Rudolf Steiner über...
Rudolf Steiner über Wahrhaftigkeit und Urteilsfähigkeit
Über Wahrhaftigkeit
Und wer sagt, wir polemisierten zuviel, wenn wir die Wahrheit richtig bezeichnen, der hat keinen Sinn für Wahrheit und liebt die Lüge. ... Gefühlt muss werden das ganze Gewicht dieser Worte: die Wahrheit lieben und nicht die Lüge lieben um der Konvention willen, um des angenehmen gesellschaftlichen Lebens willen. Denn nachsichtig sein mit der Lüge, ist gerade so viel schon, wie die Lüge lieben. ... Und weiterkommen wird die Welt nur durch diesen Enthusiasmus für die Wahrheit.
(22.11.1920, GA 197, S. 209).
Wenn dann eine anthroposophische Bewegung ehrlich ist ... was ist dazu vor allen Dingen nötig? Mut! Den lernt man sehr schnell oder gar nicht. Wirklich Mut! Mut, sich zu sagen: Das Leben der Welt muß in seinen Fundamenten neu gegründet werden. ... Allerdings es ist schwierig, daß die anthroposophische Bewegung die Schule des Mutes wird, weil sie von vielen heute nicht als das Erste ins Leben hineingestellt wird, sondern als das, was nebenherläuft. ... Es ist ein Symptom ... dafür, daß der durchgreifende Mut nicht da ist, sich ... mit dem Geistigen der Anthroposophie wirklich zu verbinden, nicht mit dem Schatten der Anthroposophie.
(20.7.1924, GA 217a, S. 183, "Das Leben der Welt muß in seinen Fundamenten neu gegründet werden").
Und der Geheimschüler muß wissen, daß es hierbei nicht allein auf die „gute Absicht“, sondern auf die wirkliche Tat ankommt. Denke und sage ich etwas, was mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt, so zerstöre ich etwas in meinem geistigen Sinnesorgan, auch wenn ich dabei eine noch so gute Absicht zu haben glaube.
(GA 10, S. 122, „Wie erlangt man...“).
Die Sinneswelt korrigiert sofort die Irrtümer, welche wir in bezug auf diese Sinneswelt machen, in der geistigen Welt aber müssen wir jene Richtschnur ... in uns selbst haben. Diese Kontrolle können wir uns nur erwerben, indem wir die strengste Wahrhaftigkeit schon hier in der Welt uns aneignen. ... Kein Gesetz über der Wahrheit. – Wenige verstehen diesen Grundsatz. Die meisten sind damit zufrieden, wenn sie sich sagen können, ich habe das Bewußtsein, daß es wahr ist, und wenn es falsch ist, so habe ich mich geirrt.
(7.12.1905, GA 54, S. 225, „Innere Entwicklung“).
Alle Schwärmerei, alle Ungenauigkeit, die so leicht über das hinweghuscht, was wirklich ist, ist beim Geistesforscher vom Übel. Sieht man es schon im gewöhnlichen Leben, so wird es auf dem Gebiet der Geistesforschung sofort klar, daß der, welcher sich nur ein wenig gehenläßt in bezug auf Ungenauigkeit, merken lassen wird, daß von der Ungenauigkeit bis zur Lüge, zur Unwahrhaftigkeit, nur ein ganz kleiner Schritt ist.
(6.3.1913, GA 62, S. 407, „Irrtümer der Geistesforschung“).
Und weil man in dem Augenblick, wo man von der Sinneswelt absieht, wo man auch von dem Verstande, der an das Gehirn gebunden ist, absieht, diese imaginative Welt als etwas Wirkliches vor sich hat, gleichgültig, ob sie etwas Reales ausdrückt oder ob sie nur das Spiegelbild des eigenen Wesens dessen ist, der sie hat, so wird, wer nicht richtig durch Wahrhaftigkeit vorbereitet ist, eben auch eine „imaginative Welt“ vor sich haben, weil sie ihm vorgaukelt, eine richtige zu sein und doch nur das Spiegelbild der eigenen Seele, seines eigenen Inneren ist.
(3.4.1913, GA 62, S. 429, „Die Moral im Lichte der Geistesforschung“).
