gewöhnlichen Bewußtsein ihrer vollen Geltung nach erkennen. Man muß erst die andern Stufen durchmachen. Dann zeigt sich, wenn man die Metamorphosen des Lebens, wenn man die Region der Sinne, der Temperamente, der Elemente, der Planeten durchgemacht hat [...], daß man in einer neuen Gestalt gerade ein solches Erlebnis wiederum beobachten kann, und daß man jetzt, wenn man schon ein stark verwandelter Mensch geworden ist, zu seiner eigentlichen Tiefe vordringt, indem man sich als ein Angehöriger nicht nur der Erde, sondern der Himmelswelten, der Planetenregion erkannt hat. Dann erkennt man erst so recht die Bedeutung von solchen Erlebnissen allerersten Ranges. Dann wird einem erst klar, was für einen selbst und für die Welt solch ein Erlebnis bedeuten kann. Und man muß, wenn man da durchgeht, auf das wichtigste Ereignis seines Lebens schon kommen.
Wenn man, bevor man in den weiten Ozean der Geistigkeit hinaustritt, hier ankommt, so kann es nicht fehlen, sofern man nicht ein ganz starker Egoistling ist und noch irgend etwas anderes kennt in der Welt als sich selbst, daß, während man durch die früheren Stufen durchgeht, man aufmerksam wird auf dieses Ereignis. Bevor man in den Ozean der Geistigkeit hinaustritt, tritt einem schon in der völligen Stärke dieses Ereignis vor die Seele. Aber es schiebt sich eben da ein. Und dieses Ereignis, das bedeutet an dieser Stelle des inneren Erlebens außerordentlich viel. Es bedeutet, daß man jetzt eigentlich erst hinausfahren kann in den unermeßlichen Ozean der Geistigkeit; es bedeutet, daß man durch dieses Erlebnis einen gewissen Schwerpunkt erlangen kann. Ich möchte sagen: Würde man unter den heutigen Geistesverhältnissen einfach, nachdem man sich erkannt hat als Bürger der Planetenwelt, hinausschiffen wollen auf den Ozean der Geistigkeit, man würde in ein Wellenmeer hineinkommen, würde sich nirgends sicher fühlen, würde unter allen möglichen geistigen Erlebnissen hin und her geworfen werden, würde nicht einen innerlichen Schwerpunkt haben. Diesen innerlichen Schwerpunkt muß man schon dadurch finden, daß man ein solches Ereignis allerersten Ranges, das sich in der Regel niemals in den bloßen Regionen des Egoismus abspielen wird, sondern das eine allgemein-menschliche Bedeutung haben wird, wirklich tief innerlich durchlebt, und man sich selbst in ihm tief innerlich durchlebt. Man kann heute sagen, indem man ganz genau den Tatsachenbestand ausspricht: An den Säulen des Herkules muß, bevor der Mensch diese Säulen des Herkules durchschifft, sein bedeutsamstes Erlebnis vor ihn hintreten, Vertieftestes ihm Erlebnis werden. Da fühlt der Mensch an dieser Stelle des Erlebens eine ganz besondere Vertiefung seines Wesens. Da kommt etwas über ihn, von dem man sagen kann, es trägt die objektive Welt in sein Inneres herein. [...]
Man möchte bei diesen Dingen immer sagen – Hand aufs Herz, meine lieben Freunde –: Für das gewöhnliche Bewußtsein bleibt es doch bestehen, daß, auch wenn der Mensch noch so selbstlos ist, es für ihn das Allerwichtigste, wenigstens verhältnismäßig das Allerwichtigste ist, was innerhalb seiner Haut vorgeht. Wichtiger ist eben doch in der Regel für das gewöhnliche Bewußtsein dasjenige, was innerhalb der Haut vorgeht, als was außerhalb der Haut vorgeht. Aber das ist eben eine Seelenstimmung, die gerade hier beim Betreten des Ozeans erzeugt werden soll, damit sie wenigstens für wichtige Lebensmomente beibehalten werden kann: daß es für den Menschen äußere Dinge geben kann, die ihn subjektiv gar nichts angehen, die er aber gerade so stark miterlebt wie diejenigen Dinge, die ihn subjektiv angehen. [...] Aber damit hat der Mensch zugleich einen Schwerpunkt erlangt, eine Richtung würde ich vielleicht besser sagen, einen Kompaß, durch den er die Möglichkeit hat, nun wirklich auf den Ozean des geistigen Lebens hinauszutreiben. [...]
Sie sehen an den Beispielen, die ich Ihnen jetzt geschildert habe, an der Initiation des Brunetto Latini und an der Umwandlung dieser Initiation bis in unsere Tage – und das wird noch lange gelten –, daß die Menschennatur sich auch für kürzere Zeiträume in einer Verwandlung schildern läßt, wenn man versucht, sie mit der Initiationswissenschaft zu beschreiben. Das alles, was man so schildert, trägt aber der Mensch wirklich in sich. Das charakterisiert den Wandel, den die menschliche Seelenstimmung im Lauf der Jahrhunderte durchmacht. Die Menschen werden gewöhnlich nur nicht aufmerksam auf diese Dinge, und sie drücken sich dann eben in dem äußeren Leben wie in ihrem Abglanz aus. In dem Zeitalter des Brunetto Latini, dessen Schüler eben Dante war, ist man so Christ, wie Dante Christ ist. Da geht noch durch die menschliche Seele hindurch die ganze Himmelswelt, indem man sich wirklich christlich fühlt. In unserem Zeitalter ist dieser Ruck zurück gemacht worden, wir rücken nur ein bißchen heraus, so daß wir eine Region vor den Sinnen durchmachen müssen, bevor wir wiederum heraustreten, damit wir jetzt die Region, die wir vorher von außen schon kennengelernt haben, nicht in derselben Weise betreten, sondern, bevor wir uns weiter aus dem Leibe lösen, sie verändert betreten, mit einem neuen Werkzeug orientiert werden. [...]
Der Mensch ist mit seinem Wesen etwas heraußen aus der Region der Sinne; dafür aber hat er eine Art Höhlung, wo unbewußt das wichtigste Ereignis seines ganzen Lebens auf seinen ganzen Organismus Einfluß nimmt, so daß er dann so erleben kann, wie ich es geschildert habe. Denn das hat schon Einfluß auf den Menschen, wenn er auch nichts davon weiß, aber es kann in der verschiedensten Weise sich ausleben, wenn es im Unbewußten verläuft. Der eine wird vielleicht sieben Jahre, nachdem er dieses wichtigste Ereignis durchgemacht hat, ein unleidiger Kerl, oder begeht allerlei Schändlichkeiten, ein anderer verliebt sich – er braucht es nicht gleich zu tun, das Verlieben selbst kann dieses wichtigste Ereignis darstellen –, ein Dritter kriegt Gallensteine und so weiter. In der verschiedensten Weise kann sich, wenn das Ereignis im Unbewußten bleibt, die Sache im menschlichen Dasein ausleben. So sieht das im Inneren des Menschen aus, was so in das Bewußtsein hereintritt, wie ich es geschildert habe. Im Äußeren des Menschen stellt es sich so dar, daß neben vielem anderen – ich habe ja nur die eine Sache erwähnt – man den Christus Jesus verliert.
