Die soziale Grundforderung unserer Zeit

Rudolf Steiner: Die soziale Grundforderung unserer Zeit (GA 186, 29.11.-21.12.1918).


Vierter Vortrag: Gegenseitiges Einschläfern, gefälschte Urteile und Selbstliebe. Sozialismus, Gedankenfreiheit und Geisteswissenschaft als Gegengewicht.
Fünfter Vortrag: Bewusstseinsseele und soziale Triebe. Notwendigkeit der Geisteswissenschaft. Christus-Impuls. Das objektive Bild vom Anderen und die selbstlose Rückschau.
Siebenter Vortrag: Bewusstseinsseele und antisoziale Triebe. Gegengewicht in der gesellschaftlichen Struktur. Wesen des Geldes. Selbstliebe. Interesse von Mensch zu Mensch und Sich-Verobjektivieren. Marx und der Christus-Impuls.
Achter Vortrag: Frühere Instinkte und heutige Bewusstseinsseele.
Elfter Vortrag: Wirklichkeitsgemäßes Denken taucht liebevoll in die Wirklichkeit unter.
Zwölfter Vortrag: Arbeit darf keine Ware mehr sein – nur dies wird die soziale Frage lösen.

Vierter Vortrag, 6.12.1918

Letzthin habe ich ausdrücklich betont, daß [...] ein Paradieseszustand auf dem physischen Plane unmöglich ist, daß daher alle sogenannten Lösungen der sozialen Frage, welche mehr oder weniger bewußt oder unbewußt einen solchen Paradieseszustand auf dem physischen Plan herbeiführen wollen, der noch dazu ein dauernder sein soll – daß alle solche sogenannten Lösungen der sozialen Frage auf Illusionen beruhen müssen. [...]

 [...] Was gewöhnlich heute eigentlich im weitesten Umfange übersehen wird, wenn von sozialer Frage oder sozialen Forderungen gesprochen wird, das ist, daß gemäß den Anforderungen unserer Zeit die soziale Frage ohne eine intimere Kenntnis des menschlichen Wesens überhaupt nicht angefaßt werden kann. Man kann ausdenken, welche sozialen Programme man will, man kann noch so ideale soziale Zustände herbeiführen wollen, alles das muß fruchtlos bleiben, wenn es nicht darauf ausgeht, den Menschen als solchen zu erfassen, wenn es nicht auf die intimere Erkenntnis des Menschen hinausläuft. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß die soziale Gliederung, von der ich gesprochen habe, diese soziale Dreigliederung, die ich im eminentesten Sinne als eine Forderung unserer Zeit hinstellen mußte, gerade deshalb für die heutige Zeit gilt, weil sie auf die Erkenntnis des Menschen in jeder Einzelheit Rücksicht nimmt, auf eine Erkenntnis des Menschen, wie er jetzt im gegebenen Zeitpunkt der fünften nachatlantischen Zeit ist. (S. 88f).

Der Mensch hat sich selbst ungeheuer gerne. Und durch die Selbstliebe ist es, daß der Mensch Selbsterkenntnis zu einer Quelle von Illusionen macht. So möchte sich der Mensch nicht gestehen, daß er eigentlich nur zur Hälfte ein soziales Wesen ist, daß er zur anderen Hälfte ein antisoziales Wesen ist.

Dies sich trocken und energisch zu gestehen, daß der Mensch gleichzeitig ein soziales und ein antisoziales Wesen ist, das ist eine Grundforderung der sozialen Menschenerkenntnis. [...] Vor allen Dingen muß man sich mit Bezug auf das Vorstellen, das Denken klar sein, daß in diesem Vorstellen, in diesem Denken ein unendlich bedeutungsvoller Quell des Antisozialen des Menschen liegt. Indem der Mensch einfach ein denkendes Wesen ist, ist er ein antisoziales Wesen. (S. 89f).

Sehen Sie, das ist das normale Verhältnis von Mensch zu Mensch, daß, wenn wir miteinander zusammenkommen, der eine immer – das Verhältnis ist natürlich gegenseitig – bestrebt ist, das Unterbewußtsein des anderen einzuschläfern. [...] Es ist eine Tatsache, wenn es auch nicht ins gewöhnliche Bewußtsein heraufkommt. Wenn Sie also einem Menschen gegenübertreten, schläfert er Sie ein, das heißt, Ihr Denken schläfert er ein, nicht Ihr Fühlen und Wollen. Jetzt müssen Sie, wenn Sie ein denkender Mensch bleiben wollen, sich innerlich dagegen wehren. Sie müssen Ihr Denken aktivieren. Sie müssen zur Abwehr übergehen gegen das Einschlafen. [...] (S. 91).

Gewissermaßen tritt uns jeder Mensch als ein Feind unseres Vorstellens, als ein Feind unseres Denkens entgegen. Wir müssen unser Denken schützen gegen den anderen. Das bedingt, daß wir in bezug auf das Vorstellen, auf das Denken im hohen Grade antisoziale Wesen sind und uns zu sozialen Wesen überhaupt nur erziehen können. [...] (S. 92).

Aber damit ist etwas anderes in Verbindung. Es macht uns dieses krank. Wenn auch nicht sehr wahrnehmbare – manchmal aber auch sehr wahrnehmbare – Krankheiten daraus entstehen, zu den Krankheitsursachen gehört das antisoziale Wesen. [...] Manche Menschen würden sich nicht nur von ihren Mucken, sondern auch von allerlei Kränklichkeiten gesund machen, wenn sie ihre antisozialen Impulse in sich untersuchen würden. Das muß man aber ernsthaftig tun. Das muß man ohne Selbstliebe tun, denn das ist für das Leben von ungeheurer Wichtigkeit. – Das sei zunächst gesagt über das Soziale und Antisoziale im Menschen mit Bezug auf das Vorstellen oder Denken. (S. 94f).

Nun ist der Mensch außerdem ein fühlendes Wesen, und mit dem Fühlen ist es nun wiederum eine eigentümliche Sache. Auch mit Bezug auf das Fühlen ist der Mensch nicht so einfach, als er es sich gerne vorstellen möchte. Das Fühlen von Mensch zu Mensch hat nämlich eine paradoxe Eigentümlichkeit. Das Fühlen hat die Eigentümlichkeit, daß es zunächst geneigt ist, uns eine gefälschte Empfindung von dem anderen Menschen zu geben. Die erste Neigung im Unterbewußtsein des Menschen im Verkehr von Mensch zu Mensch besteht immer darin, daß uns von dem anderen Menschen im Unterbewußtsein eine gefälschte Empfindung auftaucht, und wir müssen im Leben immer erst diese gefälschte Empfindung bekämpfen.

Der Lebenskenner wird sehr leicht bemerken, daß Menschen, die nicht geneigt sind, interessevoll auf andere Menschen einzugehen, eigentlich fast über alle Menschen schimpfen, wenigstens nach einiger Zeit. Das ist ja eine Eigentümlichkeit einer großen Anzahl von Menschen. Man liebt den einen oder den anderen Menschen eine Zeitlang; aber wenn diese Zeit vergangen ist, dann regt sich so etwas in der menschlichen Natur, und man fängt an, auf den anderen irgendwie zu schimpfen, irgend etwas gegen ihn zu haben. Man weiß oftmals selbst nicht, was man gegen ihn hat, denn diese Dinge spielen sich ja sehr im Unterbewußtsein ab. Das rührt einfach davon her, daß das Unterbewußtsein die Tendenz hat, das Bild, das wir uns von dem anderen Menschen machen, eigentlich zu verfälschen. Wir müssen den anderen Menschen erst genauer kennenlernen, dann werden wir sehen, daß wir in dem Bilde, das wir zunächst gewonnen haben, Fälschungen ausradieren müssen. [...]

Denn dieses Unterbewußte, das hat die Tendenz, nach Sympathien und Antipathien die Menschen zu beurteilen. [...] Jedes Urteil aber, das nach Sympathien und Antipathien gefällt ist, ist gefälscht. Es gibt kein wahres, kein richtiges Urteil, wenn es nach Sympathien und Antipathien gefällt ist. Und deshalb, weil immer das Unterbewußte im Fühlen nach Sympathie und Antipathie geht, entwirft es immer ein gefälschtes Bild des Nebenmenschen. Wir können gar nicht in unserem Unterbewußten ein richtiges Bild des Nebenmenschen haben. Gewiß, wir haben manchmal auch ein zu gutes, aber es ist immer nach Sympathien und Antipathien gebildet, und es bleibt nichts anderes übrig, als sich eine solche Tatsache einfach zu gestehen, sich zu gestehen, daß man auch da als Mensch nicht etwas sein kann, sondern etwas werden soll. Man muß sich sagen, daß man namentlich mit Bezug auf den Gefühlsverkehr mit anderen Menschen ein erwartendes Leben führen muß. Man darf nicht auf das Bild gehen, das sich einem zunächst von dem Menschen aus dem Unterbewußten in das Bewußtsein heraufdrängt, sondern man muß versuchen, mit Menschen zu leben. Man wird sehen, wenn man versucht, mit den Menschen zu leben, daß sich aus der antisozialen Stimmung, die man eigentlich immer zunächst hat, die soziale Stimmung herausentwickelt. [...]

Man kann sagen, so paradox das klingt, eine soziale Gesellschaft wäre eigentlich nur möglich, wenn die Menschen nicht in Sympathien und Antipathien lebten. Dann wären sie aber keine Menschen. Daraus geht Ihnen wiederum hervor, daß der Mensch zugleich ein soziales und antisoziales Wesen ist, daß also das, was man „soziale Frage“ nennt, auf die Intimitäten der menschlichen Wesenheit eingehen muß. Wenn man darauf nicht eingeht, so wird man niemals zu einer Lösung der sozialen Frage für irgendeine Zeit kommen. (S. 96f).

Mit Bezug auf das Wollen, das sich von Mensch zu Mensch abspielt, da zeigt es sich ganz besonders auffällig und paradox, was für ein kompliziertes Wesen der Mensch ist. [...] Der Mensch verhält sich zu dem andern Menschen so, wie es ihm seine besondere Sympathie zu diesem Menschen, der besondere Grad von Liebe, den er ihm entgegenbringt, eingibt. Da spielt eine unterbewußte Inspiration eine merkwürdige Rolle. Denn dasjenige, was ja ausgegossen ist über allen Willensverkehr von Mensch zu Mensch, müssen wir in dem Lichte des Impulses betrachten, dem dieser Willensverkehr unterliegt, in dem Lichte der mehr oder weniger vorhandenen Liebe, die zwischen den Menschen spielt. Von dieser Liebe, die zwischen den Menschen spielt, lassen ja die Menschen ihre Willensimpulse getragen sein, die so hinüberspielen von Mensch zu Mensch.

