Der innere Aspekt des sozialen Rätsels

Rudolf Steiner: Der innere Aspekt des sozialen Rätsels (GA 193, 04.02.-04.11.1919).


Erster Vortrag: Geistige Anschauung des Menschen, innere Entwicklung, Imagination des anderen Menschen.
Zweiter Vortrag: Geistesleben und Vorgeburtliches, Rechtsleben und Erdenleben, Wirtschaftsleben und Nachtodliches.
Dritter Vortrag: Dreigliederung als Christus-Impuls, unzeitgemäßige Volksimpulse, der Gedanken- und Willensweg zu Christus.
Vierter Vortrag: Wirklichkeit und Lebenslüge, soziales Denken und fertige Programme.
Fünfter Vortrag: Die notwendige innere Revolution der Seele.
Sechster Vortrag: Phrase und Wahrhaftigkeit, Wiederverbindung zu den Hierarchien, Schwellenübertritt und Dreigliederung.
Siebenter Vortrag: Innere Entwicklung, Beziehung zum Engel, Fatalismus von West und Ost, unzeitgemäße griech.-römische Impulse.
Achter Vortrag: Physischer Leib, Verlust des Christus-Impuls, Menschenleib und Erde, Enthusiasmus.
Neunter Vortrag: Inkarnationen Luzifers und Ahrimans, Intellekt und Realität, Evangelien-Erkenntnis.
Zehnter Vortrag: Seelenwarmes Geist-Erleben und der Intellekt als bloßes Spiegelbild des Geistes.


Erster Vortrag, 4.2.1919 (Zürich)

In diesen Tagen, wo es mir obliegt, in dieser Stadt öffentliche Vorträge zu halten über die soziale Frage, ist es vielleicht nicht unangemessen, wenn wir uns gerade an diesem Zweigabend hier gewissermaßen innerlich mit dem sozialen Rätsel, wie es in der Gegenwart besonders bedeutungsvoll ist, beschäftigen.

Wir wissen ja, jenem Menschen gegenüber, dem wir in der äußeren Welt gegenübertreten, der vor unserem Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen, wie es an den Leib gebunden ist, steht, müssen wir den eigentlichen, tiefer gelegenen inneren Menschen anerkennen. Diesen inneren Menschen gewahren wir zuerst, wenn wir Rücksicht darauf nehmen, daß er im Grunde genommen mit allem im Zusammenhange steht, wovon wir sagen können, daß es für unsere Erkenntnis, für unser ganzes Leben die Welt durchwellt und durchwebt. Bedenken Sie nur, wie verschieden von der gewöhnlichen Weltbetrachtung gerade mit Bezug auf den Menschen unsere anthroposophische Weltbetrachtung ist. Werfen Sie einen Blick auf den Versuch, den ich gemacht habe, um anthroposophische Weltauffassung einmal abrißweise zusammenzustellen, auf alles dasjenige, was Sie in meiner „Geheimwissenschaft im Umriß“ gelesen haben, und Sie werden sehen, da ist nicht nur unsere Erdenentwickelung im Zusammenhange mit dem Menschen, da ist unsere Erdenentwickelung betrachtet als hervorgegangen aus früheren Verkörperungen dieses unseres Erdenplaneten. Hervorgegangen ist diese Erdenentwickelung aus der alten Mondenentwickelung, diese aus der Sonnenentwickelung, diese Sonnenentwickelung aus der Saturnentwickelung. Aber schauen Sie sich alles an, was zusammengetragen worden ist, um diese Entwickelung über Planetensysteme hinweg bis zu unserer Erdenentwickelung zu verfolgen, und Sie werden sagen: In allem, was man betrachtet, fehlt nicht der Mensch. Der Mensch ist in allem drinnen. Der ganze Kosmos wird so betrachtet, daß alle seine Kräfte, alles dasjenige, was in ihm geschieht, hingeordnet ist auf den Menschen. Der Mensch ist gegenüber der Weltenbetrachtung Mittelpunkt dieser Betrachtung. – In einem meiner Mysteriendramen habe ich in einem Gespräch zwischen Capesius und dem Eingeweihten diese Grundlage aller anthroposophischen Weltbetrachtung, ich möchte sagen, mit ihrem Bezug auf das menschliche Gemüt noch besonders hingestellt, hingestellt, was es auf den Menschen für einen Eindruck machen muß, wenn er gewahr wird: Alle Göttergenerationen, alle Weltenkräfte, sie sind aufgerufen, sie sind tätig, um zuletzt ihn zustande zu bringen, um ihn in den Mittelpunkt ihrer Schöpfung hereinzustellen.

Ich habe bemerklich gemacht, wie sehr es notwendig ist, gerade gegenüber dieser durch und durch wahren Idee die Notwendigkeit der menschlichen Bescheidenheit geltend zu machen, wie notwendig es ist, sich immer wieder und wieder zu sagen: Ja, wenn wir unser ganzes Wesen, wie wir es in uns und an uns und um uns tragen, wie wir mit ihm in die Welt hineingestellt sind, erkennend erleben, wenn wir unser ganzes Wesen in der Tat zur Offenbarung bringen könnten, es wäre mikrokosmisch die ganze übrige Welt. – Aber wieviel wissen wir, wieviel erleben wir, wieviel können wir durch die Tat offenbaren von dem, was wir als Menschen im höchsten Sinne des Wortes sind? Wir schweben daher – wenn wir uns so recht klarmachen können die Idee, was wir als Menschen sind – zwischen Hochmut und Bescheidenheit. Wir dürfen ganz gewiß nicht in Hochmut ausarten, wir dürfen aber auch in der Bescheidenheit nicht untergehen. Wir würden in der Bescheidenheit untergehen, wenn wir uns nicht in die Lage versetzten, unsere Aufgabe als Mensch – um dessentwillen, was wir doch vor einer allseitigen Weltbetrachtung in der Welt sind – möglichst hoch zu setzen. Wir können im Grunde niemals hoch genug über dasjenige denken, was wir sein sollten. Wir können niemals genug das tiefere kosmische Verantwortungsgefühl des Menschen würdigen, das ihn überkommen muß, wenn er die Hingeordnetheit des ganzen Universums auf sein Wesen ins Auge faßt.

Dieses sollte allerdings aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft heraus weniger theoretische Idee werden, sollte weniger bloße Wissenschaft werden, sollte eine Empfindung werden, die Empfindung einer heiligen Scheu gegenüber dem, was wir als Mensch sein sollten und doch in den wenigsten Fällen sein können. Es sollte aber auch oftmals die Empfindung da sein, wenn wir einem einzelnen Menschen gegenübertreten: Da stehst du, manches bringst du in dir zum Ausdruck in dieser gegenwärtigen Inkarnation. Doch du gehst von Leben zu Leben, von Inkarnation zu Inkarnation; in der Stufenfolge deiner Leben prägt sich ein Unendliches aus. – Und noch nach manchen anderen Richtungen hin könnten wir diese Empfindungen erweitern, könnten sie vertiefen. Aus dieser Empfindung heraus kommt man auf geisteswissenschaftlichem Boden erst zur rechten Menschenschätzung, kommt man zu einer Empfindung von der menschlichen Würde in der Welt. Diese Empfindung kann unsere ganze Seele durchsetzen, kann, wenn sie sich über unser ganzes Innere ausbreitet, uns allein in die rechte Stimmung versetzen, wenn wir genötigt sind, im einzelnen Falle unser individuelles Verhältnis von Mensch zu Mensch zu ordnen. (S. 9ff). [...]

Dasjenige, was Geisteswissenschaft vom Geiste darstellt, sie betrachtet es nicht so, als ob sie pantheistisch reden würde von Geist und Geist –, der allen Dingen zugrunde liegt. Nein, sie redet nicht nur von dem wirklichen Geist, sondern diese Geisteswissenschaft will reden aus der Wirklichkeit, aus dem Geist selbst heraus. Sie will so reden, daß derjenige, der in der Geisteswissenschaft selbst lebt, weiß: Indem seine Gedanken über den Geist sich bilden, ist es der Geist selbst, der in diesen Gedanken drinnen webt und lebt. Der, wenn ich so sagen darf, von dem Geist der Geisteswissenschaft Angehauchte will nicht bloß Gedanken über den Geist aussprechen, er will den Geist sich selbst durch seine Gedanken aussprechen lassen. Die unmittelbare Gegenwart des Geistes, die wirksame Kraft des Geistes, sie werden gesucht durch die Geisteswissenschaft. (S. 12). [...]

Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft will den Geist selbst als lebendige Wirklichkeit in die Welt durch die Menschenseele hineinstellen. Dieser Geist ist vertrieben aus der Zeitanschauung, die durch das Bürgertum begründet worden ist und vom Proletariat zu seinem Unheil übernommen worden ist, vertrieben! [...]

Bedenken Sie, wieviel steht in diesem einen Erdenleben, dem man mit den Sinnen, mit der gewöhnlichen Leibesempfindung gegenüberstehen kann, vom Menschlichen vor uns, von jenem Menschlichen, um dessentwillen wir, um es ganz zu betrachten, aufrufen nicht nur die Erdenentwickelung, sondern Mond-, Sonnen-, Saturnentwickelung? Wie schwindet vor diesem modernen Bewußtsein das wahrhaft Menschliche dahin, das uns aus anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft erst das rechte Gefühl, die rechte Empfindung von wahrer Menschenwürde gibt, so daß wir ein rechtes Verhältnis finden, wenn wir als menschliches Individuum dem anderen menschlichen Individuum gegenüberstehen. Ist es denn denkbar, daß im heutigen Chaos des menschlichen Zusammenlebens ein rechtes Verhältnis von Mensch zu Mensch gefunden werde, das doch einer wirklichen Lösung des sozialen Rätsels zugrunde liegen muß? [...]

Betrachten Sie zweierlei. Betrachten Sie auf der einen Seite, wohin die Menschheit dadurch gekommen ist, daß sich das ungeistige Wesen der letzten Jahrhunderte so intensiv ausgebreitet hat in den menschlichen Seelen. Betrachten Sie auf der anderen Seite jene Hoffnungen, die dadurch erweckt werden können, daß wirkliche Geisteswissenschaft heute in die Menschheit einziehen kann [...] Wenn Sie das, was ich Ihnen hier als zwei Perspektiven hingestellt habe, als eine hoffnungslose und als eine hoffnungsreiche, in richtigem Sinne empfinden, dann wird Ihnen das Wirken für anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zu dem werden, was es heute allerdings für die Menschheit notwendig werden soll: zu einer Lebensnotwendigkeit, zu einer solchen Lebensnotwendigkeit, die alles andere Wirken und Schaffen durchdringen soll. (S. 13ff). [...]

In bezug auf die wichtigsten Dinge der Menschheitsentwickelung stehen wir heute an einem Wendepunkt, auch mit Bezug auf das Christentum. [...] Was sich mit Bezug auf das Christentum bis jetzt innerhalb der Menschheit ausgelebt hat, ist eigentlich nur ein Anfang. [...] Gewissermaßen haben diese ersten fast zwei Jahrtausende des Lebens des Christentums auf der Erde nicht mehr vermocht – wegen des noch nicht zu weiterem Reifen vorgeschrittenen menschlichen Verständnisses –, als dem Menschen anzuzeigen, der Christus hat sich mit der Erde verbunden, der Christus ist auf die Erde herabgestiegen. Erst jetzt im fünften nachatlantischen Zeitraum, in dem Zeitraum der Bewußtseinsseelenentwickelung, wird die Menschheit reif, nicht nur zu verstehen, daß der Christus durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, sondern was eigentlich in diesem Mysterium von Golgatha lebt. Den Inhalt des Mysteriums von Golgatha wird die Menschheit erst aus denjenigen geistigen Grundlagen heraus verstehen können, die sich ihr innerhalb dieses fünften nachatlantischen Zeitraumes bilden können. (S. 16).

In alten Zeiten, da hatten die Götter eine gewisse Aufgabe mit der Erdenentwickelung; sie hatten sich ein Ziel gesetzt, hatten ein göttliches Ziel mit der Erdenentwickelung. Sie haben dieses Ziel dadurch erreicht, daß sie Menschen mit ihren Kräften inspiriert haben, daß sie die menschliche Seele mit Imaginationen begabt haben. Aber so sonderbar es klingt, diese eigentlichen, ureigensten Ziele der Götterwelten mit der Erdenentwickelung sind mit Bezug auf die Erdenentwickelung erfüllt. [...] Menschenziele waren in früheren Zeiten unbewußt, instinktiv, weil göttliche Ziele bewußt in ihnen lebten. Menschliche Ziele müssen selber immer bewußter und bewußter werden, dann werden in diesen menschlichen Zielen Kräfte liegen, sich zu den Göttern zu erheben, damit menschliche Ziele mit Götterkräften angestrebt werden können.

Denken Sie diese Worte nur aus! In diesen Worten liegt viel. In diesen Worten liegt die Notwendigkeit, daß der Mensch gerade von unserem Zeitalter an ein ursprüngliches, elementares Streben aus sich selbst heraus beginne. [...]

Wir müssen aber in die Lage kommen – da wir eigentlich im Sinne eines geistlosen Naturdenkens nur den fleischlichen Menschen sehen –, in dem anderen Menschen das Wirken der Götter zu erkennen, um in einen wirklichen, geisterfüllten sozialen Organismus hineinzukommen. Das erlangen wir nur, wenn wir auch etwas dazu tun. Das eine, was wir dazu tun können, ist, in unserem eigenen Seelenleben eine gewisse Vertiefung zu suchen. Es gibt viele Wege dazu. Ich will nur einen meditativen Weg Ihnen skizzieren. Wir können aus den verschiedensten Gründen, zu den verschiedensten Zielen gewisse Rückblicke in unser eigenes Leben machen. Wir können [...] auf diejenigen Menschen hinblicken, welche in unser Leben als Eltern, als Geschwister, als Freunde, als Lehrer oder sonst irgendwie eingegriffen haben, und wir können, statt uns selbst, das Wesen dieser Menschen uns vor die Seele stellen, die in unser Leben eingegriffen haben. Da wird sich für eine Weile die Sache so ausnehmen, als ob wir uns sagen könnten, wie wenig eigentlich an uns selber ist, wie viel an dem ist, was von den anderen in unser Selbst hineingeflossen ist. Unser Verhältnis zur Welt wird, wenn wir ehrlich und redlich eine solche Selbstrückschau innerlich in Szene setzen, doch ein ganz anderes. Gefühle, Empfindungen bleiben zurück als die Ergebnisse einer solchen Rückschau. Und diese Gefühle, diese Empfindungen sind gewisse fruchtbare Keime in uns. Sie sind Keime für wirkliche Menschenerkenntnis. Derjenige, der immer wieder und wieder so in sein eigenes Wesen blickt, daß er den Anteil erkennt, den andere, vielleicht längst verstorbene oder ihm ferner gerückte Menschen an seinem Wesen genommen haben, er wird den anderen Menschen auch so entgegentreten, daß ihm, indem er ein individuelles Verhältnis von Mensch zu Mensch begründet, die Imagination von dem wahren Wesen dieses anderen Menschen aufsteigt. (S. 17ff). [...]

Noch einen anderen Gesichtspunkt will ich geltend machen. [...] Wir sehen heute wenig darauf hin, wie das ganze Leben des Menschen ein immer Reifer- und Reiferwerden ist. So innerlich ehrliche Menschen wie Goethe fühlten dieses Reifer- und Reiferwerden. Goethe wollte auch im höchsten Alter noch lernen, Goethe wußte im höchsten Alter, fertig sei er als Mensch noch nicht. Und er blickte zurück in seine Jugend, in seine Mannesjahre, indem er alles das, was in der Jugend und in den Mannesjahren sich zugetragen hat, als Vorbereitung empfand für dasjenige, was er im Alter erleben konnte. So denkt man in der heutigen Zeit nur sehr wenig, namentlich dann, wenn man den Menschen als soziales Wesen ins Auge faßt. [...] So kann sich der Mensch nicht denken, daß man etwas zu erwarten hat vom Leben, indem man immer mehr und mehr dem Alter entgegenreift. Daran denken die Menschen heute nicht. (S. 20). [...]

Und noch ein anderes müssen wir lernen. Wir sehen nicht nur uns selbst in der Welt stehen, sondern wir sehen Menschen anderen Lebensalters; wir sehen vor allen Dingen das Kind durch die Geburt in die Welt und in das Leben hereinziehen. [...] vieles, was sich den älteren, instinktiv lebenden, im atavistischen Hellsehen befindlichen Menschen offenbarte, bleibt heute, wenn der Mensch nur auf sich selbst schaut, ihm verborgen. Und so gibt es etwas, das sich uns, wenn wir nur in uns selbst Erkenntnis suchen, von der Wiege bis zum Grabe nicht offenbaren kann. [...] Aber in einer anderen Weise kann es erkannt werden. Dann kann es erkannt werden, wenn die durch wirkliche geistige Empfindung feiner gestimmte reife Menschenseele, die Mannesseele, die Frauenseele, die Greisen- oder Greisinnenseele hinschaut auf das Kind und die Empfindung hat: In dem Kinde offenbart sich etwas, was das Kind jetzt nicht erkennen kann, was auch durch das Kind, wenn es auf sich selbst gestellt ist, niemals, auch selbst bis zu seinem Tode nicht, erkannt werden kann, was aber erkannt werden kann in der Seele des anderen, der als Greis auf dieses Kind zurückschaut. Da haben Sie etwas, was sich offenbaren kann durch das Kind, nicht im Kinde und nicht in dem Manne oder der Frau, die aus diesem Kinde werden können bis zum Tode hin, sondern in dem anderen, der von einem höheren Lebensalter aus liebevoll den jüngsten Menschen anschaut.

Ich weise auf dieses besonders hin, weil Sie in einem solchen Zug unserer Zeit sehen können, wie ein sozialer Impuls – aber im allerweitesten Sinne – durch unsere Zeit wellt und webt. [...] Dieses soziale Zusammensein, das ist dasjenige, auf das uns der innerste Geist und Sinn unserer Zeit hinweist. (S. 20ff). [...]

Zweiter Vertrag, 8.2.1919 (Bern)

[...] Sie tragen herein in das physisch-irdische Dasein das, was Sie schon erlebt haben in dem vorgeburtlichen Leben. Und es spiegelt sich dasjenige, was Sie, allerdings auf eine ganz andere Weise, im vorgeburtlichen Leben erleben, ab in dem, was Geistesleben, geistiges Kulturleben im Irdischen ist. [...]

Und wir stellen uns nur in der rechten Weise zu diesem irdischen Geistesleben, wenn uns bewußt wird: darinnen sind überall die Wirkenskräfte der geistigen Welt selber zu finden. Stellen Sie sich einmal hypothetisch vor: Dasjenige, was die Wesen – seien es die Wesen der höheren Hierarchien, die niemals einen irdischen Leib annehmen, oder seien es auch die noch nicht geborenen Menschen, Menschen, die noch nicht durch die Pforte der Geburt ins irdische Leben eingetreten sind –, was diese der übersinnlichen Welt angehörenden Wesen denken, was sie als ihr Seelenleben durchmachen, das lebt; das lebt in einer Art von traumhaftem Abbild in der irdisch-geistigen Kulturwelt. [...] 

Wir sehen die Welt niemals vollständig an, wenn wir verleugnen diese sich durch unsere geistig-irdische Kultur gewissermaßen spiegelnden Gedanken der geistigen Wesen, die nicht auf dieser Erde verkörpert sind, entweder überhaupt nicht verkörpert sind, oder gerade jetzt nicht verkörpert sind. Können wir uns empfindungsgemäß aneignen, ich möchte sagen, dieses heilige Anschauen der geistigen Welt um uns herum, daß wir diese geistige Welt halten können für dasjenige, was uns die geistigen Wesen selber schenken, womit uns die geistigen Wesen umgeben, dann werden wir in der richtigen Weise für dieses Geschenk der übersinnlichen Welt, das wir als irdisch-geistige Kulturwelt erleben, dankbar sein können. Dadurch stellt sich diese geistige Kulturwelt notwendig als etwas Selbständiges herein in die ganze soziale Struktur der Menschheit, daß sie die Fortwirkung desjenigen ist, was wir vor der Geburt mitmachen in der geistigen Welt. Beleuchtet man das soziale Leben mit dem Lichte der spirituellen Erkenntnis, dann wird es zu einer Selbstverständlichkeit, in diesem geistigen Leben eine abgesonderte, selbständige Wirklichkeit anzunehmen. (28 f).

