Menschenbild und Gemeinschaftsbildung

Wesentliche Abschnitte aus Rudolf Steiners Gesamtwerk zur Frage der Gemeinschaftsbildung.


Inhalt
Die kosmische Bedeutung des Menschen (GA 193)
Der Sündenfall in die Materie und den bloßen Verstand (GA 233a)
Luzifer und Ahriman – Interesselosigkeit und Machtimpulse (GA 184)
Die Ehrfurcht als erste Bedingung jeder Esoterik (GA 10)
Sich als ein Glied des ganzen Lebens empfinden (GA 10)
Das Böse und das höhere Gute (GA 95)
Innere Toleranz und moralische Schulung (GA 260a)
Interesse und Hingabe für den anderen Menschen (GA 220)
Bruderschaft und Daseinskampf (GA 54)
Lebendige Ideale und das Wesen des Christus (GA 127)
Der Gedankenweg zu Christus (GA 193)
Das Bild des anderen Menschen erwecken (GA 186)
Spiritueller Idealismus und das Erwachen am Anderen (GA 257)
Das künftige Vertrauen des Menschen in den Menschen (GA 217)
Über die innere Entschlossenheit (GA 317)


Die kosmische Bedeutung des Menschen

GA 193 (Der innere Aspekt des sozialen Rätsels), Erster Vortrag, 4.2.1919 (Zürich), S. 9-14.


In diesen Tagen, wo es mir obliegt, in dieser Stadt öffentliche Vorträge zu halten über die soziale Frage, ist es vielleicht nicht unangemessen, wenn wir uns gerade an diesem Zweigabend hier gewissermaßen innerlich mit dem sozialen Rätsel, wie es in der Gegenwart besonders bedeutungsvoll ist, beschäftigen.

Wir wissen ja, jenem Menschen gegenüber, dem wir in der äußeren Welt gegenübertreten, der vor unserem Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen, wie es an den Leib gebunden ist, steht, müssen wir den eigentlichen, tiefer gelegenen inneren Menschen anerkennen. Diesen inneren Menschen gewahren wir zuerst, wenn wir Rücksicht darauf nehmen, daß er im Grunde genommen mit allem im Zusammenhange steht, wovon wir sagen können, daß es für unsere Erkenntnis, für unser ganzes Leben die Welt durchwellt und durchwebt. Bedenken Sie nur, wie verschieden von der gewöhnlichen Weltbetrachtung gerade mit Bezug auf den Menschen unsere anthroposophische Weltbetrachtung ist. Werfen Sie einen Blick auf den Versuch, den ich gemacht habe, um anthroposophische Weltauffassung einmal abrißweise zusammenzustellen, auf alles dasjenige, was Sie in meiner „Geheimwissenschaft im Umriß“ gelesen haben, und Sie werden sehen, da ist nicht nur unsere Erdenentwickelung im Zusammenhange mit dem Menschen, da ist unsere Erdenentwickelung betrachtet als hervorgegangen aus früheren Verkörperungen dieses unseres Erdenplaneten. Hervorgegangen ist diese Erdenentwickelung aus der alten Mondenentwickelung, diese aus der Sonnenentwickelung, diese Sonnenentwickelung aus der Saturnentwickelung. Aber schauen Sie sich alles an, was zusammengetragen worden ist, um diese Entwickelung über Planetensysteme hinweg bis zu unserer Erdenentwickelung zu verfolgen, und Sie werden sagen: In allem, was man betrachtet, fehlt nicht der Mensch. Der Mensch ist in allem drinnen. Der ganze Kosmos wird so betrachtet, daß alle seine Kräfte, alles dasjenige, was in ihm geschieht, hingeordnet ist auf den Menschen. Der Mensch ist gegenüber der Weltenbetrachtung Mittelpunkt dieser Betrachtung. [...]

Ich habe bemerklich gemacht, wie sehr es notwendig ist, gerade gegenüber dieser durch und durch wahren Idee die Notwendigkeit der menschlichen Bescheidenheit geltend zu machen, wie notwendig es ist, sich immer wieder und wieder zu sagen: Ja, wenn wir unser ganzes Wesen, wie wir es in uns und an uns und um uns tragen, wie wir mit ihm in die Welt hineingestellt sind, erkennend erleben, wenn wir unser ganzes Wesen in der Tat zur Offenbarung bringen könnten, es wäre mikrokosmisch die ganze übrige Welt. – Aber wieviel wissen wir, wieviel erleben wir, wieviel können wir durch die Tat offenbaren von dem, was wir als Menschen im höchsten Sinne des Wortes sind? Wir schweben daher – wenn wir uns so recht klarmachen können die Idee, was wir als Menschen sind – zwischen Hochmut und Bescheidenheit. Wir dürfen ganz gewiß nicht in Hochmut ausarten, wir dürfen aber auch in der Bescheidenheit nicht untergehen. Wir würden in der Bescheidenheit untergehen, wenn wir uns nicht in die Lage versetzten, unsere Aufgabe als Mensch – um dessentwillen, was wir doch vor einer allseitigen Weltbetrachtung in der Welt sind – möglichst hoch zu setzen. Wir können im Grunde niemals hoch genug über dasjenige denken, was wir sein sollten. Wir können niemals genug das tiefere kosmische Verantwortungsgefühl des Menschen würdigen, das ihn überkommen muß, wenn er die Hingeordnetheit des ganzen Universums auf sein Wesen ins Auge faßt.

Dieses sollte allerdings aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft heraus weniger theoretische Idee werden, sollte weniger bloße Wissenschaft werden, sollte eine Empfindung werden, die Empfindung einer heiligen Scheu gegenüber dem, was wir als Mensch sein sollten und doch in den wenigsten Fällen sein können. Es sollte aber auch oftmals die Empfindung da sein, wenn wir einem einzelnen Menschen gegenübertreten: Da stehst du, manches bringst du in dir zum Ausdruck in dieser gegenwärtigen Inkarnation. Doch du gehst von Leben zu Leben, von Inkarnation zu Inkarnation; in der Stufenfolge deiner Leben prägt sich ein Unendliches aus. – Und noch nach manchen anderen Richtungen hin könnten wir diese Empfindungen erweitern, könnten sie vertiefen. Aus dieser Empfindung heraus kommt man auf geisteswissenschaftlichem Boden erst zur rechten Menschenschätzung, kommt man zu einer Empfindung von der menschlichen Würde in der Welt. Diese Empfindung kann unsere ganze Seele durchsetzen, kann, wenn sie sich über unser ganzes Innere ausbreitet, uns allein in die rechte Stimmung versetzen, wenn wir genötigt sind, im einzelnen Falle unser individuelles Verhältnis von Mensch zu Mensch zu ordnen. (S. 9ff). [...]

Bedenken Sie, wieviel steht in diesem einen Erdenleben, dem man mit den Sinnen, mit der gewöhnlichen Leibesempfindung gegenüberstehen kann, vom Menschlichen vor uns, von jenem Menschlichen, um dessentwillen wir, um es ganz zu betrachten, aufrufen nicht nur die Erdenentwickelung, sondern Mond-, Sonnen-, Saturnentwickelung? Wie schwindet vor diesem modernen Bewußtsein das wahrhaft Menschliche dahin, das uns aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft erst das rechte Gefühl, die rechte Empfindung von wahrer Menschenwürde gibt, so daß wir ein rechtes Verhältnis finden, wenn wir als menschliches Individuum dem anderen menschlichen Individuum gegenüberstehen. Ist es denn denkbar, daß im heutigen Chaos des menschlichen Zusammenlebens ein rechtes Verhältnis von Mensch zu Mensch gefunden werde, das doch einer wirklichen Lösung des sozialen Rätsels zugrunde liegen muß? (S. 13f). [...]

Der Sündenfall in die Materie und den bloßen Verstand

GA 233a (Mysterienstätten des Mittelalters...), Vierter Vortrag, 11.1.1924 (Dornach), S. 55-64.


Wir sehen ja, wie die realen Erkenntnisse der Menschen in bezug auf die Natur, in bezug auf das Wirken der geistigen Welt in der Natur im elften, zwölften, dreizehnten Jahrhundert durchaus noch da sind. [...]

Die Erde betrachtete man natürlich auch als in ihrer inneren Tätigkeit, in ihrer Bewegung im Kosmos geregelt durch eine Summe von Intelligenzen, die man zusammenfassen konnte unter der Intelligenz des Erdengestirns. Aber was war für diese Persönlichkeiten noch die Intelligenz des Erdengestirns? Es ist heute ja außerordentlich schwer, überhaupt von diesen Dingen noch zu reden, weil die Vorstellungen der Menschen so weit weggegangen sind von dem, was in der damaligen Zeit wie etwas Selbstverständliches galt für die einsichtigen Menschen. Die Intelligenz des Erdengestirns war der Mensch als solcher. Man sah den Menschen an als dasjenige Wesen, welches von der Weltengeistigkeit die Aufgabe erhalten hat, nicht etwa bloß, wie der heutige Mensch meint, auf der Erde herumzugehen oder mit der Eisenbahn herumzufahren, Waren einzukaufen und zu verkaufen, Bücher zu schreiben und dergleichen, sondern man faßte den Menschen so auf, daß er von der Weltengeistigkeit die Aufgabe erhalten hat, in alles das, was sich bezieht auf die Stellung der Erde im Kosmos, regelnd, ordnend, gesetzmäßig einzugreifen. Den Menschen faßte man so auf, daß man sagte: er gibt der Erde durch dasjenige, was er ist, durch die Kräfte, die er innerhalb seines Wesens birgt, den Impuls zu ihrer Bewegung um die Sonne, zu ihrer Bewegung weiter im Weltenraume.