Mit Bezug auf die Liebe unterliegt der Mensch im allereminentesten Sinne einer großen Täuschung und bedarf noch mehr der Korrektur, als mit Bezug auf die gewöhnlichen Gefühlssympathien und -antipathien. Denn, so sonderbar das klingt für das gewöhnliche Bewußtsein, es ist durchaus wahr, daß die Liebe, die sich von einem Menschen zum anderen geltend macht, wenn sie nicht vergeistigt ist [...] eigentlich nicht die Liebe als solche, sondern das Bild ist, das man sich von ihr macht, daß sie zumeist nichts weiter ist als eine furchtbare Illusion. Denn die Liebe, die ein Mensch zum andern zu entwickeln glaubt, ist – so wie die Menschen einmal sind im Leben – zumeist nichts anderes als Selbstliebe. Der Mensch glaubt, den andern zu lieben, liebt sich aber eigentlich in der Liebe nur selbst. Sie sehen hier einen Quell von antisozialem Wesen, der noch dazu die Quelle einer furchtbaren Selbsttäuschung sein muß. Man kann nämlich in überströmender Liebe zu einem Menschen aufzugehen meinen, aber man liebt nicht in Wirklichkeit diesen anderen Menschen, sondern man liebt das Verbundensein mit dem anderen Menschen in der eigenen Seele. Was man da als Beseligung in der eigenen Seele empfindet am andern Menschen, was man in sich empfindet dadurch, daß man mit dem andern Menschen zusammen ist, daß man dem andern Menschen meinetwillen Liebeserklärungen macht, das ist es, was man eigentlich liebt. Man liebt im ganzen sich selber, indem man diese Selbstliebe in dem Verkehre mit dem andern entzündet. [...]

Durch diese Selbstliebe, die sich in Liebe maskiert, wird der Mensch im eminentesten Sinne zu einem antisozialen Wesen. Der Mensch ist ja dadurch eben ein antisoziales Wesen, daß er sich in sich vergräbt. Und er vergräbt sich am allermeisten in sich, wenn er von diesem In-sich-vergraben-Sein nichts weiß oder nichts wissen will. [...]

So kann die Liebe gerade ein ungeheuer starker Impuls zum antisozialen Leben sein. Man kann sagen: So wie der Mensch ist, wenn er nicht an sich arbeitet, wenn er sich nicht durch Selbstzucht in die Hand nimmt, so ist er als liebendes Wesen unter allen Umständen ein antisoziales Wesen. Die Liebe als solche, wie sie an der menschlichen Natur haftet, ohne daß der Mensch Selbstzucht übt, ist von vornherein antisozial, denn sie ist ausschließend. Das ist wiederum keine Kritik. Viele Erfordernisse des Lebens hängen damit zusammen, daß die Liebe ausschließend sein muß. Selbstverständlich wird der Vater seinen eigenen Sohn mehr lieben als ein fremdes Kind; aber das ist antisozial. Es läßt sich gar nicht leugnen, daß Antisoziales ins Leben durch das Leben selbst hineinspielt. (S. 98ff).

Das Leben selber macht den Menschen zu einem antisozialen Wesen. Deshalb denken Sie sich einmal einen solchen Paradieseszustand auf Erden durchgeführt, wie es ihn gar nicht geben kann, aber wie er angestrebt wird, weil die Menschen ja immer das Unwirkliche viel mehr lieben als das Wirkliche – denken wir uns, ein solcher Paradieseszustand würde hergestellt, meinetwillen sogar ein solcher Überparadieseszustand, wie ihn Lenin, Trotzki, Kurt Eisner und andere auf der Erde haben wollen. Sehr bald schon würden sich unzählige Menschen dagegen auflehnen müssen, weil sie dabei nicht Menschen bleiben können, weil in einem solchen Zustande eben nur die sozialen Triebe Befriedigung finden würden, sich aber die antisozialen Triebe sogleich regen würden. Das ist ebenso notwendig, wie ein Pendel nicht bloß nach der einen Seite ausschlägt. In dem Augenblicke, wo Sie einen Paradieseszustand herstellen, müssen sich die antisozialen Triebe regen. [...]

Denn das ist eben das Leben, daß es zwischen Ebbe und Flut hin und her geht. Und wenn man das nicht verstehen will, so versteht man überhaupt nichts von der Welt. Man hört ja oft: Das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens ist die Demokratie. – Gut, nehmen wir also an, das Ideal eines staatlichen Zusammenlebens sei die Demokratie. Aber, wenn man diese Demokratie irgendwo einführen wollte, so würde sie notwendigerweise in ihrer letzten Phase zu ihrer eignen Aufhebung führen. Die Demokratie strebt notwendigerweise danach, wenn die Demokraten beisammen sind, daß immer einer den andern überwältigen will, immer will einer recht haben gegenüber dem andern. Das ist ganz selbstverständlich. Sie strebt nach ihrer eigenen Auflösung. [...] Demokratien werden immer nach einiger Zeit sterben an ihrer eigenen demokratischen Natur. Das sind die Dinge, die zum Verständnis des Lebens ungeheuer notwendig sind.

Nun liegt noch dazu das Eigentümliche vor, daß gerade die zunächst wesentlichsten Eigenschaften des Menschen im fünften nachatlantischen Zeitraum antisoziale Eigenschaften sind. Denn das Bewußtsein, das gerade auf das Denken gebaut ist, soll sich in diesem Zeitraum entwickeln. Daher wird dieser Zeitraum gerade am stärksten die antisozialen Impulse durch die Natur des Menschen herauskehren. Die Menschen werden durch diese antisozialen Impulse mehr oder weniger unleidige Zustände hervorrufen, und es wird immer die Reaktion gegen den Antisozialismus wiederum in dem Schreien nach Sozialismus sich geltend machen. [...] (S. 100f).

Im Leben verschlingen sich die sozialen und antisozialen Triebe in einer oftmals knäuelförmigen, unentwirrbaren Weise. Deshalb ist es so schwierig, über die soziale Frage zu sprechen. Die soziale Frage kann kaum anders besprochen werden, als wenn man die Neigung hat, wirklich auf die intime Natur des Menschen einzugehen, darauf einzugehen, wie zum Beispiel die Bourgeoisie an sich ein Träger antisozialer Impulse ist. Einfach das Bourgeois-Sein entwickelt antisoziale Impulse, weil das Bourgeois-Sein im wesentlichen darin besteht, sich eine solche Sphäre des Lebens zu schaffen, wie es einem paßt, so daß man in ihr beruhigt sein kann. Wenn man dieses eigentümliche Streben des Bourgeois untersucht, so besteht es darin, daß er sich nach den Eigentümlichkeiten unseres gegenwärtigen Zeitraumes auf ökonomischer Grundlage eine Lebensinsel schaffen will, auf welcher er mit Bezug auf alle Verhältnisse schlafen kann, mit Ausnahme irgendeiner besonderen Lebensgewohnheit, die er je nach seinen subjektiven Antipathien oder Sympathien entwickelt. Also der Bourgeois, er kann dadurch sehr viel schlafen. [...] Besitz schläfert ein; Notwendigkeit, im Leben zu kämpfen, weckt auf. Die Einschläferung durch den Besitz läßt einen antisoziale Impulse entwickeln, weil man sich nicht sehnt nach dem sozialen Schlafe. Das fortwährende Aufgefordertwerden durch die Erwerbsnotwendigkeit läßt Sehnsucht nach dem Einschlafen im sozialen Zusammenhange entstehen.

Diese Dinge müssen durchaus in Betracht gezogen werden, sonst versteht man die Gegenwart absolut nicht. Nun kann man sagen: Trotz alledem strebt in einer gewissen Weise unser fünfter nachatlantischer Zeitraum nach Sozialisierung in der Form, wie ich es Ihnen neulich hier auseinandergesetzt habe. Denn diese Dinge, die ich angegeben habe, werden kommen: entweder, wenn sich die Menschen dazu bequemen, durch menschliche Vernunft, oder, wenn sie sich nicht dazu bequemen, durch Kataklysmen, durch Revolutionen. Diese Dreigliederung strebt der Mensch an im fünften nachatlantischen Zeitraum, diese Dreigliederung muß kommen. Nach einer gewissen Sozialisierung strebt also unser Zeitraum.

Aber diese Sozialisierung ist nicht möglich – das wird Ihnen aus mancherlei Betrachtungen, die wir hier auch schon angestellt haben, hervorgehen –, ohne daß ein anderes sie begleitet. Sozialisierung kann sich nur beziehen auf die äußere Gesellschaftsstruktur. Die kann aber in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum eigentlich nur in einer Bändigung des denkerischen Bewußtseins bestehen, in einer Bändigung der antisozialen menschlichen Instinkte. Es muß also durch die soziale Struktur gewissermaßen eine Bändigung der antisozialen Vorstellungsinstinkte geschehen. Das muß eine Widerlage haben, das muß durch irgend etwas ins Gleichgewicht gebracht werden. Ins Gleichgewicht aber kann das nur gebracht werden dadurch, daß alles, was aus früheren Zeiträumen, in denen es berechtigt war, an Knechtung der Gedanken, an Überwältigung der Gedanken eines Menschen durch den anderen stammt, daß das mit der zunehmenden Sozialisierung aus der Welt geschafft wird. Daher muß die Freiheit des Geisteslebens neben der Organisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse, in der Zukunft stattfinden. Diese Freiheit des Geisteslebens allein macht möglich, daß wir wirklich von Mensch zu Mensch so stehen, daß wir in dem andern den Menschen sehen, der vor uns steht, nicht den Menschen im allgemeinen. Ein Woodrow Wilsonsches Programm redet vom Menschen im allgemeinen. Aber diesen Menschen im allgemeinen, diesen abstrakten Menschen gibt es nicht. Was es gibt, ist immer nur der einzelne, individuelle Mensch. Für den können wir uns nur wiederum als ganze Menschen, nicht durch das bloße Denken interessieren. Wir löschen das, was wir von Mensch zu Mensch entwickeln sollen, aus, wenn wir wilsonisieren, wenn wir ein abstraktes Bild des Menschen entwerfen. Das Wesentliche, worauf es ankommt, ist, daß zur Sozialisierung in der Zukunft die absolute Freiheit der Gedanken tritt; Sozialisierung ist nicht denkbar ohne Gedankenfreiheit. [...] (S. 102ff).

Das müssen wir uns heute ganz besonders abgewöhnen, nur auf den Inhalt zu sehen und nicht zu sehen, von welchem Gesichtspunkte aus irgend etwas in die Welt gesetzt wird. Es kann etwas, wenn es von einem Gesichtspunkte aus, der für einen Zeitraum gültig ist, in die Welt gesetzt wird, ein Wohltätiges, ein Heilsames sein; wenn es von einer anderen Macht in Szene gesetzt wird, kann es entweder etwas ungeheuer Lächerliches oder sogar Schädliches sein. Das ist etwas, was heute ganz besonders berücksichtigt werden muß. Denn es wird sich immer mehr und mehr herausstellen: Wenn zwei dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe, je nach dem Hintergrunde, der dahinter liegt. [...]

Von einem wirklichen Eingehen auf diese Dinge merkt man noch nicht viel. Man wird beispielsweise heute noch immer fragen: Wie soll man das und jenes einrichten, wie soll man das und jenes machen, damit es richtig ist? Richten Sie da oder dort dies oder jenes ein – wenn Sie die Menschen nicht hineinsetzen, die im Sinne unseres Zeitalters denken, dann können Sie die beste oder die schlechteste Einrichtung machen, sie werden beide entweder zum Heil oder zum Unheil ausschlagen, je nachdem Sie Menschen hineinsetzen. Worauf es heute ankommt, ist, daß der Mensch wirklich begreife: Er muß werden, er kann nicht auf irgend etwas geben, was er schon ist, er muß fortwährend ein Werdender sein. Er muß sich auch dazu verstehen, wirklich in die Wirklichkeit hineinzuschauen. [...]