Da können Sie sagen: Was sich im Inneren des Menschen aus seinem Leibe heraus bis zu einem gewissen Grade als dieses Rückfluten darstellt, hat also äußerlich ein wenig erfreuliches Resultat! – Das ist aber auch nur scheinbar. Ein jegliches hat in der Welt zwei Seiten. Es gab in der Mitte ungefähr und auch im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den theoretischen Materialismus: der dicke Vogt in Genf, Moleschott oder Ludwig Büchner, sie alle waren theoretische Materialisten. Clifford hat den Ausspruch getan, daß das Gehirn Gedanken ausschwitze wie die Leber die Galle; also einen rein materiellen Vorgang sah Clifford in dem Bilden von Gedanken: wie die Galle aus der Leber kommt, so kommen Gedanken aus dem Gehirn. Dieses materialistische Zeitalter sah bloß auf die Materie hin; aber die Leute dachten doch über die Materie [...]. [...] Eigentlich haben den Materialismus nur ein paar Autoritäten begründet; die andern reden nur nach. Weil nämlich, um die modernen naturwissenschaftlichen Gedanken zu hegen, eigentlich eine starke Anstrengung des Geistes notwendig ist! Diese Anstrengung, die ist eine geistige Anstrengung, die ist wahrhaftig nicht so ausgeschwitzt vom Gehirn wie die Galle von der Leber. Das ist eine geistige Anstrengung, eine gute Vorbereitung, um gerade zum Spirituellen aufzusteigen. Ehrlich materialistisch gedacht zu haben, aber ehrlich selbst gedacht zu haben, das ist eine gute Vorbereitung für ein Eindringen in die spirituelle Welt. [...]
Also darauf wollte ich hinweisen, daß man, was da als materialistische Denkweise auftritt, gewiß bekämpfen kann, nicht scharf genug bekämpfen kann, denn im Bekämpfen liegt gerade das Weiterentwickeln zum Spirituellen, aber es ist innerlich darin die Kraft zur Spiritualität. [...]
Siebenter Vortrag, 31. Dezember 1918
[...] Zweierlei Illusionen sind es vor allen Dingen, denen wir im Leben unterworfen sind, die sich auch sogleich in unser Gemüt hineinsenken, wenn wir etwa zu Silvester einen Rückblick auf das verflossene Jahr oder einen Vorblick auf das nächstliegende Jahr machen, zwei Illusionen, die davon kommen, daß wir keine Ahnung haben im gewöhnlichen Bewußtsein, wie wir eigentlich mit Bezug auf gewisse Verhältnisse zur Außenwelt stehen. Diese Außenwelt ist nicht nut eine räumlich geordnete Summe von Dingen, sondern diese Außenwelt ist ein Verlauf von Ereignissen. [...]
Das Pflanzenreich, so wie es nun einmal bei den einjährigen Pflanzen ist, durcheilt im Laufe eines einzigen Jahres alle Entwickelung, die es im Ätherleib durchmachen kann. Wir brauchen sieben Jahre zu dem, was die einjährige Pflanze in einem Jahre durchmacht. Das heißt: Die Natur draußen, insoferne sie sich in der Pflanzenwelt enthüllt, eilt siebenmal schneller dahin als wir. [...]
Wie wäre denn das eigentlich, wenn wir als Menschen anders organisiert wären, wenn wir zum Beispiel so organisiert wären, daß wir vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife nur ein Jahr brauchten, also genau dieselbe Geschwindigkeit hätten wie das, was draußen in der Natur dem Ätherleben unterworfen ist, wenn wir also im Ablaufe des ersten Jahres unsere zweiten Zähne bekämen und nach Ablauf des zweiten Jahres so weit wären, wie wir bis zur Geschlechtsreife im vierzehnten bis fünfzehnten Jahre sind? Da würden wir mit unserem eigenen Lebenslauf ganz in dem Lauf der Naturereignisse, insoferne sie dem Ätherleben unterliegen, drinnenstehen. Da würden wir uns gar nicht unterscheiden können von der Natur. Denn wir unterscheiden uns im wesentlichen dadurch, daß wir eine andere Geschwindigkeit haben im Vorwärtsbewegen durch den Zeitenstrom. [...] Also ganz anders wäre unser Menschenleben, wenn wir uns nicht dadurch von der äußeren Welt unterscheiden würden, daß wir siebenmal langsamer leben, als die äußere Natur lebt.
[...] Wir lernen siebenmal weniger, als wir lernen könnten von der Natur, wenn wir nicht siebenmal langsamer als die Natur selbst unseren Lebenslauf durcheilten. [...] Wir würden niemals zu der Anschauung kommen können, daß die Welt eine materielle ist, wenn wir uns mit ihr in gleicher Geschwindigkeit bewegten. [...]
Dies ist die eine Täuschung. Insofern wir der Welt mit unseren Sinnen gegenüberstehen, gehen wir viel langsamer durch die Welt, als die äußere Natur läuft. Aber noch eine andere Täuschung liegt vor, und die tritt vor uns, wenn wir all das in Erwägung ziehen, was unser Denken durchglüht, was unser Denken beflügelt, insofern dieses Denken aus unserem eigenen Inneren aufsteigt, wenn wir das Nachdenken in Betracht ziehen, das von unserem Willen abhängt. [...] Mit unseren Gedanken, insofern sie von unserem Willen abhängig sind, bewegen wir uns viel schneller als der äußere Weltenlauf.
[...] In bezug auf die Gedanken, die von unserem Willen, die von unseren Sehnsuchten und Wünschen abhängig sind, sind wir schnell fertig, da bewegen wir uns rasch. Das ist einer der Gründe für unseren Egoismus. Und das ist einer der Gründe dafür, daß wir mit Bezug auf unsere Gedanken so eigensinnig sind. [...]
Die Illusionen, die von diesen Dingen herrühren, sind in älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung durch das atavistische Hellsehen in der mannigfaltigsten Weise korrigiert worden. Sie werden in unserem Zeitalter am wenigsten korrigiert. Dasjenige, was sie aber korrigiert und was eintreten muß, und was ich Sie bitte, als eine Art sozialen Impuls heute in Ihre Seele aufzunehmen, das ist, daß, wenn wir uns in die Geisteswissenschaft, wie sie hier gemeint ist, vertiefen, so daß wir sie nicht als Theorie, sondern in jener Lebendigkeit aufnehmen, von der ich oftmals gesprochen habe, wir dann in dieser Geisteswissenschaft eine Möglichkeit haben, innerlich seelenmäßig die Illusionen, die aus diesen zwei Irrtumsquellen herkommen, zu korrigieren. [...]