Das zweite Gebiet der sozialen Struktur ist das, was man nennen könnte den äußeren Rechtsstaat, das politische Leben im engeren Sinne, dasjenige, was sich bezieht auf die Ordnung der Rechtsverhältnisse von Mensch zu Mensch, dasjenige, worinnen alle Menschen gleich sein sollen vor dem Gesetz. Es ist dies das eigentliche Staatsleben. Und das eigentliche Staatsleben sollte im Grunde genommen nichts anderes sein als dieses. [...]

Alles das, was das Staatsleben umfassen kann, was man staatlich diskutieren, staatlich abmachen kann, hat nur Beziehung auf das Zusammenleben zwischen Mensch und Mensch. Das ist das Wesentliche. Das haben die tieferen religiösen Naturen in allen Zeiten empfunden. [...] Diese tieferen religiösen Naturen sagten sich: Staat, er umfaßt das Leben, das, insofern die Menschheit in Betracht kommt, nur mit alledem zu tun hat, was zwischen Geburt und Tod liegt, was sich auf das bloße Irdische bezieht. – Schlimm ist es, wenn dasjenige, was sich bloß auf das Irdische bezieht, seine Herrschaft ausdehnen will auf das Überirdische, auf das Übersinnliche, auf dasjenige, was über Geburt und Tod hinaus liegt. Über Geburt und Tod hinaus liegt aber das irdische Geistesleben, denn es enthält die Schatten der seelischen Erlebnisse der übersinnlichen Wesenheiten. Bemächtigt sich dasjenige, was im bloßen Staatsleben pulst, des Lebens der irdischen Geistigkeit, so nannten tiefere religiöse Naturen dies: Die Macht, welche ausübt der widerrechtliche Fürst dieser Welt. – Hinter dem Ausdruck „der widerrechtliche Fürst dieser Welt“ verbirgt sich dasjenige, was ich eben angedeutet habe. Das ist auch der Grund, warum in denjenigen Kreisen, die ein Interesse daran haben, zu konfundieren die drei Glieder des sozialen Organismus, von diesem widerrechtlichen Fürsten dieser Welt nicht gern gesprochen wird, es sogar verpönt ist, davon zu sprechen. (S. 29f).

Etwas anders verhält sich die Sache wiederum mit dem, was an Denken, an Empfinden, an Seelenimpulsen im Menschen sich dadurch entwickelt, daß er dem wirtschaftlichen Gliede des sozialen Organismus angehört. [...] In früheren Zeiten lebte sich der Mensch instinktiv in das Wirtschaftsleben hinein. Jetzt muß das Hineinleben in die Wirtschaft immer bewußter und bewußter werden. [...]

Der Mensch wird die Brücke schlagen müssen von sich zu der, namentlich wirtschaftlichen, Struktur des sozialen Organismus. Er wird in bewußter Weise sich als Subjekt in die Wirtschaft einfügen müssen, in den sozialen Organismus. Da wird er denken lernen, wie er zu den anderen Menschen in Beziehung steht, einfach dadurch, daß er mit ihnen gemeinschaftlich auf einem bestimmten Territorium über die verschiedensten Gegenstände Wirtschaft führt. Dieses Denken, das man da entwickelt, und in das einfließt das ganze Verhältnis der Naturordnung zum Menschen, ist ein ganz anderes Denken als dasjenige, das sich zum Beispiel in der Welt der geistigen Kultur entwickelt.

In der Welt der geistigen Kultur erleben Sie mit dasjenige, was Wesenheiten der höheren Hierarchien denken, was Sie selbst erlebt haben in ihrem vorgeburtlichen Leben. In dem Denken, das Sie entwickeln als Angehöriger des sozialen Wirtschaftskampfes, da denkt immer – so paradox Ihnen das erscheinen muß – ein anderer Mensch in Ihnen mit, ein tieferer Mensch in Ihnen. Gerade dann, wenn Sie sich als Glied eines Wirtschaftskörpers fühlen, denkt ein tieferer Mensch in Ihnen mit. Sie sind angewiesen, mit Ihrem Denken äußere Lebensfaktoren zusammenzufügen. Sie müssen denken: Wie wird der Preis von dem oder jenem? Wie erlange ich die eine Ware, wie die andere Ware und so weiter? Da huschen Sie gewissermaßen mit Ihren Gedanken über die äußeren Tatsachen hin; da lebt nicht Geistiges, da lebt Äußeres, Materielles in Ihrem Denken. Gerade weil Äußeres, Materielles in Ihrem Denken lebt, weil Sie denkend miterleben müssen, nicht bloß instinktiv miterleben wie das Tier, dasjenige, was im Wirtschaftsleben vor sich geht, deshalb denkt in Ihnen fortwährend noch ein anderer, tieferer Mensch über diese Dinge nach; der setzt die Gedanken erst fort, er macht die Gedanken erst so, daß sie ein Ende, einen Zusammenhang haben. Und das ist gerade der Mensch, der wesentlich mitwirkt bei alledem, was Sie durch den Tod in die übersinnliche Welt hineintragen. So paradox es manchem erscheint, gerade das Nachdenken über die materiellen Dinge hier in der Welt, zu dem der Mensch gezwungen ist, das erregt in ihm, weil es nie fertig ist, weil es nie etwas Abgeschlossenes ist, ein anderes inneres geistiges Leben, das er hineinträgt durch den Tod in die übersinnliche Welt. So stehen die Empfindungen, die Impulse, die wir gerade im Wirtschaftsleben entwickeln, mit unserem nachtodlichen Leben in einem engeren Zusammenhange, als die Menschen glauben. (S. 30ff). [...]

Nicht wahr, mit Bezug auf das, was wir nach dem Tode sind, sind wir hier als Menschen noch verwandt mit dem Niedrigeren, mit Tieren, Pflanzen und Mineralien; aber gerade mit diesem Erleben des Außermenschlichen bereiten wir etwas vor, was erst nach dem Tode ins Menschliche heraufwachsen soll. [...]

Was die Menschen im Untermenschlichen erleben, im Wirtschaftsleben, das wird erst Mensch, wird erst heraufgehoben ins Erdenmenschliche, wenn wir durch den Tod hindurchgeschritten sind. (S. 36f). [...]

Sehen Sie, die führenden intellektuellen Kreise der herrschenden Klassen, sie haben eine gewisse sittliche Weltanschauung, eine gewisse religiöse Anschauung entwickelt. Aber diese sittliche, diese religiöse Weltanschauung will man am liebsten immer einseitig ganz idealistisch halten. Sie soll nicht die Stoßkraft haben, zugleich in das alltägliche Leben einzudringen. Praktisch tritt Ihnen das dadurch zutage, daß Sie Sonntag für Sonntag und sogar öfter die bekannten Kirchen besuchen können: es werden Ihnen Predigten gehalten werden, Predigten, die aber fortwährend versäumen die intensivsten Pflichten der Zeit. Es wird Ihnen von allem möglichen geredet werden, was Sie tun sollen aus religiöser Weltanschauung heraus, was aber keine Stoßkraft hat. Denn gehen Sie aus der Kirche heraus, treten Sie ins äußere alltägliche Leben hinein, so können Sie nicht anwenden alles, was da gepredigt wird über Liebe von Mensch zu Mensch, was man tun soll, was der eben erleben will und jener eben gepredigt hat. [...]

Es ist ein ungesunder Zustand, daß heute von den Kanzeln her nichts gehört wird über die notwendige Einrichtung des Wirtschaftslebens. [...] Sie können also unterlassen die Predigten, die heute zumeist den Inhalt der Kanzelreden bilden, aber Sie können nicht dasjenige unterlassen, was heute reales Wissen vom sozialen Organismus ist. Das wäre die Pflicht derjenigen, die Volkserzieher sein wollen, auch im Praktischen die Brücke zu bauen von dem, was als Geistiges die Welt durchlebt und durchwebt, zu dem, was im alltäglichsten Leben geschieht. Denn der Gott, das Göttliche, lebt nicht nur in dem, was der Mensch in Wolkenhöhen erträumt, sondern in dem geringsten Alltäglichsten. [...] Und wenn man sich dem Glauben hingibt: da ist auf der einen Seite das derb Materielle, Konkrete, dasjenige, was niederer Natur ist, und auf der anderen Seite das Göttlich-Geistige, das man ja recht fernhalten soll von diesem derb Materiellen, Konkreten, weil das eine heilig ist und das andere profan, weil das eine hoch ist und das andere niedrig, dann widerspricht man gerade dem innersten Sinn einer wirklichkeitsgemäßen Weltauffassung: der Stoßkraft vom Höchsten, Heiligen, herunter bis in die alltäglichsten Erlebnisse der Menschen. [...]

Wie redet man heute oftmals von Erlösung, von Gnade, von dem, was Gegenstand des Glaubens ist? Man redet so, daß man es den Menschen höchst bequem macht: Da sind die Menschen mit ihren Menschengemütern. Auf Golgatha ist einstmals der Christus Jesus gestorben und – die fortgeschrittenen Theologen glauben ja heute nicht mehr daran – auferstanden. Aber das tut er alles für sich, die Menschen brauchen nichts anderes zu tun, als daran zu glauben. – So meinen heute viele, und sie betrachten es als eine Störung ihrer Kreise, wenn anders gedacht wird. Es muß aber gelernt werden, anders zu denken! Gerade auf diesem Gebiete muß ein radikaler Umschwung eintreten.

Man möchte sagen: Heute erklingt uns wiederum die Christus-Mahnung oder schon die Mahnung des Täufers Johannes: Ändert den Sinn, denn die Zeit der Krisis ist nahe herbeigekommen. – Die Menschen haben sich gewöhnt, das Geistige irgendwo vorauszusetzen, irgendwo, wo es für sie sorgt; sich erzählen zu lassen von den religiösen Predigern, daß es eine solche geistige Welt gibt, die man möglichst wenig charakterisiert. Die Menschen wollen sich nicht anstrengen in ihren Gedanken, auch etwas zu wissen über die geistige Welt, sondern nur daran glauben. Die Zeit ist vorbei, in der das sein darf! Die Zeit muß beginnen, in der die Menschen wissen müssen: Nicht bloß: ich denke – ich denke vielleicht auch über das Übersinnliche –, sondern: Ich muß Einlaß gewähren den göttlich-geistigen Mächten in meinem Denken, in meinem Empfinden. Die Geistwelt muß in mir leben, meine Gedanken selber müssen göttlicher Natur sein. Ich muß dem Gotte Gelegenheit geben, daß er durch mich sich ausspricht. – Da wird das geistige Leben nicht mehr bloß Ideologie sein. (S. 38ff) [...]

Gewiß, für den außenstehenden Menschen ist dies schwer zu verstehen, da ist heute keine Hilfe möglich. Aber derjenige, der innerhalb der anthroposophischen Bewegung steht, der sollte immer für alles das, was sich hier im Irdischen begründen läßt, zu gleicher Zeit alles aufnehmen, was uns verbindet mit der Sphäre, in die wir eintreten nach unserem Tode, aus der wir kamen durch unsere Geburt, in der wir zu suchen haben diejenigen, die vor uns hinweg aus dieser Welt gegangen sind und zu denen wir bestimmte Beziehungen haben. Denn das wird die schönste menschliche Errungenschaft gerade anthroposophischer Vertiefung sein, daß sie die beiden großen Mysterien der irdischen Lebens, die Geburt und den Tod, durchschauen lehrt, eine Brücke schafft zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen, zwischen den sogenannten Lebendigen und den sogenannten Toten, so daß das Tote wie ein Lebendiges unter uns wird und wir von dem Lebendigen sagen können: Nichts anderes als eine andere Form des Seins ist dasjenige Leben, das im Übersinnlichen das unsere war vor der Geburt und das das unsere sein wird nach dem Tode. Es ist tot hier in der Sinnlichkeit, wie die Sinnlichkeit tot ist, indem wir das Übersinnliche durchleben. Die Dinge in der Welt sind relativ in Beziehung zueinander. Und wenn wir durchschauen diese zwei Seiten einer jeglichen Wirklichkeit, dann erst dringen wir in die Wirklichkeit selbst ein. (S. 44). [...]

Dritter Vortrag, 11.2.1919 (Zürich)

[...] Denken Sie sich einmal, wie uns eigentlich das wirtschaftliche Leben hineinstellt in ein gewisses Verhältnis zu der Welt. Sie werden leicht darauf kommen, wie dieses Verhältnis ist, wenn Sie sich denken müßten, daß wir ganz aufgehen könnten im rein äußeren wirtschaftlichen Leben. Was wären wir dann, wenn wir nur im äußeren, rein wirtschaftlichen Leben aufgehen würden? Wir wären denkende Tiere, nichts anderes. [...] Wir werden also durch das Wirtschaftsleben mehr oder weniger hinuntergedrängt ins Untermenschliche. Aber indem wir hinuntergedrängt werden ins Untermenschliche, können wir gerade auf diesem Gebiete des Untermenschlichen Interessen entwickeln, die im wahren Sinne des Wortes die brüderlichen Interessen unter den Menschen sind. Auf keinem anderen Gebiete können wir so leicht und so selbstverständlich die brüderlichen Verhältnisse unter den Menschen im vollsten Sinne des Wortes entwickeln wie gerade im Wirtschaftsleben.

Im geistigen Leben – was ist das eigentlich Regierende im irdischen Geistesleben? Im Grunde genommen das persönliche, wenn auch seelische, aber seelisch-egoistische Interesse. Von der Religion will der Mensch haben, daß sie ihn selig macht. Von der Erziehung will er haben, daß sie seine Anlagen entwickelt. Von irgendeiner künstlerischen oder sonstigen Erscheinung, die er genießt, will er Freude in sein Leben hinein haben oder auch eine Entfaltung seiner Lebenskräfte. Es ist überall so, daß ein gröberer oder feinerer Egoismus, wenn auch verständlicherweise, um seinetwillen den Menschen hinführt zu dem, was im irdischen Geistesleben lebt.

Wiederum im Rechtsleben, im politischen Leben haben wir es zu tun mit dem, was uns gewissermaßen zu gleichen Wesen vor dem Gesetze macht. Wir haben es zu tun mit dem Verhältnisse von Mensch zu Mensch. Wir haben es mit dem zu tun, was unser Recht sein soll. (S. 52) [...]

Und so haben wir geisteswissenschaftlich die drei Gebiete getrennt: das Geistesleben mit seinem Hinweis auf das vorgeburtliche übersinnliche Leben; das eigentliche Staatsleben mit seiner Beziehung auf die Impulse, die zwischen der Geburt und dem Tode sich abspielen; das eigentliche Wirtschaftsleben, welches hinweist auf dasjenige, was wir erleben werden, nachdem wir durch die Pforte des Todes gegangen sind. [...] So gibt es für den, der des Menschen Stellung im Weltenall geisteswissenschaftlich erkennt, eben noch viel tiefere Gründe, einzusehen, daß der soziale Organismus ein dreigliedriger sein muß, daß gewissermaßen der Mensch verkümmern muß – wie er im neuzeitlichen Leben in einer gewissen Weise verkümmert ist, was dann zu der furchtbaren Katastrophe der letzten vier Jahre geführt hat –, wenn alles zentralisiert ist, wenn alles nur bezogen wird auf ein chaotisches, anarchisch durcheinander gewürfeltes äußeres soziales Leben. So das Menschenleben auffassen, sich auf diese Weise bewußt werden, daß jedes Gesamtmenschheitliche so drinnensteht in der allgemeinen Menschheit und in der Welt überhaupt, das ist, was aus der Vertiefung in die geisteswissenschaftlichen Erkenntnisse dem Menschen nach und nach werden soll. Das ist dasjenige, was zugleich die richtige Christus-Erkenntnis für unsere Zeit und für die nächste Zukunft ist. Das ist gewissermaßen, was uns geoffenbart wird, wenn wir heute den Christus hören wollen. [...] In diesem Zeitalter hat er uns zu offenbaren: Ändert den Sinn – wie sein Vorläufer, der Täufer Johannes, gesagt hat –, ändert aufs neue den Sinn, der euch eröffnet die Anschauung eurer dreifachen Menschheit, die da fordert, daß auch dasjenige, in dem ihr drinnen lebt als im irdischen Dasein, eine dreifache Gliederung braucht. (S. 54f). [...]

Bevor der Christus-Impuls durch das Mysterium von Golgatha in die Erdenentwickelung hereingewirkt hatte, betrachtete sich dasjenige Volk, aus dem gerade der Christus Jesus herausgeboren ist, als das auserwählte Volk, und es glaubte dieses auserwählte Volk, daß die Erde nur glücklich werden könne, wenn alles übrige abstirbt, und nur die Glieder dieses Volkes die ganze Erde erfüllen würden. Das war in gewissem Sinn ein fester Glaube, weil der Gott Jahve dieses Volk auserwählt hatte als sein Volk und weil der Gott Jahve als der Einheitsgott angesehen worden ist. Das war für die Zeit, bevor das Mysterium von Golgatha auf die Erde gekommen ist, aus dem Grunde eine berechtigte Anschauung des alten hebräischen Volkes, weil gerade aus diesem alten hebräischen Volke der Christus Jesus hervorgehen sollte. Aber mit der Erscheinung des Mysteriums von Golgatha auf Erden hätte dieses Bewußtsein aufhören sollen. Nachher war dieses Bewußtsein antiquiert, nachher hätte an die Stelle des Jehovabewußtseins das Christus-Bewußtsein treten müssen, welches ebensosehr vom Menschen spricht, wie das Jahvevolk von den Angehörigen nur eines Volkes gesprochen hat. Es ist das tragische Geschick des jüdischen Volkes, daß es nicht erkannt hat, daß die Sache so liegt. Aber heute erleben wir vielfach einen Rückfall. Heute erleben wir den Rückfall, daß die Völker langsam – wenn sie das auch anders ansehen, anders benennen –, alle eine Art Jahve, aber einen Spezial-Jahve, ihren Volksgott, anbeten wollen. [...]

Jedes Volk möchte gewissermaßen seinen besonderen Volksgott installieren, möchte nur im Sinne dieses Volkes da sein. [...] Es ist wirklich heute alttestamentlicher Rückfall vorhanden, Atavismus, Rückfall in das Alte Testament! Die Menschheit will sich geradezu über die ganze Erde in einzelne Glieder spezialisieren, gegen den Christus Jesus, der für die ganze Menschheit gewest und gelebt hat. (S. 56f). [...]

Wie finden wir in dieser unserer Zeit aus unserem eigenen Herzen heraus, aus dem eigensten Impulse unserer Gegenwartsseelen heraus den Christus Jesus? Daß diese Frage sehr ernst ist – ich habe auch schon in diesem Zweige von anderen Gesichtspunkten aus öfter darüber gesprochen –, können Sie daraus entnehmen, daß gerade viele der offiziellen Träger des Christentums den Christus eigentlich doch verloren haben. Es gibt heute vielgenannte Pfarrer, Pastoren und so weiter, die sprechen von dem Christus. Sie sprechen davon, daß der Mensch durch eine gewisse innere Vertiefung, durch ein gewisses inneres Erleben einen Zusammenhang mit dem Christus gewinnen kann. Geht man näher dem nach, was diese Leute mit dem Christus meinen, da findet man, daß kein Unterschied besteht zwischen diesem Christus und dem Gott im allgemeinen, dem, was man den Vatergott nennt auch im Sinne des Evangeliums. [...]