Wer geisteswissenschaftliche Resultate ... gewinnen will, der muß vor allen Dingen mit einer heiligen Scheu, mit einer unbegrenzten Ehrfurcht dem gegenüber stehen, was Wahrheit, was Erkenntnis genannt werden kann. ... Als unwürdig fühlt man es, wenn man unter Zugrundelegung der alltäglichen Seelenverfassung sich ein Urteil über die Wahrheit erlauben will ... und man strebt dann darnach, zu warten, bis die Seele wieder in ihrer Vorbereitung ein Stückchen vorwärts gekommen ist, bis sie in sich jene Kraft und würdige Empfängnis vorbereitet, die der Wahrheit und Erkenntnis gegenüber berechtigt ist.
(19.3.1914, GA 63, S. 329f).
Auf Wahrhaftigkeit muß ja das ganze System der Anthroposophie aufgebaut werden. Denn wie sollte derjenige, der nicht versteht, im äußeren Leben für die Wahrhaftigkeit einzutreten, hinaufdringen in diejenigen Regionen, wo man nur durch die innere Richtung nach der Wahrhaftigkeit gelenkt werden muß ... Was könnte alles der Welt vorgemacht werden aus den Regionen übersinnlicher Welten, wenn nicht der Enthusiasmus für die Wahrhaftigkeit die Basis wäre.
(30.7.1921, GA 77a, S. 169f, GA „Die Aufgabe der Anthroposophie gegenüber Wissenschaft und Leben“).
Eine Eigenschaft braucht man nur, und diese eine Eigenschaft wird dem Menschen so schwer. Weil sie dem Menschen so schwer wird, deshalb kommen die Leute nicht leicht zur Geisteswissenschaft. ... Wahrhaftigkeit, im tiefsten Seelengrunde ehrliches Gestehen dessen, was wirklich ist. Scheinbar haben sie so viele Menschen – nach ihrer eigenen Meinung.
(23.1.1910, GA 125, S. 15).
Allerdings sollte es gehören zu der Selbstverpflichtung, die sich der Anthroposoph auferlegt, nicht etwa berechtigte Kritik sich zu verbieten. Wenn die Kritik eine sachliche ist, so wäre es natürlich eine Schwäche, das Schlechte für gut – sozusagen aus rein geisteswissenschaftlichen Gründen – auszugeben. Das braucht man aber auch gar nicht. Aber man muß unterscheiden lernen zwischen dem, was man um seiner selbst willen tadelt, und dem, was man wegen seines Einflusses auf die eigene Persönlichkeit unbequem, benörgelbar findet. Und je mehr man sich angewöhnen kann, unabhängig zu machen die Beurteilung namentlich unserer Mitmenschen von der Art und Weise, wie sie sich zu uns stellen, je mehr man das kann, desto besser ist es für die Stärkung unseres Ich in bezug auf seine Herrschaft über den astralischen Leib. Es ist sogar gut, sich sozusagen eine Entsagung aufzuerlegen. Nicht um sich die Finger abzulecken und zu sagen: Du bist ein guter Mensch, wenn du deinen Mitmenschen nicht kritisierst –, sondern um sich stark zu machen, soll man sich auferlegen, die Dinge, die man nur deshalb übel finden kann, weil sie einem selber unangenehm sind, nicht übel zu finden und gerade auf dem Gebiet, wo es sich um Menschenbeurteilung handelt, negative Urteile lieber da anzuwenden, wo man selber gar nicht in Frage kommt.
(11.1.1912, GA 143, S. 26).
Aber wenn es sich darum handelt, den lebendigen Impuls der Geisteswissenschaft zu ergreifen, so schreckt man davor zurück. Dasjenige, was vor allem geeignet ist, die Wirklichkeit zu erfassen, will man nicht an sich herankommen lassen. Das aber hängt im wesentlichen damit zusammen, daß ein gewisser Grundimpuls des Strebens fehlt, und das ist der Grundimpuls nach der Wahrheit. Es besteht der Trieb, die Wahrheit in Phrasen zu suchen. Mag man diese Phrasen aufnehmen und sich meinetwillen noch so enthusiasmiert mit ihnen durchdringen: mit diesem Triebe kann man niemals die Wahrheit finden, sondern dafür muß man den Sinn für die Tatsachen haben, gleichgültig ob diese Tatsachen auf dem physischen Plan oder in der geistigen Welt zu suchen sind.