Man hatte damals noch ein Gefühl dafür, daß das dem Menschen einstmals zugeteilt war, daß der Mensch wirklich zu dem Herrn der Erde von der Weltengeistigkeit gemacht war, daß er aber dieser Aufgabe sich nicht gewachsen gezeigt hat im Verlaufe seiner Entwickelung, daß er von seiner Höhe heruntergestürzt sei. (S. 55ff). [...]

Und wenn ich Ihnen die Anschauung über dieses Verhältnis charakterisieren soll, so muß ich im Grunde wiederum in Imaginationen reden, denn diese Dinge lassen sich nicht in abstrakte Begriffe bannen. Das eigentliche Zeitalter der abstrakten Begriffe hat ja erst später begonnen, und die abstrakten Begriffe sind weit davon entfernt, die Wahrheit zu umspannen, und so muß schon in Imaginationen dargestellt werden.

[...] Der Mensch hat nicht seine Heimat auf der Erde, sondern der Mensch hat einen vorübergehenden Aufenthalt auf der Erde. Er ist in Wirklichkeit nach jener alten Anschauung ein Sonnenwesen. Er ist in seinem ganzen Sein mit der Sonne verbunden. Da er dieses ist, sollte er eigentlich als Sonnenwesen anders auf der Erde dastehen, als wie er ist. Er sollte so auf der Erde dastehen, daß [...] der Mensch in seinem ätherischen Leibe durch das Zusammenwirken von Sonne und Erde zustande kommen sollte und sich seine irdische Gestalt, wandelnd als ätherische Wesenheit auf der Erde, erst geben sollte. [...]

Und dasjenige, was später gekommen ist, ist dadurch gekommen, daß der Mensch einen zu tiefen Drang, eine zu intensive Begierde in sich hat erwachen lassen zu dem Irdisch-Stofflichen. Dadurch ist er verlustig geworden seines Zusammenhanges mit Sonne und Kosmos, und er konnte auf der Erde nur in Form der Vererbungsströmung sein Dasein finden. Dadurch aber hat gewissermaßen der Dämon der Erde seine Arbeit begonnen, denn mit Menschen, die sonnengeboren wären, hätte sich der Dämon des Irdischen nicht beschäftigen können. Dann aber, wenn der Mensch also die Erde betreten hätte, dann wäre er wirklich die vierte Hierarchie. Da würde stets, wenn über den Menschen geredet würde, so geredet werden müssen, daß man sagte: Erste Hierarchie – Seraphim, Cherubim, Throne, dann zweite Hierarchie – Exusiai, Dynameis, Kyriotetes, dritte Hierarchie – Angeloi, Archangeloi, Archai, vierte Hierarchie – der Mensch, in drei Abstufungen des Menschlichen, aber eben eine vierte Hierarchie. Dadurch aber, daß der Mensch nach dem Physischen hin seinen starken Drang geltend gemacht hat, dadurch wurde er nicht das Wesen auf der untersten Sprosse der Hierarchien, sondern das Wesen an der Spitze auf der höchsten Sprosse der irdischen Reiche: Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, Menschenreich. [...]

Dadurch aber, daß der Mensch seine Aufgabe auf der Erde nicht gefunden hat, dadurch hat die Erde auch nicht ihre würdige Stellung im Kosmos. Denn es ist ja eigentlich dadurch, daß der Mensch gefallen ist, der eigentliche Regent der Erde nicht da. [...]

Und jetzt bedenken Sie, meine lieben Freunde, wie unendlich vertieft für diesen mittelalterlichen Menschen gerade durch solche Vorstellungen der Christus-Impuls wurde. Der Christus wurde zu dem Geiste, der auf der Sonne seine weitere Aufgabe nicht finden wollte, der nicht bleiben wollte unter denjenigen, die von außen her unrechtmäßig die Erde dirigieren. Er wollte seinen Weg von der Sonne zur Erde finden, einziehen in Menschengeschick und Erdengeschick, wandeln durch die Erdenereignisse und durch die Erdenentwickelung in Menschengeschick und Erdengeschick. Damit war für den mittelalterlichen Menschen der Christus die einzige Wesenheit, die im Kosmos die Aufgabe des Menschen auf Erden gerettet hat. Und nun haben Sie den Zusammenhang. Denn nun können Sie wissen, warum in der Rosenkreuzer-Zeit dem Schüler immer wieder eingeschärft wurde: O Mensch, du bist ja nicht das, was du bist. Der Christus mußte kommen, um dir deine Aufgabe abzunehmen, um für dich deine Aufgabe zu verrichten. (S. 58ff). [...]

Solche Dinge muß man kennen, um die richtige Nuance herauszubekommen für den Umschwung, der in den letzten Jahrhunderten in bezug auf des Menschen Anschauung über sich selbst und über das Weltenall stattgefunden hat. Und mit dem Hinuntersinken dieses lebendigen Zusammenhanges des Menschen mit sich selbst, mit diesem Entfremden des Menschen von sich selbst kam dann das Anklammern des Menschen an den äußeren Verstand, der heute alles beherrscht. Denn dieser äußere Verstand, ist er denn menschliches Erlebnis? Er ist nicht menschliches Erlebnis. Denn wäre er menschliches Erlebnis, so könnte er nicht in so äußerlicher Weise innerhalb der Menschheit leben, wie er lebt. Der Verstand ist ja im Grunde genommen gar nicht verbunden mit dem einzelnen Persönlichen, mit dem einzelnen individuellen Menschen, der Verstand ist ja fast etwas Konventionelles. Er sprudelt nicht hervor aus innerem menschlichem Erlebnis. Er tritt eigentlich als etwas Äußerliches an den Menschen heran. (S. 63f). [...]

Luzifer und Ahriman – Interesselosigkeit und Machtimpulse

GA 184 (Die Polarität von Dauer und Entwickelung...), Zehnter Vortrag, 4.10.1918 (Dornach), S. 202-205.


Der Mensch würde niemals veranlaßt sein, ein anderes Denken zu entwickeln als ein solches, welches ich Ihnen als das Ideal der Goetheschen Weltanschauung neulich charakterisiert habe, wenn nicht luziferische Mächte hereinspielten. Durch die luziferischen Mächte bildet der Mensch Hypothesen, durch die luziferischen Mächte bildet der Mensch Phantasien über die Wirklichkeit. [...]

Aber diese ganze luziferische Regsamkeit, sie verursacht zu gleicher Zeit, daß der Mensch in einer gewissen Weise, man kann sagen, die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten geneigt ist. Alles das, was im Laufe der Zeit auftritt als Programme, als sehr schöne Ideen, mit denen man immer glaubt, das goldene Zeitalter in der einen oder in der andern Weise herbeiführen zu können, alles das rührt von den in den Menschen einströmenden luziferischen Neigungen her. [...] Luziferisch in der Menschennatur ist derjenige Trieb, der uns immerfort veranlaßt, unser Interesse gegenüber unseren Mitmenschen zu verringern. Wenn wir unserer ureigenen Menschennatur folgen würden, also denjenigen Entwickelungskräften, die in des Menschen eigener Strömung liegen, würden wir ein weit über das Maß dessen hinausgehendes Interesse für unsere Mitmenschen haben, als wir es in Wirklichkeit haben. Die luziferische Wesenheit in der Natur des Menschen, die bewirkt eine gewisse Interesselosigkeit gegenüber den andern Menschen. [...]

Vieles in der Welt würde anders sein, wenn wir seiner Realität nach anerkennen würden diesen unseren Drang, ein viel zu großes Interesse für dasjenige zu haben, was wir selber auskochen, und ein viel zu geringes Interesse für dasjenige, was andere Menschen denken und fühlen und wollen. Menschenkenntnis in rechtem Sinne erlangt man nur, wenn man seine Menschenanschauung durchstrahlt mit der Frage: Was treibt mich hinweg von dem Interesse, das ich an andern Menschen entwickeln kann? Und es muß eine Aufgabe der Menschenkultur in der Zukunft sein, gerade diese Menschenkenntnis zu entwickeln. Heute nennt man vielfach noch Menschenkenntnis dasjenige, was einer sagt über die Menschen, je nachdem er sich einbildet, sie seien so oder so, oder sie sollten so oder so sein. Die Menschen nehmen, wie sie sind, und sich klar darüber sein, daß jeder, wie er ist, selbst der Verbrecher – auch das muß gesagt werden –, noch immer etwas Wichtigeres uns sagt über die Welt, als es die Einbildungen sind, die wir uns über die Menschenwesenheit machen, wenn wir uns noch so schöne Gedanken aushecken: dieses sich sagen, das heißt, dem Luziferischen die richtige Gleichheitslage in uns geben. Es würde ein solches Streben nach Menschenkenntnis unendlich viel offenbaren. [...]

Man verwechsle dasjenige, was hier gemeint ist, nicht mit einer Kritiklosigkeit gegenüber dem Menschen. Wer freilich wiederum von der Idee ausgeht: Alle Menschen mußt du als gut ansehen und alle Menschen gleich lieben -, der macht sich die Sache ja allerdings recht luziferisch bequem, denn er geht erst recht von seinen Phantasien aus. Alle Menschen gleich zu betrachten, das ist erst recht eine luziferische Phantasie. Es handelt sich nicht darum, eine allgemeine Idee zu pflegen, sondern gerade darum, auf das Konkrete jedes einzelnen Menschen einzugehen und dafür ein liebevolles, vielleicht besser gesagt, interessevolles Verständnis zu entwickeln.