Von unzähligen Kanzeln der Welt wird über den Christus gesprochen, und die Menschen glauben, daß mit Recht da über den Christus gesprochen wird, weil eben das Wort Christus dann gehört wird. Die Menschen überlegen sich nicht: Streiche ich von dem, was der Pastor sagt, das Wort „Christus“ aus und setze „Jahve“ dafür, dann erst paßt es! [...]

Die Menschheit hat es heute schwer, zur Wahrheit zu kommen, weil sich gerade dasjenige, was ich hier als eine innere Unwahrheit bezeichnet habe, traditionell ungemein stark festgelegt hat. [...] Wenn wir bloß geboren werden und von der Geburt bis zum Tode hier auf Erden mit einem Seelenleben leben, daß sich nun einmal nach der gebräuchlichen Anlage und Entwickelung der Anlagen zwischen Geburt und Tod ergibt, dann haben wir nämlich gar keine Veranlassung, zu dem Christus zu kommen. Dann mag in uns noch so viel Geistiges vorgehen, wir haben keine Veranlassung zu dem Christus zu kommen. (S. 57ff). [...]

Das Ex deo nascimur ist etwas, was im sozialen Leben dem gesund entwickelten Menschen sich von selbst ergibt. Denn erkennt er das nicht an: Aus dem Göttlichen bin ich geboren – so muß er irgendwie einen Defekt haben, der sich eben in der Weise ausdrückt, daß er Atheist wird. Aber da kommen wir zu dem Göttlichen im allgemeinen, das aus einer inneren Lüge heraus moderne Pastoren Christus nennen, das aber nicht der Christus ist. [...] Denn wir wissen, daß das Mysterium von Golgatha deshalb auf die Erde gekommen ist, weil fernerhin der Mensch nicht das Menschenwürdige ohne dieses Mysterium von Golgatha, das heißt, ohne den Christus-Impuls hätte finden können. Und so müssen wir gewissermaßen unseren Menschen zwischen Geburt und Tod nicht nur finden, sondern wir müssen ihn wiederfinden, wenn wir Christen sein wollen im rechten Sinne, wenn wir dem Christus nahekommen wollen. Wir müssen ihn in der folgenden Weise wiederfinden, diesen unseren Menschen. Wir müssen die innere Ehrlichkeit suchen, müssen uns aufraffen zu der inneren Ehrlichkeit, uns zu sagen: Wir werden mit Bezug auf unsere Gedankenwelt nach dem Mysterium von Golgatha nicht vorurteilslos geboren, wir werden alle mit gewissen Vorurteilen geboren.

In dem Augenblicke, wenn man in Rousseauscher oder in anderer Weise den Menschen von vornherein für vollkommen hält, kann man überhaupt nicht den Christus finden, sondern nur wenn man weiß, daß der Mensch in gewisser Weise als ein nach dem Mysterium von Golgatha Lebender einen Defekt hat, den er durch seine eigene Tätigkeit im Leben hier ausgleichen muß. Ich bin als ein vorurteilsvoller Mensch geboren und muß mir die Gedankenvorurteilslosigkeit im Leben erst erwerben. Und wodurch kann ich sie hier erwerben? Einzig und allein dadurch, daß ich nicht nur Interesse entwickele für dasjenige, was ich selber denke, was ich selber für richtig halte, sondern daß ich selbstloses Interesse entwickele für alles, was Menschen meinen und was an mich herantritt, und wenn ich es noch so sehr für Irrtum halte. Je mehr der Mensch auf seine eigenen eigensinnigen Meinungen pocht und sich nur für diese interessiert, desto mehr entfernt er sich in diesem Augenblicke der Weltentwickelung von dem Christus. Je mehr der Mensch soziales Interesse entwickelt für des anderen Menschen Meinungen, auch wenn er sie für Irrtümer hält, je mehr der Mensch seine eigenen Gedanken beleuchtet durch die Meinungen der anderen, je mehr er hinstellt neben seine eigenen Gedanken, die er vielleicht für Wahrheit hält, jene, welche andere entwickeln, die er für Irrtümer hält, aber sich dennoch dafür interessiert, desto mehr erfühlt er im Innersten seiner Seele ein Christus-Wort, das heute im Sinne der neuen Christus-Sprache gedeutet werden muß.

Der Christus hat gesagt: „Was ihr einem der geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan.“ Der Christus hört nicht auf, immer wieder und wieder sich den Menschen zu offenbaren, bis ans Ende der Erdentage. Und so spricht er heute zu denjenigen, die ihn hören wollen: Was einer der geringsten eurer Brüder denkt, das habt ihr so anzusehen, daß ich in ihm denke, und daß ich mit euch fühle, indem ihr des anderen Gedanken an euren Gedanken abmesset, soziales Interesse habt für dasjenige, was in der anderen Seele vorgeht. Was ihr findet als Meinung, als Lebensanschauung in einem der geringsten eurer Brüder, darin suchet ihr mich selber. – So spricht in unser Gedankenleben hinein der Christus, der sich gerade auf eine neue Weise – wir nähern uns der Zeit – den Menschen des 20. Jahrhunderts offenbaren will. Nicht dadurch, daß man in Harnackscher Weise spricht von dem Gotte, der auch der Jahvegott sein kann und es in Wirklichkeit ist, sondern dadurch, daß man weiß, Christus ist der Gott für alle Menschen. Wir finden ihn aber nicht, wenn wir egoistisch in uns bleiben mit unseren Gedanken, sondern nur, wenn wir unsere Gedanken messen mit den Gedanken der anderen Menschen, wenn wir unser Interesse erweitern in innerer Toleranz für alles Menschliche, wenn wir uns sagen: Durch die Geburt bin ich ein vorurteilsvoller Mensch, durch meine Wiedergeburt aus den Gedanken aller Menschen heraus in einem umfassenden sozialen Gedankengefühl werde ich denjenigen Impuls in mir finden, der der Christus-Impuls ist. Wenn ich mich nicht, als den Quell alles dessen, was ich denke, nur selbst betrachte, sondern wenn ich mich als ein Glied der Menschheit bis in das Innerste meiner Seele hinein betrachte, dann ist ein Weg zu dem Christus gefunden. – Das ist der Weg, der heute als der Gedankenweg zu dem Christus bezeichnet werden muß. Ernste Selbsterziehung dadurch, daß wir uns einen Sinn für das Rechnen auf die Gedanken der anderen aneignen, daß wir dasjenige korrigieren, was wir als unsere eigene Richtung von selbst in uns tragen, an Unterhaltungen mit den anderen, es muß das eine ernste Lebensaufgabe werden. Denn würde unter den Menschen diese Lebensaufgabe nicht Platz greifen, so würden die Menschen den Weg zu dem Christus verlieren. Das ist der Weg der Gedanken heute. (S. 59ff). [...]

Und der andere Weg geht durch das Wollen. Auch da haben die Menschen sich sehr auf den Abweg begeben, der nicht zu dem Christus hinführt, der von dem Christus wegführt. Und wiederfinden müssen wir auf diesem anderen Gebiete den Weg zu dem Christus. Die Jugend hat von selbst noch etwas Idealismus, aber die heutige Menschheit ist trocken und nüchtern. Und die heutige Menschheit ist hochmütig auf dasjenige, was man oftmals Praxis nennt, was aber nur ein gewisser enger Sinn ist. Die heutige Menschheit hält nichts von Idealen, die aus dem Quell des Geistigen herausgeholt sind. Die Jugend hat sie noch, diese Ideale. [...]

Aber was ist das? Schön ist es, groß ist es, aber es darf nicht das Alleinige im Menschen sein. Denn dieser jugendliche Idealismus ist doch nur der Idealismus des Ex deo nascimur, des Göttlichen, das auch mit dem Jahvegöttlichen identisch ist, das aber nicht allein bleiben darf, nachdem das Mysterium von Golgatha über die Erde hingegangen ist. Es muß daneben noch etwas anderes geben, es muß eine Erziehung, eine Selbsterziehung zum Idealismus geben. Neben dem angeborenen Idealismus der Jugend muß darauf gesehen werden, daß in der menschlichen Gemeinschaft etwas erworben wird, was eben erworbener Idealismus ist, was nicht bloß Idealismus aus Blut und Jugendfeuer heraus ist, sondern was anerzogen ist, was man sich selbst erst aus irgendeiner Initiative erwirbt. Anerzogener, namentlich selbstanerzogener Idealismus, der auch dann nicht verlorengehen kann mit der Jugend, das ist etwas, was den Weg zu dem Christus eröffnet, weil es wieder etwas ist, was im Leben zwischen Geburt und Tod eben erworben wird. Fühlen Sie den großen Unterschied zwischen Blutidealismus und dem anerzogenen, dem erworbenen Idealismus. Fühlen Sie den großen Unterschied zwischen Jugendfeuer und demjenigen Feuer, das aus dem Ergreifen des Geisteslebens kommt und immer von neuem und neuem entfacht werden kann, weil wir es in unserer Seele, unabhängig von unserer leiblichen Entwickelung, uns angeeignet haben, dann haben Sie ergriffen den zweifachen Idealismus, den, welcher der Idealismus der Wiedergeburt ist, nicht der des Angeborenseins. Das ist der Willensweg zu dem Christus. [...]

Dann aber, wenn Sie sich diesen Idealismus anerziehen, oder wenn Sie ihn in der Erziehung der aufwachsenden Jugend anerziehen, was insbesondere notwendig ist, dann finden Sie in dem, was da als Idealismus heranerzogen wird, daß in dem Menschen der Sinn erwacht, nicht nur dasjenige zu tun, wozu die äußere Welt stößt. Sondern aus diesem Idealismus heraus quellen die Impulse, mehr zu tun, als wozu die Sinneswelt stößt, quillt der Sinn auf, aus dem Geiste heraus zu handeln. In dem, was wir aus anerzogenem Idealismus tun, verwirklichen wir dasjenige, was der Christus wollte, der nicht deshalb aus außerirdischen Welten auf die Erde herabgekommen ist, um bloß irdische Ziele hier zu verwirklichen, sondern aus der außerirdischen in die irdische Welt herabgekommen ist, um Überirdisches zu verwirklichen. Wir wachsen aber nur mit ihm zusammen, wenn wir uns Idealismus anerziehen, so daß Christus, der überirdisch im Irdischen ist, in uns wirken kann. Nur im anerzogenen Idealismus verwirklicht sich das, was das Paulinische Wort über den Christus sagen will: „Nicht ich, sondern der Christus in mir.“ (S. 61ff). [...]

Das sind die zwei Wege, durch die wir den Christus wirklich finden. Wandeln wir sie, dann werden wir nicht mehr so sprechen, daß unser Sprechen eine innere Lüge ist. Dann werden wir von dem Christus sprechen als dem Gotte unserer inneren Wiedergeburt, während der Jahve der Gott unserer Geburt ist.

Dieser Unterschied muß gefunden werden von dem neueren Menschen, denn dieser Unterschied allein ist zugleich das, was uns zu wahren sozialen Gefühlen, zu wahren sozialen Interessen bringt. Wer anerzogenen Idealismus in sich entwickelt, der hat auch die Liebe für die Menschheit. Predigen Sie, wieviel Sie wollen von den Kanzeln, die Menschen sollen sich lieben. Sie reden wie zum Ofen. Wenn Sie ihm gut zureden, er wird doch nicht das Zimmer heizen, er wird das Zimmer heizen, wenn Sie Kohle hinein tun. Sie brauchen ihm dann gar nicht zuzureden, daß es seine Ofenpflicht ist, das Zimmer zu wärmen. So können Sie der Menschheit immer predigen: Liebe, Liebe und Liebe. Das ist eine bloße Rederei, das ist ein bloßes Wort. Arbeiten Sie dahin, daß die Menschen in bezug auf den Idealismus eine Wiedergeburt erleben, daß sie neben dem Blutidealismus einen seelisch anerzogenen Idealismus haben, der durchhält durch das Leben, dann heizen Sie auch in der Seele des Menschen Menschenliebe. Denn so viel Sie an Idealismus sich selber anerziehen, so viel führt Sie Ihre Seele von Ihrem Egoismus hinaus zu einem selbständigen Gefühlsinteresse für die anderen Menschen.

Eines werden Sie allerdings erleben, wenn Sie diesen zweifachen Weg gehen, den Gedankenweg und den Willensweg, den ich mit Bezug auf die Erneuerung des Christentums Ihnen angedeutet habe. Aus den innerlich toleranten und sich für andere Gedanken interessierenden eigenen Gedanken heraus und aus dem wiedergeborenen Willen, in anerzogenem Idealismus wiedergeborenen Willen, da entwickelt sich etwas, das nicht anders bezeichnet werden kann als ein für alle Dinge, die man tut, erhöhtes Verantwortlichkeitsgefühl. [...] Stößt so das Verantwortlichkeitsgefühl auf, daß man sich sagt: Kann ich denn das auch rechtfertigen, nicht bloß für den nächsten Kreis meines Lebens und der unmittelbaren Umgebung, kann ich es denn rechtfertigen, indem ich mich weiß angehörig einer übersinnlich-geistigen Welt? Kann ich es denn rechtfertigen, indem ich weiß, daß alles das, was ich hier auf Erden tue, eingeschrieben wird in eine Akasha-Chronik ewiger Bedeutung, wo es weiter wirkt? – Oh, das fühlt man stark, diese übersinnliche Verantwortlichkeit gegenüber allem! Das ist etwas, das wie ein Mahner an einen herantritt, wenn man den zweifachen Christus-Weg sucht, wie ein Wesen, das hinter einem steht, einem über die Schulter blickt, einem immer sagt: Du bist nicht nur vor der Welt, du bist vor dem Göttlich-Geistigen verantwortlich für das, was du denkst und tust. (S. 63ff). [...]

Vierter Vortrag, 9.3.1919 (Zürich)

[...] Wie denken denn auf einem gewissen Gebiete heute die Leute? Sie bekommen einen Kristall in die Hand: das ist ein wirklicher Gegenstand. Sie bekommen eine Rose in die Hand, die vom Rosenstock abgepflückt ist, und sie sagen auch, das ist ein wirklicher Gegenstand. Beides nennen sie in gleichem Sinne einen wirklichen Gegenstand. Aber sind beide Gegenstände in gleichem Sinne wirklich? [...] Die Rose wird nach verhältnismäßig kurzer Zeit, wenn sie vom Rosenstock abgepflückt ist, ihre Form verlieren, sie stirbt ab. Sie hat nicht in sich denselben Grad von Wirklichkeit, den der Kristall in sich hat. Und selbst der Rosenstock, wenn wir ihn aus der Erde herausreißen, hat nicht mehr denselben Grad von Wirklichkeit, den er hat, wenn er in der Erde drinnen ist. [...]

Sie sehen daraus, es kann in der äußeren sinnlichen Wirklichkeit Dinge geben, die nicht im wahren Sinne des Wortes, wenn sie von ihrer Grundlage entfernt sind, noch wirklich sind. Das heißt, wir müssen in der scheinbaren äußeren Wirklichkeit, in dieser großen Täuschung erst nach den wahren Wirklichkeiten suchen. Die Menschheit, sie macht heute schon bei der Naturbetrachtung solche Fehler in bezug auf die Wirklichkeit. Aber wer solche Fehler in bezug auf die Wirklichkeit macht und sich im Laufe von langen Jahrhunderten daran gewöhnt hat, sie zu machen, wie die heutige Menschheit, der wird außerordentlich schwer zu einem wirklichkeitsgemäßen sozialen Denken kommen. Denn sehen Sie, das ist der große Unterschied des menschlichen Lebens von der Natur, daß die Natur dasjenige absterben läßt, was nicht mehr seine volle Wirklichkeit hat: die vom Rosenstock abgepflückte Rose. Einen äußeren Schein von Wirklichkeit kann auch etwas haben, was keine Wirklichkeit ist, was für sich eine Lüge ist. So etwas, was für sich keine Wirklichkeit hat, können wir aber im sozialen Leben wie eine Wirklichkeit realisieren. Dann braucht es nicht gleich abzusterben, aber es wird allmählich zum Schmerz und zur Qual der Menschheit, während nur dasjenige zum Heile der Menschheit ausschlagen kann, was aus einer ganzen Wirklichkeit heraus empfunden, gedacht und dem menschlichen sozialen Organismus eingepflanzt ist. Es ist nicht bloß eine Sünde wider die soziale Ordnung, sondern es ist eine Sünde wider die Wahrheit selbst, wenn zum Beispiel unsere heutige Lebensauffassung noch davon ausgeht, daß menschliche Arbeitskraft – ich habe das jetzt öfter hier gesagt – eine Ware sein kann. Man kann sie in der äußeren scheinbaren Wirklichkeit dazu machen, aber eine solche äußere scheinbare Wirklichkeit wird dann zum Schmerz, zum Leid der menschlichen sozialen Ordnung und gibt den Anlaß zu den Erschütterungen, zu den Revolutionen des gesellschaftlichen Organismus.

Kurz, dasjenige, was die Menschheit gegenwärtig nötig hat in ihre Denkgewohnheiten aufzunehmen, ist, daß nicht alles, was in der äußeren scheinbaren Wirklichkeit sich offenbart, so wie es sich innerhalb gewisser Grenzen offenbart, auch eine wahre Wirklichkeit zu sein braucht, sondern eine Lebenslüge sein kann. Und dieser Unterschied der Lebenswahrheit und der Lebenslüge ist es, der sich ganz tief in das Gemüt des heutigen Menschen eingraben sollte. (S. 68ff). [...]

Ich könnte Ihnen noch von Mai 1914 solche Reden zeigen, wo gesagt worden ist: So wie die Verhältnisse der Staaten jetzt untereinander durch unsere diplomatischen Beziehungen geordnet sind, haben wir die Möglichkeit, an einen länger dauernden Frieden zu glauben. – Im Mai 1914! Aber derjenige, der die Verhältnisse dazumal durchschaute, mußte eben anders reden. Ich habe dazumal in den Vorträgen in Wien, vor dem Kriege, dasjenige ausgesprochen, was ich öfter im Verlauf der letzten Jahre gesagt habe: Wir leben in etwas darinnen, das man nur nennen kann eine menschliche soziale Krebskrankheit, ein Karzinom der gesellschaftlichen Ordnung. Dieses Karzinom, dieses Geschwür ist aufgebrochen und ist zu dem geworden, was man den Weltkrieg nennt.

Dazumal war natürlich der Ausspruch: Wir leben in einem Karzinom, wir leben in einem sozialen Geschwür – für die Leute eine Redensart, eine Phrase, weil der Weltkrieg erst danach kam. Denn die Leute hatten keine Ahnung, daß sie auf einem Vulkan tanzten. Für viele ist es heute wieder so, wenn man auf den anderen Vulkan hinweist, der wahrhaftig auch einer ist, und der da liegt in dem, was erst heraufkommt für die Ausgestaltung desjenigen, was man seit langem die soziale Frage nennt. (S. 76f). [...] 

Öde ist es in den menschlichen Seelen geworden. Aber aus dieser Seelenöde ringt sich dann los dasjenige, was eben aus dem einzelnen individuellen, persönlichen Menschen heraus kommen kann. Was aus diesem einzelnen, individuellen, persönlichen Menschen heraus kommen kann, sind innerliche Gedanken, sind innerliche Schauungen von der übersinnlichen Welt, sind auch Schauungen, die uns die äußere sinnliche Naturwelt erklären. [...]

Da aber das soziale Leben nicht in der Einsamkeit entwickelt werden kann, sondern nur in dem wirklichen Miterleben der anderen Menschen, so war der einsame Mensch der neueren Zeit nicht recht geeignet, ein soziales Denken zu entwickeln. (S. 78f). [...]