Man spricht davon in der Geisteswissenschaft, daß sich unsere Erde allmählich gebildet habe, indem sie zuerst eine Saturn-, eine Sonnen-, eine Mondenzeit durchgemacht hat und dann zu dieser Erdenzeit vorgerückt ist. Aber natürlich ist alles immer da. In dem Dasein, in dem wir jetzt als dem Erdendasein drinnen leben, bereiten andere Welten ihr Saturndasein, andere Welten ihr Sonnendasein vor. Man kann das geisteswissenschaftlich beobachten. Das Saturndasein ist auch jetzt noch da. Wir wissen nur, unsere Erde hat dieses Stadium überwunden; andere Welten sind erst in diesem Saturnstadium. Da kann man dann beobachten, wie es hereinragt. Aber dieses Saturnstadium beobachten zu können, das hängt davon ab, daß man die Geschwindigkeit sich erst ändert, mit der man die Ereignisse verfolgt, sonst kann man sie nicht sehen. Also Geisteswissenschaft bringt uns in einer gewissen Beziehung das Zusammenleben mit der wahren Wirklichkeit, mit dem, was in der Welt wahrhaftig vor sich geht. Und nehmen wir sie lebendig auf, diese Geisteswissenschaft, von der ich gesprochen habe als der Offenbarung der Geister der Persönlichkeit, die als Schöpfer neu eingreifen, nehmen wir sie für unsere Zeit nicht bloß als Menschenwerk, sondern, wie ich sagte, als von Himmelshöhen geoffenbart, nehmen wir die Impulse dieser Geisteswissenschaft lebendig in uns auf, dann bringen sie uns – was für unsere Zeit so notwendig ist – über die Täuschungen unserer mit der Welt verschiedenen Geschwindigkeit hinaus, dann bringen sie uns mit der Welt so zusammen, daß wir wenigstens in unserem Empfinden gegenüber der Welt manches korrigieren können.
[...] Geisteswissenschaft, lebendig aufgenommen, erhält den Menschen in einer gewissen Weise jung, läßt uns nicht so altern, wie wir sonst altern. Das ist eine der Folgen der Geisteswissenschaft. [...] Sie bringt den Menschen dazu, seelisch sich immer mehr jung zu fühlen, aber nicht bloß abstrakt, wie man das oftmals tut, sondern so, daß man wirklich in einer ähnlichen Weise etwas lernen mag, wie man gelernt hat, als man acht oder neun Jahre alt war. Dadurch wird in einer gewissen Weise ausgeglichen, was durch die verschiedene Geschwindigkeit mit der Welt in dem Menschen bewirkt wird. Dadurch sind wir zwar in reiferen Jahren natürlich alt, aber unsere Seele läßt uns nicht alt sein, unsere Seele läßt uns in einer gewissen Weise Kind sein, uns der Welt gegenüber wie ein Kind benehmen. Dann sagen wir uns, wenn wir in die Fünfzigerjahre gekommen sind: Du hast eigentlich dadurch, daß du langsamer lebtest als der äußere Weltenlauf, nur das in dich aufgenommen, was, wenn du ebenso schnell lebtest wie der äußere Weltenlauf, du in sieben oder zehn Jahren aufnehmen würdest. Aber ist man frisch geblieben, dann bewahrt man sich auch die Möglichkeit, so sich zu verhalten, wie man sich verhalten würde, wenn man nur sieben, acht, neun, zehn Jahre durchlebt hätte. Das ist ein voller Ausgleich. Und das bedingt, weil sich in der Welt die Dinge immer die Waage halten, den andern Ausgleich: daß man auch die schnellere Geschwindigkeit, diese Willkürgedanken, diese Sonntagswünsche, wie ich sie Ihnen charakterisiert habe, auch in einer gewissen Weise hinunterdrückt, daß man sich die Möglichkeit verschafft, nicht immer nur Sonntage haben zu wollen, sondern auch die Wochentage für das Lernen auszunützen, das ganze Leben zur Schule zu machen.
[...] Wir sollen ja gewissermaßen durch Geisteswissenschaft aufwachen für die Weltenereignisse, wir sollen wachende Menschen werden. Ein flüchtiger Blick kann die Menschen heute belehren, wie sehr das Schlafen verbreitet ist. Vergleichen Sie nur das heutige Leben mit dem Leben früherer Epochen, dann werden Sie schon darauf aufmerksam werden, wie schließlich das Jugend- und Altersieben sich geändert hat. Die Jugend von heute in ihrer überwiegenden Mehrheit, wie wirkt auf sie die materialistische Zeit? So frisch, so hell, so lebendig wie die Jugendideale in früheren Epochen waren, sind sie heute nicht. Die Jugend ist eine fordernde geworden. Man will das, was die Jugend bietet, in seiner Seelenstimmung nicht so sehr darauf verwenden, um in das Zukunftsleben zu schauen, um weithin leuchtende Ideale sich vorzumalen und von diesen Idealen ein gehobenes Leben zu haben; man will schon in der Jugend das, was man als Leben hat, verbrauchen. Das aber bedingt ein Alter, welches nun nicht dasjenige aufnehmen kann, was geeignet wäre, gerade durch das Alter erst recht aufgenommen zu werden. Unsere Jugend verbraucht ihre Kräfte, und das Alter läßt die Schätze des Lebens auf dem Wege liegen. Unsere Jugend ist nicht mehr hoffnungsreich genug; unser Alter ist wesenlos resignierend. Unsere Jugend wendet sich nicht mehr an das Alter, um zu fragen: Verwirklichen sich die Jugendträume, die selbstverständlich aus meinem Herzen hervorquellen? – Unser Alter wäre aber kaum auch in der Lage, zu sagen: Ja, sie verwirklichen sich. – Unser Alter sagt mehr oder weniger ausgesprochen heute nur allzu oft: Auch ich habe das geträumt; diese Jugendträume gehen leider nicht in Erfüllung. – Man wird ernüchtert durch das Leben.
Mit all diesen Dingen hängt aber zusammen das Unglück unserer Zeit. Mit all diesen Dingen hängt doch zusammen, was die Menschheit heute tief erschüttert. Dann aber, wenn Sie auf das hinblicken, dann werden Sie auch die Notwendigkeit geisteswissenschaftlicher Impulse tief in die Seele sich einschreiben können. Denn an diesem Jahreswendetage muß man sich doch fragen, wenn man wach sein will: Wie stellt sich denn eigentlich diese Zeit dar? Was kann werden in der Zukunft? Was kann aus dem hervorgehen, was sich bis heute aus den Wirrsalen der letzten Jahre für die zivilisierte Menschheit ergeben hat? – Wenn man sich diese Fragen als wacher Mensch vorlegt, entsteht eine wesentlich andere Frage, eine Frage, die ganz tief zusammenhängt mit allen unseren möglichen Hoffnungen für die Menschheitszukunft. [...] Wie kann es denn heute eigentlich in der Seele eines Menschen ausschauen, der nicht an geisteswissenschaftliche Vorstellungen herantreten kann, wenn sich dieser Mensch Fragen stellt über die Zukunft der Menschheit? [...] Ich meine nicht die trockenen, selbstgefälligen Materialisten allein, sondern ich meine jene zahlreichen andern, die es heute schon gibt, die eine gewisse Furcht haben vor dem wirklich Geistigen, und die doch in ihrer Art Idealisten sein möchten. Sie sind abstrakte Idealisten, die von allem möglichen Schönen, von: Liebet eure Feinde –, von schönen sozialen Reformen reden, die aber nicht zum wirklichen konkreten Erfassen der Welt kommen können. Sie sind aus Schwäche zwar Idealisten, aber nicht Geistschauer. Sie wollen nicht den Geist schauen, sie halten sich ferne von dem Geist.