[...] Diese luziferische Kraft muß schon auch da sein, weil wir, wenn wir nur in der fortlaufenden Strömung wären und die natur- und geistgemäße Hinneigung zur Erkenntnis eines jeden Menschen entwickeln würden, in unserer Menschenkenntnis – verzeihen Sie den harten Ausdruck – ersaufen würden. Wir würden ertrinken, wir würden nicht recht zu uns kommen können. [...] Dasjenige, was uns so recht mit Menschen zusammenbringt, was uns finden läßt den andern Menschen in uns selbst, das würde bewirken, daß wir ertrinken in unserer Menschenkenntnis, wenn nicht fortwährend der luziferische Stachel da wäre, der uns immer wieder und wiederum hinwegbebt vom Ertrinken, der uns immer wieder und wiederum an die Oberfläche heraufhebt und zu uns bringt und das Interesse nachher an uns selbst erweckt. [...]

Das ist dasjenige, was man zunächst mit Bezug auf das menschliche Leben vom luziferischen Einschlag sagen kann. Er ergreift das Bewußtsein, aber so, daß sich Überbewußtes in das Bewußtsein hereinmischt.

Der ahrimanische Einschlag ergreift zunächst hauptsächlich das Unterbewußte im menschlichen Leben. In all dasjenige, was die unterbewußten, oftmals so raffinierten Triebe der Menschennatur sind, da hinein mischen sich die ahrimanischen Kräfte. In all das, was im Menschenleben spielt aus dem Unterbewußten heraus, da mischen sich hinein die ahrimanischen Kräfte. [...] Die Menschen glauben dann, daß sie aus ihrem Bewußtsein urteilen, während sie nur aus ihren unterbewußten Trieben und aus ihren unterbewußten, raffinierten Impulsen oftmals das Urteil heraufzaubern, oder auch heraufzaubern lassen eben durch die ahrimanischen Kräfte. [...]

Derjenige Mensch [...] möchte möglichst viele Menschen beherrschen, geht dann darauf aus, wenn er klug ist, die menschliche Schwäche zu benützen, um gerade durch die menschliche Schwäche die Menschen zu beherrschen.

Die Ehrfurcht als erste Bedingung jeder Esoterik

GA 10 (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?), S. 19-25.


Eine gewisse Grundstimmung der Seele muß den Anfang bilden.
Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad der Verehrung, der Devotion gegenüber der Wahrheit und Erkenntnis. (S. 19). [...]

Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, daß es etwas Höheres gibt, als wir sind, werden wir auch nicht in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinaufzuentwickeln. Der Eingeweihte hat sich nur dadurch die Kraft errungen, sein Haupt zu den Höhen der Erkenntnis zu erheben, daß er sein Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt hat. (S. 20). [...]

Wer in seinen Anlagen die devotionellen Gefühle hat, oder wer das Glück hat, sie durch eine entsprechende Erziehung eingepflanzt zu erhalten, der bringt vieles mit, wenn er im späteren Leben den Zugang zu höheren Erkenntnissen sucht. Wer eine solche Vorbereitung nicht mitbringt, dem erwachsen schon auf der ersten Stufe des Erkenntnispfades Schwierigkeiten, wenn er nicht durch Selbsterziehung die devotionelle Stimmung energisch in sich zu erzeugen unternimmt. In unserer Zeit ist es ganz besonders wichtig, daß auf diesen Punkt die volle Aufmerksamkeit gelenkt wird. Unsere Zivilisation neigt mehr zur Kritik, zum Richten, zum Aburteilen und wenig zur Devotion, zur hingebungsvollen Verehrung. [...] Aber jede Kritik, jedes richtende Urteil vertreiben ebensosehr die Kräfte der Seele zur höheren Erkenntnis, wie jede hingebungsvolle Ehrfurcht sie entwickelt. Damit soll gar nichts gegen unsere Zivilisation gesagt sein. [...] Nimmermehr hätte der Mensch die Wissenschaft, die Industrie, den Verkehr, die Rechtsverhältnisse unserer Zeit erlangt, wenn er nicht überall Kritik geübt, überall den Maßstab seines Urteils angelegt hätte. Aber was wir dadurch an äußerer Kultur gewonnen haben, mußten wir mit einer entsprechenden Einbuße an höherer Erkenntnis, an spirituellem Leben bezahlen. [...] (S. 21f).

In einer Zeit, in der die Verhältnisse des materiellen Lebens einfache waren, war auch geistiger Aufschwung leichter zu erreichen. Das Verehrungswürdige, das Heiligzuhaltende hob sich mehr von den übrigen Weltverhältnissen ab. Die Ideale werden in einem kritischen Zeitalter herabgezogen. Andere Gefühle treten an die Stelle der Verehrung, der Ehrfurcht, der Anbetung und Bewunderung. Unser Zeitalter drängt diese Gefühle immer mehr zurück, so daß sie durch das alltägliche Leben dem Menschen nur noch in sehr geringem Grade zugeführt werden. Wer höhere Erkenntnis sucht, muß sie in sich erzeugen. [...] Er muß überall in seiner Umgebung, in seinen Erlebnissen dasjenige aufsuchen, was ihm Bewunderung und Ehrerbietung abzwingen kann. Begegne ich einem Menschen und tadle ich seine Schwächen, so raube ich mir höhere Erkenntniskraft; suche ich liebevoll mich in seine Vorzüge zu vertiefen, so sammle ich solche Kraft. [...] Aber dies darf nicht eine äußerliche Lebensregel bleiben. Sondern es muß von dem Innersten unsrer Seele Besitz ergreifen. Der Mensch hat es in seiner Hand, sich selbst zu vervollkommnen, sich mit der Zeit ganz zu verwandeln. Aber es muß sich diese Umwandlung in seinem Innersten, in seinem Gedankenleben vollziehen. (S. 22f). [...]

Jeder Augenblick, in dem man sich hinsetzt, um gewahr zu werden in seinem Bewußtsein, was in einem steckt an abfälligen, richtenden, kritischen Urteilen über Welt und Leben: – jeder solcher Augenblick bringt uns der höheren Erkenntnis näher. Und wir steigen rasch auf, wenn wir in solchen Augenblicken unser Bewußtsein nur erfüllen mit Gedanken, die uns mit Bewunderung, Achtung, Verehrung gegenüber Welt und Leben erfüllen. Wer in diesen Dingen Erfahrung hat, der weiß, daß in jedem solchen Augenblicke Kräfte in dem Menschen erweckt werden, die sonst schlummernd bleiben. Es werden dadurch dem Menschen die geistigen Augen geöffnet. Er fängt dadurch an, Dinge um sich herum zu sehen, die er früher nicht hat sehen können. Er fängt an zu begreifen, daß er vorher nur einen Teil der ihn umgebenden Welt gesehen hat. Der Mensch, der ihm gegenübertritt, zeigt ihm jetzt eine ganz andere Gestalt als vorher. (S. 23f). [...]

Es wird dem Menschen anfangs nicht leicht, zu glauben, daß Gefühle wie Ehrerbietung, Achtung und so weiter etwas mit seiner Erkenntnis zu tun haben. Dies rührt davon her, daß man geneigt ist, die Erkenntnis als eine Fähigkeit für sich hinzustellen, die mit dem in keiner Verbindung steht, was sonst in der Seele vorgeht. Man bedenkt dabei aber nicht, daß die Seele es ist, welche erkennt. Und für die Seele sind Gefühle das, was für den Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. Wenn man dem Leibe Steine statt Brot gibt, so erstirbt seine Tätigkeit. Ähnlich ist es mit der Seele. Für sie sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig zur Tätigkeit des Erkennens. Mißachtung, Antipathie, Unterschätzung des Anerkennenswerten bewirken Lähmung und Ersterben der erkennenden Tätigkeit. (S. 25). [...]

Sich als ein Glied des ganzen Lebens empfinden

GA 10 (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?), S. 96f, 105-108.


Einen Stein in den Weg der Geheimerziehung wirft dem Menschen auch alles, was er sagt, ohne daß er es gründlich in seinen Gedanken geläutert hat. [...] Wenn mir jemand zum Beispiel etwas sagt und ich habe darauf zu erwidern, so muß ich bemüht sein, des anderen Meinung, Gefühl, ja Vorurteil mehr zu beachten, als was ich im Augenblicke selbst zu der in Rede stehenden Sache zu sagen habe. Hiermit ist eine feine Taktausbildung angedeutet, welcher sich der Geheimschüler sorgfältig zu widmen hat. Er muß sich ein Urteil darüber aneignen, wie weit es für den anderen eine Bedeutung hat, wenn er der seinigen die eigene Meinung entgegenhält. Nicht zurückhalten soll man deshalb mit seiner Meinung. Davon kann nicht im entferntesten die Rede sein. Aber man soll so genau als nur irgend möglich auf den anderen hinhören und aus dem, was man gehört hat, die Gestalt seiner eigenen Erwiderung formen. Immer wieder steigt in einem solchen Falle in dem Geheimschüler ein Gedanke auf; und er ist auf dem rechten Wege, wenn dieser Gedanke in ihm so lebt, daß er Charakteranlage geworden ist. Dies ist der Gedanke: „Nicht darauf kommt es an, daß ich etwas anderes meine als der andere, sondern darauf, daß der andere das Richtige aus Eigenem finden wird, wenn ich etwas dazu beitrage.“ Durch solche und ähnliche Gedanken überströmt den Charakter und die Handlungsweise des Geheimschülers das Gepräge der Milde, die ein Hauptmittel aller Geheimschulung ist. Härte verscheucht um dich herum die Seelengebilde, die dein seelisches Auge erwecken sollen; Milde schafft dir die Hindernisse hinweg und öffnet deine Organe. [...] (S. 96f).