Ein Urteil sich zu bilden, das sachgemäß ist, ist natürlich nicht so leicht wie ein Urteilen, das möglichst geradlinig lossteuert auf die Formulierbarkeit. Urteile, die sachgemäß sind, sind nicht ohne weiteres formulierbar, namentlich dann nicht, wenn sie in das Soziale oder in das Menschliche oder in das politische Leben eingreifen, denn da ist fast immer auch das Gegenteil von dem richtig, was man annimmt – auch in demselben Grade richtig, wie das Gegenteil. Nur wenn man versucht, sich überhaupt kein Urteil zu bilden von solchen Verhältnissen, sondern sich Bilder zu machen, das heißt, wenn man schon aufsteigt in das imaginative Leben, dann wird man ungefähr den rechten Weg gehen können. Das ist in unserer Zeit von ganz besonderer Wichtigkeit, daß man versucht, sich Bilder zu machen, nicht eigentlich abstrakte, abgeschlossene Urteile. Bilder müssen es ja auch sein, welche zur Sozialisierung hindrängen. Dann, was weiter notwendig ist: es gibt keine Sozialisierung, ohne daß der Mensch geisteswissenschaftlich wird – also gedankenfrei auf der einen Seite, geisteswissenschaftlich auf der andern Seite. [...]

Diese drei Dinge sind eben auch voneinander untrennbar: Sozialismus, Gedankenfreiheit, Geisteswissenschaft. Die gehören zusammen. Eines ist ohne das andere in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum in seiner Entwickelung nicht möglich. (S. 105f).

Fünfter Vortrag, 7.12.1918

Nach alledem, was wir nun betrachtet haben [...], muß man sich nun fragen: Welches ist denn die tiefste Eigentümlichkeit gerade unseres Zeitraumes und der Entwickelung der Bewußtseinsseele? Die tiefste Eigentümlichkeit für diesen Zeitraum ist diese, daß der Mensch am gründlichsten, am intensivsten Bekanntschaft machen muß mit den der Harmonisierung der Gesamtmenschheit widerstrebenden Kräften. Deshalb muß in unserer Zeit sich allmählich eine bewußte Erkenntnis der dem Menschen widerstrebenden ahrimanischen und luziferischen Mächte verbreiten. Würde der Mensch durch diese Entwickelungsimpulse, an denen die luziferischen und ahrimanischen Mächte mitwirken, nicht hindurchgehen, so würde er nicht zum vollen Gebrauch seines Bewußtseins, also nicht zu der Ausbildung seiner Bewußtseinsseele kommen. Wir haben aber in diesem Sicheingliedern der Bewußtseinsseele in die menschliche Natur einen im eminentesten Sinne antisozialen Trieb zu erkennen. So daß das Eigentümliche vorliegt in unserem Zeitalter, daß das Auftreten der sozialen Ideale wie eine Reaktion erscheint auf dasjenige, was gerade aus dem innersten Wesen der Menschennatur herauswill, auf die Entwickelung des individuellen Bewußtseins. Ich möchte sagen, wir haben in unserer Zeit einen solchen Schrei nach Sozialismus, weil das innerste Wesen des Menschen gerade in unserer Zeit diesem Sozialismus am meisten widerstrebt. [...]

Man muß sich eben klarwerden darüber, daß der Mensch mit seinem Leben einen Gleichgewichtszustand darstellt zwischen einander widerstrebenden Mächten. Jede Vorstellung, die etwa darauf ausgeht, bloß eine Zweiheit vorzustellen, sagen wir ein gutes und böses Prinzip, die wird niemals das Leben durchleuchten können. Das Leben kann man nur durchleuchten, wenn man es im Sinne der Dreiheit darstellt, wo das eine der Gleichgewichtszustand ist und die zwei andern die beiden Pole, nach denen der Gleichgewichtszustand fortwährend hinpendelt. Daher jene Trinität, die wir in dem Menschheitsrepräsentanten und in Ahriman und Luzifer in unserer Gruppe, die den Mittelpunkt dieses Baues zu bilden hat, darstellen wollen.

Dieses Bewußtsein von einem Gleichgewichtszustand, der angestrebt wird, der immer in der Gefahr lebt, nach der einen oder nach der anderen Seite auszuschlagen, das muß das Wesentliche werden der Weltanschauung für diesen fünften nachatlantischen Zeitraum. Indem der Mensch durchgeht durch die Bewußtseinsseele, entwickelt er sich nach dem Geistselbst hinauf. Es wird noch lange dauern, dieses Zeitalter der Entwickelung der Bewußtseinsseele. Aber in der Wirklichkeit gehen ja doch die Dinge nicht so vor sich, daß immer schön schematisch eines auf das andere folgt, sondern eines ist gewissermaßen in dem andern eingekapselt. Und während wir zu immer stärkerer und stärkerer Kraft die Bewußtseinsseele ausbilden, lauert, ich möchte sagen, im Hintergrunde schon das Geistselbst, welches dann im sechsten nachatlantischen Zeitraum ebenso stark herauskommen soll wie in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum die Bewußtseinsseele. Ebenso stark, wie die Bewußtseinsseele antisozial wirkt, indem sie sich entwickelt, wird das Geistselbst sozial wirken. So daß man sagen kann: Der Mensch entwickelt aus den innersten Impulsen seiner Seele heraus in dieser Epoche Antisoziales; aber dahinter treibt ein Geistig-Soziales. Und dieses Geistig-Soziale, das dahinter treibt, das wird im wesentlichen erscheinen, wenn das Licht des Geistselbstes im sechsten nachatlantischen Zeitraum aufgehen wird. Daher ist es kein Wunder, daß in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum in allerlei abstrusen, hyperradikalen Formen dasjenige auftritt, was in einer geordneten Weise doch erst in die Menschheit sich einleben kann im sechsten, dem auf unseren folgenden nachatlantischen Zeitraum. [...]

So wird im Hintergrunde, weil verfrüht, hinter den mancherlei Bestrebungen der Gegenwart und in die Zukunft hin eine soziale Forderung stehen. Aber wir müssen es immer wiederholen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus, daß diese soziale Gestaltung, die gefordert wird, nicht lebensfähig sein könnte, ohne daß sie mit zwei anderen Dingen in Verbindung tritt. Im sechsten nachatlantischen Zeitraum wird diese Verbindung mehr oder weniger von selbst auftreten. In diesem fünften nachatlantischen Zeitraum muß durch die Pflege der Geisteswissenschaft das soziale Leben geregelt werden. Und jede andere Bestrebung, um das soziale Leben außerhalb des Gebietes der Geisteswissenschaft zu regeln, wird nur zum Chaos und zum Hyperradikalismus führen, der die Menschen unglücklich macht. [...]

Wenn Sozialismus, der als elementarer Impuls heraufkommt, als eine Forderung innerhalb der Menschheit auftritt, so muß dieser Sozialismus allein immer zum Unsegen führen. Sozialismus kann nur zum Segen führen, wenn er gepaart ist mit den zwei anderen Dingen, die zunächst bis zum Ende unserer nachatlantischen Zeit, bis zum siebenten nachatlantischen Zeitraum sich in der Menschheit entwickeln müssen, mit dem, was man nennen kann ein freies Gedankenleben und eine Einsicht in die geistige Natur der Welt, die hinter der sinnlichen Natur liegt. Sozialismus ohne Geisteswissenschaft und ohne Gedankenfreiheit ist ein Unding. Das ist eben eine objektive Wahrheit. Zur Gedankenfreiheit muß der Mensch aber erwachen, sich reif machen gerade in unserem Zeitalter der Bewußtseinsseele. Warum muß er zur Gedankenfreiheit erwachen? [...] Der Mensch wird in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum viel mehr den Eindrücken des Lebens ausgeliefert sein, weil die den Eindrücken des Lebens widerstrebenden Kräfte, die vor der Geburt in der Embryonalzeit erworben werden, ihre Tragkraft verlieren. (S. 111ff).

Und es ist auch eigentlich erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die Notwendigkeit eingetreten, den Christus-Impuls, der vorher nur vorbereitet wurde, was ich ja oft erwähnt habe, wirklich zu verstehen, weil ohne ihn die menschliche Kultur nicht weitergehen kann. [...] Alle die Jahrhunderte – es sind ja deren fast zwanzig –, in denen sich bisher das Christentum ausgebreitet hat, waren nur Vorbereitungen für die wirkliche Erfassung des Christus-Impulses. Denn der Christus-Impuls kann nur im Geistigen erfaßt werden. [...]

Und der gegenwärtige Ruf nach einer Gliederung der Menschen in lauter einzelne Völker ist der ahrimanisch zurückgebliebene Ruf nach der Begründung einer solchen Kultur, wo alle Völker nur Volkskulturen, das heißt alttestamentliche Kulturen darstellen. Dem jüdischen alttestamentlichen Volke ähnlich werden sollen die Völker über die Erde hin – das ist der Ruf von Woodrow Wilson.

Damit berühren wir ein außerordentlich tiefes Geheimnis, ein Geheimnis, welches sich in den allerverschiedensten Formen enthüllen wird. Ein soziales Element, das antisozial ist mit Bezug auf die ganze Menschheit, das nur das Soziale begründen will in einzelnen Völkern, das will als ahrimanisches Element herauf; ahrimanisch soll festgehalten werden der alttestamentliche Kulturimpuls! [...] (S. 119ff).

Geisteswissenschaft muß sich entwickeln aus dem Grunde, weil der Mensch zum Menschen in ein Verhältnis treten muß. Aber der Mensch ist Geist. Man kann zum Menschen nur in ein Verhältnis treten, wenn man vom Geiste ausgeht. Das frühere Verhältnis, in das die Menschen getreten sind, ging von dem unbewußten, im Blute vibrierenden Geiste aus im Sinne der Jahve-Weisheit, die aber nur zur Abstraktion führt. Das nächste, zu dem der Mensch geführt werden muß, das muß etwas sein, was im Seelischen erfaßt wird. In der Bildlichkeit, aus Atavismus heraus hatten die heidnischen Völker in alten Kulturformen die Mythen. Das jüdische Volk hatte seine Abstraktionen – nicht Mythen, sondern Abstraktionen –: das Gesetz. Das hat sich fortgesetzt. Das war das erste Heraufheben des Menschen in die Vorstellungskraft, in die Denkkraft. Aber von seiner jetzigen Anschauung, in der nur noch nachlebt „Du sollst dir kein Bild machen“, muß der Mensch zurückkehren zu jener Fähigkeit der Seele, die sich wiederum, und zwar jetzt bewußt, Bilder machen kann. Denn nur in Bildern, in Imaginationen, wird in Zukunft in richtiger Weise auch das soziale Leben aufgestellt werden. [...]