Diese Frage möchte ich heute als eine Jahreswendefrage aufwerfen: Wenn nun einmal solch ein Mensch ehrlich ist, der zwar glaubt, er lebe für den Geist, der auch glaubt, durch seinen Glauben überzeugt zu sein von dem Weben und Wesen des Geistes in der Welt, der aber nicht den Mut hat, hinzugehen zu jenem konkreten Geistigen, zu der geistigen Wirklichkeit, welche durch Geisteswissenschaft sich heute den Menschen offenbaren will, wenn sich in einem solchen Menschen das Ganze der gegenwärtigen Welt oder nur ein Teil ehrlich malt, was entsteht dann für ein Bild? [...] Deshalb möchte ich, daß auch wir hier, weil Sie es vielleicht nicht alle gelesen haben, vor unsere Seele treten lassen jene Worte, welche Walther Rathenau in diesen Tagen an die ganze Welt richtet. Er sagt:
„Ein Deutscher wendet sich an alle Nationen. Mit welchem Recht? Mit dem Rechte eines, der den kommenden Krieg verkündete, der das Ende voraussah, die Katastrophe erkannte, dem Spott, Hohn und Zweifel trotzte und vier lange Jahre den Machthabern zur Versöhnung riet. Mit dem Rechte eines, der das Vorgefühl des tiefsten Sturzes jahrzehntelang in sich trug, und weiß, daß der Sturz tiefer ist, als Menschen, Freunde und Feinde ahnen. Mit dem Rechte eines, der niemals ein einziges Unrecht seines Volkes verschwiegen hat, und nun für das Recht seines Volkes eintreten darf. [...]
Man beschränkt unsern Güteraustausch, man nimmt, wie man uns androht, entgegen dem Geiste der Wilsonschen Stipulationen, das Dreifache oder Vierfache der belgischen und nordfranzösischen Schäden, die sich auf etwa zwanzig Milliarden belaufen: was geschieht? Unsere Wirtschaft wird ertraglos. Wir arbeiten, um kümmerlich ersparnislos zu leben. Wir können nichts instand halten, nichts erneuern, nichts erweitern. Das Land, seine Bauten, Straßen, Einrichtungen verkommen. Die Technik wird rückständig, die Forschung hört auf. Wir haben die Wahl: Unfruchtbarkeit, Abwanderung oder tiefstes Elend. Es ist die Vernichtung. [...]
Wir werden vernichtet, wissend und sehend, von Wissenden und Sehenden. Nicht wie dumpfe Völker des Altertums, die ahnungslos und stumpf in Verbannung und Sklaverei geführt wurden, nicht von fanatischen Götzendienern, die einen Moloch zu verherrlichen glauben. Wir werden vernichtet von Brudervölkern europäischen Blutes, die sich zu Gott und Christus bekennen, deren Leben und Verfassung auf Sittlichkeit beruht, die sich auf Menschlichkeit, Ritterlichkeit und Zivilisation berufen, die um vergossenes Menschenblut trauern, die den Frieden der Gerechtigkeit und den Völkerbund verkünden, die die Verantwortung für das Schicksal des Erdkreises tragen.
Wehe dem und seiner Seele, der es wagt, dieses Blutgericht Gerechtigkeit zu nennen. Habt den Mut, sprecht es aus, nennt es bei seinem Namen: es heißt Rache.
Euch aber frage ich, geistige Menschen aller Völker, Geistliche aller Konfessionen und Gelehrte, Staatsmänner und Künstler; euch frage ich, Arbeiter, Proletarier, Bürger aller Nationen; dich frage ich, ehrwürdiger Vater und höchster Herr der katholischen Kirche, dich frage ich im Namen Gottes: Darf um der Rache willen ein Volk der Erde von seinen Brudervölkern vernichtet werden, und wäre es das letzte und armseligste aller Völker? Darf ein lebendiges Volk geistiger, europäischer Menschen mit seinen Kindern und Ungebornen seines geistigen und leiblichen Daseins beraubt, zur Fronarbeit verurteilt, ausgestrichen werden aus dem Kreis der Lebenden?
Wenn dieses Ungeheuerste geschieht, gegen das der schrecklichste aller Kriege nur ein Vorspiel war, so soll die Welt wissen, was geschieht, sie soll wissen, was sie zu tun im Begriffe steht. Sie soll niemals sagen dürfen: wir haben es nicht gewußt, wir haben es nicht gewollt. Sie soll vor dem Angesicht Gottes und vor der Verantwortung der Ewigkeit ruhig und kalt das Wort aussprechen: Wir wissen es. Und wir wollen es. [...]
Der deutsche Geist, der für die Welt gesungen und gedacht hat, wird Vergangenheit. Ein Volk, das Gott zum Leben geschaffen hat, das noch heute jung und stark ist, lebt und ist tot.
Es gibt Franzosen, die sagen: dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen starken Nachbar haben. Es gibt Engländer, die sagen: dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen kontinentalen Nebenbuhler haben. Es gibt Amerikaner, die sagen: dies Volk sterbe. Wir wollen nie mehr einen Konkurrenten der Wirtschaft haben. Sind diese Menschen die wahren Vertreter ihrer Nationen? Niemals. Alle starken Nationen werden die Stimmen der Furchtsamen und Neidischen verleugnen. Sind die Rachedurstigen die wahren Vertreter ihrer Nationen? Niemals. Diese schreckliche Leidenschaft ist bei gesitteten Menschen nicht von Dauer.
Dennoch: wenn die Furchtsamen, die Neidischen und die Rachsüchtigen in einer einzigen Stunde, in der Stunde der Entscheidung, siegen und die drei großen Staatsmänner ihrer Nationen mit sich reißen, ist das Schicksal erfüllt. [...]
Unsere Klage werdet ihr nicht hören. Dennoch wird sie da gehört werden, wo noch nie eine Klage aus Menschenbrust ungehört verhallte.“
Ich habe Ihnen dieses aus nüchternstem Verstande Errechnete, wahrhaftig nicht aus Chauvinismus hervorgegangene Urteil, das aber das Urteil des materialistischen Denkens ist, ich habe Ihnen dieses Urteil vorgebracht; vorgebracht schon auch aus dem Grunde, weil wir ja mitten in einer Welt leben, in der die Menschen heute noch immer nicht geneigt sind, irgendwie darüber nachzudenken, daß Ernst da ist. Wie unzählige Menschen werden heute Silvester feiern, so, wie sie nicht nur während der letzten vier Jahre, sondern wie sie auch vor den katastrophalen Ereignissen Silvester feierten! Und unzählige Menschen werden es als eine Beeinträchtigung ihrer Ruhe, als eine Beeinträchtigung ihrer sorglosen Seele empfinden, wenn man sie nur aufmerksam darauf macht, daß so etwas auf dem Spiele steht. Ach, so arg wird es nicht werden – wenn die Menschen auch nicht diesen Satz sagen, in ihrem Innersten fühlen die Menschen so, sonst würden sie die ganze Beurteilung der Zeit anders einstellen.