Das soziale Denken muß in der menschlichen Gemeinschaft entwickelt werden. Und der Denker hat dann hauptsächlich die Aufgabe, darauf hinzuweisen, wie der soziale Organismus gestaltet sein mag, damit die Menschen in der richtigen Weise zusammenwirken, um im Sozialen selbst das Soziale zu begründen. Deshalb gebe ich Ihnen nicht an, oder gebe ich den gegenwärtigen Menschen nicht an, man soll so und so einrichten Privateigentum an Produktionsmitteln oder Gemeineigentum an Produktionsmitteln, sondern ich muß sagen: Versucht hinzuarbeiten darauf, daß der soziale Organismus gegliedert werde in seine drei Glieder, dann wird auch dasjenige, was unter der Wirksamkeit des Kapitals steht, von dem geistigen Gebiete aus verwaltet werden und ihm sein Rechtsleben eingeflößt werden von dem politischen Staate. Dann wird Rechtsleben und Geistesleben mit dem Wirtschaftsleben in ordentlicher Weise zusammenfließen. Und dann wird jene Sozialisierung eintreten, die immerzu wieder überleiten wird aus gewissen Rechtsbegriffen heraus dasjenige, was man über seinen eigenen Verbrauch hinaus erworben hat, in die geistige Organisation hinein. Es geht wieder zurück in die geistige Organisation.

Heute hat man diese Einrichtung nur auf dem Gebiete des geistigen Eigentums, wo es niemandem auffällt. Sein geistiges Eigentum kann man nicht länger wahren für seine Nachkommen, als höchstens eine gewisse Zeit hindurch, dreißig Jahre nach dem Tode, dann wird es Gemeineigentum. Man sollte nur daran denken, daß dies ein Muster sein kann für die Zurückleitung desjenigen, was allerdings durch menschlich-individuelle Kräfte erarbeitet wird, wie auch desjenigen, was in der kapitalistischen Ordnung steht, die Zurückleitung wiederum in den sozialen Organismus. Es fragt sich dann nur in welche Teile? In denjenigen Teil, der geistige individuelle und auch sonstige individuelle Kräfte des Menschen in der richtigen Weise verwalten kann: in den geistigen Organismus. Die Menschen werden das so machen, wenn sie in der richtigen Weise im sozialen Organismus stehen. Das setzt diese Denkungsart voraus. (S. 80f).

Ich könnte mir denken, daß diese Dinge in jedem Jahrhundert anders gemacht werden: Absolute Festsetzungen für diese Dinge gibt es nicht. Aber unsere Zeit hat sich angewöhnt, alles vom materialistischen Gesichtspunkte aus zu beurteilen, und daher sieht man gar nichts mehr in seinem rechten Lichte. Ich habe jetzt öfter auseinandergesetzt, wie in der modernen Zeit Arbeitskraft Ware geworden ist. Da gilt der gewöhnliche Arbeitsvertrag, der davon ausgeht, daß Arbeitskraft Ware ist, und er wird geschlossen über die Arbeit, die der Arbeiter dem Unternehmer leistet. Ein gesundes Verhältnis kann nur dadurch zustande kommen, daß der Vertrag gar nicht über die Arbeit geschlossen wird, daß die Arbeit als Rechtsverhältnis festgesetzt wird vom politischen Staate, und daß der Vertrag geschlossen wird über die Verteilung des erzeugten Produkts zwischen dem körperlichen Arbeiter und dem geistig Arbeitenden. Über die Erzeugnisse aber nur kann der Vertrag geschlossen werden, nicht über das Verhältnis der Arbeitskraft zum Unternehmer. Dadurch allein kann die Sache auf eine gesunde Basis gestellt werden. (S. 81f).

Aber die Menschen fragen nun: Woher kommen die Schäden im sozialen Leben, die dem Kapitalismus anhaften? – Sie sagen: Die kommen von der wirtschaftlichen Ordnung des Kapitalismus. – Aber von der wirtschaftlichen Ordnung können keine Schäden kommen, sondern davon kommen die Schäden, daß wir erstens kein wirkliches Arbeitsrecht haben, welches die Arbeit in der entsprechenden Weise schützt, und zweitens, daß wir nicht bemerken, wie wir in der Lebenslüge leben, wie dem Arbeiter sein Teil abgenommen wird. Aber worauf beruht denn das Abnehmen? Nicht auf der Wirtschaftsordnung, sondern darauf, daß eigentlich durch die gesellschaftliche Ordnung selber die Möglichkeit geboten ist, daß die individuellen Fähigkeiten des Unternehmers nicht in der richtigen Weise teilen mit dem Arbeiter. Bei Waren muß man teilen, denn sie werden gemeinsam produziert von dem geistigen und körperlichen Arbeiter. Was heißt es denn aber, durch seine individuellen Fähigkeiten jemandem anderen etwas abnehmen, was man ihm nicht abnehmen soll? Das heißt, ihn betrügen, ihn übervorteilen! Diesen Verhältnissen muß man nur gesund und unbefangen ins Auge schauen, dann kommt man darauf: nicht in dem Kapitalismus liegt es, sondern in dem Mißbrauch der geistigen Fähigkeiten. Da haben Sie den Zusammenhang mit der geistigen Welt. Machen Sie erst die geistige Organisation gesund, so daß die geistigen Fähigkeiten sich nicht mehr dahin entwickeln, daß sie denjenigen übervorteilen, der arbeiten muß, dann machen Sie den sozialen Organismus gesund. Es kommt darauf an, überall auf das Richtige hinsehen zu können. (S. 82). [...]

Nicht darauf kommt es an, heute den Menschen zu sagen: Glaubt an den Geist –, sondern von einem solchen Geiste ist notwendig heute zu sprechen, der die materielle Wirklichkeit wirklich bezwingt, der wirklich sagt, wie man den sozialen Organismus gliedern soll. Denn nicht darauf beruht heute die Ungeistigkeit, daß die Menschen nicht an den Geist glauben, sondern darauf, daß sie nicht mit dem Geiste in einem solchen Zusammenhang stehen können, daß der Geist in die Materie im wirklichen Leben einzugreifen vermag. (S. 83). [...]

Fünfter Vortrag, 12.6.1919 (Heidenheim)

[...] Ich möchte ausgehen von einer solchen Erscheinung, die heute unter den mannigfachen stürmischen Ereignissen kaum bemerkt wird. Sie wird als etwas Unbedeutendes und Unbeträchtliches angesehen, aber sie ist da für denjenigen, der sich aus geistigen Untergründen heraus die Möglichkeit erworben hat, das Leben wirklichkeitsgemäß zu betrachten.

Es sind jetzt etwa sieben, acht, zehn Jahre her – es mag paradox klingen, aber es ist wahr –, seit für den wirklichen Beobachter des Lebens die Kinder, die geboren werden, mit einem ganz anderen Antlitz geboren werden als früher. Gewiß, man bemerkt es nicht, weil man auf solche Dinge nicht achtet, weil man heute überhaupt auf die wichtigsten Dinge des Lebens nicht acht gibt. Aber wer sich einen Blick für solche Dinge erworben hat, der weiß, daß über dem Antlitz der vielen, seit sieben bis acht oder zehn Jahren geborenen Kinder etwas lagert wie Trübe, wie Zurückhaltung gegenüber der Welt. [...]   Und in den Seelen, ganz unbewußt selbstverständlich, lebt etwas von der Stimmung des Nichthereinwollens ins Leben. Die Seelen, die heute durch die Geburt gehen – wie gesagt, es ist das schon seit fast zehn Jahren –, fühlen etwas wie ein Hindernis und Hemmnis, in diese physische Welt hereinzukommen.

Es ist ja so, daß der Mensch, bevor er durch Empfängnis und Geburt in die physische Welt hereinkommt, in der geistigen Welt ein wichtiges Ereignis durchmacht, das dann seine Strahlen wirft, seine Wirkungen betätigt in dem kommenden Leben. Die Menschen sterben hier auf der Erde, sie gehen durch die Todespforte, sie legen den physischen Leib ab, bringen ihre Seele hinein in die geistige Welt. Diese Seele trägt in sich noch die Wirkungen alles desjenigen, was sie hier in der physischen Welt durchlebt und erfahren hat. Sie sieht im Grunde genommen aus, indem sie durch die Todespforte gegangen ist, wie die Wirkungen selbst, desjenigen, was unmittelbar hier im Erdenleben durchgemacht wird. Solche Seelen, welche nun durch die Todespforte gegangen sind, begegnen – das ist ein Ereignis, das eben Tatsache ist, ich kann es Ihnen nur erzählen, weil diese Dinge ja nur durch Erfahrung aus der geistigen Welt herausgeholt werden können –, sie begegnen jenen Seelen, die sich anschicken, in der kommenden Zeit herunterzusteigen in einen physischen Leib. Und das ist ein wichtiges Ereignis, diese Begegnung der Seelen, die eben durch die Todespforte gegangen sind, mit jenen Seelen, die demnächst durch die Geburtspforte in die physische Welt hereintreten werden. Dieses Ereignis hat etwas Ausschlaggebendes. Es ist gewissermaßen da, um den heruntersteigenden Seelen so etwas einzuimpfen wie eine Vorstellung von dem, was sie hier antreffen werden. Und von dieser Begegnung her stammt der Impuls, welcher die eigentümliche Melancholie den Kindern aufdrückt, die heute in die Welt hereingehen. Sie wollen in diese Welt nicht herein, von der sie durch diese Begegnung erfahren haben. Denn sie wissen, wie ihnen gewissermaßen das „geistige Gefieder“ zerzaust wird durch dasjenige, was die in materialistische Gesinnung und materialistische Weltanschauung und auch in materialistisches Tun getauchte Menschheit auf der Erde heute durchmacht. (S. 86ff). [...]

Wie hilflos steht im Grunde genommen die große Mehrheit der Menschheit da gegenüber den hereingebrochenen Weltereignissen. Da müßte die ernsteste Frage auftauchen: Was liegt denn da eigentlich zugrunde? – Es liegt etwas zugrunde, was gerade für unsere von materialistischer Gesinnung durchdrungene Zeit außerordentlich schwer zu begreifen ist: daß gerade seit jenem weltgeschichtlichen Zeitpunkt, in dem die materialistische Weltanschauungswoge besonders hoch gegangen ist, in Wahrheit die stärkste geistige Kraft, die jemals in das Menschenleben aus der geistigen Welt herein wollte, in dieses Menschenleben jetzt herein will. Das ist das Charakteristische in unserer Zeit. Der Geist, die geistige Welt will sich seit dem Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts mit aller Macht den Menschen offenbaren.

Doch die Menschen sind allmählich an einem Punkte ihrer Entwickelung angekommen, wo sie zum Aufnehmen von irgend etwas in der Welt als Werkzeug nur ihren physischen Leib benutzen wollen. Sie haben sich aus der materialistischen Weltanschauungsgesinnung heraus gewöhnt, sogar theoretisch zu vertreten, daß das physische Gehirn das Werkzeug sei für das Denken, sogar für das Fühlen und sogar für das Wollen. Sie haben sich eingeredet, daß der physische Leib das Werkzeug sei für alles geistige Leben. Sie haben sich das nicht grundlos eingeredet. Sie hatten guten Grund dazu, nämlich den Grund, daß innerhalb der Menschheitsentwickelung die Menschen allmählich nur den physischen Leib noch benutzen konnten, daß es wirklich nach und nach so gekommen ist, daß nur der physische Leib für die geistige Betätigung als Werkzeug benutzt werden konnte. Und so stehen wir heute in dem unendlich wichtigen Knoten der Menschheitsentwickelung, wo auf der einen Seite wie im Sturme sich offenbaren will die geistige Welt, und wo auf der anderen Seite der Mensch die Kraft finden muß, aus seinem stärksten Eingesponnensein in das Materielle sich zum neuen Empfangen der Geistesoffenbarungen heraufzuarbeiten.

Es ist der Menschheit heute die stärkste Prüfung ihrer Kraft gestellt, die Prüfung der Kraft des freien Sich-Hinaufarbeitens zu dem Geiste, der ganz von selbst der Menschheit entgegenkommt, wenn der Mensch sich vor diesem Geiste nicht verschließt. Aber es ist die Zeit vorbei, in der in allerlei unterbewußten und unbewußten Prozessen sich der Geist offenbaren kann an den Menschen. Es ist die Zeit gekommen, wo der Mensch in freier innerer Tat das Geisteslicht empfangen muß. Und all die Verwirrung und alle die Unklarheit, in der die Menschen heute leben, kommt davon her, daß die Menschen heute etwas empfangen müssen, was sie eben eigentlich noch nicht empfangen wollen: ein ganz neues Verständnis der Dinge.

In diese furchtbare, schreckenerfüllte Weltkriegskatastrophe hinein hat sich das alte Denken, die alte Art, die Weltereignisse zu überblicken, ausgelebt und die unendlich bedeutsamen Sturmzeichen dieser Weltkriegskatastrophe bedeuten nicht anderes als den Hinweis darauf: Versucht umzudenken, versucht eine neue Art, euch die Welt anzuschauen, denn die alte Art muß immer nur in Chaos und Verwirrung führen. Das muß endlich eingesehen werden: Die leitenden Persönlichkeiten des Jahres 1914 waren an dem Punkt angekommen, wo mit dem alten Verständnis nichts mehr zu erreichen war. Deshalb führten sie die Menschheit ins Unglück. Diese Tatsache muß der Mensch sich heute tief in die Seele schreiben, sonst wird er nicht den starken, den kräftigen Entschluß fassen, wirklich aus freier Innerlichkeit dem Geiste und seinem Leben entgegenzukommen. Es ist ja das Jammervolle gerade in unserer unmittelbaren Gegenwart, daß wir sehen, überall offenbaren sich Dinge, die mit den bisherigen Weltanschauungen und Lebensauffassungen nicht zu verstehen sind. Aber die Leute klammern sich an diese alten Weltanschauungen und Lebensauffassungen und wollen nicht – wollen nicht zu ganz neuen Arten, die Dinge anzuschauen, kommen. Anthroposophische Weltanschauung wollte die Menschheit vorbereiten, zu diesen neuen Arten, die Welt anzuschauen, zu kommen. Sie hatte eigentlich im Grunde genommen keine anderen wirklichen Gegner, diese anthroposophische Weltanschauung, als lediglich die Bequemlichkeit, die Trägheit des inneren Menschen, der sich nicht aufraffen kann, die innersten Kräfte seiner Seele entgegenzutragen der gerade in unserer Zeit so mächtig hereinbrechenden Geisteswelle. (S. 89ff). [...]

Die Natur, so wie sie die heutige, zu ihren Triumphen gekommene Naturwissenschaft studiert, kann man verstehen mit dem Instrument des physischen Gehirns, des physischen Leibes überhaupt. Nicht aber kann man das Menschenleben verstehen mit dem Instrument des physischen Leibes. Dieses Menschenleben ist nur zu verstehen, wenn man sich zu einem Denken aufschwingen kann, das nicht vom physischen Leibe allein hergeholt ist. Und dieses Denken ist es, was gepflegt werden sollte durch die anthroposophische Weltanschauung. Natürlich sagen die Leute: Ja, anthroposophische Weltanschauung, was da in den Büchern steht, was da gesprochen wird, man versteht es nicht. – Man glaubt es den Leuten, daß sie es nicht verstehen. Aber, was heißt es, sie verstehen es nicht? Es heißt nichts anderes als: Ich will mich nur des physischen Gehirns zum Verstehen bedienen, ich will nicht lernen ein anderes Denken als das, welches sich faul an das physische Gehirn anlehnen kann. Mit dem ist natürlich anthroposophische Weltanschauung nicht zu verstehen.

Nicht als ob man hellsichtig sein müßte, um sie zu verstehen, aber man muß sich üben in einem solchen Denken, das nicht an das physische Gehirn gebunden ist. Und was in der anthroposophischen Literatur vorhanden ist, was mit dem gesunden Menschenverstand – und der ist nicht an das Gehirn gebunden, nur der kranke materialistische Verstand ist an das Gehirn gebunden –, was mit dem gesunden Menschenverstand erlernt werden kann, das trainiert allmählich ein solches Denken, ein solches Empfinden, ein solches Wollen, daß dieses Denken und Empfinden und Wollen den entsprechenden Ereignissen der Gegenwart gewachsen ist. Sie mögen das auffassen, wie Sie wollen, aber es ist so: Was die Gegenwart von uns fordert, ist nicht zu begreifen durch das Instrument des physischen Leibes: Das muß begriffen werden durch das Instrument des ätherischen Leibes, desjenigen Leibes, der als ein Bildekräfteleib dem physischen Leibe zugrunde liegt.

Die hereinbrechende geistige Welt, die sich der Menschheit offenbaren will, macht sich eigentlich nur in sehr unbewußten Gefühlen für die Menschen geltend. Die Menschen haben eine heillose Furcht davor. Es ist eigentlich nur eine Ausrede, wenn die Menschen sagen, sie verstünden die Geisteswissenschaft nicht. Die Wahrheit ist, daß sie Furcht haben vor der sich offenbarenden geistigen Welt. Nur weil die Menschen diese Furcht vor der geistigen Welt nicht gestehen wollen, sagen sie, sie verstehen die Geisteswissenschaft nicht, oder, sie sei nicht logisch, oder was sie sonst alles als Ausrede wählen. In Wahrheit haben sie Furcht davor, und daher wählen sie auch alles mögliche, um gerade den großen, mächtigen Problemen zu entschlüpfen. Wie sind die Leute froh, wenn sie den großen Aufgaben, den Rätseln des gegenwärtigen Lebens entschlüpfen können! (S. 91f). [...]

Rätsel gingen von der sozialen Frage aus. Man redete von diesen Rätseln, da war das unbequem. Aber die Leute gingen ins Theater und schauten sich Hauptmanns „Weber“ an; da brauchte man keine ernsthafte Stellung dazu zu nehmen, sondern konnte sich ein bißchen innerlich aufregen an dem, was als Abgründe in der Menschheit vorhanden war, brauchte aber nicht Stellung dazu zu nehmen, denn es war ja „bloß“ Kunst und so weiter. Die Leute flüchteten in etwas hinein, was sie nicht ernst zu nehmen brauchten. Das ist eine charakteristische Erscheinung für die Zeitpsychologie. Aber was verbirgt sich hinter dieser charakteristischen Erscheinung der Zeitpsychologie? Das verbirgt sich dahinter, daß die Menschen hätten streben sollen, aus der Tendenz der Offenbarung der geistigen Welt, gewisse Dinge ernst zu nehmen, die nicht begriffen werden können durch das Instrument des physischen Leibes, die nur begriffen werden können durch imaginative Kräfte, wie die Kunst selber nur durch imaginative Kräfte zu begreifen ist. Des Menschen physischer Leib ist aufgebaut wie ein Naturprodukt, des Menschen ätherischer Leib ist aufgebaut wie ein Kunstprodukt, wie eine wirkliche Plastik, nur ist er in fortwährender Bewegung. Und was der Mensch sonst zu seinem Vergnügen hinnimmt in der Kunstauffassung, das muß sich verdichten, muß sich erhellen, muß ernste Anschauung werden: Imagination, Inspiration, Intuition. Dann versteht der Mensch das, was sich ihm heute offenbaren will. (S. 93). [...]

Ich nannte in meiner 1894 erschienenen „Philosophie der Freiheit“ ein Kapitel „Die moralische Phantasie“. Geisteswissenschaftlich könnte man auch sagen: die imaginativen Moralimpulse. Ich wollte darauf hinweisen, daß dasjenige Gebiet, das sonst nur künstlerisch in der Phantasie ergriffen wird, nun notwendig im Ernst von der Menschheit ergriffen werden muß, weil das die Stufe ist, die der Mensch ersteigen muß, um das Übersinnliche in sich hereinzubekommen, das nicht durch das Gehirn ergriffen wird. (S. 94). [...]