Die Menschen würden sich ganz mit antisozialen Trieben anfüllen, wenn sie dabei stehenbleiben wollten, bloße abstrakte Gesetze zu verbreiten. Die Menschen müssen durch ihre Weltanschauung zur Bildlichkeit kommen, dann wird aus dieser bewußten Mythusbildung auch die Möglichkeit erstehen, daß im Verkehr von Mensch zu Mensch das Soziale sich ausbildet. [...]

Was aus dem Innersten des Menschen herausstrahlt, was sich verwirklichen will, ist, daß, wenn ein Mensch dem andern gegenübertritt, gewissermaßen aus dem andern Menschen ein Bild herausquillt, ein Bild jener besonderen Art des Gleichgewichtszustandes, den individuell jeder Mensch ausdrückt. Dazu gehört allerdings jenes erhöhte Interesse, welches ich Ihnen als die Grundlage des sozialen Lebens öfter geschildert habe, jenes erhöhte Interesse, das der Mensch am andern Menschen nehmen soll. Wir haben heute noch kein intensives Interesse am andern Menschen, daher kritisieren wir ihn, daher beurteilen wir ihn, daher machen wir uns Urteile nach Sympathien und Antipathien, nicht nach dem objektiven Bilde, das uns aus dem anderen Menschen entgegenspringt. [...]

Nun kann in Ihnen die Frage auftauchen: Wodurch gewinnen wir allmählich die Fähigkeit, daß uns das Bild des Menschen entgegenspringt? Wir müssen uns diese Fähigkeit im Leben aneignen. [...] In die Erziehung müssen viel konkretere, viel bestimmtere Maximen eintreten als diejenigen, die heute so verworren in der Pädagogik geltend gemacht werden. Vor allen Dingen muß der Trieb in den Menschen eingepflanzt werden, öfter in seinem Leben zurückzuschauen, aber in der rechten Weise. [...]

In umfassendem Sinne setzt sich eine wirklich selbstlos getriebene Rückschau auf das Leben aus allem möglichen zusammen, was uns nicht veranlaßt, uns selbstisch in uns selbst zu vertiefen, über uns selber selbstisch zu brüten, sondern den Blick über diejenigen Gestalten auszudehnen, die an uns herangetreten sind. Vertiefen wir uns recht liebevoll in das, was an uns herangetreten ist. Wir werden oftmals sehen, daß dasjenige, was uns antipathisch in einem bestimmten Zeitraume berührt hat, wenn nur genügend Zeit hinterher vergangen ist, uns nicht mehr so antipathisch berührt, weil wir einen inneren Zusammenhang sehen. Daß wir auch einmal von diesem oder jenem Menschen antipathisch berührt werden mußten, konnte uns vielleicht ganz nützlich sein. Wir gewinnen manchmal mehr von dem, was uns ein Mensch antut, als von dem, worinnen uns ein Mensch fördert.

Es würde dem Menschen viel nützen, wenn er solche selbstlose Rückschau auf das Leben öfter hielte, wenn er das Leben durchtränken würde von der aus dieser Selbstschau quellenden Überzeugung: Wie wenig habe ich eigentlich Veranlassung, mich mit mir selbst zu beschäftigen! Wie unendlich reicher wird mein Leben, wenn ich den Blick hinschweifen lasse über diese und jene Gestalten, die in dieses mein Leben eingetreten sind. – Dann lösen wir uns gewissermaßen von uns selber los, wenn wir solche selbstlose Rückschau halten. Dann kommen wir von dem furchtbaren Übel unserer Zeit, das so viele Menschen befällt, von dem Brüten über uns selbst hinweg. Und das ist so unendlich notwendig, daß wir von dem Brüten über uns selber loskommen. Wer nur einmal ergriffen ist von solcher Selbstschau, wie ich sie jetzt geschildert habe der wird sich selber viel zu uninteressant, als daß er über sein eigenes Leben allzuviel brüten möchte. Unendliches Licht breitet sich über dieses unser Leben aus, wenn wir es bestrahlt sehen von demjenigen, was aus grauer Geistestiefe in dieses Leben eintritt.

Das aber befruchtet uns so, daß wir wirklich die imaginativen Kräfte erhalten, dann auch dem gegenwärtigen Menschen so gegenüberzutreten, daß uns in ihm dasjenige erscheinen kann, was uns sonst erst nach Jahren in der Rückschau von den Gestalten erscheint, mit denen wir zusammengelebt haben. Wir erwerben uns dadurch die Fähigkeit, daß uns wirklich Bilder aus dem Menschen entgegentreten, dem wir begegnen.

Nicht so sehr hängt die Pflege des sozialen Lebens, die früher eigentlich nur aus den Blutsbanden hervorging, mit irgendwelchen sozialistischen Programmen zusammen, sondern damit hängt sie zusammen, daß der Mensch ein spirituell-soziales Wesen wird. Das wird er aber dadurch, daß er die tieferen Kräfte auf die geschilderte Weise in sich erweckt, welche in ihm das bildhafte Vorstellen des andern Menschen anregen. Sonst werden wir immer antisoziale Wesen bleiben, welche sich nur nach Sympathien und Antipathien dem Menschen, mit dem sie zusammen leben sollen, nähern können, und sich ihm nicht nähern können nach dem Bilde, das aus jedem hervorquellen kann, wenn wir nur selbst die Bilderkräfte im Verkehr mit den Menschen entwickeln. Gerade im sozialen Menschenleben muß die Maxime auftreten: Du sollst dir ein Bild von deinem Mitmenschen machen. [...]

Denn von der menschlichen Brüderlichkeit, die zunächst nur wie ein abstraktes Wort aufgetreten ist, können wir nur dann sprechen, wenn wir den andern Menschen in uns tragen wie uns selber. Wenn wir uns ein Bild von dem andern machen, das als Schatz unserer Seele eingepflanzt wird, dann tragen wir auf seelischem Gebiete etwas von ihm herum, wie wir von dem leiblichen Bruder etwas herumtragen durch das Blut. An die Stelle der bloßen Blutsverwandtschaft muß auf diese konkrete Weise die Wahlverwandtschaft treten als die Grundlage des sozialen Lebens. Das ist etwas, was sich wirklich entwickeln muß. (S. 124ff) 

Siebenter Vortrag, 12.12.1918

[...] In diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele wird die Aufgabe der zivilisierten Menschheit die sein, das ganze menschliche Wesen zu erfassen und es auf sich selbst zu stellen, vieles, außerordentlich vieles von dem, was der Mensch in früheren Zeiträumen instinktmäßig gefühlt, instinktmäßig beurteilt hat, ins volle Licht des Bewußtseins heraufzuheben.

Nicht wahr, viele Schwierigkeiten und vieles Chaotische, das in unserem Zeitraume sich um uns herum und mit uns abspielt, wird einem eigentlich sofort erklärlich, wenn man weiß, daß dies die Aufgabe unseres Zeitalters ist: Instinktives ins Bewußtsein heraufzuheben. Denn das Instinktive geschieht gewissermaßen von selbst; aber was bewußt geschehen soll, das erfordert, daß der Mensch sich innerlich anstrengt, daß er vor allen Dingen beginnt, wirklich aus seinem ganzen Wesen heraus zu denken. Und das scheut der Mensch. Das ist etwas, was der Mensch nicht gern tut: bewußt Anteil nehmen an der Gestaltung der Weltverhältnisse. Außerdem liegt hier ein Punkt, über den sich heute die Menschen noch viel täuschen. Die Menschen heute denken: Nun ja, wir leben ja gerade im Zeitalter der Gedankenentwickelung. – Die Menschen sind stolz darauf, daß heute mehr gedacht wird als früher. Aber zunächst ist dies eine Täuschung, eine Illusion, eine der vielen Illusionen, von denen heute die Menschheit lebt. Das, was die Menschen so stolz macht, dieses Fassen von Gedanken, das ist vielfach instinktiv. Erst wenn das Instinktive, das heraufgekommen ist in der Menschheitsentwickelung und das sich heute im Stolzsein auf das Denken äußert, aktiv wird, wenn wirklich das Intellektuelle nicht bloß aus dem Gehirn, sondern aus dem ganzen Menschen entspringt, wenn das Intellektuelle selbst nur ein Teil wird des ganzen geistigen Lebens, wenn es vom Rationalistischen hinweggehoben und ins Imaginative, Inspirierte, Intuitive heraufgehoben wird: erst dann wird dasjenige, was herauswill in diesem fünften nachatlantischen Bewußtseinsseelenzeitraum, nach und nach herauskommen. Was dem Menschen heute entgegentritt, das ist, daß gewissermaßen selbst die weltlichsten Gedanken in den besonderen Eigentümlichkeiten dieses Zeitraums auf das hinweisen, was man immer wieder erwähnen muß: das Auftauchen der sogenannten sozialen Frage.

Aber es wird derjenige, der ernsthaftig sich in unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft vertieft hat, sehr leicht zu der Empfindung kommen können, daß doch das Wesentliche in der Gestaltung einer gesellschaftlichen Ordnung, ob man sie nun staatlich oder sonstwie nennt, ausgehen muß von dem, was der Mensch aus sich heraus entwickelt, was er aus sich heraus entwickeln kann mit der Aufgabe, zu regeln den Verkehr von Mensch zu Mensch. Alles, was der Mensch aus sich heraus entwickelt, entspricht natürlich gewissen Impulsen, die zuletzt doch in unserem seelisch-geistigen Leben liegen. Wenn man die Sache so anschaut, wird man fragen können: Ja, muß denn nicht vor allen Dingen die Aufmerksamkeit gerichtet werden auf die sozialen Impulse, auf dasjenige, was aus der Menschennatur herauswill als soziale Impulse? Nennen wir, wobei wir aber nicht an etwas bloß Animalisches denken, diese sozialen Impulse meinetwillen soziale Triebe, wobei wir aber schon bedacht sind darauf, daß der Trieb nicht bloß unbewußt oder instinktiv gedacht werden soll, sondern daß, wenn wir von sozialen Trieben sprechen, wir meinen: Wir stehen im Bewußtseinszeitalter, und der Trieb will eben ins Bewußtsein herauf. [...] (S. 159f).

Ebensowenig wie ein Pendel nur nach der einen Seite ausschlagen kann, ebensowenig können sich äußern im Menschen die sozialen Triebe nur nach der einen Seite. Den sozialen Trieben stehen in der Menschennatur einfach selbstverständlich, wegen dieser Menschennatur, die antisozialen Triebe gegenüber. Und genau ebenso, wie in der Menschennatur es soziale Triebe gibt, gibt es antisoziale Triebe. Das muß vor allen Dingen berücksichtigt werden. Denn die sozialen Führer und Agitatoren, die geben sich der großen Illusion hin, daß sie nur irgendwelche Anschauungen und dergleichen zu verbreiten brauchen, oder irgendeine Menschenklasse aufzurufen brauchen, welche willig oder geneigt ist, die sozialen Triebe, wenn es Anschauungen sind, zu pflegen. Ja, das ist eben eine Illusion, so zu verfahren, denn da rechnet man nicht damit, daß, ebenso wie die sozialen Triebe da sind, sich die antisozialen Triebe immer geltend machen. Das, worum es sich heute handelt, ist, diesen Dingen ohne Illusionen ins Gesicht sehen zu können. Man kann ihnen nur ohne Illusionen ins Gesicht sehen vom Gesichtspunkte einer geisteswissenschaftlichen Betrachtung. Man möchte sagen: Die Menschen verschlafen das Allerwichtigste im Leben, wenn sie dieses Leben nicht vom Gesichtspunkte der geisteswissenschaftlichen Betrachtung ins Auge fassen.