[...] Allerdings nehmen sich die Dinge anders aus, ob man sie errechnet mit materialistischem Geiste, oder ob man in Verbindung steht mit dem, was aus geisteswissenschaftlichen Impulsen folgen kann. Äußerlich betrachtet, bleiben die Dinge so richtig. Es besteht keine Aussicht, daß nicht wissend das getan wird, was Walther Rathenau noch im letzten Augenblicke abwenden will, indem er den Leuten zu Gewissen redet. Ja, dieses Zu-Gewissen-Reden! ... Man kann nur Punkte machen. Es wird schon nicht abgewendet werden! Äußerlich werden sich die Dinge so vollziehen. Es gibt nur eines, wenn wir hinblicken auf das, was durch die Vergangenheit angerichtet worden ist – angerichtet wahrlich nicht von dem oder jenem Volk, angerichtet von der ganzen zivilisierten Menschheit der Erde –, es gibt nur eines: wie in einer großen Weltsilvesterbetrachtung hinzublicken auf das, was die Menschheit bisher durchlebt hat, und dann gewahr zu werden, daß nun in einem gewissen Sinne die Menschheit reif war, an ein Ende zu kommen, und eingetreten ist in das, was die neuen Geister der Persönlichkeit aus Himmelshöhen auf die Erde hereintragen wollen. Aber hier begegnen sich Einsicht und Wille. Das, was die Geister der Persönlichkeit als neue Schöpfer offenbaren wollen, es wird nur in die Welt kommen können, wenn es in Menschenherzen und in Menschenseelen, in Menschengemütern einen fruchtbaren Boden findet, wenn die Menschen sich hinfinden zu den geisteswissenschaftlichen Impulsen. Was ein nüchterner, materialistischer Geist sagt über die materiellen Impulse, die da wirken können, es stimmt schon. [...]
Wenn nur die äußeren materialistischen Impulse wirken in der Welt und in den Menschenköpfen und in den Menschenherzen, dann wird es so werden! Dann wird mit einer furchtbaren Sklavenkette wahrhaftig nicht nur Deutschland und die Mittelländer und Rußland, sondern die ganze zivilisierte Erde wird nach und nach mit furchtbaren Sklavenketten umgürtet werden und niemals wieder froh werden. Denn durch dasjenige, was nur von altersher heraufkommt, ist die Welt an einem Ende! Neues kommt nicht daher. Neues muß kommen aus der geistigen Welt. Aber es kommt nicht, wenn der Mensch sich ihm nicht nahen will, wenn der Mensch nicht in freiem Willen es aufnehmen will. Rettung kann nur kommen, wenn Menschenseelen sich finden, die dem Geist entgegengehen, der sich in der neuen Weise durch die Geister der Persönlichkeit offenbaren will, die aus bloßen Zeitgeistern Schöpfer werden wollen. Es gibt keinen andern Ausweg. Ehrlich kann man nur auf zweierlei Art sein: entweder so sprechen wie Walther Rathenau oder aber hinweisen auf die Notwendigkeit des Sich-Hinneigens zur geistigen Welt.
Das letztere wird Gegenstand unserer Neujahrsbetrachtung sein. Die Silvesterbetrachtung sollte für jeden wachen Menschen nicht so sein, daß er sich wohlig ins neue Jahr hinüberbegibt; sie soll ihn ernst stimmen, sie soll ihm vor Augen führen dasjenige, was in der Zeiten Schoß liegt, wenn nicht in diesem Zeitenschoß das Geistkind geboren wird. Bei diesem Geisteslicht allein kann eine richtige Neujahrsperspektive empfunden werden. Wollen wir einmal von heute zu morgen versuchen, uns in unserer Seele ernst zu stimmen! Ich durfte heute nicht anders schließen als mit ernstem Hinweis, den ich noch dazu nicht selber geben wollte. Aufmerksam wollte ich machen, wie diese Silvesterbetrachtung sich ausnimmt in der Seele eines Menschen, der ehrlich ist, der hinschaut auf die Welt, aber nur die materiellen Mächte geltend findet. So muß es aussehen in den Köpfen, in den Herzen, in den Gemütern, in den Seelen – wenn sie ehrlich sind – derjenigen, die nicht geistig werden wollen; die andern, die auch Materialisten sind, sind nicht ehrlich, und sie schlafen, damit sie sich ihre Unehrlichkeit nicht zu gestehen brauchen. [...]
Achter Vortrag, 1. Januar 1919
[...] Sie erinnern sich, wie ich in diesen Tagen ausgeführt habe, daß zum Allerwichtigsten, zum Allerwesentlichsten in der Erkenntnis der gegenwärtigen Zeit gehört, daß die Menschheit gewissermaßen vor einer neuen Offenbarung steht. Es ist diejenige Offenbarung, die geschehen soll, und in gewisser Beziehung auch schon geschieht, durch die Geister der Persönlichkeit, welche, wenn man sich so ausdrücken will, zu der Würde von Schöpfern aufsteigen, während wir als Schöpfer im Weltengange der Menschheit bisher nur haben ansprechen können diejenigen Geister, welche in der Bibel die Elohim genannt werden, die wir die Geister der Form nennen. Etwas Schöpferisches also wird auftauchen innerhalb desjenigen, was der Mensch beim Verfolgen der Außenwelt bemerken kann.
Nun liegt es in gewissen Bedingungen der Menschennatur, daß der Mensch sich zunächst sträubt gegen die Anerkennung eines solchen hereinbrechenden Geisteselementes. Der Mensch will namentlich in der Gegenwart nicht eingehen auf ein solches Hereinbrechen eines geistigen Elementes. [...]
Dadurch, daß sich die Menschen sträuben, eine solche Offenbarung entgegenzunehmen, wird selbstverständlich die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß diese Offenbarung kommt. Diese Offenbarung ergießt sich wie eine neue Geisteswelle durch das Geschehen, in das der Mensch eingespannt ist. Der Mensch kann diese Welle nicht etwa von der Erde zurückstoßen. Sie ergießt sich über die Erde. Das ist die eine Tatsache.
Also, ich möchte sagen, seit einiger Zeit, insbesondere seit dem Beginne des 20. Jahrhunderts – oder eigentlich deutlicher gesagt seit dem Jahre 1899 etwa – stehen wir, indem wir als Menschen in der Welt herumgehen, innerhalb einer neuen Welle des geistigen Lebens, die sich in das andere Leben der Menschheit hineinergießt. [...]