Kommt man heute mit einem neuen Impuls, dann wird gerade dieser neue Impuls am allerwenigsten verstanden. Denn man kommt mit einem Impuls, der lebendig herausgeholt ist aus der geistigen Welt als Heilmittel gegen die Schäden unserer Zeit. Da quieksen die Leute links, und da quieksen die Leute rechts, und alles quiekst zusammen in einem Chor von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken und findet, daß das alles etwas ist, was man nicht versteht. Selbstverständlich versteht man es nicht, wenn man bei den alten Denkformen stehenbleiben will. Aber heute ist eben notwendig, daß wir nicht stehenbleiben bei alten Denkformen, sondern daß man die ganze Seele innerlich umformt und umgestaltet. Alle äußeren Revolutionen – und sie können noch sehr nach dem Wunsche der einen oder der anderen Partei oder Klasse sein – werden in die schlimmste Sackgasse verlaufen und das schlimmste Elend über die Menschheit bringen, wenn nicht diese äußeren revolutionären Bewegungen von heute durchleuchtet werden durch die innere Revolution der Seele, die sich da abspielt in dem Hinweggehen von dem Versenktsein in die rein materialistische Weltanschauung und die entgegengeht dem Aufnehmen der geistigen Welle, die als eine neue Offenbarung in die Menschheitsentwickelung hereinbrechen will. [...]

Und bedenken wir in allem Ernst, daß es eine geistige Welt ist, die in die unsrige hereinbrechen will, daß von uns gefordert wird: geistige Kräfte seien da, von denen wir unsere Entschließungen, unsere Handlungen, unser ganzes Denken abhängig machen sollen. Das wird von uns gefordert! (S. 94f). [...]

Heilig sollte daher für den heutigen Menschen der Moment des Aufwachens sein, weil er empfinden sollte: Ich komme heraus aus der geistigen Welt, ich trete in die physische Welt ein. Und alles Gute, alles, was mich fähig macht, ein vernünftiger Mensch zu sein, habe ich durch den Verkehr mit der geistigen Welt vom Einschlafen bis zum Aufwachen, habe ich durch den Verkehr mit den Toten, die ich im Leben gekannt habe, die vor mir hingestorben sind, kurz, durch den Verkehr mit denen, die jetzt nicht in einem physischen Leibe sind, dann erfahren, wenn ich mit ihnen in der rein geistigen Welt zusammen bin. [...]

Einzig und allein der Wille, das Leben geistig zu führen, der Wille, geistige Entschließungen, geistige Impulse mitspielen zu lassen in dem, was wir im Physischen tun, kann die Menschheit wiederum wahrhaftig gesund machen.

Das ist das, was heute der Mensch wirklich gründlich bedenken sollte. Denn anthroposophische Weltanschauung kann nicht darin bestehen, daß wir eine Summe von abstrakten Begriffen aufnehmen, diese als eine Art Katechismus betrachten ihren abstrakten Inhalten nach, und dann zufrieden sind, daß wir eine andere Weltanschauung haben als die anderen. Nein, anthroposophische Weltanschauung muß darin bestehen, daß unser ganzes Denken ein anderes wird, daß unser ganzes Fühlen ein anderes wird, daß innerlich jener große Moment des Erwachens im Geiste in uns eintritt, so daß wir wissen: Wir müssen unser Leben vom Geiste durchleuchten lassen. Und das Unglück der gegenwärtigen Menschheit ist dadurch gekommen, daß die Ablehnung des Willens, Geistiges aufzunehmen, aufs Höchste getrieben worden ist. (S. 97f).

Heute ist es das Wichtigste, daß man einsieht, wie des deutschen Volkstums tiefste Kräfte in den letzten dreißig Jahren wie mit Füßen getreten worden sind und wieder heraufgeholt werden müssen gerade durch eine geistige Vertiefung.

Wir blicken nach dem Westen und finden eine Kultur, welche sich vollständig vermaterialisieren will, eine Kultur, die allerdings eine gewisse innere Sicherheit des Instinktes hat und dadurch im Materialismus nicht ertrinken kann. Und wir blicken nach dem Osten und finden eine Kultur, die alles Westliche und auch uns verachtet, weil diese östliche Kultur bei einer alten Spiritualität, bei einer alten Geistigkeit noch steht und diese alte Geistigkeit in einer gewissen Weise erneuert. Und wir stehen mitten darinnen und sind berufen, zwischen westlichem Materialismus und östlichem, aber für uns nicht zuträglichem Spiritualismus den rechten Weg zu finden. Und wir sollten uns in der Mitte Europas des großen Verantwortlichkeitsgefühles bewußt werden – und auch bewußt werden, wie sehr uns dieses Verantwortlichkeitsgefühl in den letzten Jahrzehnten abhanden gekommen ist. Das geistige Leben, was ist es denn geworden? Ein Anhängsel des Staatslebens, ein Anhängsel des Wirtschaftslebens. Der Staat als Verwalter des Geisteslebens, insbesondere des Schulwesens, hat uns das geistige Leben ruiniert. Das Wirtschaftsleben als der Brotherr hat es uns weiter ruiniert. Wir brauchen ein freies geistiges Leben, denn nur dem freien geistigen Leben können wir wirklich dasjenige einimpfen, was die geistige Welt der Menschheit offenbaren will. Diese Welle des geistigen Lebens, die muß herunter! Dem Staatsdiener, dem Staatsprofessor und dem, der im geistigen Leben der Kuli des Wirtschaftslebens ist, wird sie sich nimmermehr offenbaren; allein dem, der mit dem geistigen Leben täglich zu ringen hat, der im freien Geistesleben drinnensteht. Die Zeitentwickelung selber fordert die Befreiung des Geisteslebens aus Staats- und Wirtschaftsbanden.

Diese Dinge, die heute auch in einer anderen Form durch das Programm der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ verkündet werden, die sind heute das Christentum, die sind heute in äußerliche Formen gekleidete geistige Offenbarungen. Die sind das, was die Menschen brauchen, was einzig und allein die reale Grundlage und reale Möglichkeit bietet zum Umdenken und Umlernen, was der Menschheit so notwendig ist. (S. 100f). [...]

Aber es kann auf gewissen Gebieten heute geredet und geredet werden, es nützt nichts und es ist ja bequemer, zu sagen, die, welche auf ihre Posten gestellt sind, werden es schon machen. Die mit den alten Gedanken heute auf ihre Posten gestellt werden, ob sie alte Aristokraten, dekadente Aristokraten oder marxistische Sozialisten sind, die von aller Welt nichts wissen, höchstens von Marx' „Kapital“ etwas aufgenommen haben, ob sie das oder jenes sind: wenn sie nicht den Willen finden, jene große Umkehr der Seelen zu vollziehen zu neuen Gedanken, dann entsteht kein Heil. Die Revolution vom 9. November 1918 war keine Revolution. Denn das, was sich geändert hat, ist nur der äußere Stuck. Dasjenige, was sich geändert hat, tritt am stärksten hervor bei denjenigen, die den äußeren Stuck an der Stelle derjenigen, die ihn früher an sich getragen haben, nunmehr an sich tragen. Diese Dinge wollen in ihren Fundamenten gesehen werden. Aber dazu braucht man Gedanken. Zu diesen Gedanken muß man den guten Willen haben, und dieser gute Wille wird nur kommen, wenn man ihn trainiert an der Beschäftigung mit der geistigen Welt. (S. 101f). [...]

Sechster Vortrag, 12.9.1919 (Berlin)

[...] Wenn wir unsere heutige Zeit betrachten, dann dürfen wir, damit wir den Ernst des Lebens nicht verlieren, nicht vergessen, wie stark dasjenige, was der Mensch gewöhnlich in seinem Bewußtsein heute trägt – so trägt, daß er es in Worten ausspricht –, wie sehr entfernt dies zumeist steht von demjenigen, was innerlich wahr und wirklich ist. Sogar die Empfindung dafür, wie weit das Wort, das wir sprechen, sich heute oftmals entfernt von der Wahrheit, sogar die Empfindung dafür ist großen Kreisen unserer Zeitgenossen eigentlich verlorengegangen, und an die Stelle des elementaren Ausfließens der Wahrheit aus der Menschenseele ist getreten, wir dürfen sagen, die Weltenphrase. Denn worin charakterisiert sich am meisten die Phrase? Sie charakterisiert sich dadurch, daß die Menschen sprechen, ohne daß das Wort, welches aus ihrem Munde kommt, innerlich verbunden ist – nur innerlich kann es ja damit verbunden sein – mit dem Quell der Wahrheit. [...]

Überall wo man heute der Phrase begegnet, trifft man auch auf diejenigen Menschen, die nachsichtig sind gegenüber dem Geltendmachen der Phrase, dieser Unwahrhaftigkeit. Denn diese Nachsichtigen fragen überall: Wie hat das der Betreffende gemeint? Hat er nicht überall die besten Absichten gehabt? Glaubte er nicht überall mit den besten Absichten vorzugehen? – Und wie wenig herrscht demgegenüber das gewissenhafte Wahrheitsgefühl, daß der, welcher den Mund aufmacht, dazu verpflichtet ist, die Gründe einer Behauptung ernst zu prüfen und zu unterlassen die Behauptung, ehe er geprüft hat. Die Zeit muß kommen, in der es nicht genügt, daß man von einem Menschen sagen kann: Er hat es gut gemeint –, wenn er eine Unwahrhaftigkeit gesagt hat. Die Zeit muß vielmehr kommen, in welcher die Menschen das intensivste Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Prüfung der Wahrheit empfinden, und daß sie selbst auch dann, wenn sie entdecken würden, daß sie etwas in gutem Glauben ausgesprochen haben, was nicht den Tatsachen entspricht, daß sie dies sich nicht würden verzeihen können, sondern eingedenk wären der Tatsache, daß es für die objektive Welterkenntnis gleichgültig ist, ob wir subjektiv glauben, wir hätten die Wahrheit gesagt oder nicht, daß es aber für die objektive Welterkenntnis durchaus nicht gleich ist, ob wir in einem einzelnen Falle etwas sagen, was im objektiven Sinne wahr ist, das heißt, den Tatsachen entspricht, oder etwas, das nicht den Tatsachen entspricht. Gerade dem Ernste der Zeit gegenüber wird man es lernen müssen, was wirklich Phrase ist. (S. 106f).

Wenn wir auf das zurückblicken, was sich in der Menschheitsentwickelung in den früheren Zeiträumen zugetragen hat, die gewissermaßen mit der Mitte des 15. Jahrhunderts ihren Abschluß finden, so müssen wir sagen, wenn wir von den höheren Hierarchien noch absehen: Die Wesen der Angeloi, der Archangeloi und der Archai haben sich immer mit dem Menschen beschäftigt, haben sich beschäftigt mit dem Menschen, insofern er sein Dasein durchmacht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, haben sich aber auch mit ihm beschäftigt, insofern er sein Dasein durchmacht hier auf dem irdischen Plan. Aber die Beschäftigung der Wesen dieser drei Hierarchien mit dem Menschen hat in gewisser Beziehung einen Abschluß gefunden in unserem Zeitalter. [...]

Dieses Menschheitsbild, insofern es der physischen Organisation des Menschen zugrunde liegt, ist eigentlich abgeschlossen. Fühlen Sie diese bedeutungsvolle Tatsache: Die Wesen der Hierarchien der Angeloi, der Archangeloi und der Archai haben durch Jahrtausende und aber Jahrtausende an der Ausarbeitung eines Bildes gewirkt, und dieses Bild ist dasjenige, nach welchem die physische Menschenorganisation sich vollzogen hat. Und wir leben in dem Zeitalter, in dem diese Wesenheiten der drei höheren Hierarchien sich sagen: Wir haben gearbeitet an dem Menschheitsbilde, aber wir sind fertiggeworden. Wir haben den Menschen hineingestellt in diese Erdenwelt als physischen Menschen, und wir sind nun fertig! (S. 110f). [...]

Das macht den Menschen der Gegenwart gerade in gewisser Beziehung so hochmütig, daß er eigentlich in bezug auf seine Leibesgestaltung fertig ist. Den Rest der Erdenentwickelung wird er nicht mehr in der Vervollkommnung seiner physischen Erdengestalt durchmachen können. Es wird sich aus dem Leibe selbst keine Vervollkommnung seiner Organisation mehr ergeben. Was früher instinktiv genial in der Menschenseele aufgestiegen ist, das war aus dem Leibe und das hatte zu gleicher Zeit, weil es Götterarbeit war, eine organisierende Kraft an dem Leibe. Wenn zum Beispiel Homer dichtete, so dichtete er mit einer Kraft, die im Griechen zugleich eine organisierende Kraft war, die den Griechenleib gestaltete. Was mit einer so konkreten Kraft auftritt, auftreten kann, das hat zu gleicher Zeit leibbildende Kräfte. Was dagegen heute bei uns auftritt als die von uns aufgestellten Naturgesetze, auf die wir so stolz sind, das sind im großen und ganzen Abstraktionen, das hat keine leibbildende Kraft. Wir bilden deshalb abstrakte Gedanken aus, die das soziale Leben nicht zu beherrschen vermögen, und abstrakte Naturgesetze, weil nicht mehr die Wesen der drei höheren Hierarchien an uns arbeiten, weil wir keine Gedanken mehr in uns aufsteigend haben, die organisierend sind. Unser Seelenwesen ist abstrakt geworden. Unsere Seele ist in der Tat so in uns, daß sie verlassen ist durch den Leib selber von der Tätigkeit der Wesen der drei höheren Hierarchien.

Und das ist nun das Wichtige, daß wir jetzt wieder suchen müssen, von uns aus, die Anknüpfung an die Tätigkeit der Wesen der drei höheren Hierarchien. Bis jetzt sind uns als Menschen diese Wesenheiten entgegengekommen, sie haben an uns gearbeitet. Jetzt müssen wir an unserem Seelisch-Geistigen selber arbeiten. Und was wir seelisch-geistig arbeiten, was wir durch geisteswissenschaftliche Forschung aus der geistigen Welt heraus offenbaren, das wird in unserer Menschenseele etwas werden, was die Wesenheiten der drei höheren Hierarchien wieder interessieren wird. Sie werden in den Gedanken und Empfindungen sein, die wir aus der geistigen Welt herausholen. Dadurch werden wir wieder die Beziehungen zu den Wesen dieser Hierarchien anknüpfen. (S. 112f). [...]

Heute beginnt die Zeit, wo man nicht mehr in derselben Weise von Mensch zu Mensch leben kann wie früher. Wir haben gesehen, wie man nicht mehr in derselben Weise zu den Wesen der drei höheren Hierarchien lebt. Aber auch zu den Menschen selbst kann man nicht mehr in derselben Weise leben wie früher. [...] Es wird eine Zeit kommen, und sie ist schon im Anbrechen, wo es ein Mangel der Seelenverfassung wäre, wenn wir bei einem anderen Menschen nicht wüßten, in seiner Seele lebt etwas, was sich herüberlebt aus einem früheren Erdenleben. Bisher hat es nichts gemacht, wenn man dies nicht wußte. Jetzt beginnt die Zeit, wo man das nicht außer acht lassen darf. (S. 114f). [...]

Wir sind eben dabei, daß die Menschheit ein bedeutungsvolles Tor unbewußt durchschreitet, was die Seherkraft sehr gut wahrnehmen kann. Die Menschheit macht dieses Überschreiten der Schwelle so durch, daß die Gebiete des Denkens, Fühlens und Wollens auseinandergehen. Das aber legt uns Verpflichtungen auf, die Verpflichtung, das äußere Leben so zu gestalten, daß der Mensch diesen Umschwung seines Inneren auch im äußeren Leben durchmachen kann. Indem das Denken im Leben der Menschheit selbständiger wird, müssen wir einen Boden begründen, auf dem das Denken zu gesunderer Auswirkung kommen kann, müssen weiter einen Boden schaffen, auf dem das Fühlen selbständig zur Ausbildung kommen kann, und auch einen Boden, auf dem das Wollen zur besonderen Ausbildung kommen kann. Was bisher chaotisch im öffentlichen Leben durcheinanderwirkte, müssen wir jetzt in drei Gebiete gliedern. Diese drei Gebiete im öffentlichen Leben sind: das Wirtschaftsleben, das staatliche oder Rechtsleben und das Kulturleben oder geistige Leben. Diese Forderung der Dreigliederung hängt mit dem Geheimnis der Menschheitswerdung in diesem Zeitalter zusammen. (S. 118). [...]

Deshalb steckten wir in dieser furchtbaren Weltkriegskatastrophe der letzten Jahre darinnen, weil die Schwierigkeit bestand, ein Ziel zu erkennen, welches spiritueller Art ist und weil die Menschen sich so weit entfernten, Ziele dieser Art auch nur anzuerkennen. Aus diesem Chaos müssen wir uns herausarbeiten. [...] Aber man liebt es in der Gegenwart nicht, solche Dinge anzuerkennen. Die Gegenwart liebt es, sich Aufgaben von dem Allernächstliegenden zuzuwenden, nicht sich auf das einzulassen, was die tieferen Geheimnisse des Daseins sind. [...]Man kann sagen, jeder Pessimismus ist falsch. Richtig ist deshalb natürlich auch nicht jeder Optimismus. Aber richtig ist der Appell an das Wollen. Es kommt gar nicht in Frage, ob etwas so oder so geschieht, sondern daß wir wollen sollen, wie es in der Richtung der Menschheitsentwickelung liegt. Das müssen wir uns immer wieder und wieder klarmachen. Die alte Zeit ist vorüber, mit ihr müssen wir abrechnen. Wir können zu einem richtigen Verständnis in der Gegenwart nur kommen, wenn wir mit der alten Zeit richtig abrechnen. Aber die neue Zeit gestattet uns nicht, anders als spirituell mit ihr zu rechnen. (S. 118f). [...]

Siebenter Vortrag, 13.9.1919 (Berlin)

[...] Nun können Sie aber die Frage aufwerfen, und die muß im Anschluß an unsere gestrige Betrachtung aufgeworfen werden: Wie kommt der Mensch zunächst dazu, sich mit den geistigen Welten so zu befassen, daß er auch in der Zukunft der Erdenentwickelung seine Beziehungen zu den höheren Hierarchien aufrechterhalten kann? [...]

Das erste, auf das wir da unseren Blick lenken müssen, ist die Wirksamkeit der verschiedenen Konfessionen, der verschiedenen konfessionellen Bekenntnisse, die es in der zivilisierten Menschheit gibt. Bis jetzt lag eine gewisse Notwendigkeit vor, daß die Konfessionen Herz und Sinn der Menschenseele so zur geistigen Welt hinlenkten, wie sie das getan haben. In Zukunft werden die Konfessionen entweder dazu beitragen, den Menschen von der geistigen Welt abzuschnüren, oder sie werden in ihre Bestrebungen etwas ganz Neues eintreten lassen müssen. Die Konfessionen der Gegenwart sind im Grunde genommen auf dem Egoismus der Menschen aufgebaut, und wir brauchen nur eine der allerwichtigsten Fragen vor unsere Seele hinzustellen, die das Leitmotiv für die konfessionellen Betrachtungen bildet und bilden muß: die Frage nach der Unsterblichkeit der Menschenseele – und wir können an der Art, wie diese Frage zumeist von den Konfessionen behandelt wird, ersehen, daß in dieser Behandlung stark auf den egoistischen Trieb der Menschen gerechnet wird. Reden doch die Konfessionen zumeist – allerdings aus tieferen Untergründen heraus, die wir heute nicht besprechen wollen –, indem sie über die Unsterblichkeit reden, von dem Fortleben der Seele nach dem Tode, das heißt, sie reden von der Fortsetzung des menschlichen Seelenlebens nach dem Tode. (S. 122f). [...]

Aber das Wichtigste, das Wesentliche wird sein, daß wir in die Lage kommen, dieses physische Leben als Fortsetzung eines geistigen, vorgeburtlichen Lebens fühlend anzuschauen, daß wir nicht in jedem Augenblick vergessen, wie der Mensch in diesem physischen Leben eine Fortsetzung hat seines vorgeburtlichen geistig-seelischen Lebens.

Damit wird vieles andere verbunden sein. Damit wird verbunden sein, daß wir wieder erkennen, wie in den Tiefen unseres Wesens unsere eigentliche Menschlichkeit ruht und nach und nach herauskommt. (S. 124f). [...]