Wir müssen uns fragen: Wie steht es eigentlich mit dem Verkehr des Menschen zum Menschen mit Bezug auf die sozialen und anti-sozialen Triebe? – Sehen Sie, ein Gegenüberstehen von Mensch und Mensch ist seiner Wirklichkeit nach im Grunde etwas recht Kompliziertes! [...] Man bekommt natürlich das Phänomen am reinsten, wenn man an den unmittelbaren Verkehr von Mensch zu Mensch denkt: da besteht das Bestreben, durch den Eindruck, den der eine Mensch auf den andern macht, daß der Mensch eingeschläfert wird. Also das ist etwas Durchgehendes im sozialen Leben, daß der eine Mensch durch den anderen, mit dem er im Verkehr steht, eingeschläfert wird. Fortwährend ist – der Physiker würde sagen – die latente Tendenz da, daß im sozialen Verkehre ein Mensch den andern einschläfert.

Warum ist denn das so? Ja, sehen Sie, das beruht auf einer sehr wichtigen Einrichtung in der Gesamtwesenheit der Menschen. Es beruht darauf, daß im Grunde genommen dasjenige, was wir soziale Triebe nennen, eigentlich überhaupt nur beim gewöhnlichen gegenwärtigen Bewußtsein sich so recht aus der Seele des Menschen heraus entwickelt, wenn der Mensch schläft. Sie sind, insofern Sie nicht zur Hellsichtigkeit aufsteigen, eigentlich nur von sozialen Trieben durchsetzt, wenn Sie schlafen. Und nur das, was fortwirkt aus dem Schlaf in das Wachen herein, wirkt herein im Wachen als sozialer Trieb. Wenn Sie aber dieses wissen, so brauchen Sie sich nicht zu verwundern darüber, daß das soziale Wesen Sie einschläfern will durch das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Im Verhältnis von Mensch zu Mensch soll sich entwickeln der soziale Trieb. Er kann sich nur entwickeln im Schlafe. Daher entwickelt sich im Verkehr von Mensch zu Mensch die Tendenz, daß der eine Mensch den andern behufs Herstellung eines sozialen Verhältnisses einschläfert. Das ist eine Tatsache, die frappierend ist, die sich aber dem Betrachter der Wirklichkeit des Lebens eben sogleich darbietet. Unser Verkehr von Mensch zu Mensch besteht darinnen, daß vor allen Dingen unser Vorstellungsvermögen in diesem Verkehre eingeschläfert wird, behufs der Herstellung der sozialen Triebe von Mensch zu Mensch. [...] (S. 160ff).

Dagegen wirkt noch etwas anderes. Es wirkt das fortwährende Sichsträuben, das fortwährende Aufbäumen der Menschen gegen diese Tendenz, wenn sie eben nicht schlafen. So daß Sie, wenn Sie einem Menschen gegenüberstehen, immer in folgenden Konflikten drinnenstehen: Dadurch, daß Sie ihm gegenüberstehen, entwickelt sich in Ihnen immer die Tendenz, zu schlafen, das Verhältnis im Schlafe zu ihm zu erleben; dadurch, daß Sie nicht aufgehen dürfen im Schlafen, daß Sie nicht versinken dürfen im Schlafen, regt sich in Ihnen die Gegenkraft, sich wachzuhalten. Das spielt sich immer ab im Verkehr von Mensch zu Mensch: Tendenz zum Einschlafen, Tendenz, sich wachzuhalten. Tendenz, sich wachzuhalten, ist aber antisozial in diesem Fall, Behauptung der eigenen Individualität, der eigenen Persönlichkeit gegenüber der sozialen Struktur in der Gesellschaft. Einfach indem wir Mensch unter Menschen sind, pendelt unser inneres Seelenleben zwischen Sozialem und Antisozialem hin und her. Und dasjenige, was so als diese zwei Triebe in uns lebt, was zu beobachten ist zwischen Mensch und Mensch, wenn man Mensch und Mensch einander gegenüberstehen sieht und sie okkult beobachtet, das beherrscht unser Leben. [...] (S. 163).

Sehen Sie, an diese Dinge müßte heute derjenige verständig anknüpfen, real wissenschaftlich anknüpfen, der daran denkt, die Heilmittel in dieser Zeit zu finden. Denn woher kommt es denn, daß in unserer Zeit die soziale Forderung sich erhebt? Nun, wir leben im Zeitalter der Bewußtseinsseele, wo der Mensch auf sich selbst sich stellen muß. Worauf ist er da angewiesen? Er ist darauf angewiesen, um seine Aufgabe, seine Mission in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum zu erreichen, sich zu behaupten, sich nicht einschläfern zu lassen. Er ist gerade für seine Stellung in der Zeit angewiesen, die antisozialen Triebe zu entwickeln. Und es würde nicht die Aufgabe unseres Zeitraums vom Menschen erreicht werden können, wenn nicht gerade die antisozialen Triebe, durch die der Mensch sich auf die Spitze seiner eigenen Persönlichkeit stellt, immer mächtigere und mächtigere werden. Die Menschheit hat heute noch gar keine Ahnung davon, wie mächtig immerwährend bis ins dritte Jahrtausend hinein die antisozialen Triebe sich entwickeln müssen. Gerade damit der Mensch sich richtig auswächst, müssen die antisozialen Triebe sich entwickeln.

In früheren Zeitaltern war die Entwickelung der antisozialen Triebe nicht das geistige Lebensbrot der Menschheitsentwickelung. Daher brauchte man ihnen kein Gegengewicht zu setzen und setzte ihnen auch kein solches. In unserer Zeit, wo der Mensch um seiner selbst willen, um seines einzelnen Selbstes willen die antisozialen Triebe ausbilden muß – die sich schon ausbilden, weil der Mensch eben der Entwickelung unterworfen ist, gegen die sich nichts machen läßt –, da muß dasjenige kommen, was der Mensch den antisozialen Trieben nun entgegensetzt: eine solche soziale Struktur, durch die das Gleichgewicht dieser Entwickelungstendenz gehalten wird. Innen müssen die antisozialen Triebe wirken, damit der Mensch die Höhe seiner Entwickelung erreicht; außen im gesellschaftlichen Leben muß, damit der Mensch nicht den Menschen verliert im Zusammenhange des Lebens, die soziale Struktur wirken. Daher die soziale Forderung in unserer Zeit. Die soziale Forderung in unserer Zeit ist gewissermaßen nichts anderes als das notwendige Gegengewicht gegen die innere Entwickelungstendenz der Menschheit.

Sie sehen daraus zugleich, daß mit einseitiger Betrachtung überhaupt nichts getan ist. Denn denken Sie einmal, daß, so wie die Menschen nun einmal leben, gewisse Worte – ich will gar nicht sprechen von Ideen oder Empfindungen –, gewisse Worte „Wertigkeit“, bestimmte Valeurs bekommen. Nun ja, „antisozial“, das bekommt so etwas, was einen antipathisch anmutet, man betrachtet das als etwas Böses. Schön, nur kann man sich nicht viel darum kümmern, ob das als etwas Böses betrachtet wird oder nicht, da es etwas Notwendiges ist, da es – sei es bös, sei es gut – eben in unserem Zeitraum gerade mit den notwendigen Entwickelungstendenzen des Menschen zusammenhängt. Und wenn jemand dann auftritt und sagt, die antisozialen Triebe sollen bekämpft werden, so ist das ein ganz gewöhnlicher Unsinn, denn sie können nicht bekämpft werden. Sie müssen, nach der ganz gewöhnlichen Entwickelungstendenz der Menschheit, gerade das Innere des Menschen in unserer Zeit ergreifen. Nicht darum handelt es sich, Rezepte zu finden, um die antisozialen Triebe zu bekämpfen, sondern darauf kommt es an, die gesellschaftlichen Einrichtungen, die Struktur, die Organisation desjenigen, was außerhalb des menschlichen Individuums liegt, was das menschliche Individuum nicht umfaßt, so zu gestalten, so einzurichten, daß ein Gegengewicht da ist für dasjenige, was im Innern des Menschen als antisozialer Trieb wirkt. Daher ist es so notwendig, daß der Mensch in diesem Zeitraum mit seinem ganzen Wesen ausgegliedert wird von der sozialen Ordnung. Sonst kann das eine und das andere nicht rein sein.

[...] Im griechisch-lateinischen Zeitalter konnte noch das Sklaventum herrschen, da war der eine der Herr, der andere der Sklave, da waren die Menschen eingeteilt. Heute haben wir als Rest gerade dasjenige, was den Proletarier in solche Aufregung versetzt: daß seine Arbeitskraft Ware ist, daß also etwas, was in ihm ist, noch äußerlich organisiert ist. Das muß weg. Und nur dasjenige kann sozial gegliedert werden, was nicht am Menschen hängt: seine Position, der Ort, an den er hingestellt ist; nicht etwas, was in ihm selbst ist. [...] (S. 163ff).

Dieses Antisoziale kann nur in einem gewissen Gleichgewicht gehalten werden von dem Sozialen; aber das Soziale muß gepflegt werden, muß bewußt gepflegt werden. Und das wird in unserem Zeitalter in der Tat immer schwieriger und schwieriger, weil das andere, das Antisoziale, eigentlich das Natürliche ist. Das Soziale ist das Notwendige, das muß gepflegt werden. Und man wird sehen, daß in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum eine Tendenz vorhanden ist, das Soziale gerade außer acht zu lassen, wenn man sich bloß sich selbst überläßt, wenn man nicht aktiv eingreift, wenn man nicht mittut in Seelentätigkeit. Was notwendig ist und was sehr bewußt erworben werden muß, während es früher instinktiv sich im Menschen geltend machte, das ist gerade das Interesse von Mensch zu Mensch. Der Grundnerv allen sozialen Lebens ist das Interesse von Mensch zu Mensch. [...] (S. 166).

Es erscheint heute noch fast paradox, wenn man sagt: Die Menschen werden über die sogenannten schwierigen nationalökonomischen Begriffe keinen Aufschluß gewinnen, wenn nicht das Interesse von Mensch zu Mensch wächst, wenn nicht die Menschen anfangen, die Scheingebilde, welche im sozialen Leben herrschen, mit den Wirklichkeiten zu verbinden. Sehen Sie, wer denkt so ohne weiteres daran, daß einfach durch die Gliedlichkeit, in der er in der sozialen Ordnung drinnensteht, er eigentlich immer in einem komplizierten Verhältnis von Mensch zu Mensch ist? Nehmen Sie an, Sie haben eine Hundertfranken-Note in der Tasche und Sie verwenden diese Hundertfranken-Note, indem Sie an einem Vormittag gehen und einkaufen, soviel einkaufen, daß Sie diese Hundertfranken-Note ausgeben. Ja, was bedeutet das, daß Sie mit einer Hundertfranken-Note in der Tasche ausgehen? Die Hundertfranken-Note ist eigentlich ein Scheingebilde, ist in Wirklichkeit gar nichts wert und wäre es auch nicht, selbst wenn es Metallgeld wäre. [...] Geld schaltet sich nämlich ein zwischen zwei anderen Dingen, und nur dadurch, daß eine gewisse soziale Ordnung, in unserer Zeit eben eine rein staatliche Ordnung besteht, dadurch ist diese Hundertfranken-Note, die Sie haben, und die Sie am Vormittag ausgeben für die verschiedensten Dinge, nichts anderes als der Äquivalenzwert für soundso viele Arbeitstage soundso vieler Menschen. [...] Wenn Sie im Geiste das Bild vor sich haben: Da habe ich die Banknote, sie überträgt mir kraft der sozialen Position, in der ich drinnenstehe, die Macht über soundso viel Arbeiter, und wenn Sie jetzt sehen: Stunde für Stunde im Tag verkaufen andere die Arbeit dieser Arbeiter als Äquivalenzwert, als realen Äquivalenzwert dessen, was Sie in Ihrer Geldbörse als Hundertfranken-Note haben: dann haben Sie erst das Bild des Wirklichen.