Ich habe in öffentlichen Vorträgen oftmals die Frage erörtert: Was für ein Bild der Welt gewinnt man eigentlich durch naturwissenschaftliche Weltanschauung? Zuletzt sieht man doch ein, daß das, was man sich vorstellen kann von der Welt durch die gebräuchlichen naturwissenschaftlichen Denkgewohnheiten, nicht die Wirklichkeit ist, sondern ein Gespenst oder eine Summe von Gespenstern, selbst unsere Atome und alles das, was man sich vorstellt in der Welt der Atome. [...] Es ist dies zusammenhängend mit dem, was ich vor einigen Tagen hier gesagt habe: daß eigentlich die Begriffswelt, in der wir heute im Zeitalter der Bewußtseinsseele leben, nicht Wirklichkeiten enthält, sondern nur Bilder, Spiegelbilder. Und es ist schon außerordentlich viel gewonnen, wenn man nicht an dem Aberglauben hängt, daß, wenn man ein naturwissenschaftliches Buch liest oder eine naturwissenschaftliche Auseinandersetzung hört, man dann von einer Wirklichkeit erzählen hört. Wird man sich dessen bewußt, was einem da mitgeteilt ist, so ist das eigentlich nur ein Bild, eine Art Gespenst der Wirklichkeit. Was aber da lebt in solchen Vorstellungen, die eigentlich nur gespenstische Bilder sind, die sich nicht so wie die Goetheschen Metamorphosengedanken mit der Wirklichkeit verbinden, das, was da lebt, hat man doch heute in einem gewissen Sinn außerordentlich gern, außerordentlich lieb. Und man möchte die Wirklichkeit einfangen in dieses Gespenstgespinst der Vorstellungen. [...]
Man kommt mit diesen Dingen nur zurecht, wenn man sich ganz klar ist, daß diese naturwissenschaftliche Vorstellungsart die Menschen dazu präpariert, das positive Geistige abzuweisen, das hereinspielt in die Welt. Und deshalb sträuben sie sich, furchtsam sträuben sie sich gegen die Welle, von der ich gesagt habe, daß sie hereinkommt und sich ausbreitet und daß sie doch in den Seelen der Menschen lebt. [...]
Wenn Sie dies bedenken, so werden Sie etwas finden, was gerade heute für das Verstehen der Seelenkonstitution von außerordentlicher Wichtigkeit ist. Denn wir hätten diese furchtbare Kriegskatastrophe oder vielmehr den kriegerischen Ausdruck dieser Katastrophe [...] hätten wir gar nicht bekommen können, wenn nicht diese seelische Tatsache vorläge. Man muß diese seelische Tatsache ganz genau ins Auge fassen, wenn man sie verstehen will. Man muß sich nämlich fragen: Wie ist es denn eigentlich mit dieser Welle, die da so geht? [...]
Was lebt denn eigentlich in dieser Welle, in der sich gerade die Geister der Persönlichkeit bewegen? – Gewiß, es leben darin die Geister der Persönlichkeit, die sich neu als Schöpfer offenbaren wollen, aber es lebt eben manches andere noch in dieser Welle. [...] Das, was da hereinflutet in die Seelen, was wirklich in den Seelen einschlägt, das ist Kampf, das ist ein Weltenkampf, der sich gewissermaßen hinter der Szene der gegenwärtigen Welt abspielt. In diesen Weltenkampf ist der Mensch eingesponnen. [...]
Gewiß, im physischen Leben muß man sich an den Menschen halten. Aber das Wichtige ist, daß man sich dessen bewußt wird: In den Menschen wirken herein allerlei geistige Impulse, und mit denen hat man es eigentlich zu tun. Man kann natürlich nicht, wenn einem einer eine Ohrfeige gibt, irgendeinem Dämon, der ihn dazu angetrieben hat, die Ohrfeige zurückgeben, man muß sich an den Menschen halten, der einem im physischen Leben physisch gegenübersteht. Aber das, was so notwendig ist, ich möchte sagen, vor den Kulissen des Daseins, das reicht wirklich nicht aus, um die Welt zu verstehen, namentlich reicht es nicht aus, um wirklich das soziale Leben ordentlich ins Auge zu fassen. Mit andern Worten: Der Mensch kommt heute nicht aus, wenn er nicht hinter dem, was physisch vorgeht, eine geistige Welt in Realität, in Konkretheit wirklich anerkennt. Das ist sehr wichtig. Davor haben die Menschen zum großen Teile Furcht.
Diese Furcht ist gewiß nicht unbegründet. Wenn Sie nicht ganz nüchterne, trockene Menschen sind – selbstverständlich sitzt kein solcher hier –, dann werden Sie so etwas wie eine kleine Gänsehaut bekommen, wenn Sie sich denken sollen, daß Sie eigentlich der Schauplatz sind für das Wirken allerlei geistiger Wesenheiten, wie es in Wahrheit der Fall ist. Hat man dann so das Bewußtsein, man ist der Schauplatz für das Wirken aller möglichen geistigen Wesenheiten, dann hat man das Gefühl, daß man sich verliert an diese geistigen Wesenheiten, die einen ausstopfen. Man kommt sich so wie ein Sack vor, der ausgestopft ist mit allen möglichen Wesenheiten. Dieses Gefühl ist gewiß nicht unberechtigt, diese Gänsehaut; aber sie kann wahrhaftig nicht dadurch aus der Welt geschafft werden, daß man die Tatsache, ein solcher Sack zu sein, ableugnet, daß man gewissermaßen das Bewußtsein davor verschließt und sich blind und taub macht gegen das, was eine Wirklichkeit ist. Es muß in anderer Weise Hilfe geschaffen werden. [...]
Nehmen Sie zum Beispiel folgendes. Nehmen Sie an, so ein Mann wie Ludendorff wäre Professor der Botanik geworden. Er wäre wahrscheinlich ein ausgezeichneter Professor der Botanik geworden, würde Außerordentliches geleistet haben als Professor der Botanik, würde, wie man sagt, ein berühmter Knopf geworden sein, so berühmt, daß es sogar seinen Ehrgeiz hätte befriedigen können, aber er würde nicht eine so große Zahl von Menschen unglücklich gemacht haben, wie er es getan hat. [...] Und so ist er das Unglück eines großen Teiles der Menschheit. So ist er einer von den dreißig bis vierzig Menschen der Gegenwart, von denen äußerlich die Katastrophe abhängt, ein Mensch, der an dem Platze, an dem er steht, einfach sich sträubt gegen die Anerkennung von irgend etwas Geistigem. Es ist aber heute schon die Zeit da, wo diejenigen Menschen zum Menschenunglück werden können, die in führenden Stellungen sich gegen die Anerkennung eines Geistigen sträuben, die nicht anerkennen wollen, daß das Geistige hereinspielt namentlich in das Menschenleben. [...]
Solch ein Mensch wie derjenige, den ich eben jetzt als Beispiel angeführt habe, der lebt sich dann aus, um in allerlei solchen Dingen, wie es diese Persönlichkeit gemacht hat, sich zu betäuben über die Spaltung der Persönlichkeit, über das, was da rumort und tobt. Das ist überhaupt bei sehr vielen Menschen der Gegenwart der Fall. Sie betäuben sich über das, was eigentlich in ihrem Inneren tobt, wenn sie in eine bestimmte Lage kommen im äußeren Leben, durch das oder jenes, was sie tun; der eine prügelt seinen Nachbarn durch, der andere schreibt ein blödsinniges botanisches Buch und dergleichen. Sie betäuben sich über das, was eigentlich in ihrem Inneren tobt, und was immer darin besteht, daß ihre Persönlichkeit zu zerfallen droht; einfach unter dem Einfluß der notwendigen Zeitereignisse droht ihre Persönlichkeit zu zerfallen, weil sie sich davor fürchten, sich in den Kampf hineinzustürzen, der hinter den Kulissen in der Welt jetzt spielt und auf dessen Wellen die Geister der Persönlichkeit einziehen wollen in unsere Zeit.