Nichts soll ja dem Geheimschüler ferner liegen als die Neigung zum Phantastischen, zum aufgeregten Wesen, zur Nervosität, zur Exaltation, zum Fanatismus. Einen gesunden Blick für alle Verhältnisse des Lebens soll er sich aneignen; sicher soll er sich im Leben zurechtfinden; ruhig soll er die Dinge zu sich sprechen und auf sich wirken lassen. Er soll sich bemühen, überall, wo es nötig ist, dem Leben gerecht zu werden. Alles Überspannte, Einseitige soll in seinem Urteilen und Empfinden vermieden werden. (S. 105). [...]

Aus solcher Gesinnungsart heraus ändert sich allmählich die ganze Denkungsart des Menschen. Das gilt für das Kleinste wie für das Größte. Ich sehe aus solcher Gesinnung heraus zum Beispiel einen Verbrecher anders an als ohne dieselbe. Ich halte zurück mit meinem Urteile und sage mir: „Ich bin nur ein Mensch wie dieser. Die Erziehung, die durch die Verhältnisse mir geworden ist, hat mich vielleicht allein vor seinem Schicksale bewahrt.“ Ich komme dann wohl auch zu dem Gedanken, daß dieser Menschenbruder ein anderer geworden wäre, wenn die Lehrer, die ihre Mühe auf mich verwendet haben, sie hätten ihm angedeihen lassen. Ich werde bedenken, daß mir etwas zuteil geworden ist, was ihm entzogen war, daß ich mein Gutes gerade dem Umstand verdanke, daß es ihm entzogen worden ist. Und dann wird mir die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, daß ich nur ein Glied in der ganzen Menschheit bin und mitverantwortlich für alles, was geschieht. (S. 106). [...]

Es muß erkannt werden, daß es ebenso verderblich ist, wenn ich meinen Mitmenschen hasse, wie wenn ich ihn schlage. Dann komme ich auch zu der Erkenntnis, daß ich nicht nur für mich etwas tue, wenn ich mich selbst vervollkommene, sondern auch für die Welt. Aus meinen reinen Gefühlen und Gedanken zieht die Welt ebensolchen Nutzen wie aus meinem Wohlverhalten. Solange ich nicht glauben kann an diese Weltbedeutung meines Innern, so lange tauge ich nicht zum Geheimschüler. Erst dann bin ich von dem rechten Glauben an die Bedeutung meines Inneren, meiner Seele erfüllt, wenn ich an diesem Seelischen in der Art arbeite, als wenn es zum mindesten ebenso wirklich wäre wie alles Äußere. (S. 107f). [...]

Das Böse und das höhere Gute

GA 95 (Vor dem Tore der Theosophie), 29.8.1906 (Stuttgart), S. 77f.


Man meint, die Manichäer hätten die Lehre aufgestellt, daß es von Natur aus ein Gutes und ein Böses gäbe, die miteinander im Kampfe liegen; das sei so von der Schöpfung her bestimmt gewesen. Das ist ein zum Unsinn verzerrter Schimmer der wirklichen Aufgabe dieses Ordens. [...] Der Manichäerorden belehrt [...] seine Mitglieder in solcher Weise, daß sie Umwandler des Bösen werden in späteren Geschlechtern. [...] Und dieses dann umgeschmolzene Böse wird nach gelungener Arbeit ein ganz besonders Gutes. Ein Zustand der Heiligkeit wird der sittliche Zustand auf Erden sein, und die Kraft der Umwandlung wird den Zustand der Heiligkeit bewirken. Aber das kann nicht anders erzielt werden, als wenn erst dieses Böse sich bildet; und in der Kraft nun, die angewandt werden muß, um dieses Böse zu überwinden, entwickelt sich die Kraft zur höchsten Heiligkeit. [...] Das ist die Mission des Bösen. Stark wird der Mensch, wenn er seine Muskeln anstrengen muß; ebenso muß das Gute, wenn es sich zur Heiligkeit steigern soll, erst das ihm entgegengesetzte Böse überwinden. Das Böse hat die Aufgabe, die Menschheit höher zu bringen. [...] Später dann, wenn der Mensch das Böse überwunden hat, kann er darangehen, die heruntergestoßenen Geschöpfe, auf deren Kosten er sich entwickelt hat, zu erlösen. Das ist der Sinn der Entwickelung.

Innere Toleranz und moralische Schulung

GA 260a, (Die Konstitution der Allg. Anthr. Gesellschaft...), Brief an die Mitglieder vom 24.2.1924, S. 53f.


Hat man den andern genau kennen gelernt, weil er sich voll aufgeschlossen hat, so bemerkt man auch bald seine Schwächen.
Und dann kann die – negative Schwärmerei auftreten. Und diese Gefahr ist in der Anthroposophischen Gesellschaft eine überall herumschleichende. Gegen sie zu wirken, gehört zu den Aufgaben der Gesellschaft. Innere Toleranz gegen den andern sollte daher jeder im Tiefsten seiner Seele anstreben, der rechtes Mitglied der Gesellschaft sein will. Den andern verstehen lernen auch da, wo er Dinge denkt und tut, die man nicht selber denken und tun möchte, das sollte ein Ideal darstellen.

Es braucht dies nicht gleichbedeutend zu sein mit der Urteilslosigkeit gegenüber Schwächen und Fehlern. Verstehen ist etwas anderes als Sich-blind-machen. Man kann zu einem Menschen, den man liebt, von dessen Verfehlungen reden: er wird in vielen Fällen darin den schönsten Freundschaftsdienst sehen. Man kann aber auch mit der Empfindung des gleichgültigen Richters den andern abkanzeln: er prallt zurück vor der Verständnislosigkeit und tröstet sich mit dem Haßgefühle, das in ihm gegenüber dem Kritiker aufdämmert.

Es kann in vieler Beziehung in der Anthroposophischen Gesellschaft verhängnisvoll werden, wenn die Intoleranz und Verständnislosigkeit gegenüber andern Menschen in sie in der Form hineingetragen werden, in der sie gegenwärtig in weitem Umfange das Leben beherrschen. Denn durch das Nahe-Stehen der Menschen steigern sie sich innerhalb der Gesellschaft.

Das sind Dinge, die stark darauf hinweisen, wie das lebendigere Erkenntnisstreben in der Anthroposophischen Gesellschaft notwendig begleitet sein muß von dem Ringen nach einer Veredelung des Gefühls- und Empfindungslebens. Das verstärkte Erkenntnisstreben vertieft das Seelenleben nach der Region hin, wo Hochmut, Selbstüberschätzung, Teilnahmslosigkeit mit andern Menschen und noch vieles andere lauern. [...] Wer aber sein Erkenntnisstreben deshalb schlummern läßt, weil durch dessen Pflege seine häßlichen Gefühle aufgerührt werden, der verzichtet auch darauf, den vollen Umfang des wahren Menschen in sich zu entwickeln. Es ist menschenunwürdig, die Einsicht zu lähmen, weil man sich vor der Charakterschwäche fürchtet. Es kann allein menschenwürdig sein, mit dem Erkenntnisstreben auch das nach dem Willen zur Selbstzucht zu verbinden.

Und durch die Anthroposophie kann man das. Man muß nur auf die Lebendigkeit ihrer Gedanken kommen. Diese Lebendigkeit macht, daß sie auch Kraft im Willen, Wärme in Gefühl und Empfindung erzeugen können. Es liegt durchaus an dem Menschen, ob er die Anthroposophie bloß vorstellt, oder ob er sie erlebt.

Und es wird an den tätig auftretenden Mitgliedern der Gesellschaft liegen, ob durch die Art, wie sie Anthroposophie entwickeln, nur Gedanken angeregt werden können, oder ob Leben entzündet wird.

Interesse und Hingabe für den anderen Menschen

GA 220 (...Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung), Achter Vortrag, 20.1.1923 (Dornach), S. 126-129.


Es ist ein in einem gewissen Sinne berechtigter Vorwurf,
den die Außenwelt den Anthroposophen macht, daß ja in der anthroposophischen Bewegung viel gesprochen wird vom geistigen Vorwärtskommen, daß man aber wenig sehe von diesem geistigen Vorwärtskommen der einzelnen Anthroposophen. Dieses Vorwärtskommen wäre durchaus möglich. Das richtige Lesen jedes einzelnen Buches gibt die Möglichkeit eines wirklichen Vorwärtskommens in geistiger Beziehung. Aber dazu ist nötig, daß diejenigen Dinge, von denen gestern gesprochen worden ist, wirklich real werden, ernsthaft genommen werden: daß der physische Leib in richtiger Weise konstituiert wird durch die Wahrhaftigkeit, der ätherische Leib durch den Schönheitssinn, der astralische Leib durch den Sinn für Gute. (S. 126). [...]

Denn der Mensch muß die Fähigkeit haben, für den andern Menschen Interesse, Hingebung zu haben: das, was ich gestern so charakterisiert habe, daß eigentlich die Moral erst damit beginnt, wenn man in seinem astralischen Leibe die Sorgenfalten des andern selber als eine astralische Sorgenfalte ausbildet. Da beginnt die Moral, sonst wird die Moral nur Nachahmung von konventionellen Vorschriften oder Gewöhnungen sein. Was ich in meiner „Philosophie der Freiheit“ als moralische Tat geschildert habe, das hängt zusammen mit diesem Miterleben im eigenen astralischen Leibe der Sorgenfalte oder der Falten, welche durch das Lächeln des andern entstehen und so weiter. Ohne daß im menschlichen Zusammenleben dieses Untertauchen der Seele des einen in dem Wesen des andern stattfindet, kann nicht der Sinn für das wirklich reale Leben von Geistigkeit sich ausbilden. (S. 129). [...]