So kompliziert sind unsere Verhältnisse geworden, daß wir ja auf diese Dinge gar nicht mehr achten, insbesondere wenn sie nicht so naheliegen. Ich habe ein naheliegendes Beispiel, wo die Sache leicht ist, ins Auge gefaßt. Bei dem schwierigeren Nationalökonomischen von Kapital und Rente und Kredit, wo die Sache ganz kompliziert liegt, da wissen nicht einmal die Universitätsprofessoren Bescheid, die Nationalökonomen meine ich, deren Amt es wäre, Bescheid zu wissen. [...]

Was ist vonnöten, damit das soziale Leben bewußt dem innerlichen antisozialen Leben entgegengestellt werden könne? Was ist da vonnöten? Ich sagte, es sei schwierig in unserer Zeit, das rechte Interesse von Mensch zu Mensch zu finden. Sie haben nicht das rechte Interesse, wenn Sie glauben, Sie können sich für eine Hundertfranken-Note etwas kaufen, und denken nicht daran, daß dies ein soziales Verhältnis bedingt zu soundso vielen Menschen und ihren Arbeitskräften. Erst dann haben Sie das rechte Interesse, wenn Sie jede solche Scheinhandlung, wie das Eintauschen von Waren für eine Hundertfranken-Note, durch die wirkliche Handlung, die mit ihr verbunden ist, ersetzen können in Ihrem Bilde.

Sehen Sie, die bloßen, ich möchte sagen, egoistischen, das Herz erwärmenden Redereien davon, daß wir unsere Mitmenschen lieben und diese Liebe ausführen, wenn wir gerade die allernächste Gelegenheit dazu haben, die machen das soziale Leben nicht aus. Diese Liebe ist zumeist eine furchtbar egoistische Liebe. Gar mancher unterstützt von dem, was er erst, man kann sagen erbeutet, in patriarchalischer Weise seine Mitmenschen, um sich dadurch ein Objekt zu schaffen für seine Selbstliebe, weil er sich da recht innerlich wärmen kann in dem Gedanken: Du tust das, du tust das. Man kommt nicht darauf, wie ein großer Teil der sogenannten Wohltätigkeitsliebe maskierte Selbstliebe ist.

Darum handelt es sich nicht, daß man bloß dieses Allernächste, eigentlich unserer Eigenliebe Frönende ins Auge faßt, sondern darum handelt es sich, daß man sich verpflichtet fühlt, den Blick hinzulenken auf die mannigfaltig verästelte soziale Struktur, in der wir drinnenstehen. [...]

Wie können wir überhaupt den sich auf naturgemäße Weise entwickelnden antisozialen Trieben die sozialen Triebe entgegenstellen, bewußt entgegenstellen? Wie können wir sie so kultivieren, daß sich wirklich in uns anspinnt, und immer weiter- und weitergeht und uns keine Ruhe läßt, wenn es nicht weitergeht, das Interesse von Mensch zu Mensch, das gerade in unserem Zeitalter der Bewußtseinsseele furchtbar geschwunden ist? Es sind ja Abgründe in unserem Zeitalter schon aufgerissen zwischen Mensch und Mensch! In einer Weise, wie es die Menschen gar nicht ahnen, gehen sie heute aneinander vorbei, ohne sich im geringsten zu verstehen. [...] Wie blind heute die Menschen aneinander vorbeigehen, das sieht man dann, wenn diese Menschen in den mannigfaltigsten Gesellschaften und Sozietäten sich vereinigen. Die sind heute oftmals für die Menschen durchaus nicht eine Gelegenheit, Menschenkenntnis sich zu erwerben. Die Menschen können heute jahrelang mit anderen Menschen zusammensein und sie nicht genauer kennen als sie sie kannten, als sie mit ihnen bekannt geworden sind.

Gerade das ist notwendig, daß man, ich möchte sagen, in systematischer Weise in Zukunft zu dem Antisozialen das Soziale bringt. Innerlich-seelisch gibt es dafür verschiedene Mittel, unter anderem, wenn wir versuchen, öfter einmal im Leben auf unser eigenes diesmaliges Leben, auf die diesmalige Inkarnation zurückzublicken, wenn wir zu überschauen versuchen dasjenige, was sich abgespielt hat in unserem Leben zwischen uns und anderen Menschen, die in dieses Leben hereingetreten sind. Wenn wir da ehrlich sind heute, werden wir uns, wenigstens die meisten Menschen, sagen: Dieses Hereintreten von vielen Menschen in unser Leben, das betrachten wir heute doch zumeist so, daß wir unsere eigene Person auch in den Mittelpunkt unserer Lebensrückschau stellen. Was haben wir gehabt von dieser oder jener Person, die in unser Leben eingetreten ist? Das fragen wir uns ganz empfindungsgemäß. Das ist gerade etwas, was wir bekämpfen sollten. Wir sollten versuchen, im Bilde auftauchen zu lassen vor unserer Seele die Personen, die als Lehrer, Freunde, sonstige Förderer in unser Leben eingriffen, oder solche Personen, die uns geschädigt haben und denen wir von gewissen Gesichtspunkten aus manchmal mehr verdanken als jenen, die uns genützt haben. Diese Bilder sollten wir vor unserer Seele vorüberziehen lassen, uns ganz lebendig vorzustellen, was jeder an unserer Seite für uns getan hat, und wir werden sehen, wenn wir auf diese Weise verfahren, daß wir allmählich uns selber vergessen lernen, daß wir finden, wie eigentlich fast alles, was an uns ist, gar nicht da sein könnte, wenn nicht diese oder jene Personen fördernd oder lehrend, oder sonst irgendwie in unser Leben eingegriffen hätten. Dann erst, namentlich wenn wir zurückschauen auf länger vergangene Jahre und auf die Personen, mit denen wir vielleicht nicht mehr in Beziehung stehen, denen gegenüber wir leichter zur Objektivität kommen, wird sich uns zeigen, wie die seelische Substanz unseres Lebens aufgesogen wird von dem, was auf uns Einfluß genommen hat. Unser Blick erweitert sich über eine Schar, die im Laufe der Zeit an uns vorübergegangen ist. Wenn wir versuchen, Sinn dafür zu entwickeln, wieviel wir zu danken haben der einen oder der anderen Person, versuchen, in dieser Weise uns selber im Spiegel derjenigen zu sehen, die im Laufe der Zeit auf uns gewirkt haben und mit uns zusammen waren, dann löst sich allmählich – wir werden das erfahren können – ein Sinn von uns los, der im folgenden besteht: Weil wir uns geübt haben, Bilder von in der Vergangenheit mit uns zusammenhängenden Persönlichkeiten zu finden, so löst sich von unserer Seele ein Sinn los, nun auch dem Menschen gegenüber zu einem Bilde zu kommen, dem wir in der Gegenwart gegenübertreten, dem wir dann von Angesicht zu Angesicht in der Gegenwart gegenüberstehen.

Und das ist das ungeheuer Wichtige, daß in uns der Trieb erwacht, nicht bloß den Menschen, wenn wir ihm gegenüberstehen, nach Sympathien und Antipathien zu empfinden, nicht bloß in uns den Trieb erwachen zu lassen, irgend etwas am Menschen zu lieben oder zu hassen, sondern ein liebe- und haßfreies Bild, wie der Mensch ist, in uns zu erwecken. Sie werden vielleicht nicht empfinden, daß das, was ich jetzt sage, etwas ungeheuer Wichtiges ist. Es ist etwas Wichtiges. Denn diese Fähigkeit, ohne Haß und Liebe ein Bild des anderen Menschen in sich gegenwärtig zu machen, den anderen Menschen seelisch in sich auferstehen zu lassen, das ist eine Eigenschaft, die mit jeder Woche in der Entwickelung der Menschen, ich möchte sagen, mehr oder weniger dahinschwindet, das ist etwas, was die Menschen nach und nach ganz verlieren. Sie gehen aneinander vorbei, ohne daß der Trieb in ihnen erwacht, den anderen Menschen in sich auferwachen zu lassen. Das ist aber etwas, was bewußt gepflegt werden muß. Das ist etwas, was auch in die Kinder- und Schulpädagogik einziehen muß: diese Fähigkeit, am Menschen das imaginative Vermögen zu entwickeln. Denn am Menschen können wir zunächst wirklich das imaginative Vermögen entwickeln, wenn wir uns nicht scheuen, statt dessen, was heute in den Sensationen des Lebens angestrebt wird, still in uns selbst jene Rückschau zu machen, die uns die vergangenen Beziehungen zu den Menschen vor die Seele stellt. Dann werden wir auch in die Lage kommen, imaginativ uns zu verhalten zu den Menschen, die in der Gegenwart uns gegenübertreten. Dann stellen wir den sozialen Trieb dem entgegen, was sich ganz notwendig und unbewußt immer mehr entwickelt: dem antisozialen Trieb. Das ist das eine. (S. 167ff).