Anerkennung des Geistigen erfordert ein Fertigwerden mit der Frage, die wir eben jetzt ins Auge fassen. Und da ist es von ungeheurer Notwendigkeit, wirklich das ernst zu nehmen, was hier so oft betont wird: Geisteswissenschaft nicht bloß als eine Theorie zu betrachten. Wenn Sie sie als eine Theorie betrachten, dann lesen Sie lieber Kochbücher und dergleichen; denn das, was bloßer Inhalt ist in der Geisteswissenschaft, ist nicht eigentlich das Wesentliche und Wichtige. Das, worauf es ankommt, ist die Art, wie man denken muß, um Geisteswissenschaft anzuerkennen. Es ist eine andere Art des Denkens als diejenige, die man gerade aus dem heute gebräuchlichen Naturanschauen gewonnen hat. Es gibt eben zwei Arten, sich Gedanken zu bilden. Die eine Art ist die zergliedernde, die unterscheidende, die gerade in der Naturwissenschaft heute eine so große Rolle spielt, wo man unterscheidet, sorgfältig unterscheidet. Sie finden das gerade in der Naturwissenschaft tonangebend. Alles, was in der Naturwissenschaft gesagt, geschrieben getan wird, steht unter dem Einfluß der zergliedernden Denkweise, der unterscheidenden Denkweise. Man sucht stramme Definitionen. Und wenn einer heute etwas sagt, so nagelt man ihn an stramme Definitionen. Stramme Definitionen sind aber nichts weiter als Unterscheidungen der Sachen, die man definiert, von andern Sachen. Diese Denkweise ist eine Art von Maske, der sich insbesondere gern bedienen die Geister, die heute uns zerreißen möchten, die in diesem Kampfe drinnenstehen. Trivial könnte man sagen: Eine große Anzahl derjenigen Menschen, die die gegenwärtige Kriegskatastrophe herbeigeführt haben, und derjenigen, die noch drinnenstehen in dem, was die Folgen sind, sind eigentlich verrückt. Aber das ist, wie gesagt, nur etwas Triviales. Um was es sich da handelt, ist, daß man versteht, wodurch ihre Persönlichkeiten zerrissen werden. Von dieser Denkweise, zu der einen Zugang haben die verschiedenen, den Menschen auseinanderreißenden Mächte, muß man klar unterscheiden die andere, die in der Geisteswissenschaft allein angewendet wird. Sie ist eine ganz andere Vorstellungsart, eine ganz andere Denkweise. Sie ist, im Gegensatz zu der zergliedernden, eine gestaltende Denkweise. [...] Diese ist gestaltend, sie gibt abgeschlossene Bildheiten, sie versucht Konturen und durch Konturen Farben zu geben. [...]
Wenn Sie zergliedernd denken, wenn Sie so denken, wie der heutige Naturforscher denkt, dann denken Sie ebenso wie gewisse Geister der ahrimanischen Welt, und daher können diese ahrimanischen Geister in Ihre Seele hereindringen. Wenn Sie aber das gestaltende Denken nehmen [...], so ist dieses Denken eng an den Menschen gebunden. So gestaltend, wie der Mensch mit dem Denken in sich selber wirkt, vermögen es keine andern Wesen als diejenigen, die mit der normalen Menschheitsentwickelung zusammenhängen. Das ist das Eigentümliche. Dadurch können Sie nie auf falsche Wege kommen, wenn Sie sich durch die Geisteswissenschaft auf gestaltendes Denken einlassen. Da können Sie niemals sich verlieren an die verschiedenen geistigen Wesenheiten, die Einfluß gewinnen wollen auf Sie. Die gehen natürlich durchaus durch Ihre Wesenheit hindurch. Aber sobald Sie gestaltend denken, sobald Sie sich bemühen, nicht bloß zu spintisieren und zu unterscheiden, sondern so zu denken, wie es wirklich diese moderne Geisteswissenschaft will, so bleiben Sie in sich, so können Sie nicht das Gefühl der bloßen Ausgehöhltheit haben. Deshalb betont man, wenn man auf dem Standpunkt unserer Geisteswissenschaft steht, so häufig den Christus-Impuls, weil der Christus-Impuls in der geraden Linie des gestaltenden Denkens liegt. [...] Es braucht heute tatsächlich – das ist gar nicht übertrieben – jemand nichts anderes, als sich an die Vorstellungsart, an die Denkweise dieser Geisteswissenschaft zu halten, dann können ihm diejenigen dämonischen Wesenheiten, die als Begleiterscheinungen der Geister der Persönlichkeit hereinrollen mit der neuen Welle, nichts anhaben. [...]
Es läßt sich diese Welle nicht aufhalten, wenn die Menschen sie auch abweisen, sie flutet herein, auch wenn die Menschen sich gegen sie sträuben, wenn sie sie nicht auffassen wollen. Dann kommt dasjenige heraus, was im Grunde zur Katastrophe der Gegenwart im tieferen Sinne geführt hat: das Nichtanerkennen der geistigen Welt. Das ist doch die tiefere Ursache für die heutigen katastrophalen Ereignisse, namentlich auch für die heutigen katastrophalen Seelenverfassungen. Und da es ein Kampf ist, der unten ja waltet, so gibt es kein anderes Mittel, als durch das gestaltende Denken die menschliche Persönlichkeit in sich selber plastisch auszubilden und dadurch den Kampf in der Seele zu erleben. Sonst wird der Kampf in der Außenwelt sich bleibend abspielen. [...] Wenn man sich Gedanken, die nach dem Muster der Naturwissenschaft sind, hingibt, kann man einfach nicht der heutigen Zeit gewachsen sein. Wenn man bloß dasjenige ordnen will, was hier in der physischen Welt ist, wenn man bloß über das nachdenkt, was hier in der physischen Welt ist und nichts anderes gelten lassen will, dann zerstört man nur. Und man soll sich dann nicht wundern, wenn der Kampf, dessen man nicht Meister werden will im Geistigen, in das physische Leben hereinspielt, denn er schlägt ja herein in die Menschen. Und wenn sie ihn nicht in der Seele ausfechten wollen, so führt er den einen gegen den andern, Völker gegen Völker, Menschen gegen Menschen. Was hier in der physischen Welt geschieht, kann nur ein Abbild sein der geistigen Welt: Entweder der Mensch nimmt den Kampf so, daß er ihn in seiner Seele ausficht, das heißt, die Menschen vertiefen sich geistig, oder aber dieser Kampf, der durch das Bewußtsein wie durch ein Sieb hindurchgeht, wenn man bloß so denken will, wie die Gegenwart denkt, entlädt sich, indem er den Menschen, die menschliche Seele ausschaltet in der äußeren Welt, und verursacht alles das, was Sie eben jetzt sehen. Sie werden, wenn Sie so etwas bedenken, einsehen, daß es wirklich der heutigen Menschheit obliegt, sich zum Geiste hinzuwenden, daß dies notwendig vorgezeichnet wird von den Weltereignissen. [...]