Bruderschaft und Daseinskampf

GA 54, Bruderschaft und Daseinskampf, 23.11.1905 (Berlin), S. 184-197.


Wir sind in der sogenannten Städtekultur in der Mitte des Mittelalters.
Diejenigen Menschen, welche es nicht aushalten konnten unter der Fronarbeit auf den Gütern, entflohen ihren Herren und suchten ihre Freiheit in den erweiterten Städten. Da kamen die Menschen von oben herunter, von Schottland, Frankreich und Rußland, von allen Seiten her kamen sie und brachten die freien Städte zusammen. Dadurch entwickelte sich das Prinzip der Bruderschaft, und in der Art, wie es sich betätigte, wurde es im höchsten Maße kulturfördernd. Diejenigen, welche gemeinschaftliche, gleichartige Beschäftigungen hatten, schlossen sich zu Vereinigungen zusammen, die man Schwurbruderschaften nannte und die später zu den Gilden auswuchsen.

Diese Schwurbruderschaften waren weit mehr als bloße Vereinigungen der gewerblichen oder handeltreibenden Menschen. Sie entwickelten sich aus dem praktischen Leben heraus zu einer moralischen Höhe. Das gegenseitige Sich-Beistehen, die gegenseitige Hilfeleistung war in hohem Maße bei diesen Bruderschaften ausgebildet, und viele Dinge, um die sich heute fast niemand mehr kümmert, waren Gegenstand solchen Beistandes. So leisteten sich zum Beispiel die Angehörigen einer solchen Bruderschaft in der Weise Hilfe, daß sie sich in Krankheitsfällen unterstützten. Es wurden von Tag zu Tag zwei Brüder bestimmt, die am Bette eines kranken Bruders Wache halten mußten. Es wurden die Kranken mit Nahrungsmitteln unterstützt, ja es wurde selbst über den Tod hinaus brüderlich gedacht, indem es als ganz besonders ehrenvoll galt, den zur Bruderschaft Gehörigen in entsprechender Weise zu begraben. Endlich gehörte es auch zur Ehre der Schwurbruderschaft, die Witwen und Waisen zu versorgen. Daraus sehen Sie, wie ein Verständnis für die Moral im Gemeinschaftsleben erwuchs, wie sich diese Moral auf dem Grunde eines Bewußtseins bildete, von dem sich der heutige Mensch schwer eine Vorstellung machen kann. (S. 184f). [...]

Vieles, was durch die wissenschaftliche und künstlerische Vertiefung hervorgebracht worden ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die Pflege dieses Bruderschaftsprinzips. Wenn ein Dom gebaut werden sollte, nehmen wir den Kölner Dom oder irgendeinen andern, dann sehen wir, daß sich zunächst eine Vereinigung bildete, eine sogenannte Baugilde, wodurch ein entschiedenes Zusammenwirken der Mitglieder einer solchen Gilde entstand. Man kann, wenn man einen intuitiven Blick dafür hat, sogar in dem Baustil dieses Bruderschaftsprinzip zum Ausdruck gebracht sehen, man kann es zum Ausdruck gebracht sehen fast in jeder mittelalterlichen Stadt, und Sie finden es überall, ob Sie nach dem Norden von Schottland oder nach Venedig gehen, ob Sie sich russische oder polnische Städte ansehen. [...]

Dazumal, in der Mitte des Mittelalters, bestand eine Harmonie zwischen dem, was man als sein Ideal fühlte und dem, was man wirklich tat, und wenn je einmal gezeigt worden ist, daß man Idealist und Praktiker zugleich sein kann, so ist das im Mittelalter der Fall gewesen. [...]

Derjenige, der aus seiner Gilde heraus, mit den andern zwölf Schöffen zusammen zu Gericht saß über irgendein Vergehen, das ein Mitglied der Gilde begangen hatte, er war der Bruder dessen, der gerichtet werden sollte. Leben verband sich mit Leben. Jeder wußte, was der andere arbeitete, und jeder versuchte zu begreifen, warum er einmal abweichen konnte von dem richtigen Wege. Man sah gleichsam in den Bruder hinein und wollte in ihn hineinsehen. (S. 187ff). [...]

Vereinigung bedeutet die Möglichkeit, daß ein höheres Wesen durch die vereinigten Glieder sich ausdrückt. Das ist ein allgemeines Prinzip in allem Leben. Fünf Menschen, die zusammen sind, harmonisch miteinander denken und fühlen, sind mehr als 1 + 1 + 1 + 1 + 1 sie sind nicht bloß die Summe aus den fünf, ebensowenig wie unser Körper die Summe aus den fünf Sinnen ist, sondern das Zusammenleben, das Ineinanderleben der Menschen bedeutet etwas ganz Ähnliches, wie das Ineinanderleben der Zellen des menschlichen Körpers. Eine neue, höhere Wesenheit ist mitten unter den fünfen, ja schon unter zweien oder dreien. „Wo zwei oder drei in meinem Namen vereinigt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Es ist nicht der eine und der andere und der dritte, sondern etwas ganz Neues, was durch die Vereinigung entsteht. Aber es entsteht nur, wenn der einzelne in dem andern lebt, wenn der einzelne seine Kraft nicht bloß aus sich selbst, sondern auch aus den andern schöpft. Das kann aber nur geschehen, wenn er selbstlos in dem andern lebt. So sind die menschlichen Vereinigungen die geheimnisvollen Stätten, in welche sich höhere geistige Wesenheiten herniedersenken, um durch die einzelnen Menschen zu wirken, wie die Seele durch die Glieder des Körpers wirkt. [...]

Daher spricht der Geisteswissenschafter nicht bloß von abstrakten Dingen, wenn er von dem Volksgeist oder von der Volksseele oder von dem Familiengeist oder von dem Geiste einer andern Gemeinschaft spricht. Sehen kann man diesen Geist nicht, der in einer Vereinigung wirkt, aber da ist er, und er ist da durch die Bruderliebe der in dieser Vereinigung wirkenden Persönlichkeiten. Wie der Körper eine Seele hat, so hat eine Gilde, eine Bruderschaft auch eine Seele, und ich wiederhole noch einmal, es ist das nicht bloß bildlich gesprochen, sondern als volle Wirklichkeit zu nehmen. [...]

Das ist das Geheimnis des Fortschritts der zukünftigen Menschheit, aus Gemeinschaften heraus zu wirken. (S. 192f). [...]

Derjenige, der sich eingelebt hatte in diese Weltanschauung, der weiß, daß das Kämpfen auf keinem Gebiete des Lebens zu einem wirklichen Resultate führt. Suchen Sie das, was sich in Ihrer Erfahrung und vor Ihrer Erkenntnis als das Richtige erweist, in das Leben einzuführen, es geltend zu machen, ohne den Gegner zu bekämpfen. Es kann natürlich nur ein Ideal sein, aber es muß ein solches Ideal vorhanden sein, das heute als geisteswissenschaftlicher Grundsatz in das Leben einzuführen ist. Menschen, die sich an Menschen schließen und die ihre Kraft für alle einsetzen, das sind diejenigen, welche die Grundlage abgeben für eine gedeihliche Entwickelung in die Zukunft hinein. [...]

Derjenige wirkt am besten, der nicht seine Meinung durchsetzen will, sondern das, was er seinen Mitbrüdern an den Augen ansieht; der in den Gedanken und Gefühlen der Mitmenschen forscht und sich zu deren Diener macht. Der wirkt am besten innerhalb dieses Kreises, der im praktischen Leben durchführen kann, die eigene Meinung nicht zu schonen. Wenn wir in dieser Weise zu verstehen suchen, daß unsere besten Kräfte aus der Vereinigung entspringen und daß die Vereinigung nicht bloß als abstrakter Grundsatz festzuhalten, sondern vor allen Dingen in theosophischer Weise bei jedem Handgriffe, in jedem Augenblicke des Lebens zu betätigen ist, dann werden wir vorwärtskommen. [...]

Man nennt heute noch die Theosophen unpraktische Idealisten. Es wird nicht lange dauern, so werden sie sich als die Praktischsten erweisen, weil sie mit den Kräften des Lebens rechnen. Niemand wird daran zweifeln, daß man einen Menschen verletzt, wenn man ihm einen Stein an den Kopf wirft. Daß es aber viel schlimmer ist, dem Menschen ein Haßgefühl zuzusenden, das die Seele des Menschen viel mehr verletzt als der Stein den Körper, das wird nicht bedacht. Es kommt ganz darauf an, in welcher Gesinnung wir den Mitmenschen gegenüberstehen. Es hängt aber auch gerade davon unsere Kraft für ein gedeihliches Wirken in der Zukunft ab. (S. 194f). [...]