Das andere ist etwas, was mit dieser Rückschau der Beziehungen zu Personen verknüpft werden kann: daß wir versuchen, uns selber immer objektiver zu werden. Da müssen wir wiederum in frühere Zeiten zurückgehen. Da können wir aber, ich möchte sagen, direkt losgehen auf die Tatsachen selbst, zum Beispiel darüber nachdenken, wenn Sie, sagen wir, dreißig, vierzig Jahre alt sind: Ja, wie war es denn damals, als ich zehn Jahre alt war? Ich will mich zuerst einmal so ganz in der Situation drinnen vorstellen, ich will mich so vorstellen, wie wenn ich einen anderen zehnjährigen Jungen oder ein zehnjähriges Mädchen mir vorstelle; ich will einmal vergessen, daß ich das gewesen bin, ich will mich wirklich bemühen, mich zu verobjektivieren. Dieses Sich-Verobjektivieren, dieses sich in der Gegenwart loslösen von seiner Vergangenheit, dieses Herausschälen des Ich aus seinen Erlebnissen, das müssen wir in der Gegenwart besonders anstreben; denn die Gegenwart hat die Tendenz, das Ich immer mehr und mehr zu verknüpfen mit den Erlebnissen. Heute will der Mensch ganz instinktiv das sein, was ihm seine Erlebnisse geben. Deshalb ist es ja so schwer, die Aktivität zu erlangen, welche die Geisteswissenschaft gibt. Da muß man jedesmal neu den Geist anstrengen, da kann man sich nicht aufs Behalten verlegen. – Sie werden ja auch wirklich bemerken: mit dem Behalten, mit dem bequemen Behalten läßt sich in der wahren Geisteswissenschaft nichts machen. Man vergißt die Dinge, muß sie immer wieder pflegen; das ist aber gerade gut, das ist gerade das Richtige, daß man sich immer von neuem anstrengen muß. Derjenige nämlich, der recht fortgeschritten ist gerade in bezug auf das geisteswissenschaftliche Gebiet, der versucht jeden Tag, die allerelementarsten Dinge sich vor Augen zu führen; die andern schämen sich, dies zu tun. In der Geisteswissenschaft soll nichts davon abhängen, daß man sich die Sache gedächtnismäßig merkt, weil ja alles darauf ankommt, daß man es im unmittelbaren Erleben der Gegenwart anfaßt. Und so handelt es sich darum, daß wir uns gerade zu dieser Fähigkeit hinordnen dadurch, daß wir uns verobjektivieren, daß wir uns diesen Kerl oder diese Kerlin so vorstellen, als wenn es ein uns fremdes Wesen in früheren Lebensaltern wäre, uns immer mehr bemühen, loszukommen von den Erlebnissen, immer weniger und weniger als Dreißigjähriger noch so zu sein, daß eigentlich nur die Impulse des Zehnjährigen noch nachspuken. Uns loslösen von unserer Vergangenheit, das ist nicht etwas, was unsere Vergangenheit verleugnen heißt – wir gewinnen sie auf andere Weise wiederum zurück; aber das ist etwas, was ungeheuer wichtig ist. Also auf der einen Seite pflegen wir bewußt den sozialen Trieb, den sozialen Impuls, indem wir uns die Imaginationen für den Menschen der Gegenwart verschaffen dadurch, daß wir auf die Menschen, die in der Vergangenheit in Beziehung mit uns gewesen sind, hinsehen und uns selber seelisch wie das Produkt dieser Menschen ansehen; auf der anderen Seite gewinnen wir durch unsere Verobjektivierung die Möglichkeit, direkt die Imagination von uns selbst zu entwickeln. Diese Verobjektivierung in frühere Zeiten nützt uns dann, wenn sie nicht unbewußt in uns wirkt. Denken Sie nur: Wenn unbewußt der zehnjährige Kerl oder die zehnjährige Kerlin in Ihnen weiterwirkt, so sind Sie, der Dreißigjährige oder Vierzigjährige, vermehrt um den Zehnjährigen; aber Sie sind auch vermehrt um den Elf-, Zwölfjihrigen und so weiter. Der Egoismus ist ungeheuer potenziert. Er wird immer geringer und geringer, wenn Sie das Frühere von sich absondern, wenn Sie es verobjektivieren, wenn es mehr Gegenstand wird. Das ist das, was bedeutungsvoll ist, was wir ins Auge fassen müssen. (S. 172ff).

Die ganze Bedeutung dessen, was ich jetzt auseinandergesetzt habe, finden Sie, wenn Sie folgendes bedenken. Sehen Sie, 1848, da erschien die erste gewissermaßen wirksame Schrift, die heute nachwirkt selbst im radikalsten Sozialismus, im Bolschewismus: „Das Kommunistische Manifest“ von Karl Marx, worin zusammengefaßt war dasjenige, was in den Köpfen und auch in den Herzen des Proletariers vielfach herrscht. [...] „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Das ist ein Satz, der durch alle möglichen sozialistischen Vereinigungen ging: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Was drückt er denn aus? Er drückt aus das Allerallerunnatürlichste, das man sich für unser Zeitalter denken kann. Er drückt aus einen Impuls für die Sozialisierung, für die Vereinigung einer gewissen Menschenmasse. Worauf soll diese Vereinigung, diese Sozialisierung gebaut werden? Auf den Gegensatz, auf den Haß gegen diejenigen, die nicht Proletarier sind. Die Sozialisierung, das Zusammensein der Menschen, soll gebaut werden auf dem Auseinandersein! Sie müssen das nur bedenken, und Sie müssen die Realität dieses Prinzips verfolgen in dem, was heute als reale Illusion – wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, Sie werden ihn verstehen – zuerst in Rußland aufgetreten ist, jetzt auch in Deutschland, in den österreichischen Ländern, und immer weiter- und weiterfressen wird. Deshalb ist es das Unnatürlichste, weil es auf der einen Seite ausdrückt die Notwendigkeit der Sozialisierung und auf der andern Seite diese Sozialisierung gerade gebaut wird auf dem antisozialsten Instinkt, nämlich dem Klassenhaß, dem Klassengegensatz. [...] (S. 174f).

Es ist aus solchen Betrachtungen ja nicht Pessimismus zu holen, nicht Trostlosigkeit zu holen. Nein, Kraft, Mut, Sinn für Bekanntwerden mit dem, was nottut, das ist dasjenige, was wir daraus ersehen. Und in diesem Sinne sollen wir eingedenk sein, daß wir wahrhaftig nicht gegen die Aufgabe des Zeitalters, sondern mit den Aufgaben des Zeitalters uns innerhalb dieser anthroposophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Bewegung zu betätigen haben. Seien wir uns klar darüber, was wir sonst verschlafen. Auch zur Ausbildung der sozialen Triebe führt uns wachend und bewußt jene Geisteswissenschaft, die dem Bewußtsein zeigt, was sich sonst dem Bewußtsein verbirgt, die uns zeigt, welche Kräfte der Mensch entwickelt, wenn er frei vom Leibe ist, wie er es von dem Einschlafen bis zum Aufwachen ist. Seien wir uns klar: Wir pflegen die dem Zeitalter notwendigsten Kräfte, wenn wir wachend denken über dasjenige, was unsere Seele doch nur kraftvoll durchdringen kann, wenn wir wachend darüber denken. Sonst werden wir machtlos, wenn wir es nur schlafend entwickeln müssen. (S. 184).

Zwei Mächte wirken in der Gegenwart. Die eine ist die Macht, die in den verschiedenen Metamorphosen des Christus-Impulses seit dem Mysterium von Golgatha durch alle folgenden Zeiten der Erdenentwickelung hindurchgeht. Wir haben öfter davon gesprochen, daß gerade in unseren Jahrhunderten eine Art Wiedererscheinung, nun des ätherischen Christus, stattfinden soll. Gar nicht weit hin ist es zu dieser Wiedererscheinung Christi. [...] Und vor einer wichtigen Entscheidung steht die Menschheit in diesem kritischen Augenblicke. Auf der einen Seite steht der Christus-Impuls, der uns aufruft, aus freiem Seelenentschlusse heraus uns zu dem hinzuwenden, von dem heute gesprochen worden ist, bewußt aufzunehmen die sozialen Impulse, alles das, was der Menschheit heilsam ist und helfen kann, frei aus der Seele heraus aufzunehmen. Deshalb vereinigen wir uns nicht unter solchen Gesichtspunkten, um uns der Liebe, welcher Haß zugrunde liegt, wie in dem Ruf: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“, hinzugeben; sondern wir vereinigen uns, indem wir anstreben, den Christus-Impuls zu verwirklichen und dasjenige zu tun, was der Christus für unsere Zeit will.

Dem steht gegenüber der Widersacher, dasjenige, was die Bibel den widerrechtlichen Fürsten dieser Welt nennt. In den verschiedensten Gestalten macht er sich geltend. Eine dieser Gestalten ist diese: die Kräfte, die uns als Menschen zur Verfügung stehen, um aus freiem Entschluß heraus uns zu solchem zu wenden, wie das ist, von dem heute gesprochen worden ist, diese Kräfte, die in den freien Entschluß gestellt werden sollen, in den Dienst der Körperlichkeit zu stellen. Verschiedene Werkzeuge hat der Widersacher, der widerrechtliche Fürst dieser Welt. Er hat als solche zum Beispiel auch Hunger und soziales Chaos. Da wird durch physische Mittel, durch Zwang dann diejenige Kraft verwendet, die in den Dienst des freien Menschen gestellt werden sollte. Sehen Sie nur hin, wie heute die Menschheit Ihnen auf Schritt und Tritt zeigt: Sie will nicht aus freiem Entschlusse sich zum sozialen Leben und zu der Erkenntnis des wahren Menschenfortschrittes hinwenden, sie will sich zwingen lassen. [...] (S. 185f).

Betrachten Sie sich, indem Sie aus innerstem freien Entschlusse sich dem geistigen Leben zuwenden, einmal im bescheidensten, aber auch im ernstesten und kraftvollsten Sinne als die Missionare für den Christus-Geist in unserer Zeit, als diejenigen, die zu bekämpfen haben den widerrechtlichen Fürsten dieser Welt, der besessen macht alle jene, die nicht aus dem Bewußtsein heraus, sondern aus anderen Kräften heraus sich zwingen lassen wollen, irgend etwas zu verwirklichen, was die Menschheit der Zukunft entgegenführt. Solche Gesinnung führt Sie dann nicht zum Pessimismus, solche Gesinnung läßt Ihnen keine Zeit, die Welt bloß pessimistisch zu betrachten. Sie wird Ihnen nicht die Augen und Ohren davor verschließen, das zum Teil Starke, auch furchtbar Tragische, was geschehen ist, in seiner wahren Gestalt zu sehen. Aber sie wird Ihnen vor allen Dingen das so vor das Seelenauge führen, daß Sie sich sagen: Ich bin jedenfalls dazu berufen, alles ohne Illusionen zu sehen; aber ich habe nicht Pessimismus oder Optimismus zu haben, sondern alles daran zu setzen, damit in meiner eigenen Seele die Kraft erwache, mitzuarbeiten an der freien Entwickelung der Menschen, an dem Fortschritt, auf jenem Platz, an dem ich eben stehe. –

Und nicht zum Pessimismus oder Optimismus soll angeregt werden, auch wenn man von geisteswissenschaftlichem Standpunkte aus ohnedies scharf auf Schäden oder Trägheit der Zeit hinweist, sondern es soll dazu angeregt werden, daß der Mensch auf sich stehe, gerade in sich erwache, um zu arbeiten und die richtigen Gedanken zu pflegen. Denn Einsicht ist vor allen Dingen notwendig. Hätten nur genügend Menschen heute den Trieb, sich zu sagen: Wir müssen vor allen Dingen in solche Dinge Einsicht haben, das andere wird kommen! – Und wenn man gerade Einblick in soziale Dinge haben will, so kommt es darauf an, daß wir für das wache Leben vor allen Dingen den Willen haben, uns Erkenntnisse anzueignen. Die Anspornung des Willens – dafür ist ja gesorgt –, die kommt schon, denn die entwickelt sich. Wenn wir im wachen Leben uns nur ausbilden wollen, uns Vorstellungen machen wollen für das soziale Leben, dann werden wir nach und nach dazu kommen, und zwar nach einem okkulten Gesetze so, daß jeder, der für sich selbst diese Erkenntnisse sucht, sogar immer noch einen anderen mitnehmen kann. Es kann jeder, dem Willen nach, für zwei sorgen. Wir können viel bewirken, wenn wir nur den ernstlichen Willen haben, uns zunächst Einsicht zu verschaffen. Das Fernere würde dann schon kommen. Schlimm ist nicht so sehr, daß heute noch viele Menschen nichts tun können; unendlich schlimm ist es aber, wenn die Menschen sich nicht entschließen können, die sozialen Gesetze geisteswissenschaftlich wenigstens kennenzulernen, sie zu studieren. Das andere wird kommen, wenn sie studiert werden. [...] (S. 187f).