Wer die geistige Welt und ihr Verhältnis zur physischen Welt durchschaut, der weiß, daß gewisse Gesetze herrschen, wenn das auch keine logische Folge ist, aber die logische Folge liegt eben im zergliedernden, nicht im gestaltenden Denken, nicht im anschauenden Denken, das ich charakterisiert habe. [...] Ein solches Gesetz aber ist auch dieses: In dem Maße, in dem die Menschen ihre Seele durchdringen mit Anerkennung des Geistigen, wie ich es heute geschildert habe, so daß also auch dasjenige, was in einem Zeitalter geistig ist, herabfließt in das Bewußtsein, in dem Maße kann sich auch das gewöhnliche Zusammenleben in der Menschheit entfalten, in dem Maße können die Menschen über die antisozialen Triebe, über das, was der Sozialisierung entgegenarbeitet, hinauskommen.
Es haben die Menschen heute nur nicht den Mut, das Geistige wirklich in ihr Bewußtsein hereinspielen zu lassen. Aber wenigstens einige Menschen sollten wissen, daß es sich darum handelt, heute ins unmittelbare Bewußtsein das Geistige hereinspielen zu lassen. Betrachten Sie von diesem Gesichtspunkte aus bestimmte Zeiterscheinungen, ich möchte sagen, Zeitliebhabereien, dann werden Sie sehen, wie die Menschen heute einen Drang haben, aus ihrem Bewußtsein den Zusammenhang mit dem geistigen Gesetze des Daseins auszuschließen. Und wie sogar im praktischen Handeln mit solchen Dingen zu rechnen ist, durch die der bewußte Zusammenhang ausgeschlossen werden kann, habe ich Ihnen neulich einmal vorgeführt, als ich von den Begabtenprüfungen sprach. Da will man möglichst nicht mehr einen unmittelbar elementaren Zusammenhang mit der Begabung des Schülers haben, sondern durch allerlei äußere Maßregeln Gedächtnis, Verständniskräfte prüfen, damit man nicht zu denken braucht. Deshalb haben die Leute die Mathematik so gern. Da stellt man erst einige Regeln auf, und dann wird mechanisch gerechnet. Da braucht man nicht die Einzelheiten mit der Intelligenz zu verfolgen. Man könnte ja auch nicht. Nicht wahr, Sie können sich nebeneinander drei, vier, fünf Bohnen vielleicht vorstellen, auch zehn Bohnen noch, zwanzig sich auf einen Blick vorzustellen, wird schon schwer gehen. Aber denken Sie sich, Sie sollten sich jetzt tausend oder gar eine Million auf einen Blick vorstellen! Aber rechnen können Sie es ganz gut, weil Sie da mechanisch den Ansatz machen; Sie brauchen die Einzelheit dessen, was Sie da tun, nicht mit der Intelligenz zu verfolgen. Das lieben aber die Menschen heute ganz besonders, wenn man ihnen etwas beweisen kann, wobei sie nicht eigentlich mit der Intelligenz dabeizusein brauchen. Wenn man an sie den Anspruch macht, sie sollen alle einzelnen Etappen des Beweises verfolgen, so ist das den Menschen furchtbar unangenehm. Daher soll lieber die Sache beweisen, ohne daß der Mensch dabei ist. Man möchte am liebsten die Sache, die geistige Welt, so beweisen, daß sie sich da draußen selber zeigt: Spiritismus und dergleichen. Den Menschen ist es furchtbar, daß die Geisteswissenschaft den Anspruch erhebt, daß man wirklich dabei ist, daß man aktiv ist in den einzelnen Etappen. Ohne das ist aber Geisteswissenschaft gar nicht denkbar. [...]
Man kann so schön träumen, wenn man sagt: Der Christus hat gesprochen von Nächstenliebe, das Christentum muß wiederum aufblühen – und so weiter. Man braucht sich da nicht aus der innersten Seele heraus, mit dem ganzen Menschen auf die konkrete geistige Welt einzulassen, wie die Geisteswissenschaft es verlangt. Aber gerade darauf kommt es an, daß man Ernst mit diesen Sachen macht. Wenn diese Sachen theoretisch anerkannt werden, und dann doch die Menschen wiederum nichts anderes tun als den Wilsonianismus verehren oder in nationalen Chauvinismus verfallen und so reden, wie man heute eben redet, dann bleibt diese katastrophale Zeit. Und sie wird so lange bleiben, bis sich die Menschen darauf einlassen, die geistige Welt wirklich so aufzunehmen, wie heute die geistige Welt aufgenommen werden muß: mit dem Bewußtsein, konkret, ohne Furcht und ohne Zaghaftigkeit.
So daß wir, wenn wir hineinschauen in das neue Weltenjahr, auf der einen Seite die Menschen sehen, wie sie, nur um sich betäuben zu können, prophetisch politisieren, Völkerbünde begründen, welche die Kriege aus der Welt schaffen sollen. Freilich fangen die Leute heute schon an, trotzdem sie damit renommieren, daß ein neuer „Wiener Kongreß“ nicht kommen soll, sich zu sagen, sie würden froh sein, wenn der Versailler Kongreß so viele Monate den Frieden bewirke, wie der Wiener Kongreß Jahre des Friedens bewirkt hat. Nun, die Menschen mögen eben Gedanken, die sie betäuben! Der hauptsächlichste heutige Betäubungsgedanke für die Menschheit ist dieser, daß nun, nachdem man einige andere abgesägt hat, Wilson der richtige Mann für die Zukunft ist. Er ist der große Mann, nicht wahr? Ein Mann, der vierzehn abstrakte Gedanken für fähig hält, die Welt des Erdendaseins in ein Paradies zu verwandeln! Aber es ist bequem, es ist dasjenige, was einen betäuben kann. Und es ist unbequemer, sich zu sagen: Wenn nicht eine solche Perspektive dastehen soll vor uns, wie die von Rathenau geschaute, ist es notwendig, daß möglichst viele Leute zu einer bewußten Anerkennung der geistigen Welt kommen. [...] Dazu ist aber notwendig, daß man sich von allen Vorurteilen absondert, die man heute noch in sich hegt, indem man Urältestes wiederum hervorholt, um sich darinnen wollüstig zu ergehen, daß man sich viel mehr einläßt auf das wirklich Neue. [...]
Aber das muß man empfinden aus innerer Einsicht in den Gang des Geistes. Und kein Hinblicken auf irgend etwas Äußerliches, kein Schwören auf neue Götzen, wie es sich jetzt vorbereitet, kann die Menschheit retten, sondern nur das Sich-Halten an den Geist, das Halten zum Geiste, das Wirken im Geiste.