Worauf es ankommt, das ist, daß der Mensch in der Tat die Möglichkeit behält, das ganze Leben hindurch sich auf jedes neue Jahr zu freuen, weil jedes Jahr die göttlich-geistigen Inhalte seines Inneren in neuen Gestalten hervorzaubert. Das ist etwas, was ich damit bezeichnen möchte, daß wir in Wahrheit und Wirklichkeit lernen müssen, nicht bloß unsere Jugend als entwickelungsfähig zu erleben, sondern das ganze Dasein zwischen Geburt und Tod. (S. 126). [...]

Noch andere Dinge werden in der Gegenwart notwendig erkannt werden müssen. Die Menschen wissen heute noch nicht ein Geheimnis des Lebens, das mit dem gegenwärtigen Entwickelungszeitpunkt der Menschheit innig zusammenhängt. [...] Dieses Geheimnis des Lebens besteht darin, daß der Mensch, wie er jetzt konstituiert ist – leiblich, seelisch, geistig –, in der Nacht in einer gewissen Weise jedesmal auf die Ereignisse des kommenden Tages blickt, aber so, daß er diese Ereignisse des kommenden Tages nicht immer braucht im vollen Tagesbewußtsein zu haben. Der es hat, das ist sein Angelos. Also, was in einer Nacht erlebt wird in der Gemeinschaft mit dem Wesen, das wir als Engel bezeichnen, ist eine Vorschau auf den kommenden Tag. [...] Er braucht es nicht im Bewußtsein zu haben, es ist nicht auf seine Neugier abgesehen. Aber der Mensch sollte von dieser Gesinnung durchdrungen sein, daß er das, was er mit seinem Engelwesen in der vorhergehenden Nacht verhandelt hat, fruchtbar machen soll im Laufe des Tages. (S. 127). [...]

Es muß davon gesprochen werden, daß der Mensch wird lernen müssen, dieses Leben zwischen Geburt und Tod als eine Fortsetzung des geistig-seelischen Lebens anzusehen, das er vor der Geburt zugebracht hat. Davon muß gesprochen werden, daß der Mensch die Offenbarungen des Gottes in seinem Wesen durch sein ganzes Leben hindurch soll erfahren können. Und davon muß gesprochen werden, daß der Mensch ein starkes Bewußtsein durch das ganze Tagesleben tragen soll: Was du tust vom Morgen bis zum Abend, das hast du vorher in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit deinem Engelwesen verhandelt. (S. 128). [...]

Noch etwas muß durchschaut werden. Sie wissen, die gegenwärtigen Konfessionen reden viel von Gott und dem Göttlichen. Von was reden sie eigentlich? Sie reden natürlich nur von dem, wovon ein wenigstens ahnendes Bewußtsein in der Menschenseele vorhanden ist. Es kommt ja nicht darauf an, wie man eine Sache nennt, sondern was in der Menschenseele vorhanden ist. Die Menschen reden von Gott, sie reden von dem Christus, aber sie meinen immer nur den Engel. Denn das ist noch dasjenige, zu dem sich die Menschen wenden können, weil das noch einen verwandten Ton in ihren Seelen anschlägt. Gleichgültig, wovon heute die Konfessionen reden, ob von Gott oder Christus oder irgend etwas anderem, das Gedankenmaterial, aus dem heraus gesprochen wird, umfaßt nur die zu den Menschen gehörigen Engelwesen, die Angeloi. Höher kommt es heute nicht als bis in diese Hierarchie, weil die Menschen heute abgeneigt sind, in einer noch umfassenderen Weise als aus dem Egoismus heraus ihr Verhältnis zur geistigen Welt zu suchen. Das Verhältnis zu den Archangeloi, zu der Hierarchie der Erzengel, muß eben in anderer Weise gesucht werden. Die Interessen, welche die Menschen heute haben, müssen wesentlich erweitert werden. Ich will Ihnen eine Probe geben, wie die Interessen der Menschen erweitert werden müssen, so daß sie in ihren Empfindungen aufsteigen können von der Hinneigung zu den Angeloi bis hinauf zu den Archangeloi. (S. 128f). [...]

Der Orientale hat seit Jahrtausenden die Welt draußen, die auf unsere Sinne wirkt, auch die Wirtschaft, als Maja angesehen. Der Okzidentale dagegen sieht in dem, was äußerlich ist, was für den Orientalen Maja ist, die Wirklichkeit, und was in der Seele aufsteigt, das ist ihm Ideologie. Beide Weltanschauungen haben es bis zu einer gewissen Stufe gebracht. Fragen Sie heute noch die führenden Persönlichkeiten der sozialistischen Parteien, namentlich in denjenigen Gegenden, wo die erste Revolution noch nicht eingetreten ist [...]. Die Leute haben gesagt: Wir brauchen nur abzuwarten, bis sich die Produktionsmittel so entwickelt haben werden, daß das, was sich im Privatkapital konzentriert hat, von selbst in andere Formen übergehen wird. [...]

Fatalismus des Okzidents, Fatalismus des Orients, wir kennen ihn gut. Die Menschen verfielen im Osten – nicht gleich im Anfange –, als sich die Weltanschauung der Maja herausgestaltete, in einen vollständigen Fatalismus. Jede Weltanschauung hat aus ihrer inneren Gesetzmäßigkeit heraus den Trieb, einmal fatalistisch zu werden. Aber heute stehen wir an dem Punkt, wo wir uns sagen müssen: Aus dem Fatalismus muß herausgekommen werden. Von der bloßen Betrachtung, der Kontemplation, muß der Übergang gefunden werden zum Willen, zum Wollen. (S. 131f). [...]

Es kam ein merkwürdiges Echo einmal, als ich in einer süddeutschen Stadt in einem Vortrage etwas sagte, was die Leute recht ärgerte, aber es war eine der gegenwärtig notwendigen Wahrheiten. Man kann nicht die Dinge, die man ausspricht, so sagen, daß es die Leute erfreut, sondern man muß es so sagen, daß es Wahrheit ist. Ich mußte im Zusammenhange sagen: Gerade die führende Klasse der Gegenwart habe ein dekadentes physisches Gehirn. Es ist unangenehm, wenn man das aussprechen muß, es ist nicht bloß unangenehm, dies zu hören. Aber es ist notwendig, daß der Mensch es erfährt. Gerade die Menschen, welche die heutige Zeitkonfiguration herbeigeführt haben, sind dabei angekommen, ein dekadentes physisches Gehirn zu haben. Das ist so! Und wir sind in gewisser Beziehung heute in einem ähnlichen Falle, wie die Menschen Europas waren bei der Völkerwanderung und der Ausbreitung des Christentums. Vom Orient herüber kam der christliche Impuls, er ging zuerst durch Griechenland und Rom. Die griechische, die römische Welt war natürlich weit höher entwickelt als die germanische. Die Germanen waren Barbaren. Aber die Gehirne der Griechen und Römer waren dekadent. Daher wurde die christliche Welle in der griechischen und der römischen Welt nicht so aufgenommen, wie sie es wurde, als sie an die Germanen herankam. Das ist die Völkerwanderung, die horizontal gegangen ist. Heute ist sie vertikal. Heute kommt eine Welle geistigen Lebens aus der geistigen Welt. Wie das Christentum zuerst aufprallte auf die Griechen und Römer, so prallt die geistige Welt auf die gegenwärtige, auf die bürgerliche Welt auf, und die ist dekadent. Die Proletarier sind noch nicht dekadent; sie werden noch begreifen, was gemeint ist mit der spirituellen Welt. Aber die anderen werden die Vorbereitung durch Anthroposophie gebrauchen, das heißt, denjenigen Teil des Gehirns ausbilden müssen, der noch nicht physisch ist, das ätherische Gehirn. Wir stehen heute einmal vor der Notwendigkeit, daß die führenden Klassen nicht nur ein dekadentes Gehirn haben werden, sondern ganz in die Dekadenz kommen werden, wenn sie nicht begreifen, daß sie übersinnlich die spirituelle Weltanschauung erfassen müssen. (S. 133). [...]

Denn alles, was ich jetzt erzählt habe von dem Gegensatz von Ideologie und Maja und so weiter, das ist etwas, was sich in bezug auf seine Urkräfte abspielt in der Sphäre der Archangehoi, der Erzengel. Da kommen wir über die Sphäre der Angeloi hinaus. Sie sehen daraus, was dem Menschen der Gegenwart wirklich vonnöten ist. [...]

Nun habe ich Ihnen einen Begriff gegeben, wie man hinaufarbeiten kann in die Sphäre der Archangeloi. Man kann noch höher hinaufarbeiten. Auch das muß die Menschheit der Gegenwart lernen. Unsere gebildeten Klassen mußten ja zurückblicken auf die griechische Zeit. Sie mußten ja, namentlich insofern sie Männer waren – und in der neueren Zeit übt man ja diese Prozedur auch an der Frauenjugend aus –, das Gymnasium durchmachen, griechische Bildung in sich aufnehmen, und dadurch hatten sie genügenden Impuls bekommen, immer mehr und mehr sich zurückzufühlen in die griechische Welt. [...] Dort war alles Kulturleben so gestellt, daß nur eine kleine Schicht oben eigentlich teilnahm an der Kultur, die anderen waren Sklaven. Es war ja in Griechenland eines freien Mannes nur würdig, sich mit Wissenschaft, Politik und höchstens noch – aber nur mit der Aufsicht – in der Landwirtschaft zu beschäftigen. Alles andere war Sklavensache. Das liegt in der Sprache. Und indem wir die griechische Kultur mit der Sprache in uns vereinigen, vereinigen wir den Aristokratismus mit unserer Geistesbildung. [...]

Mehr als wir denken, sind wir von dem allem durchdrungen. Indem wir heute Weltanschauungsideen ausbilden, bilden wir im Grunde genommen solche Ideen aus, die noch dem angepaßt sind, was bei den Griechen aus dem Blute kam. Unser geistiges, unser kulturelles Leben ist durchdrungen von dem, was wir aus dem Griechentum aufnehmen. Das Griechentum ragt in unsere Zeit luziferisch herein. Das Griechentum metamorphosierte sich ins Römertum hinüber. Wir haben eine nächstfolgende Zeit im Römertum. Die Römer waren gegenüber den Griechen ein nüchternes, prosaisches Volk, und sie haben andere Seiten des Lebens ausgebildet. Was bei den Griechen aus dem Blute kam, haben sie abstrakt ausgelebt. Gegenüber den Griechen haben sie den Menschen selbst zu einem Abstraktum gemacht, zum Staatsbürger. [...]

Man ist also Bürger. Man ist das, was man ist, in einem abstrakten Zusammenhange. Diese Anschauung ist im wesentlichen römisch, und alles, was im gewöhnlichen Leben in dieser Art vorhanden ist, ist im wesentlichen römisch. Unsere Erziehung wird ja im wesentlichen in Anspruch genommen durch den Staat, der so abstrakt geworden ist und der unter der sozialistischen Einwirkung noch viel abstrakter werden wird. Die Menschen werden heute nicht erzogen, um als Menschen in die Welt hineingestellt zu werden, sondern um einen Staatsberuf zu haben und in diesen hineingestellt zu werden. Der Staat nimmt die jungen Menschen in die Hand – nicht gleich, denn da sind sie ihm noch zu unreinlich, da überläßt er sie einstweilen den Eltern. Dann aber breitet er seine Fangarme nach dem Menschen aus und dressiert ihn so, daß er für ihn geeignet ist. Und er weiß sehr gut, daß die Menschen dann für ihn geeignet sind. Denn, was gibt er ihnen alles? Er gibt ihnen ein wirtschaftliches Leben, gibt ihnen alles, was für sie vorgeschrieben ist, und dann pensioniert er sie. Und man soll nur einmal hören, was es für den Menschen bedeutet, wenn er sich sagen kann: er bekomme zu seiner Anstellung, für die er nicht nur bezahlt wird, nachher auch noch eine Pension! Das ist etwas ganz Großes und kettet die Menschen an den abstrakten Staat, und das ergreift dann auch die übrige Gesinnung. Auch da ist die romanische Gesinnung in den übrigen Menschen eingetreten. Sagt man heute dem Menschen: Du mußt, um an deiner Unsterblichkeit teilzunehmen, das, was in deiner Seele wirkt, aktiv machen, damit du selbst deine Seele aktiv durch die Todespforte trägst –, so versteht er das nicht. Man hat ihm gründlich abgewöhnt, auf so etwas sein Verständnis zu lenken. Man sagt ihm dafür, du brauchst nur an Christus zu glauben und an das, was der Staat tut. Und er weiß dann: erst wird er durch den Staat versorgt, und wenn er genug gearbeitet hat, wird er vom Staate pensioniert. Und die Kirche tut dann noch ein weiteres. Sie pensioniert nach dem Tode des Menschen seine Seele, so daß er im Leben nicht mitarbeiten muß an seiner Seele und selbst etwas tun, wenn er seine Seele durch die Todespforte trägt. Registriert ist der Mensch heute, und die Politik des römischen Wesens, sie haben wir als zweites in unsere Wesenheit aufgenommen und nehmen sie immer mehr und mehr auf.

Man kann auf diesem Gebiete furchtbare Erfahrungen machen. Ich habe jetzt in Stuttgart mitgewirkt bei der Einrichtung der Waldorfschule und mußte mir dabei auch die verschiedenen Lehrpläne vorlegen. Wenn ich an die siebziger, achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückdenke, so muß ich sagen, damals waren die Lehrpläne noch etwas klein; da enthielten sie das, was in jeder Klasse durchzunehmen war. Die Lehrziele und der Stoff waren angegeben; in bezug auf alles übrige war der Lehrer noch frei. Jetzt bekommt man Lehrpläne von großem Umfange vorgelegt, und auf der ersten Seite steht: Amtsblatt, Verordnung, und nun ist dann angegeben, so und so soll man beim Unterricht verfahren. Also, was aus der lebendigen Persönlichkeit allein auf die lebendige Persönlichkeit wirken soll, das steht in Gesetzen und Verordnungen, das ist amtlich geworden, das wird verfügt. Das ist der Tod des geistigen Lebens. Dieser Tod des geistigen Lebens führt direkt von Mitteleuropa nach Rom! Das ist das zweite, was wir in uns aufgenommen haben, das Politisch-Rechtliche mit dem Römertum.

Dazu kam das, was sich nicht von alten Zeiten in neue verpflanzen läßt, das Wirtschaftsleben. Das mußte modern sein. Denn man kann wiederkäuen, was die Griechen erkannt haben, man kann auf sich wirken lassen, was die Römer als Rechtsleben hatten, man kann aber nicht essen, was die Griechen und die Römer gegessen haben. Das Wirtschaftsleben muß modern sein. So haben wir es nach und nach dahin gebracht, daß wir unser Wirtschaftsleben durchkreuzt haben mit dem griechischen Geistesleben, mit dem römischen Rechtsleben, und wir haben jetzt die Aufgabe, diese Dinge wieder auseinanderzubringen, sich dafür Verständnis zu erwerben, daß diese drei Schichten, die wie aus verschiedenen Zeitaltern sich zusammenballen, auseinandergebracht werden müssen. Das heißt, sein Interesse ausdehnen – wie früher über Orient und Okzident im Raume – bis zur Gegenwart, das heißt, sich erheben, sich fähig machen zu Empfindungen, die uns erheben können zu den Archai. (S. 135ff). [...]

Achter Vortrag, 14.9.1919 (Berlin)

[...] Und wenn wir in ältere Zeiten der Menschheitsentwickelung zurückblicken, auf jenen wichtigen, einschneidenden Wendepunkt in der Entwickelung der Menschheit, der, wie ich Ihnen sagte, in der Mitte des 15. Jahrhunderts liegt, dann können wir uns sagen, für das ganze Menschenleben war es in alten Zeiten bis zu jenem Zeitpunkte so, daß ein vollständiges Untertauchen des Ich und des astralischen Leibes während des Wachens, während der bewußten Wachenszeit des Menschen, nicht stattgefunden hat. Das ist vielmehr das ungeheuer Bedeutungsvolle in der Entwickelung gerade in unserem nachatlantischen Zeitraume, daß unsere Seele und unser Geistiges, unser Ich und unser astralischer Leib, jetzt erst vollständig in den physischen Leib und Ätherleib untertauchen können, und zwar auch jetzt erst ungefähr für unsere Zeit – später werden sich die Verhältnisse wieder etwas ändern – nach dem siebenundzwanzigsten und achtundzwanzigsten Jahre. [...]

Und was bedeutet dieses vollständige Untertauchen in den physischen Leib? Es bedeutet, daß wir durch dieses Untertauchen in die Lage kommen, jene Gedanken zu entwickeln, jene Ideen zu entfalten, welche die materialistischen, die naturwissenschaftlichen Ideen sind seit der Galilei- und Kopernikus-Zeit. Für diese Ideen, für diese naturwissenschaftliche Anschauung ist unser physischer Leib das richtige Werkzeug. [...] Damit hängt dann alles andere zusammen, was ich in diesen Tagen Ihnen sagen mußte über jene Tätigkeit, welche der Mensch im Zusammenhange mit geisteswissenschaftlicher Einsicht in der Weise entfalten muß, daß er wiederum Interesse erregt bei den Wesenheiten der drei nächsthöheren Hierarchien, wie ich es Ihnen ausgeführt habe. Wir sind gewissermaßen durch die Wesenheiten dieser drei Hierarchien soweit gebracht, daß wir untertauchen können in unseren physischen Leib, und damit die tote, mineralische Außenwelt naturwissenschaftlich kennenlernen können. (S. 143f). [...]

Die Art, wie das Ereignis von Golgatha als ein weltgeschichtlicher Impuls in die Menschheitsentwickelung hereingetreten ist, war zunächst berechnet für das instinktive Verständnis des vierten nachatlantischen Zeitraumes. Da wurde es aufgenommen von den Menschen dieses Zeitraumes. Für dieses instinktive Verständnis war es selbstverständlich, daran zu denken, daß in der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth das Christus-Wesen lebte, das in jenem Zeitraume aus kosmischen Höhen heruntergestiegen ist, um sich für irdische Taten zu verbinden mit dem Leibe des Jesus von Nazareth. Eine große bedeutungsvolle übersinnliche Begebenheit konnte jeder erfühlend in dem Ereignis von Golgatha erkennen, so wie es dazumal in die Menschheit hereintrat. Mit dem Fortgange der Zeit wurde immer mehr und mehr abgelähmt, was in den Kräften der Verstandes- oder Gemütsseele war. [...] Das hatte zur Folge, daß mit dem Heraufkommen der Bewußtseinsseele das Ereignis von Golgatha selbst immer mehr materialisiert wurde [...], bis in unsere Zeiten herein, in denen es möglich geworden ist, sogar den Fortschritt auf diesem Gebiete darin zu erkennen, daß man nichts mehr wissen wollte von dem übersinnlichen, kosmischen Christus, und daß man anfing zu reden von dem Jesus von Nazareth bloß als von einem allerdings außerordentlichen Menschen, aber eben einem Menschen, der gleichgeartet ist mit den übrigen Menschen.

Wir stehen auch da an einem Wendepunkte. Ein neues Christus-Verständnis muß kommen. [...] Und es muß dieses neue Christus-Verständnis hervorgehen aus solchen Tiefen der Menschennatur, daß gegenüber diesen Tiefen der Menschennatur aufhören die konfessionellen Unterschiede, die über die zivilisierte Menschheit hin walten. Diese konfessionellen Unterschiede sitzen in ihren Gründen alle in einer Seelenverfassung, die mehr an der Oberfläche der Seele ist als alles das, was heute aus geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus führen muß zu einem neuen Verständnis des Christus im Jesus. Und dieses Verständnis wird nicht vollkommen sein, wird nicht ein solches sein, welches die Bedürfnisse der heutigen Menschenseele wirklich befriedigen kann, wenn es nicht zugleich so ist, daß es die Unterschiede in der Menschheit überbrückt, welche durch die Konfessionen in diese Menschheit heraufgetragen worden sind. Etwas haben wir zu hoffen von diesem neuen Christus-Impulse, das wir alle im Grunde genommen ersehnen müssen, wenn wir es mit der Menschheit ernst und würdig meinen, etwas haben wir zu erhoffen, das in sehr unverständiger Weise heute auf anderen Feldern gesucht wird. Heute reden die Menschen und erhoffen etwas von einem sogenannten internationalen Völkerbund. Es ist merkwürdig, wie sehr die Menschen heute sich nach Abstraktionen sehnen zum Verständnis der Wirklichkeit. [...]