[...] Wir müssen aber lernen, mit der Seele zuzuhören, wir müssen verstehen, die intimsten Dinge mit der Seele zu erfassen. [...] Unterdrücken müssen wir also unsere Meinung, um den andern ganz zu hören, nicht bloß das Wort, sondern sogar das Gefühl, auch dann, wenn sich in uns das Gefühl regen sollte, daß es falsch ist, was der andere sagt. [...] Sie fühlen dann, wie wenn die Seele des andern Sie durchwärmte, durchleuchtete, wenn Sie ihr in dieser Weise mit absoluter Toleranz entgegentreten. Nicht bloß Freiheit der Person sollen wir gewähren, sondern völlige Freiheit, ja sogar die Freiheit der fremden Meinung sollen wir schätzen. Das ist nur ein Beispiel für vieles. Derjenige, der dem andern ins Wort fällt, der tut von einer geistigen Weltanschauung aus betrachtet etwas Ähnliches wie der, welcher dem andern physisch einen Fußtritt gibt. Bringt man es dazu, zu begreifen, daß es eine viel stärkere Beeinflussung ist, einem andern ins Wort zu fallen, als ihm einen Fußtritt zu geben, dann erst kommt man dazu, die Bruderschaft bis in die Seele hinein zu verstehen, dann wird sie eine Tatsache. (S. 196f). [...]

Lebendige Ideale und das Wesen des Christus

GA 127 (Die Mission der neuen Geistesoffenbarung), Erbsünde und Gnade, 3.5.1911 (München), S. 162-167.


Nur diejenigen, welche die Geschichte nicht kennen [...], können behaupten, daß in den älteren Zeiten des Griechentums zum Beispiel solche Dinge vorhanden gewesen wären, die wir heute zusammenfassen mit den Worten, die seit mehr als einem Jahrhundert berühmt geworden sind, mit Worten wie: Freiheit, Gleichheit der Menschen, mit Worten, die wir bezeichnen als sittliche Ideale [...]. Die Menschen haben eigentlich in diesem jetzigen Zeitalter solchen Idealen zu folgen, aber was der Mensch tut unter den abstrakten Begriffen von Freiheit, Brüderlichkeit und so weiter, hat eben den Charakter des Abstrakten für die meisten Menschen und läßt sich definieren. Für die meisten Menschen können in bezug auf das, was sie erfassen von Freiheit, Brüderlichkeit und so weiter, diese Ideale definiert werden, weil sie wenig davon erfassen. Da haben wir, trotzdem die Leidenschaften geschwellt werden, doch bei vielen Menschen etwas vor uns, was so recht die Idee erweckt von etwas Ausgedörrtem. Persönlich können wir diese Dinge noch nicht nennen, es sind abstrakte Ideen. Es ist noch nicht etwas, was das Vollblütige des persönlichen Lebens hat. [...]

Wie nüchtern lassen die Menschen vielfach heute noch die Ideen, die wir als die größten sittlichen Ideale betrachten! Dennoch ist es der Anfang eines großen Werdens. Geradeso wie der Mensch mit seinem Ich in das Meer des Physisch-Materiellen hinuntergetaucht ist, da er sozusagen Persönlichkeit entwickelte, indem er etwas tut unter den Einflüssen von Leidenschaften, Trieben, Begierden, geradeso muß er [...] mit der Persönlichkeit hinaufrücken in diese abstrakten Ideen, die eben noch abstrakt sind. Mit der urelementaren Kraft, mit der wir heute sehen, daß dieses oder jenes aus dem Hasse oder der Liebe im gewöhnlichen Sinne entspringt, mit der wird dasjenige entspringen, was unter den geistigsten Idealen steht. Der Mensch wird hinaufrücken in höhere Sphären mit seiner Persönlichkeit. Dazu ist aber etwas notwendig. [...] Wie kommt er denn, wenn er hinaufgeht ins geistige, in etwas Persönliches hinein? Wie kann er denn diese Ideale so entwickeln, daß sie persönlichen Charakter haben? Dazu gibt es nur ein Mittel. Da muß der Mensch in den geistigen Höhen eine Persönlichkeit anziehen können, die innerlich persönlich ist, wie die Persönlichkeit unten im Fleische ist. Und was ist das für eine Persönlichkeit, die der Mensch anziehen muß, wenn er hinaufsteigen will in das Geistige? Das ist der Christus. [...]

Durch nichts anderes kommt man darüber hinaus, die abstrakten Ideale mit einem persönlichen Charakter immer mehr und mehr auszugestalten, als dadurch, daß unser ganzes spirituelles Leben sich durchziehen wird mit dem Christus-Impuls. [...] So wie der Mensch seinen astralischen Leib schlechter gemacht hat durch die Erbsünde, so macht er ihn wiederum besser durch den Christus-Impuls. (S. 162ff). [...]

Denn so wahr es ist, daß die Menschheit erst vor kurzem dazugekommen ist, überhaupt Ideale anzuerkennen, in abstrakter Form anzuerkennen, so wahr die Menschen sozusagen abstrakte Ideen von Freiheit, von Brüderlichkeit entfalten konnten, so wahr ist es, daß die Zeit vor uns stehen muß, wo diese Ideen nicht als abstrakte Ideale bloß, sondern als lebendige Kräfte an uns heranrücken. So wahr es ist, daß die Menschen einen Durchgangspunkt durchgemacht haben da, wo sie abstrakte Ideale fassen konnten, so wahr ist es, daß sie dazu vorschreiten müssen, diese Ideale persönlich auszuleben, daß sie vorschreiten müssen zum Eintritt in den neuen Tempel. Wir stehen davor. Und die Menschen werden gelehrt werden, daß dasjenige, was aus spirituellen Höhen herunterwirkt, nicht bloß Abstracta sind, sondern Lebendiges ist. Wenn sie anfangen werden, das zu schauen, was oftmals genannt worden ist als dem Schauen der Menschen bevorstehend in der nächsten Epoche der Entwickelung, wenn die Menschen anfangen werden, nicht mehr zu denken: Wie bin ich gut! – sondern wenn ihnen vor Augen treten wird aus dem ätherischen Anschauen die lebendige Macht des Christus, den sie schauen werden im Ätherleibe [...], dann werden sie wissen, daß das, was sie eine Zeitlang in Form von abstrakten Ideen erschaut haben, lebendige Wesenheiten sind, die da leben innerhalb unserer Entwickelung, lebendige Wesenheiten. [...]

So sehen wir, daß unsere Gedanken uns nicht hinaufführen können in die wirklich geistigen Welten, weil sie ohne Leben sind. Erst wenn diese Gedanken uns nicht mehr erscheinen als unsere Gedanken, sondern als die Bezeugungen des lebendigen Christus, welcher den Menschen erscheinen wird, dann werden wir diese Gedanken in der richtigen Weise verstehen. Dann wird der Mensch ebenso wahr, wie er eine Persönlichkeit wurde, indem er mit dem Ich untergetaucht ist in niedere Sphären, ebenso eine Persönlichkeit sein, wenn er zu den geistigen Höhen hinaufsteigt. Das verkennt der Materialismus von heute. Dieser wird nur leicht verstehen, daß es abstrakte Ideale gibt des Guten, des Schönen und so weiter. Daß es lebendige Mächte gibt, die uns durch ihre Gnade hinaufziehen, das muß erst eingesehen werden. (S. 166f). [...]

Der Gedankenweg zu Christus

GA 193 (Der innere Aspekt des sozialen Rätsels), Dritter Vortrag, 11.2.1919 (Zürich), S. 58-60.


Wenn wir bloß geboren werden und von der Geburt bis zum Tode hier auf Erden mit einem Seelenleben leben, daß sich nun einmal nach der gebräuchlichen Anlage und Entwickelung der Anlagen zwischen Geburt und Tod ergibt, dann haben wir nämlich gar keine Veranlassung, zu dem Christus zu kommen. Dann mag in uns noch so viel Geistiges vorgehen, wir haben keine Veranlassung zu dem Christus zu kommen. (S. 58f). [...]

Das Ex deo nascimur ist etwas, was im sozialen Leben dem gesund entwickelten Menschen sich von selbst ergibt. Denn erkennt er das nicht an: Aus dem Göttlichen bin ich geboren – so muß er irgendwie einen Defekt haben, der sich eben in der Weise ausdrückt, daß er Atheist wird. Aber da kommen wir zu dem Göttlichen im allgemeinen, das aus einer inneren Lüge heraus moderne Pastoren Christus nennen, das aber nicht der Christus ist. [...] Denn wir wissen, daß das Mysterium von Golgatha deshalb auf die Erde gekommen ist, weil fernerhin der Mensch nicht das Menschenwürdige ohne dieses Mysterium von Golgatha, das heißt, ohne den Christus-Impuls hätte finden können. Und so müssen wir gewissermaßen unseren Menschen zwischen Geburt und Tod nicht nur finden, sondern wir müssen ihn wiederfinden, wenn wir Christen sein wollen im rechten Sinne, wenn wir dem Christus nahekommen wollen. Wir müssen ihn in der folgenden Weise wiederfinden, diesen unseren Menschen. Wir müssen die innere Ehrlichkeit suchen, müssen uns aufraffen zu der inneren Ehrlichkeit, uns zu sagen: Wir werden mit Bezug auf unsere Gedankenwelt nach dem Mysterium von Golgatha nicht vorurteilslos geboren, wir werden alle mit gewissen Vorurteilen geboren.