(4.12.1916, GA 173, S. 21).
Die Welt ist ja heute voll von Unwahrhaftigkeiten, und der Sinn für Wahrhaftigkeit muß innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft gepflegt werden, wenn diese ... während ihres Bestandes einen Sinn, einen wirklichen Lebenssinn haben soll.
(13.1.1917, GA 174, S. 107).
Denn deshalb wollen gerade die Menschen der Gegenwart das Kopfwissen nicht in Herzenswissen überführen, weil das Herzenswissen nicht nur länger braucht, sondern weil es auch gegen das Kopfwissen reagiert, es zurückstößt, wenn es unwahr ist. ... Denn immer sagt das Herz zum Kopfe Nein, wenn nicht Geistiges gesucht wird, oder wenn Wissen nur angestrebt wird aus einem bloßen Egoismus, aus Begierde, Ehrgeiz und so weiter.
(29.1.1918, GA 181, S. 44f).
Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß eine jede Charakteristik einer Sache im höheren Sinne immer gewissermaßen eine Photographie von der einen Seite ist, daß es also Beleuchtungen von den verschiedensten Seiten gibt – immer vorausgesetzt, daß dies berücksichtigt wird –, haben alle Menschen über ein und dieselbe Sache die gleiche Meinung in ihrem tiefsten Inneren. [...] Warum reden denn die Menschen doch von verschiedenen Meinungen? Weil sich zwischen die Wahrheit und zwischen dasjenige, was der Mensch vernimmt in seinem Inneren, sein Emotionelles schiebt, sein egoistisches Vorurteil schiebt und ihm die Sache verzerrt, karikiert. Wahrhaftig verschieden sind die Menschen nur mit Bezug auf ihre Emotionen, nicht mit Bezug auf ihre Begriffe und Ideen. [...] Und es ist die größte Frivolität der Seele, zu glauben, daß man ein gewisses Recht auf subjektive Meinungen habe. Dieses Recht auf subjektive Meinungen hat man nicht, sondern man hat als Mensch die Verpflichtung, hinauszudringen über seine Subjektivität zu dem Objektiven. Und in diesem Punkte das Richtige zu sehen, ist allerdings sehr notwendig, daß man alle die Fehlerquellen berücksichtigt, die aus den menschlichen Emotionen folgen. Ein Mensch glaubt, er kann von irgendeiner Sache überzeugt sein. Oftmals ist der Grund, warum er glaubt, daß er von irgendeiner Sache überzeugt ist, kein anderer, als daß er zu faul ist, den Begriff wirklich ins Auge zu fassen. [...]
Diese heutige Zeit ist ja vor allen Dingen voller Hochmut, voller Emotionen selbst in dem, was man objektive Wissenschaft nennt, und gar nicht geneigt, den Zugang zu suchen zu dem Urteil, das in wirklichen Ideen und in wirklichen Begriffen liegt.
(1.2.1919, GA 188, S. 232f).
Und ich habe oftmals darauf aufmerksam gemacht, daß im Kleinsten es notwendig ist von denjenigen, die sich beteiligen wollen an solch einer geisteswissenschaftlichen Bewegung, zu sehen, wie selbst in den unbedeutendsten Worten und in der unbedeutendsten Mitteilung der alltäglichsten Tatsache absoluteste wortgetreue Wahrhaftigkeit herrschen müsse.
(7.12.1919, GA 194, S. 244).
Denn wenn man kein Gefühl davon hat, wie weit die Urteile, die heute herumschwirren und herumsausen, von Objektivität entfernt sind, dann wird man nicht einmal den Antrieb in sich erleben, zu einer Klarheit, zu einer innerlichen Wahrhaftigkeit des Denkens zu kommen.
(31.1.1920, GA 196, S. 123).