Denn das, was in der Menschheit begründet werden soll, muß aus den Tiefen des Menschenwesens an die Oberfläche fließen. Was aus zeitgemäßen Menschheitsimpulsen über die ganze zivilisierte Welt hin heute begründet werden kann aus Gründen, die nicht in der Völkerdifferenzierung ruhen, das allein kann die Neuauffassung des Christus-Impulses entwickeln. Dieser Christus-Impuls in neuem, geisteswissenschaftlicher Erfassung allein kann das sein, was die in Haß und in Mißverständnis sich zersplitternden Völker über die zivilisierte Welt hin wieder verbindet. Das sollte sich tief, tief als eine Überzeugung in die Seelen senken. Denn alles übrige, was nicht in dieser Richtung geht, ist heute für die Entwickelung der Menschheit hemmend. Und im Grunde genommen ist es leichtfertig, in anderer Art über die Erfordernisse der Menschheitsentwickelung zu sprechen, als aus den tiefsten Gründen dieser Entwickelung heraus. Hat die Erde mit Bezug auf die Menschheitsentwickelung durch das Ereignis von Golgatha ihren eigentlichen Sinn bekommen, so ist heute die Zeit, wo dieser Sinn in einer neuen Art begriffen werden muß. Und ehe die Menschheit sich nicht die Verpflichtung zu diesem Verständnis auferlegt, eher gibt es für die Wunden dieser Zeit keine Heilung. Man kann heute nicht die Dinge, die zu geschehen haben, von diesem Gesichtspunkte aus nebeneinander treiben, man muß sie ineinander treiben. Man kann heute nicht äußerlich Politik treiben, kann nicht äußerlich einen Völkerbund aufrichten wollen. Diese Dinge verlangen, daß sie verinnerlicht werden durch den tiefsten, durch den Christus-Impuls der Menschheit.

Der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft Verpflichtung ist es, in einer Art hinzuweisen auf das, was jeder einzelne Mensch nur als persönlich-individuelle Wesenheit in sich rege machen kann, was aber rege gemacht werden muß. Denn sobald diese Dinge berührt werden, muß der ganze Ernst unserer Zeit gefühlt werden. Das schmerzt so tief, daß dieser ganze Ernst der Zeit im Grunde genommen noch so wenig gefühlt wird, daß man es meidet, an die großen Erkenntnisse heranzutreten, die unbedingt dem Menschenbewußtsein einverleibt werden müssen. (S. 145ff).

Fragen Sie einen heutigen Naturforscher oder einen Menschen, dem im Sinne der heutigen Naturforschung denkt: Was wäre es mit der Erdenentwickelung, wenn der Mensch nicht an ihr teilgenommen hätte? Wenn der Naturforscher heute überhaupt von seinen Hypothesen, von seinen Anschauungen aus vernünftig nachdenkt, so kann er ja keine andere Antwort geben als die: Dann wäre der Mensch nicht da, und die Erde würde sich ohne den Menschen entwickeln, würde ihr Mineralreich, ihm Pflanzenreich und ihr Tierreich auch entwickeln. Es würde ungefähr das vor sich gehen, was heute etwa vor sich geht, nur der Mensch wäre nicht dabei, höchstens daß keine Häuser gebaut wären, keine Städte vorhanden wären und dergleichen. [...]

Was der Mensch an sich trägt als seinen physischen Leib, ist während der Zeit seines Daseins zwischen Geburt und Tod durchwoben von dem Seelischen. Jetzt, da wir in diese Epoche eingetreten, ist es sogar in besonderer Art von dem Seelischen durchwoben: das Ich und der astralische Leib tauchen vollständig in den physischen Leib unter. [...] Und wir übergeben der Erde unseren Leichnam in einer Form, in einer Beschaffenheit, die er nur dadurch hat bekommen können, daß er durchlebt war von der Geburt bis zum Tode von jenem Wesen, das vor der Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis in der geistigen Welt als Seelengeist des Menschen gelebt hat. Und es wäre die Erde in ihrem heutigen Entwickelung so, daß sie längst dabei wäre zu zerfallen, zu veröden, wenn sie nicht als ein Ferment, gleichgültig ob durch Beerdigung oder durch Feuer, das aufnehmen würde, was die von den Seelen allerdings verlassenen, aber bis zum Tode durchlebten Menschenleiber sind. [...]

Und das andere, was mit dem Menschen in seiner Entwickelung, insbesondere von der jetzigen Epoche ab geschieht, ist das, daß er, indem er das reifere Alter erlebt, über das siebenundzwanzigste, achtundzwanzigste Jahr kommt, dann mit seinem physischen Leibe im wachenden Zustande in einer Verbindung ist, die in ganz besonderer Art auf die geistige Welt, auf die überirdische Welt wirkt. Das ist das merkwürdig Polarische in der Entwickelung des Menschen: Geht der Mensch durch die Pforte des Todes, läßt er seinen Leib zurück, dann spaltet er von diesem Leibe etwas ab, was der Erde als Ferment dem Entwickelung dient. Geht er durch das Zeitalter vom achtundzwanzigsten bis fünfunddreißigsten Jahre, dann gibt er der geistigen Welt etwas ab, was aber für diese geistige Welt notwendig ist. (S. 148ff). [...]

Und das gründliche Verständnis für das, was mit unserer Dreigliederung des sozialen Organismus gegeben werden soll – das äußere Verständnis kann ja der äußeren, ich möchte sagen exoterischen Welt, und muß ihr vermittelt werden –, aber das wirklich gründliche Verständnis, so daß bewußtestes Mitarbeiten in der heutigen sozialen Evolution möglich ist, muß ausgehen von solchem Lebensernst, der basiert ist auf der Lebensanschauung der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft. Sonst fassen wir die Dinge nicht tief genug auf. Draußen in der Welt müssen die Dinge verkündet werden, die mit der Dreigliederung zusammenhängen. Hier an diesem Orte möchte man, daß man in den Seelen das nötige Feuer, den nötigen Enthusiasmus erwecken kann, damit diejenigen, welche sich vom geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus ein solches Verständnis erwerben können, alles tun, um den anderen das nötige Verständnis beizubringen, beizubringen durch die Wärme der eigenen Überzeugung, durch den eigenen Enthusiasmus. Mit jener Oberflächenkenntnis, welche heute die Menschen draußen in der Welt haben und die eben zu solchen Dingen führt, daß man glaubt, die Erde könne sich auch entwickeln, wenn dem Mensch nicht dabei wäre, mit solcher Oberflächenerkenntnis ist dem nötige Ernst für unsere Zeit nicht zu erzielen. Daher gehen wir heute durch die großen Städte, und es blutet uns das Herz über den jeglichen Mangel an Zusammenhang mit dem, was eigentlich in der Menschheitsentwickelung geschieht. (S. 151). [...]

Und ehe man nicht fühlt, daß Ernst gemacht werden muß in diesen Dingen, daß ernstlich einmal diese Dinge in ihrer Wirklichkeit gesehen werden müssen, eher ist kein Heil. Ich bin nicht hierher gefahren, um diese Dinge aus irgendeiner subtilen Neigung heraus zu sagen. Ich fühle in Verbindung mit dem Ernst einer geisteswissenschaftlichen Bewegung die Notwendigkeit, die Verpflichtung, über diese Dinge zu reden. [...]

Ich weiß, wie viele Menschen heute noch immer sagen: sie fühlen sich verletzt, wenn man ihnen in diesen Dingen von der Wahrheit spricht. Allein es darf nicht fortbestehen das Augenverschließen vor der Welt in diesen Dingen. Allein aus dem ehrlichen Hinblicken auf diese Dinge wird diejenige Kraft ersprießen, welche die Menschheit vorwärtsbringen kann. Solche Kraft haben wir nötig. Nötig haben wir, dasjenige zu erfassen, was grundverschieden ist von dem, was die erfaßt haben, die die Menschheit in eine Lage wie die gegenwärtige hineingebracht haben. Den Mut müssen wir haben, Neues zu erfassen. [...] Und Anthroposoph im wirklichen Sinne des Wortes ist nur der, welcher von dem Nerv der Zeit ergriffen ist, der die Wahrheit will, nicht die Lüge, die uns so schlimm in die Dinge der Gegenwart verstrickt hat. Wäre es mir doch möglich gewesen mit den wenigen Worten, in denen ich den Schatten des Notwendigen gezeichnet habe, in Ihre Herzen zu dringen. Denn nicht zu dem Verstande bloß möchte ich gesprochen haben, sondern vor allem zu den Herzen, denn aus den Herzen muß das große Verständnis für die Zeit kommen, das notwendig ist. Wir müssen die Impulse finden, welche die Menschheit wieder aufrichten können. Dazu müssen wir aber erst kennenlernen, wie tief, wie gründlich tief wir uns in die Phrase, in das Unwahre auf allen Gebieten verstrickt haben. Aus dem Geiste wird die Wahrheit kommen. Weisheit, sie liegt einzig und allein in der Wahrheit. Das sollte man sich tief in die Seele schreiben. (S. 158f). [...]

Neunter Vortrag, 27.10.1919 (Zürich)

Worin liegt denn der Grund, warum die alte heidnische Urweisheit, die in manchem so bewunderungswürdig ist, gewissermaßen eine neue Gestalt, eine Umwandlung erfahren mußte durch Judentum und Christentum? – Diese Frage muß einem entstehen.

Diese Frage beantwortet sich aber für die Initiationsweisheit nur durch eine sehr, sehr gewichtige Tatsache, durch die Tatsache, die eben weit drüben in Asien sich vollzog im Beginn des 3. Jahrtausends der vorchristlichen Zeitrechnung. Da findet dem zurückschauende seherische Blick, wie auch eine Inkarnation einer übersinnlichen Wesenheit in einem Menschen stattfand, so wie durch das Ereignis von Golgatha eine Inkarnation einer übersinnlichen Wesenheit, des Christus, in dem Menschen Jesus von Nazareth stattgefunden hat. Diejenige Inkarnation, die am Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends stattgefunden hat, die außerordentlich schwierig zu verfolgen ist, auch mit der Wissenschaft des Schauens, der Initiationswissenschaft, gab der Menschheit außerordentlich Glanzvolles, außerordentlich Einschneidendes. Und was sie da der Menschheit gab, das ist im Grunde genommen wesentlich jene alte Urweisheit.

Zunächst, äußerlich genommen, ist die Sache so, daß man sagen kann, es war eine tief in die Realitäten eindringende Weisheit, kalt, bloß auf Ideen gehend, wenig von Gemütsinhalt durchzogen. [...] Da war, so zeigt es sich dem zurückschauenden seherischen Blick, tatsächlich eine wirkliche Menschheitsinkarnation der luziferischen Macht. Und diese Inkarnation Luzifers in der Menschheit, die in einer gewissen Weise sich vollzogen hat, war der Ursprung der weit ausgebreiteten, auf dem Grunde dem dritten nachatlantischen Menschenkultur liegenden Urweisheit. (S. 162f). [...]

Das ganze gnostische Denken, das vorhanden war, als das Mysterium von Golgatha Platz griff, das eine eindringliche, tief in die Weltendinge hineinleuchtende Weisheit war, das ganze gnostische Erkennen war impulsiert von luziferischen Kräften. Man darf deshalb nicht sagen, dieses gnostische Denken sei falsch. Es ist eben nur seine Charakteristik, wenn man sagt: es ist von luziferischen Kräften durchzogen. [...]

Die Menschen, unter denen sich der Impuls des Mysteriums von Golgatha ausbreitete, waren in ihrem Denken, in ihrem Empfinden doch noch ganz durchdrungen von dem, was der Luziferimpuls in ihm Denken, Fühlen und Empfinden hineingetragen hatte. Und es kam jetzt das ganz anders Geartete, eben der Christus-Impuls, in die Entwickelung der zivilisierten Menschheit hinein. [...] Man möchte sagen: In dasjenige, was von Luzifer als das Beste den Menschen gegeben war, leuchtete der Christus-Impuls hinein. – Und aufgenommen wurde der Christus-Impuls in den ersten christlichen Jahrhunderten so, daß man sagen könnte: Mit dem, was die Menschen von Luzifer aufgenommen hatten, verstanden sie den Christus. – Solchen Dingen muß man unbefangen gegenüberstehen, sonst wird man nie die besondere Artung der Aufnahme des Christus-Impulses in den ersten Jahrhunderten wirklich verstehen können.

Als dann der luziferische Impuls immer mehr und mehr aus den Gemütern dem Menschen verschwand, da waren die Menschen auch immer weniger und weniger imstande, den Christus-Impuls wirklich richtig in sich aufzunehmen. Bedenken Sie doch nur, vieles ist materialistisch geworden im Lauf der neueren Zeit. Aber wenn Sie sich fragen: Was ist denn am meisten materialistisch geworden? – da bekommen Sie die Antwort: Ein großer Teil der modernen christlichen Theologie. – Denn es ist einfach der stärkste Materialismus, dem sich ein großer Teil der modernen christlichen Theologie hingibt, indem diese moderne christliche Theologie nicht mehr den Christus in dem Menschen Jesus von Nazareth sieht, sondern nur noch den Menschen Jesus von Nazareth, den „schlichten Mann aus Nazareth“, den Mann, den man verstehen kann, wenn man wenig sich hinaufschwingen will zu irgendeinem höheren Verständnis. (S. 163f). [...]

Die luziferischen Einschläge im Menschheitsempfinden gingen nach und nach in der menschlichen Seele unter. Dafür aber wird in der neueren Zeit immer stärker und stärker – und es wird stärker und stärker werden gegen die nächste Zukunft und auch gegen die weitere Zukunft hin – dasjenige, was wir den ahrimanischen Impuls nennen. Der ahrimanische Impuls ist herrührend von anderen übersinnlichen Wesenheiten als es die Christus-Wesenheit ist, als es die luziferische Wesenheit ist. Aber sie ist eben auch eine übersinnliche, wir könnten auch sagen eine untersinnliche Wesenheit – darauf kommt es nicht an –, und ihr Einfluß wurde insbesondere in dem fünften nachatlantischen Zeitraum mächtig und immer mächtiger. [...]

Geradeso wie es eine Inkarnation Luzifers im Beginn des 3. vorchristlichen Jahrtausends gegeben hat, wie es die Christus-Inkarnation gegeben hat zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, so wird es einige Zeit nach unserem jetzigen Erdendasein, etwa auch im 3. nachchristlichen Jahrtausend, eine westliche Inkarnation des Wesens Ahriman geben. [...]

Luzifer ist diejenige Macht, die im Menschen alle schwärmerischen Kräfte, alle falsch-mystischen Kräfte aufregt, alles dasjenige, was den Menschen über sich selber hinaufheben will, was gewissermaßen physiologisch das menschliche Blut in Unordnung bringen will, um den Menschen außer sich zu bringen. Ahriman ist diejenige Macht, die den Menschen nüchtern, prosaisch, philiströs macht, die den Menschen verknöchert, die den Menschen zum Aberglauben des Materialismus bringt. Und das menschliche Wesen ist ja im wesentlichen die Bemühung, das Gleichgewicht zu halten zwischen der luziferischen und dem ahrimanischen Macht; und der gegenwärtigen Menschheit hilft der Christus-Impuls, um dieses Gleichgewicht herzustellen. Also im Menschen sind fortwährend diese zwei Pole vorhanden, der luziferische und dem ahrimanische. Aber geschichtlich finden wir, daß das Luziferische überwog in gewissen Strömungen der Kulturentwickelung dem vorchristlichen Zeit und bis in die ersten Jahrhunderte der nachchristlichen Zeit hinein, daß dagegen Ahriman seit der Mitte des 15. Jahrhunderts wirkt und immer stärker und stärker wird, bis eine wirkliche Inkarnation des Ahriman unter der westlichen Erdenmenschheit stattfinden wird. (S. 165f). [...]

Es hilft nichts, über diese Dinge sich Illusionen hinzugeben. Ahriman wird erscheinen in Menschengestalt. Es wird sich nur darum handeln, wie er die Menschen vorbereitet findet: ob seine Vorbereitungen dazu helfen, daß er die ganze Menschheit, die sich heute die zivilisierte nennt, zu seinen Anhängern hat, oder ob er die Menschheit so findet, daß sie ihm Widerstand leisten kann. Es hilft heute nichts, sich über diese Dinge Illusionen hinzugeben. Die Menschen fliehen heute gewissermaßen die Wahrheit, die man ihnen ja in ganz ungeschminkter Gestalt doch nicht geben kann, weil sie sie verlachen, verspotten, verhöhnen würden. Aber wenn man sie ihnen so gibt, wie es jetzt durch die Dreigliederung des sozialen Organismus versucht wird, dann wollen sie, in ihrer Masse wenigstens, sie auch noch nicht haben. Aber das, daß man die Dinge nicht haben will, das ist gerade eines der Mittel, deren sich die ahrimanischen Mächte bedienen können, damit Ahriman dann, wenn er in Menschengestalt erscheint, eine möglichst große Anhängerschaft auf der Erde haben werde. Gerade dieses Sich-Hinwegsetzen über die wichtigsten Wahrheiten, das wird Ahriman die beste Brücke bauen für das Gedeihliche seiner Inkarnation. (S. 166). [...]

Vergegenwärtigen Sie sich einen richtig unterrichteten alten ägyptischen Menschen. Er wußte, daß er nicht nur leiblich zusammengesetzt ist aus den Ingredienzien, die hier auf dieser Erde vorkommen und die verkörpert sind im Tierreich, Pflanzenreich und Mineralreich. Er wußte, daß in seine Wesenheit als Mensch hereinwirkten die Kräfte, die er oben in den Sternen sah. Er fühlte sich als ein Glied des ganzen Kosmos. Er fühlte den ganzen Kosmos nicht nur belebt, sondern beseelt und durchgeistigt, und in seinem Bewußtsein lebte etwas von den geistigen Wesenheiten des Kosmos, von der Seelenhaftigkeit des Kosmos, von dem Leben des Kosmos. Das alles ist im Laufe der neueren Menschheitsgeschichte verlorengegangen. Der Mensch blickt heute von seiner Erde auf zu der Sternenwelt, die ihm erfüllt ist von Fixsternen, Sonnen, Planeten, Kometen und so weiter. Aber womit verfolgt er all dasjenige, was da draußen im Weltenraum zu ihm herunterschaut? Er verfolgt es mit Mathematik, höchstens noch mit Mechanik. Dasjenige, was um die Erde herum liegt, ist entgeistigt, entseelt, sogar entlebendigt. (S. 167). [...]

Aber in jenen unterbewußten Tiefen, die der Mensch mit seinem Wachbewußtsein nicht erreicht, die aber doch zu seinem Dasein gehören, und in denen er zwischen dem Einschlafen und Aufwachen lebt, da fließt anderes in die Seele des Menschen ein über das Weltenall! Da lebt in der menschlichen Seele ein Wissen, das zwar dem wachen Bewußtsein nicht bewußt ist, das aber unten in den Tiefen dem Seele lebt und die Seele gestaltet, ein Wissen vom Geiste, vom Leben dem Seele, vom Leben des Kosmos. Und wenn der Mensch auch in seinem Wachbewußtsein nichts weiß von dem, was da in Gemeinschaft mit Geist, Seele und Leben des Weltalls vom Einschlafen bis zum Aufwachen vor sich geht – in der Seele sind die Dinge, sie leben darinnen. Und manches in den Zwiespalten des modernen Menschen, die so große sind, rührt von der Disharmonie her zwischen dem, was die Seele vom Einschlafen bis zum Aufwachen über das Weltenall erlebt, und dem, was das wache Bewußtsein heute anerkennen will als Weltanschauung über dieses Weltenall. (S. 168). [...]