In dem Augenblicke, wenn man in Rousseauscher oder in anderer Weise den Menschen von vornherein für vollkommen hält, kann man überhaupt nicht den Christus finden, sondern nur wenn man weiß, daß der Mensch in gewisser Weise als ein nach dem Mysterium von Golgatha Lebender einen Defekt hat, den er durch seine eigene Tätigkeit im Leben hier ausgleichen muß. Ich bin als ein vorurteilsvoller Mensch geboren und muß mir die Gedankenvorurteilslosigkeit im Leben erst erwerben. Und wodurch kann ich sie hier erwerben? Einzig und allein dadurch, daß ich nicht nur Interesse entwickele für dasjenige, was ich selber denke, was ich selber für richtig halte, sondern daß ich selbstloses Interesse entwickele für alles, was Menschen meinen und was an mich herantritt, und wenn ich es noch so sehr für Irrtum halte. Je mehr der Mensch auf seine eigenen eigensinnigen Meinungen pocht und sich nur für diese interessiert, desto mehr entfernt er sich in diesem Augenblicke der Weltentwickelung von dem Christus. Je mehr der Mensch soziales Interesse entwickelt für des anderen Menschen Meinungen, auch wenn er sie für Irrtümer hält, je mehr der Mensch seine eigenen Gedanken beleuchtet durch die Meinungen der anderen, je mehr er hinstellt neben seine eigenen Gedanken, die er vielleicht für Wahrheit hält, jene, welche andere entwickeln, die er für Irrtümer hält, aber sich dennoch dafür interessiert, desto mehr erfühlt er im Innersten seiner Seele ein Christus-Wort, das heute im Sinne der neuen Christus-Sprache gedeutet werden muß. Der Christus hat gesagt: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan.“ Der Christus hört nicht auf, immer wieder und wieder sich den Menschen zu offenbaren, bis ans Ende der Erdentage. Und so spricht er heute zu denjenigen, die ihn hören wollen: Was einer der geringsten eurer Brüder denkt, das habt ihr so anzusehen, daß ich in ihm denke, und daß ich mit euch fühle, indem ihr des anderen Gedanken an euren Gedanken abmesset, soziales Interesse habt für dasjenige, was in der anderen Seele vorgeht. Was ihr findet als Meinung, als Lebensanschauung in einem der geringsten eurer Brüder, darin suchet ihr mich selber. (S. 59f). [...]

Das Bild des anderen Menschen erwecken

GA 186 (Die soziale Grundforderung unserer Zeit), Siebter Vortrag, 12.12.1918 (Bern), S. 170-172.


Wie können wir überhaupt den sich auf naturgemäße Weise entwickelnden antisozialen Trieben die sozialen Triebe entgegenstellen, bewußt entgegenstellen? Wie können wir sie so kultivieren, daß sich wirklich in uns anspinnt, und immer weiter- und weitergeht und uns keine Ruhe läßt, wenn es nicht weitergeht, das Interesse von Mensch zu Mensch, das gerade in unserem Zeitalter der Bewußtseinsseele furchtbar geschwunden ist? Es sind ja Abgründe in unserem Zeitalter schon aufgerissen zwischen Mensch und Mensch! In einer Weise, wie es die Menschen gar nicht ahnen, gehen sie heute aneinander vorbei, ohne sich im geringsten zu verstehen. [...] Wie blind heute die Menschen aneinander vorbeigehen, das sieht man dann, wenn diese Menschen in den mannigfaltigsten Gesellschaften und Sozietäten sich vereinigen. Die sind heute oftmals für die Menschen durchaus nicht eine Gelegenheit, Menschenkenntnis sich zu erwerben. Die Menschen können heute jahrelang mit anderen Menschen zusammensein und sie nicht genauer kennen als sie sie kannten, als sie mit ihnen bekannt geworden sind.

Gerade das ist notwendig, daß man, ich möchte sagen, in systematischer Weise in Zukunft zu dem Antisozialen das Soziale bringt. Innerlich-seelisch gibt es dafür verschiedene Mittel, unter anderem, wenn wir versuchen, öfter einmal im Leben auf unser eigenes diesmaliges Leben, auf die diesmalige Inkarnation zurückzublicken, wenn wir zu überschauen versuchen dasjenige, was sich abgespielt hat in unserem Leben zwischen uns und anderen Menschen, die in dieses Leben hereingetreten sind. [...] Wir sollten versuchen, im Bilde auftauchen zu lassen vor unserer Seele die Personen, die als Lehrer, Freunde, sonstige Förderer in unser Leben eingriffen, oder solche Personen, die uns geschädigt haben und denen wir von gewissen Gesichtspunkten aus manchmal mehr verdanken als jenen, die uns genützt haben. Diese Bilder sollten wir vor unserer Seele vorüberziehen lassen, uns ganz lebendig vorzustellen, was jeder an unserer Seite für uns getan hat, und wir werden sehen, wenn wir auf diese Weise verfahren, daß wir allmählich uns selber vergessen lernen, daß wir finden, wie eigentlich fast alles, was an uns ist, gar nicht da sein könnte, wenn nicht diese oder jene Personen fördernd oder lehrend, oder sonst irgendwie in unser Leben eingegriffen hätten. [...] Wenn wir versuchen, Sinn dafür zu entwickeln, wieviel wir zu danken haben der einen oder der anderen Person, versuchen, in dieser Weise uns selber im Spiegel derjenigen zu sehen, die im Laufe der Zeit auf uns gewirkt haben und mit uns zusammen waren, dann löst sich allmählich – wir werden das erfahren können – ein Sinn von uns los [...], nun auch dem Menschen gegenüber zu einem Bilde zu kommen, dem wir in der Gegenwart gegenübertreten, dem wir dann von Angesicht zu Angesicht in der Gegenwart gegenüberstehen.

Und das ist das ungeheuer Wichtige, daß in uns der Trieb erwacht, nicht bloß den Menschen, wenn wir ihm gegenüberstehen, nach Sympathien und Antipathien zu empfinden [...], sondern ein liebe- und haßfreies Bild, wie der Mensch ist, in uns zu erwecken. Sie werden vielleicht nicht empfinden, daß das, was ich jetzt sage, etwas ungeheuer Wichtiges ist. Es ist etwas Wichtiges. Denn diese Fähigkeit, ohne Haß und Liebe ein Bild des anderen Menschen in sich gegenwärtig zu machen, den anderen Menschen seelisch in sich auferstehen zu lassen, das ist eine Eigenschaft, die mit jeder Woche in der Entwickelung der Menschen, ich möchte sagen, mehr oder weniger dahinschwindet, das ist etwas, was die Menschen nach und nach ganz verlieren. Sie gehen aneinander vorbei, ohne daß der Trieb in ihnen erwacht, den anderen Menschen in sich auferwachen zu lassen. Das ist aber etwas, was bewußt gepflegt werden muß. Das ist etwas, was auch in die Kinder- und Schulpädagogik einziehen muß: diese Fähigkeit, am Menschen das imaginative Vermögen zu entwickeln.

Spiritueller Idealismus und das Erwachen am Anderen

GA 257 (Anthroposophische Gemeinschaftsbildung), Sechster Vortrag, 27.2.1923 (Dornach), S. 116-120.


Genau so, wie man in der rechten Weise für das alltägliche Erdenleben aufwacht durch die äußere Natur, gibt es ein höherstufiges Aufwachen, wenn wir in der richtigen Weise an dem Seelisch-Geistigen unseres Mitmenschen aufwachen, wenn wir ebenso in uns fühlen lernen das Geistig-Seelische des Mitmenschen, wie wir fühlen in unserem Seelenleben beim gewöhnlichen Aufwachen das Licht und den Ton. [...]

Nun, wir mögen noch so schöne Ideen aufnehmen aus der Anthroposophie, aus dieser Kunde von einer geistigen Welt, wir mögen theoretisch durchdringen alles dasjenige, was von uns vom Äther-, Astralleib und so weiter gesagt werden kann, wir verstehen dadurch noch nicht die geistige Welt. Wir beginnen das erste Verständnis für die geistige Welt erst zu entwickeln, wenn wir am Seelisch-Geistigen des andern Menschen erwachen. Dann beginnt erst das wirkliche Verständnis für die Anthroposophie. [...]

Die Kraft zu diesem Erwachen, sie kann dadurch erzeugt werden, daß in einer Menschengemeinschaft spiritueller Idealismus gepflanzt wird. Man redet ja heute viel von Idealismus. Aber Idealismus ist heute innerhalb unserer Gegenwartskultur und Zivilisation etwas ziemlich Fadenscheiniges. Denn der wirkliche Idealismus ist nur vorhanden, wenn der Mensch sich bewußt werden kann, daß er [...] etwas, das er im Irdischen erschaut, im Irdischen erkennen und verstehen gelernt hat, in das Übersinnlich-Geistige hinaufhebt, indem er es ins Ideal erhebt. [...] wenn wir so empfinden lernen, daß wir uns sagen: Dasjenige, was du hier in der Welt der Sinne wahrgenommen hast, wird plötzlich lebendig, wenn du es zum Ideal erhebst. Es wird lebendig, wenn du es in der richtigen Weise durchdringst mit Gemüt und Willensimpuls. Wenn du dein ganzes Inneres vom Willen durchstrahlst, Begeisterung auf es wendest [...]. [...] wenn wir tatsächlich imstande sind, durch die lebendige Kraft, die wir hineinlegen in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen, etwas von einem Erweckenden zu erleben, etwas von dem, was nicht bloß das sinnlich Erlebte so idealisiert, daß das Ideal ein abstrakter Gedanke ist, sondern so, daß das Ideal ein höheres Leben gewinnt, indem wir uns in es hineinleben, daß es das Gegenbild des Kultus wird, nämlich das Sinnliche ins Übersinnliche hinauferhoben.

Das können wir auf gefühlsmäßige Weise erreichen, wenn wir uns angelegen sein lassen, überall dort, wo wir Anthroposophisches pflegen, diese Pflege von durchgeistigter Empfindung zu durchdringen, wenn wir verstehen, schon die Türe, schon die Pforte zu dem Raum – und mag er sonst ein noch so profaner sein, er wird geheiligt durch gemeinsame anthroposophische Lektüre – als etwas zu empfinden, was wir mit Ehrerbietung übertreten. Und die Empfindung müssen wir hervorrufen können, daß das in jedem einzelnen der Fall ist, der sich mit uns vereinigt zu gemeinsamem Aufnehmen anthroposophischen Lebens.