Aber nicht anders als indem man darauf aufmerksam wird, wie gerade diese Grundempfindung: Wahrheit anstelle der Unwahrhaftigkeit, unsere Seele durchziehen muß – nicht anders als durch diese Grundempfindung kann anthroposophische Geisteswissenschaft leben. Die moderne Zivilisation ist auferzogen in dem Geiste der Unwahrhaftigkeit, und mit dem Geist der Unwahrhaftigkeit – man kann dies schon sagen als ein Exempel – hat gerade anthroposophische Geisteswissenschaft am allermeisten zu kämpfen. Und jetzt ist es schon einmal so, wie ich auch am Schlusse meiner letzten Betrachtungen hier gesagt habe, daß wir in einer tiefen, in einer intensiven Krise auch in bezug auf anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft stehen, und wir hätten es gar sehr notwendig, daß aus einem Enthusiasmus der Wahrheit heraus gewirkt werde, intensiv gewirkt werde.
(22.4.1921, GA 204, S. 123).
In der Anthroposophischen Gesellschaft ist leider immer die Sehnsucht vorhanden, viel mehr dasjenige anzuklagen, was aus der Wahrheit heraus spricht, als solche Gegner anzuklagen, die aus ihren Seelenuntergründen heraus alle Wahrheit in den Kot treten möchten. Solange es noch in der Anthroposophischen Gesellschaft selber Usus ist, immer wieder Mitleid zu haben mit der Lüge, so lange kommen wir nicht vorwärts.
(17.7.1921, GA 205, S. 242).
... müssen wir als höchstes, heiligstes Gut, das wir haben, immer die Wahrhaftigkeit pflegen, niemals Konzessionen machen, die gegen die Wahrheit verstoßen, denn an der Wahrheit darf sich der Esoteriker nie versündigen. Es ist schrecklich und schwerwiegend, wenn ein Esoteriker die Wahrheit um der Brüderlichkeit willen verdreht, wenn er, um einen Menschen nicht zu kränken, die Wahrheit auch nur im Geringsten trübt, denn er schadet auch dem betreffenden Menschen damit. ... Wenn wir auch die Taten eines Menschen verurteilen müssen, den Menschen selber sollen wir nicht kritisieren, sondern ihn lieben.
(20.9.1912, GA 264, S. 336, Gedächtnisnotizen von Mathilde Scholl).
Die Grundbedingung des esoterischen Lebens ist Wahrhaftigkeit, Fleiß und Ausdauer. Deshalb müssen wir wahr sein in jedem Augenblick unseres Lebens. Und dazu gehört auch, daß wir nicht die Wahrheit unterdrücken, indem wir nichts dagegen sagen wollen, wenn eine Persönlichkeit einen Irrtum begeht, nur weil es gerade diese Persönlichkeit ist. Zu etwas, was wir als Irrtum erkennen können, erkennen müssen, dürfen wir nicht schweigen.
(20.9.1912, GA 266b, S. 427, Gedächtnisnotiz einer Esoterischen Stunde).
Viele Leute sagen: Ja, in bezug auf das Aussprechen von Meinungen muß im weitesten Sinne Freiheit herrschen. – Gewiß, jeder mag seine Meinung haben; niemand kann mehr auf diesem Standpunkte stehen als ich. Es ist einfach selbstverständlich, daß jeder seine Meinung haben soll und sie auch frei aussprechen soll. Aber niemand sollte, ohne daß er auch in maßgebender Weise das Echo davon hört, eine Unwahrheit sagen dürfen in der Welt. Die Welt wird schon durch Unwahrheiten am meisten gestört. Und das ist dasjenige, was uns hier am schwersten wird, zur Geltung zu bringen. Wir haben sehr viele gute Freunde, aber der Enthusiasmus, für die Wahrheit in der Weise einzutreten, daß man wirklich auch die Unwahrheit in der richtigen Weise behandelt, der ist eben für alles das, was von Dornach ausgeht, noch nicht sehr groß geworden. Und mehr als man meint, hängen doch die Schwierigkeiten alle mit diesen Dingen zusammen.
(22.4.1923, GA 306, S. 196).
Rudolf Steiner über Urteilsfähigkeit
Und auch das gehört zu der richtigen Abschätzung der Wege übersinnlicher Erkenntnis, daß sich der Mensch ein Urteil zu bilden vermag, was wirkliche Geisterkenntnis ist und was nur entweder Unfug, Scharlatanerie oder Selbsttäuschung ist.