Nun hat Ahriman, damit sich für ihn am fruchtbarsten seine Inkarnation gestalten werde, das größte Interesse daran, daß die Menschen sich in dieser Illusionswissenschaft, die ja im Grunde genommen unsere ganze heutige Wissenschaft ist, vervollkommnen, daß sie aber nicht darauf kommen, daß es eine Illusionswissenschaft ist. Ahriman hat das allergrößte Interesse, den Menschen Mathematik beizubringen, aber ihnen nicht beizubringen, daß die mathematisch-mechanischen Anschauungen nur Illusionen über das Weltenall sind. Ahriman hat das größte Interesse daran, Chemie, Physik, Biologie und so weiter, so wie sie heute unter den Menschen vertreten und zur bewunderten Anschauung gemacht werden, dem Menschen beizubringen, aber ihn glauben zu machen, daß das absolute Wahrheiten sind, daß das nicht gleichsam nur Gesichtspunkte sind, Photographien von einer Seite. [...] Er würde den größten Erfolg haben können, den stärksten Triumph erleben können, wenn es zuwege gebracht werden könnte, daß jenem wissenschaftliche Aberglaube, der heute alle Kreise ergreift, und nach dem die Menschen sogar ihre Sozialwissenschaft einrichten wollen, bis ins 3. Jahrtausend hinein herrschen würde, und wenn Ahriman dann als Mensch zur Welt kommen könnte innerhalb der westlichen Zivilisation und den wissenschaftlichen Aberglauben finden würde.

Aber ziehen Sie aus dem, was ich jetzt gesagt habe, nur ja keine falschen Schlüsse. [...] Nicht dadurch, daß wir etwa meiden die Wissenschaft der Gegenwart, bewahren wir uns vor Ahriman, sondern dadurch, daß wir sie in ihrer wahren Gestalt kennenlernen. Denn diese Wissenschaft muß uns eine äußere Illusion geben von dem Weltenall. Wir brauchen diese äußere Illusion. Glauben Sie nur nicht, daß wir diese äußere Illusion nicht brauchen. Wir müssen sie dann nur von ganz anderer Seite her durch die Geistesforschung mit wahrer Wirklichkeit erfüllen, müssen von dem illusionären Charakter zu der wahren Wirklichkeit aufsteigen. (S. 169f). [...]

Das andere Mittel, das zweite Mittel, das er hat, ist: alles das zu schüren, was die Menschen heute in Gruppen, in kleine Gruppen zerteilt, die sich gegenseitig befehden. Sie brauchen bloß in der Gegenwart auf das Parteiwesen, auf das sich befehdende Parteiwesen hinzusehen, und Sie werden finden – wenn Sie nur unbefangen sind, können Sie das anerkennen –, daß diese sich befehdenden Parteien eigentlich aus der bloßen Menschennatur heraus wahrhaftig nicht zu erklären sind. [...]

Aber diese ahrimanischen Mächte sind ja überall wirksam, wo sich Disharmonien zwischen Menschengruppen bilden. Worauf beruht denn das meiste, was hier in Betracht kommt? Gehen wir von einem ganz charakteristischen Beispiel aus. Das moderne Proletariat hat seinen Karl Marx gehabt. [...] Die heute sonst übliche Art von wissenschaftlicher Betrachtung finden Sie darin in ausgesprochenstem Maße angewendet, alles streng bewiesen, so streng bewiesen, daß auch schon manche Leute, von denen man es gar nicht angenommen hätte, auf den Marxismus hereingefallen sind. [...] weil es sich in der Literatur allmählich herausgestellt hat, daß die Schlußfolgerungen sehr fein stimmen, daß man mit der gegenwärtigen wissenschaftlichen Gesinnung und Vorstellungsart diesen Marxismus ganz fein säuberlich beweisen kann. Die bürgerlichen Kreise haben nur keinen Karl Marx gehabt, der ihnen das Gegenteil bewiesen hätte; denn genau ebenso wie man beweisen kann den ideologischen Charakter von Recht, Sitte und so weiter, die Theorie vom Mehrwert und die materialistische Geschichtsforschung vom marxistischen Standpunkt aus, so kann man von allen diesen Dingen ganz genau ebenso exakt das Gegenteil beweisen. Es wäre durchaus möglich, daß ein bürgerlicher, ein Bourgeois-Marx genau das Gegenteil in derselben strengen Weise bewiesen hätte. Und da ist nicht einmal irgendein Humbug oder Schwindel dabei. Die Beweise würden restlos klappen.

Woher kommt denn das? Das kommt davon her, daß das gegenwärtige menschliche Denken, der gegenwärtige Intellekt in einer solchen Schicht des Seins liegt, daß er bis zu den Realitäten nicht herunterreicht. Und daher kann man das eine beweisen und sein Gegenteil beweisen, ganz streng das eine und sein Gegenteil beweisen. Es ist heute möglich, auf der einen Seite streng den Spiritualismus zu beweisen und ebenso streng den Materialismus zu beweisen. Und man kann gegeneinander kämpfen mit denselben guten Standpunkten, weil der heutige Intellektualismus in einer oberen Schicht der Wirklichkeit ist und nicht in die Tiefen des Seins hinuntergeht. Und so ist es auch mit den Parteimeinungen. Wer das nicht durchschaut, sondern sich einfach aufnehmen läßt durch seine Erziehung, Vererbung, durch seine Staats- und anderen Lebensverhältnisse in einen gewissen Parteikreis, der glaubt, wie er meint, ehrlich an die Beweiskraft desjenigen, was in dieser Partei ist, in die er hineingerutscht ist, hineingeschlittert ist, wie man in der deutschen Sprache zuweilen auch sagt. Und dann, dann kämpft er gegen einen anderen, der in eine andere Partei hineingeschlittert ist. Und der eine hat ebensogut recht wie der andere. Das ruft über die Menschheit hin ein Chaos und eine Verwirrung hervor, die nach und nach immer größer und größer werden können, wenn die Menschheit das nicht durchschaut. [...]

Nur dann, wenn wir dahinterkommen, daß das menschliche Wissen, die menschliche Erkenntnis tiefer gesucht werden müssen – wie es durch anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft geschieht – als in jener Schicht, in welcher die Kraft unserer Beweise entspringt, entrinnt man der Gefahr, in die man hineinkommt, wenn man die ahrimanische Verführung gelten läßt, die nun den Menschen gerade immer tiefer und tiefer in diese Dinge hineintreiben will. Daher benützt Ahriman in unserer Zeit, um die Menschen durcheinanderzubringen, auch alles dasjenige, was aus den alten Vererbungsverhältnissen stammt, denen der Mensch im Grunde genommen schon entwachsen ist im fünften nachatlantischen Zeitraum. Alles, was von alten Vererbungsverhältnissen stammt, das benützt die ahrimanische Macht, um die Menschen in Gruppen disharmonisch einander gegenüberzustellen. [...] Freiheit jedem einzelnen Volksstamm, auch dem kleinsten – es war ein schönes Wort. Aber die Worte sind immer schön, welche die den Menschen gegnerischen Mächte gebrauchen, um unter den Menschen Verwirrung zu stiften, um solche Dinge zu erreichen, wie sie Ahriman für seine Inkarnation erreichen will. (S. 171ff). [...]

So wie es eine einseitige Art ist, die Welt kennenzulernen durch die galileisch-kopernikanische Wissenschaft, überhaupt durch die heutige Universitätswissenschaft materialistischer Art, so ist es auf der anderen Seite eine Einseitigkeit, die Welt kennenzulernen bloß durch das Evangelium und abzulehnen jedes andere Eindringen in die wahre Wirklichkeit als durch das Evangelium. Das Evangelium war jenen Menschen gegeben, die in den ersten Jahrhunderten des Christentums lebten. [...]

Heute zu glauben, daß das Evangelium das ganze Christentum geben könne, das ist eben eine halbe Wahrheit, daher auch ein halber Irrtum, der die Menschen wiederum benebelt und der daher Ahriman die besten Mittel in die Hand liefert, um sein Ziel, den Triumph seiner Inkarnation, zu erreichen.

Wie zahlreich sind heute die Menschen, die glauben, aus christlicher Bescheidenheit heraus zu sprechen, aber in Wahrheit aus einem furchtbaren Hochmut heraus sagen: Oh, wir brauchen keine geistige Wissenschaft. Die Einfachheit, die Schlichtheit des Evangeliums, die führt uns zu dem, was der Mensch von der Ewigkeit braucht. – Es ist zumeist ein furchtbarer Hochmut, der in dieser scheinbaren Bescheidenheit sich ausspricht. [...] Denn vergessen Sie nicht, was ich im Beginne dieser heutigen Betrachtungen auseinandergesetzt habe, daß in der Zeit, in die das Evangelium hineingefallen ist, die Menschen in ihrem Denken, Empfinden und Anschauen, in ihrem ganzen Anschauen noch luziferisch durchdrungen waren und daß sie mit einer gewissen luziferischen Gnosis das Evangelium verstehen konnten. Aber die Evangeliumauffassung in diesem alten Sinne ist heute nicht möglich. Heute auf das bloße Evangelium zu pochen, namentlich so, wie es den Menschen überliefert ist, das gibt keine wirkliche Christus-Auffassung. Daher ist heute nirgends weniger eine wahre Christus-Auffassung verbreitet als in den Glaubensbekenntnissen, in den Konfessionen. Man muß heute schon das Evangelium geisteswissenschaftlich vertiefen, wenn man zu einer wirklichen Auffassung des Christus kommen will. [...] Das Evangelium so zu nehmen, wie es ist, wie es heute zahlreiche Menschen nehmen und wie es namentlich zahlreichen Menschen gelehrt wird, es zu nehmen, das ist nicht ein Weg zu Christus, das ist ein Weg von Christus weg. Daher kommen die Konfessionen immer mehr und mehr weg von Christus. [...]

Das, wozu das Evangelium führt, ist eine zwar richtige, aber doch nur eine Halluzination vom Christus, ein wirkliches inneres Bild – meinetwillen nennen Sie es auch Vision –, ein wirkliches, inneres Bild, aber nur ein Bild. Es gibt durch das Evangelium heute den Weg, zu einer wahren Halluzination, zu einer wahren Vision von dem Christus zu kommen, aber nicht zu der Realität des Christus. [...] Denn den wirklichen Christus muß man heute suchen durch alles das, was man aus der Geist-Erkenntnis der Welt gewinnen kann. (S. 175ff).

Mancherlei Menschen haben so etwas gefühlt. Aber der Mut ist noch nicht überall vorhanden, wirklich mit dem Christus-, dem Luzifer- und Ahrimanimpuls, die historische Impulse sind, in jener durchdringenden Weise sich auseinanderzusetzen, wie es notwendig ist und wie es von anthroposophisch orientiertem Geisteswissenschaft betont werden muß. Man möchte nicht weit genug gehen, auch wenn man ahnt, was notwendig ist. Sehen Sie sich einmal an Beispielen an, wo einmal auftaucht irgendeine Erkenntnis davon, wie es notwendig ist, die weltliche materialistische Wissenschaft mit ihrem ahrimanischen Charakter zu durchdringen mit dem Christus-Impuls, wie es notwendig ist auf der anderen Seite, das Evangelium aufzuhellen dadurch, daß man es geisteswissenschaftlich erklärt. Sehen Sie sich an, wie viele Menschen sich durchringen dazu, wirklich mit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis nach dem einen und nach der anderen Seite hinzuleuchten. Allein dadurch wird die Menschheit die richtige Stellung zu der irdischen Inkarnation Ahrimans gewinnen, daß sie diese Dinge durchschaut und daß sie auch den Mut und den Willen und die Energie hat, um auf der einen Seite in die weltliche Wissenschaft mit dem Geiste hineinzuleuchten und auf der anderen Seite das Evangelium aufzuhellen ebenfalls mit diesem Geiste. Sonst kommen immer die Halbheiten heraus. (S. 178). [...]

Zehnter Vortrag, 4.11.1919 (Bern).

[...] Dasjenige, was ja innerhalb unserer Geisteswissenschaft längst angedeutet worden ist, was wir charakterisiert finden können in dem Vortragszyklus über die Apokalypse: daß zugesteuert wird dem „Krieg aller gegen alle“, das sollte vom gegenwärtigen Zeitpunkt an durchaus als etwas sehr, sehr Ernstes und Bedeutsames aufgefaßt werden. [...]

Man wird einsehen, zu welchem Ziele diejenigen Kräfte der Menschheit hinsteuern, die sich da äußern werden in den, ich möchte sagen, wie rhythmisch auftretenden kriegerischen Verheerungsprozessen, von denen die gegenwärtige Kriegskatastrophe nur der Anfang ist. Es ist ja eine kindliche Vorstellung, wenn man glauben würde, daß durch irgend etwas, was sich anschließt an diese kriegerische Katastrophe, irgendwelche dauernden Friedenszeiten über die Menschheit auf dem physischen Plan kommen werden. Das wird nicht der Fall sein. Dasjenige aber, was kommen muß über die Erde, das muß eine spirituelle Entwickelung sein. (S. 181f). [...]

Aber auch direkt kann Ahriman seiner Inkarnation vorarbeiten und tut es. Die heutigen Menschen führen auch gewiß ein Geistesleben, aber ein rein intellektuelles, das nicht auf die geistige Welt sich bezieht. Immer mehr und mehr verbreitet sich unter den Menschen dieses bloß intellektuelle Leben, welches zuerst namentlich in den Wissenschaften Platz ergriffen hat, jetzt aber auch im sozialen Leben zu allen möglichen sozialen Exzessen führt. Welcher Art ist denn dieses intellektuelle Leben? Dieses intellektuelle Leben ist so wenig mit den wirklichen Interessen der Menschen verknüpft. Ich frage Sie: Wie viele lehrende Menschen sehen Sie heute in hohe und niedrige Lehranstalten hinein- und herausgehen, die eigentlich nicht aus innerem Enthusiasmus ihrer Wissenschaft dienen, sondern aus einem äußeren Berufe? Da ist nicht das unmittelbare Interesse der Seele verbunden mit dem, was getrieben wird. Es geht selbst bis in die Lernzeit herunter. Denken Sie, wieviel gelernt wird auf den verschiedensten Stufen des Lebens, ohne daß ein wirklicher Enthusiasmus, ein wirkliches Interesse bei diesem Lernen ist, wie äußerlich das intellektuelle Leben für viele Menschen wird, die sich ihm hingeben. Und wie viele Menschen müssen heute allerlei Geistiges produzieren, das dann in Bibliotheken konserviert wird, das nicht lebendig ist als geistiges Leben. All dies, was als intellektualistisches Geistesleben sich entwickelt, ohne daß menschliche Seelenwärme es durchglüht, ohne daß menschlicher Enthusiasmus dabei ist, fördert unmittelbar die Inkarnation Ahrimans in seinem eigenen Sinne. Das lullt die Menschen in der Weise ein, wie ich es charakterisiert habe, so daß es für Ahriman sehr günstig werden kann. (S. 189f). [...]

Irgend etwas ist nicht bloß im absoluten Sinne gut durch sich selbst, sondern immer ist es gut oder schlimm, je nachdem die Menschen es gebrauchen. Das Beste kann am schlimmsten sein, wenn die Menschen es nicht im richtigen Sinne gebrauchen. Wenn die Evangelien ein Höchstes sind, so können sie gerade am schlimmsten wirken, wenn die Menschen zu bequem sind, um zu einer wirklichen geisteswissenschaftlichen Interpretation dieser Evangelien vorzudringen. (S. 195). [...]

Mancherlei wird entdeckt werden aus den Kräften und Substanzen der Welt heraus, das für den Menschen Nahrung abgeben wird. Aber was da gefunden wird, wird so gefunden, daß man zugleich erkennen wird, wie das Materielle zusammenhängt mit den Organen des Verstandes, nicht des Geistes, aber des Verstandes. Man wird lernen, was man essen und trinken muß, um recht gescheit zu werden. Man kann nicht geistig werden durch Essen und Trinken, aber man kann sehr gescheit, raffiniert gescheit werden dadurch. [...]

Und, ich möchte sagen, durch gewisse Verwendung dieser Dinge werden gewisse Geheimgesellschaften, die heute schon ihre Vorbereitungen dazu machen, die da sind, vorbereiten dasjenige, wodurch dann die ahrimanische Inkarnation in der richtigen Weise auf der Erde wird da sein können. Und sie soll da sein; denn der Mensch soll während der Erdenzeit auch erkennen, wieviel aus rein materiellen Prozessen hervorgehen kann. Aber der Mensch soll zugleich einsehen. daß er solche geistige oder ungeistige Strömungen, die zum Ahrimanismus hinführen, beherrschen lernen soll.

Wenn wir einsehen, daß Parteiprogramme bewiesen werden können, aber auch die entgegengesetzten, dann werden wir uns sagen müssen: Also müssen wir aufsteigen zu einer solchen Seelenstimmung, in der wir nicht beweisen, sondern erleben. Denn, was erlebt wird, das ist etwas anderes, als was bloß verstandesmäßig bewiesen wird. (S. 196f). [...]

Dazu ist notwendig, vor allen Dingen einmal einzusehen, daß das Wühlen in Abstraktionen, wenn es noch so sehr nach Geist schreit, noch nicht etwas Spirituelles ist, noch nicht etwas, was Geist ist. Man sollte nicht verwechseln die dumpfe, abstrakte Rederei von Geist mit dem wirklichen positiven Suchen nach dem Inhalt der geistigen Welt, wie es gerade auch durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft geschehen soll. [...]

Denn das bloße intellektuelle Hinweisen auf den Geist, das führt nicht zum Geist. Was ist denn Intelligenz? Was ist der Inhalt unserer menschlichen Intelligenz? [...] Nehmen Sie dieses Bild, das Ihnen der Spiegel darbietet. Es ist ganz so, wie Sie selber sind, aber es ist doch gar nichts Wirkliches. Es entsteht durch das Spiegeln des Spiegels. Alles, was Sie als Intelligenz in Ihrer Seele haben, als Inhalt des Intellektuellen, ist nur ein Spiegelbild. Dadrinnen ist keine Wirklichkeit. Und so wie das Spiegelbild von Ihnen nur durch den Spiegel hervorgerufen wird, so wird das, was sich als Intelligenz spiegelt, nur durch den physischen Apparat Ihres Leibes, durch das Gehirn hervorgerufen. Intelligent ist der Mensch nur durch seinen Leib. Und so wenig Sie sich selbst streicheln können, wenn Sie nach Ihrem Spiegelbild greifen, so wenig können Sie den Geist erfassen, wenn Sie bloß an das Intellektualistische sich wenden, denn darin ist nicht der Geist. Das, was erfaßt wird, und sei es noch so scharfsinnig, durch die Intelligenz, enthält niemals den Geist, nur das Bild des Geistes. Sie können den Geist nicht erleben, wenn Sie bei der bloßen Intelligenz stehenbleiben. Daher ist die Intelligenz so verführerisch, weil sie ein Bild gibt, jedoch ein Spiegelbild des Geistes, aber nicht den Geist. Man braucht sich dann nicht die Unbequemlichkeit zu machen, in den Geist sich hineinzuleben, weil man ihn ja hat – man meint wenigstens, ihn zu haben – im Spiegelbild; aber man kann sehr gut reden von dem Geist. Dieses zu unterscheiden, das bloße Bild des Geistes vom wirklichen Geiste, das ist die Aufgabe für jene Gesinnung, die nicht bloß theoretisiert im Geisteswissenschaftlichen, sondern in einer positiven Geistesanschauung wirklich drinnensteht. (S. 198ff). [...]