Und das müssen wir nicht nur zu innerster abstrakter Überzeugung bringen können, sondern zu innerem Erleben, so daß in einem Raume, wo wir Anthroposophie treiben, wir nicht nur dasitzen als so und so viele Menschen, die aufnehmen das Gehörte, oder aufnehmen das Gelesene und es in ihre Gedanken verwandeln, sondern daß durch den ganzen Prozeß des Aufnehmens anthroposophischer Ideen ein wirkliches real-geistiges Wesen anwesend wird in dem Raume, in dem wir Anthroposophie treiben. [...] und unsere Rede, unser Empfinden, unser Denken, unsere Willensimpulse müssen wir einrichten können im spirituellen Sinne, das heißt nicht in irgendeinem abstrakten Sinne, sondern in dem Sinne, daß wir uns so fühlen, als schaute herunter auf uns und hörte uns an ein Wesen, das über uns schwebt, das real-geistig da ist. Geistige Gegenwart, übersinnliche Gegenwart müssen wir empfinden, die dadurch da ist, daß wir Anthroposophie treiben. Dann fängt die einzelne anthroposophische Wirksamkeit an, ein Realisieren des Übersinnlichen selbst zu werden. [...] (S. 116ff).

Wir müssen einfach Anthroposophie wahr machen, wahr machen dadurch, daß wir ein Bewußtsein hervorzurufen verstehen in unseren anthroposophischen Gemeinschaften, daß, indem die Menschen sich finden zu gemeinsamer anthroposophischer Arbeit, der Mensch am Geistig-Seelischen des andern Menschen erst erwacht. Die Menschen erwachen aneinander, und indem sie sich immer wieder und wiederum finden, erwachen sie, indem jeder in der Zwischenzeit ein anderes durchgemacht hat und etwas weitergekommen ist, in einem gewandelten Zustand aneinander. [...] Ist es denn Wahrheit, wenn wir von der übersinnlichen Welt reden und nicht imstande sind, uns aufzuschwingen zum Erfassen solcher realen Geistigkeit, solches umgekehrten Kultus? Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee dieses Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können, auch für uns selbst theoretisch wiedergeben können, sondern wenn wir glauben können, aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens, daß Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben. Sie können nicht durch äußere Einrichtungen die anthroposophische Gemeinschaftsbildung hervorrufen. Sie müssen sie hervorrufen aus den tiefsten Quellen des menschlichen Bewußtseins selbst. [...] (S. 119).

Ist dieses wahre Verständnis für die Anthroposophie da, dann ist dieses Verständnis der Weg nicht bloß zu Ideen vom Geiste, sondern zu Gemeinschaft mit dem Geiste. Dann aber ist das Bewußtsein dieser Gemeinschaft mit der geistigen Welt auch gemeinschaftsbildend. (S. 120). [...]

Das künftige Vertrauen des Menschen in den Menschen

GA 217 (Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben..., „Pädagogischer Jugendkurs“), Sechster Vortrag, 8.10.1922 (Stuttgart), S. 88-95.


[...] Die kommende Generation wird nicht einmal dasjenige in sich haben, was die Gegenwart der jüngsten Generation, aus einer gewissen Oppositionsstellung gegen das Ältere, gegeben hat: die Begeisterung, allerdings nach einem mehr oder weniger Unbestimmten, aber doch wenigstens eine Begeisterung. Was sich weiter in der Menschheit entwickelt, wird viel mehr den Charakter eines Verlangens, einer Sehnsucht von unbestimmter Art haben, als das der Fall war bei jenen, die sich aus einer gewissen Oppositionsstellung gegenüber dem Herkömmlichen heraus Begeisterung holen konnten. (S. 87).

Und da wird es notwendig, noch tiefer, als ich das schon getan habe, in die Menschenseele hineinzuschauen. Ich habe es ja schon etwas angedeutet, daß in der neuzeitlichen Entwickelung der Menschheit im Abendlande das Bewußtsein vom vorirdischen Seelendasein verlorengegangen ist. [...] Sie müssen sich für einen Augenblick eine Empfindung davon bilden, wie ungeheuer anders es ist, wenn man von dem Bewußtsein durchdrungen ist: mit dem Menschen ist etwas heruntergestiegen aus göttlich-geistigen Welten in den physischen Menschenleib hinein, hat sich mit dem physischen Menschenleib verbunden. (S. 88). [...]

Wir sehen heute, nur verkannt und mißverstanden von dem größten Teil der zivilisierten Menschheit, zwei der allerwichtigsten sittlichen Impulse heraufziehen. Sie ziehen herauf in den Untergründen des Seelischen. Will man sie interpretieren, so kommt man gewöhnlich auf die verkehrtesten Ideen. Will man sie praktisch machen, so weiß man gewöhnlich nicht viel mit ihnen anzufangen; aber sie ziehen herauf. Es sind, in bezug auf das Innere des Menschen: der Impuls der sittlichen Liebe, und, in bezug auf den Verkehr unter den Menschen: der sittliche Impuls des Vertrauens von Mensch zu Mensch. [...] In Zukunft wird die reine große Liebe von innen heraus den Menschen beflügeln müssen zu dem, was Ausführung seiner sittlichen Intuitionen wird sein müssen; und diejenigen Menschen werden sich schwach und willenlos fühlen gegenüber den sittlichen Intuitionen, die nicht aus den Tiefen ihrer Seele heraus das Feuer der Liebe für das Sittliche entzünden, wenn ihnen durch ihre moralische Intuition die Tat, die geschehen soll, vor Augen steht. (S. 91f). [...]

Eine solche Kraft ist das Vertrauen, das Vertrauen von Mensch zu Mensch. Gerade so, wie wir appellieren müssen für die ethische Zukunft, wenn wir in unser eigenes Innere hineinsehen, an die Liebe, so müssen wir appellieren, wenn wir auf den Verkehr der Menschen untereinander sehen, an das Vertrauen. Wir müssen dem Menschen so begegnen, daß wir ihn als das Weltenrätsel selber empfinden, als das wandelnde Weltenrätsel. Dann werden wir schon vor jedem Menschen die Gefühle entwickeln lernen, die aus den allertiefsten Untergründen unserer Seele heraus das Vertrauen holen. Vertrauen in ganz konkretem Sinn, individuell, einzelgestaltet, ist das Schwerste, was aus der Menschenseele sich herausringt. Aber ohne eine Pädagogik, eine Kulturpädagogik, die auf Vertrauen hin orientiert ist, kommt die Zivilisation der Menschheit nicht weiter. Die Menschheit wird gegen die Zukunft hin auf der einen Seite die Notwendigkeit empfinden müssen, alles soziale Leben auf das Vertrauen aufzubauen, aber sich auf der anderen Seite auch bekannt machen müssen mit jener Tragik, die darinnen liegt, wenn in der Menschenseele gerade das Vertrauen nicht in der entsprechenden Weise Platz greifen kann. (S. 94).

O meine lieben Freunde, was Menschen jemals auf dem Grunde ihrer Seele gefühlt haben, wenn sie enttäuscht worden sind von einem Menschen, auf den sie viel gebaut haben, alles das, was an solchen Gefühlen jemals im Laufe der Menschheitsentwickelung entfaltet worden ist, wird in Zukunft an Tragik noch überboten werden, wenn die Menschen, nachdem gerade das Vertrauensgefühl unendlich vertieft worden ist, in tragischer Weise Enttäuschungen an Menschen erleben werden. Das wird in der Zukunft das Bitterste im Leben werden, wenn man von Menschen wird enttäuscht werden. Es wird das Bitterste werden, nicht weil nicht auch bisher schon Menschen von Menschen enttäuscht worden sind, sondern weil in Zukunft die Empfindung der Menschen für Vertrauen und Enttäuschung sich in einer unermeßlichen Weise vertiefen wird, weil die Menschen unendlich viel bauen werden auf das, was in der Seele bewirkt wird aus dem Glück des Vertrauens auf der einen Seite und aus dem Schmerz des notwendigen Mißtrauens auf der anderen Seite. Ethische Impulse werden eben bis zu jenen Untergründen der Seele vordringen, wo sie unmittelbar aufsprießen aus dem Vertrauen von Mensch zu Mensch.

So wie die Liebe die menschliche Hand, den menschlichen Arm befeuern wird, damit er aus dem Inneren heraus die Kraft zur Tat hat, so wird von außen die Atmosphäre des Vertrauens in uns strömen müssen, damit die Tat den Weg von einem Menschen zum andern hin finde. (S. 94f).

Über die innere Entschlossenheit

GA 317 (Heilpädagogischer Kurs), Zwölfter Vortrag, 7.7.1924 (Dornach), S. 185.


Wer eine Entwickelung durchmacht, klagt nie darüber, daß er abgehalten werden könnte.
Denn man wird in Wirklichkeit nicht von dem oder jenem abgehalten. Es wäre denkbar, daß jemand die wirksamste Meditation macht vor einer entscheidenden Handlung, die unmittelbar darauf folgt, oder wiederum nach einer entscheidenden Handlung, mit vollständigem Vergessen dessen, was er in der Handlung erlebt hat. Denn darauf kommt es an, daß man es in seiner Macht hat, sich herauszureißen aus der einen Welt und sich hineinzufinden in die andere Welt. Und das ist überhaupt der Anfang alles Aufrufens innerer Kräfte.