Achter Vortrag, 13.12.1918

[...] Wenn man – aber von dem Gesichtspunkte aus, den wir nun gewonnen haben, zusammenfassen will mancherlei in die Frage: Was liegt denn eigentlich zugrunde, was will sich denn da an die Oberfläche der Menschengeschicke und der Menschenentwickelung arbeiten? – so wird man, allerdings zunächst äußerlich, die Sache so charakterisieren können: Der Mensch will auch eine soziale Ordnung haben, er will dem gesellschaftlichen Zusammenleben eine soziale Struktur geben, innerhalb welcher er sich, angemessen unserem Zeitalter der Bewußtseinsseele, bewußt werden kann, was er in seiner Würde als Mensch, in seiner Bedeutung als Mensch, in seiner Kraft als Mensch, was er als Mensch wissen kann. Er will sich als Mensch finden in dieser sozialen Ordnung. – Diejenigen Impulse, die früher instinktiv waren, die haben den Menschen angeleitet, dies oder jenes zu tun, dies oder jenes zu denken, zu empfinden. Diese instinktiven Impulse wollen sich in bewußte Impulse verwandeln. Diese bewußten Impulse im Zeitalter der Bewußtseinsseele, das im fünfzehnten Jahrhundert seinen Anfang genommen hat und bis ins dritte Jahrtausend währen wird, wird der Mensch nur dann richtig in sein Leben hereinbringen können, wenn er sich immer mehr in diesem Zeitalter bewußt wird, was er als Mensch ist und als Mensch vermag auch innerhalb der sozialen Struktur, in der er gesellschaftlich, staatlich oder dergleichen lebt. [...] (S. 188f).

Eigentlich wird ungeheuer vieles anders, und zwar mit einem gewissen Sprung anders, seit jener Zeit, wo sich dieser fünfte nachatlantische Zeitraum im fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert an den vierten, der damals endete, anreiht – der, wie Sie wissen, im achten vorchristlichen Jahrhundert begonnen hat. Die Menschen merken nur nicht, wie sich eigentlich die seelische Konstitution der zivilisierten Menschheit beim Übergange zum Beispiel aus dem dreizehnten, vierzehnten in das fünfzehnte, sechzehnte Jahrhundert radikal geändert hat. [...]

Im Grunde fängt man erst gegen das sechzehnte Jahrhundert zu an, bewußt die Frage aufzuwerfen: Was ist Volkswirtschaftsordnung? Was ist die beste Volkswirtschaftsordnung? Welche Gesetze liegen der Volkswirtschaftsordnung zugrunde? – Und aus diesen Betrachtungen entwickeln sich dann die Impulse der sozialistischen Weltanschauung bis heute. Früher waren diese Dinge mehr oder weniger instinktiv geordnet worden, von Mensch zu Mensch, von Assoziation zu Assoziation, von Innung zu Innung, von Korporation zu Korporation, oder auch wohl von Reich zu Reich. [...] Und das Unsichere beginnt erst dann, wenn dieselben Gegenstände, auf deren Gebieten vorher die Sicherheit der Instinkte gewirkt hat, nun durchdrungen werden von dem menschlichen Nachdenken, von dem menschlichen Intellekt. Und erst nach und nach gewinnt der Mensch – man kann sagen, wenn er die mannigfaltigsten Irrtümer durchgemacht hat –, in bewußter Art dann jene Sicherheit, die er vorher für andere Verhältnisse durch den Instinkt gehabt hat. [...] (S. 190f).

Elfter Vortrag, 20.12.1918

[...] Diese Ideen, an die braucht man nicht zu glauben wie an Dogmen, sondern man fange irgendwo an in der Wirklichkeit, und man wird sehen, wenn man sie einführt in die Wirklichkeit, daß sich die Wirklichkeit damit bearbeiten läßt; vielleicht, wenn man fertig ist oder wenn man nur in einem sehr kleinen Teil die Wirklichkeit bearbeitet hat, dann kommt es ganz anders. – Ich würde mich gar nicht wundern, wenn die Wirklichkeit, sobald die Idee durchgeführt würde, gerade in der Ausführung keinen Stein auf dem andern ließe von dem, was ursprünglich angeführt wurde. Wenn man nicht dogmatisch vorgeht, hält man an seinen Programmen nicht so fest wie Programmenschen, die für Gesellschaften Programme und Statuten ausarbeiten, sondern man gibt eben, was sich in der Wirklichkeit selber ausgestalten will; dann ist es in der Wirklichkeit anwendbar. Und man fange an! Vielleicht werden dann Ideen herauskommen, die ganz anders sind als diejenigen, die gerade dargestellt worden sind. Das Wirklichkeitsgemäße besteht gerade darin, daß es mit dem Leben sich ändert, und das Leben ändert sich fortwährend. Es handelt sich gar nicht darum, schöne Ideen, sondern wirklichkeitsgemäße Ideen zu haben. Die spricht man nicht abstrakt aus, sondern die versucht man so auszusprechen, daß sie lebendig sind, in die Wirklichkeit sich einfügen. Daher sind sie natürlich von Abstraktlingen furchtbar leicht angreifbar. Das ist aber das Neue an der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, daß man nicht nur Neues in ihr denkt, sondern daß man auf neue Art denkt. Und darum können so viele Menschen nicht heran an dieses Denken in neuer Art. Auf dieses Denken in neuer Art aber kommt es an, auf dieses Denken, von dem man sagen kann, daß der Gedanke untertaucht in die Wirklichkeit und man mit der Wirklichkeit lebt. Mit der Abstraktion können Sie alles beweisen. Mit einer Abstraktion, sei es selbst die eines Gottes, da können Sie sagen als ein braver, monarchistischer Untertan: Der König ist von Gottes Gnaden eingesetzt. – Die heutige Zeit kann ihm die Lehre geben: Er ist nun auch wieder von Gottes Gnaden abgesetzt! Man kann, wenn man Abstraktionen hat, das Schwarze und das Weiße unter diese Abstraktionen bringen. Mit Abstraktionen kann man sagen, daß der Gott die Heere anführt des einen und des andern. Darauf eben kommt es an bei jenem Streben nach wahrer Wirklichkeit, das gerade der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zugrundeliegt, daß solches abstrakte Leben, respektive solches abstrakte Reden, das ruinös ist für die Wirklichkeit, ersetzt wird durch wirklichkeitsgemäßes Denken, durch ein Reden, das liebevoll untertaucht in die Wirklichkeit und aus der Wirklichkeit selber heraus redet. Das Denken, das nicht nur etwas anderes denkt, sondern das anders denkt, als man bisher gedacht hat, das strebt nach dem Ideal: „Nicht ich, sondern der Christus in mir“ – nach dem paulinischen Worte. Denn dieser Christus suchte nach dem Zusammenklang des äußeren Menschlichen mit dem inneren Menschlichen.

Das muß ein Ideal werden für das ganze menschliche Streben. (S. 292f).

Zwölfter Vortrag, 21.12.1918

Was hat es denn bewirkt, daß wir nicht mehr so denken wie die großen Philosophen Plato und Aristoteles gedacht haben: daß die Sklaverei etwas ganz Selbstverständliches ist? Damals war es selbstverständlich für die weisesten der Menschen, daß neun Zehntel der Menschheit als Sklaven leben mußten. Das ist für uns heute nicht mehr selbstverständlich, sondern wir betrachten es als eine Verletzung der Menschenwürde, wenn jemand so denkt. Was hat es innerhalb der abendländischen Menschheit bewirkt, daß so das Vorstellungsvermögen der Menschen umgeartet worden ist? – Das Christentum! Das Christentum hat die Menschen entsklavt, das Christentum hat sie dazu geführt, wenigstens im Prinzip den Satz anzuerkennen: Die Menschen sind in bezug auf ihre Seele gleich vor Gott. Das aber hat auch die Sklaverei ausgeschlossen aus der sozialen Ordnung der Menschen. Aber wir wissen: Es hat eines gelassen, auf das wir von den verschiedensten Gesichtspunkten immer wieder hinweisen müssen, es hat bis in unsere Zeit herein die Auffassung gelassen, von der ich Ihnen gesagt habe, daß sie gerade das Punctum saliens ist in dem Bewußtsein des Proletariers: daß in unserer sozialen Ordnung ein Teil des Menschen, und noch dazu ein im Leib sich Abspielendes vom Menschen als Ware gekauft und von ihm selbst verkauft werden kann. [...]

Das ist eigentlich das Punctum saliens der sozialen Frage, daß Arbeitskraft bezahlt werden kann. Es ist auch das, was auf dem Grunde unserer ganzen sozialen Gemeinschaft läßt den Charakter des Egoismus; denn Egoismus muß herrschen in der sozialen Ordnung, wenn der Mensch für das, was er für sich braucht, sich seine Arbeit bezahlen lassen muß. Er muß erwerben für sich. Was als nächste Etappe nach der Überwindung der Sklaverei überwunden werden muß, das ist, daß keines Menschen Arbeit Ware sein kann! Das ist das wirkliche Punctum saliens der sozialen Frage, die das neue Christentum lösen wird. Und ich habe Ihnen einiges vorgetragen von den Lösungen der sozialen Frage, denn jene Dreigliederung der sozialen Ordnung, von der ich Ihnen gesprochen habe, die löst die Ware von der Arbeitskraft ab, so daß die Menschen in der Zukunft nur Ware, nur äußeres Erzeugnis, nur vom Menschen Abgesondertes kaufen und verkaufen werden, daß aber der Mensch [...] aus Bruderliebe für den anderen Menschen arbeiten wird.

Es mag ein weiter Weg sein, um das zu erreichen, doch nichts wird die soziale Frage lösen als einzig und allein dieses. Und wer heute nicht daran glaubt, daß es nur so kommen müsse in der Weltenordnung, der gleicht dem, der zur Zeit des entstehenden Christentums gesagt hätte: Sklaven muß es immer geben. So, wie ein solcher dazumal unrecht gehabt hätte, so hat heute derjenige unrecht, der da sagt: Arbeit muß immer bezahlt werden. Damals konnte man sich nicht denken, daß nicht eine Anzahl von Menschen Sklaven sein müssen, nicht Plato, nicht Aristoteles konnten es sich denken. Heute können sich die gescheitesten Menschen nicht denken, daß man eine soziale Struktur haben kann, in der die Arbeit noch ganz andere Geltung hat, als wenn sie „bezahlt“ wird. Natürlich wird auch dann aus Arbeit ein Produkt hervorgehen, aber das Produkt wird das einzig und allein zu Kaufende und zu Verkaufende sein. Das wird sozial die Menschen erlösen. [...] (S. 311f).