(21.11.1912, GA 62, S. 138).
Und nur weil der Mensch gewohnt ist, mit seinen Begriffen nur an die gewöhnlichen Sinnesdinge heranzutreten, deshalb glaubt er, daß ihm die gewöhnliche Urteilsfähigkeit entschwindet, wenn ihm die übersinnlichen Tatsachen vorgehalten werden. Wer aber seine Denkmöglichkeiten entwickelt, der kann sie so ausbilden, daß sie erfassen können, was durch die Geistesforschung zutage gefördert wird.
(6.3.1913, GA 62, S. 409f, „Irrtümer der Geistesforschung“).
Ein Denken, welches die Kraft der Wahrheit in sich selber trägt, das der Mensch brauchen wird der komplizierter werdenden Zukunft gegenüber, das ist ein Lebensgut, das die Geisteswissenschaft der Menschheit geben kann.
(23.4.1914, GA 63, S. 416, „Geisteswissenschaft als Lebensgut“).
Mit großen Weisheitsgaben, welche in die menschliche Evolution einfließen sollen, ist notwendigerweise verbunden, daß das menschliche Herz in solchen Zeiten sehr leicht dem Irrtum ausgesetzt sein kann. [...] Wenn wir innerhalb unserer Bewegung Pfleger jenes Lichtes sein wollen, das in die Menschheitsevolution einströmen soll, so müssen wir Wächter werden gegenüber alledem, was an Irrtümern sich gleichzeitig mit diesem Licht einschleichen kann. [...] Wenn Sie auch zuweilen Zweifel überkommen könnte bei dem Gedanken: Wohl ist starkes Licht vorhanden, aber auch eine große Irrtumsmöglichkeit, wie sollst du schwacher Mensch dich darin zurechtfinden? Wie sollst du entscheiden können, was von der Wahrheit stammt und was Irrtum ist? – Wenn ein solcher Gedanke in der Brust aufsteigt, können Sie Stärkung und Kräftigung fühlen durch den Leitspruch: Die Wahrheit wird dasjenige sein, was die höchsten Impulse für die Menschheitsentwickelung abgeben wird, und näher soll mir die Wahrheit stehen als ich mir selber.
(5.6.1911, GA 127, S. 179ff).
Wir müssen in die Lage kommen, zwar die Autorität schaffen zu lassen, aber die Autorität beurteilen zu können. Das lernen wir ... dadurch, daß wir uns aus etwas, was umfassend unseren Verstand, unsere Urteilskraft bilden kann, heraus die Möglichkeit eines Urteils aneignen. ... Die von dem anderen Wissenschaftlichen verschiedene Art des Begriffebildens, des Vorstellungbildens, die notwendig ist für die Geisteswissenschaft, die befähigt uns nicht, eine Autorität auf diesem oder jenem Gebiete zu werden, aber urteilsfähig zu werden. ... Wir werden nicht dasjenige wissen, was die Autorität wissen kann; aber wenn die Autorität etwas weiß und im einzelnen Falle dies oder jenes tut, werden wir fähig sein, es zu beurteilen. Dies müssen wir besonders betonen als etwas, was durch die Geisteswissenschaft gebracht werden muß, daß sie nicht nur die Menschen belehrt, sondern die Menschen in dieser Beziehung urteilsfähig macht, das heißt, ihnen erst die Möglichkeit der Gedankenfreiheit gibt, die Gedankenunabhängigkeit erst in ihnen fördert.
(10.10.1916, GA 168, S. 109f).
Heute kann ja das so geschehen, daß der Mensch sich sagt: Ach was, gesunder Menschenverstand! – Den muß man aber mindestens anstrengen, wenn man die geistige Welt erfassen will! Diese Anstrengung lieben die Menschen nicht; sie lieben es mehr, auf Autoritätsglauben hin das oder jenes anzuerkennen. Gesunden Menschenverstand lieben heute die Menschen wirklich viel weniger, als sie glauben, und da möchten sie gewissermaßen diesen Gebrauch des gesunden Menschenverstandes umgehen und möchten, was ihnen leichter dünkt, wenn auch vielleicht das Urteil unbewußt gefällt wird, durch allerlei Brüten, das sie dann Meditation nennen und dergleichen, in die geistige Welt direkt eindringen.
(10.1.1919, GA 188, S. 83).
Man möchte, daß sich in die Herzen ein Strahl der Geisteskraft hineinsenkt, damit er die Menschen bereit mache zu unterscheiden zwischen gedankenloser Phrase und substantiellem Inhalt. Aber wenn substantieller Inhalt an die Leute kommt, dann sagen sie, das verstehen sie nicht, das ist ihnen nicht ganz deutlich. Und wenn in irgend etwas die Gesinnung lebt: du mußt deine Sätze so formen, wie es der Wahrheit angemessen ist – und es ist nicht immer bequem, daß sie sich fügt in jede billige Phrase –, dann sagen die Leute: man schreibt gewundene Sätze. Wie oft habe ich gesagt: Wer es mit der Wahrheit ernst nimmt, muß manche Sätze so hinschreiben, daß er sich bei der Fassung des einen mit dem nächsten Satz beschäftigt, und daß er das, was in dem einen Satz gesagt ist, mit dem nächsten in sein richtiges Licht stellt. Wenn man dies ernst nimmt, dann kommt man schon zu jener Gesinnung, welche die Anthroposophie in ihrem tiefsten Innern zu verstehen vermag, und man kommt vor allen Dingen zur Unterscheidung, zu wirklichen Unterscheidungen. Können denn die Menschen heute noch in der Wirklichkeit die Dinge, die zum Beispiel vom Aufgang und vom Untergang sind, unterscheiden? Sie können es nicht. Und da, an diesem Unterscheidungsvermögen, müssen die großen Fragen aufgehen, die wir zu stellen haben.
(22.6.1919, GA 192, S. 222).
Der gesunde Menschenverstand, der nicht irregeleitet ist durch irrtümliche natürliche oder soziale Ideen von heute, der kann von sich aus entscheiden, ob Wahrheitsduktus waltet in dem, was irgendjemand spricht. Irgendjemand spricht von geistigen Welten: man muss nur alles zusammen nehmen, die Art, wie gesprochen wird, der Ernst, in dem die Dinge aufgefasst werden, die Logik, die entfaltet wird und so weiter, dann wird man sich ein Urteil darüber aneignen können, ob dasjenige, was als Kunde von der geistigen Welt gebracht wird, Scharlatanismus ist, oder ob es einen Fond hat. Dieses kann jeder entscheiden.
(14.12.1919, GA 194, S. 198f).
Schult man den gesunden Menschenverstand, ohne daß man selber eine okkulte Entwickelung durchmacht, an inspirierten Wahrheiten, dann bekommt man ein feines Gefühl für die lebendige Wahrheit, für das Gesunde und Ungesunde im menschlichen Denken, im menschlichen Forschen. Und dann, verzeihen Sie den Ausdruck, dann beginnen solche Behauptungen wie die, welche ich Ihnen eben gesagt habe, zu „stinken“. Dann erwirbt man sich die Möglichkeit, den Verwesungsgeruch dieser Gedanken zu riechen. ... Die Gesundheit des Urteils, das Unmittelbare des Eindruckes, das sind Dinge, die den Menschen wirklich schon zum großen Teile verlorengegangen sind ...
(19.3.1922, GA 210, S. 214).
Der Geistesforscher ... kann so sprechen, daß der Mensch aus dem gesunden Menschenverstand heraus die Art und Weise verfolgen kann, wie er seine Gedankengänge aufbaut, die er allerdings aus der geistigen Anschauung heraus aufbaut, denen man es aber anmerken kann, daß sie dieselbe innere Logik haben, die wir an der äußeren sinnlichen Wirklichkeit erlernen. Daher kann der gesunde Menschenverstand ... darüber urteilen, ob der Geistesforscher Unsinn spricht oder ob der Geistesforscher durch die Art und Weise, wie er spricht, erkennen läßt, daß ihm die geistige Welt wirklich offen ist, daß er in sie hineinschaut.
(25.11.1919, GA 297, S. 142).