Die anthroposophische Forschungsmethode

Rudolf Steiner: Die anthroposophische Forschungsmethode. Vortrag vom 10.4.1922, GA 82, S. 112ff. | Hervorhebungen und Zwischenüberschriften H.N.


Was an der Anthroposophie für viele Menschen, die sie noch nicht genauer kennen, am meisten befremdend wirkt, das ist, daß diese Anthroposophie nicht nur zu reden hat über anderes, als man heute gewohnt ist, in der äußeren Wissenschaft und im Leben zu hören, sondern daß sie auch in anderer Weise, in anderer Form reden muß. Und in einem gewissen Sinne verzeiht man der Anthroposophie gerade diese andere Ausdrucksweise, diese andere Form am wenigsten. Man beginnt dann sogleich, dasjenige, was Anthroposophie zu sagen hat, zu messen, zu kritisieren durch dasjenige, was man gewöhnt ist, was man sonst in der heutigen Wissenschaft und im heutigen Leben hat.

Es wird das, was ich eben gesagt habe, wohl am meisten hervortreten müssen heute, wo ich vor Ihnen zu sprechen habe über die Art und Weise, über die Methoden, wie Anthroposophie zu ihren Forschungsergebnissen gelangt. [...]

Erringen höherer Seelenfähigkeiten

Aber heute soll es sich für uns zunächst um die Grundlegung handeln, um die Art gewissermaßen, wie man hineinkommt in diejenige Seelenverfassung, durch die man überhaupt anthroposophische Ergebnisse vor die Welt hinstellen kann. Da handelt es sich durchaus darum, daß auf dem Gebiete der Anthroposophie erst geforscht werden kann, wenn der Forscher seine Seelenkräfte, seine Erkenntniskräfte weiter ausbildet, als sie im gewöhnlichen Leben, in der gewöhnlichen Wissenschaft sind. Man muß dasjenige entwickeln, was ich nennen möchte intellektuelle Bescheidenheit. Diese intellektuelle Bescheidenheit kann man etwa in der folgenden Weise charakterisieren. Man denke zurück an die Zeit, als man ein Kind war, denke an die seelisch-dumpfen Erlebnisse der ersten Kindheit. Man wird sich sagen müssen, der klare Überblick über das Leben und über die Weltumgebung, den man im späteren Leben sich erworben hat, der fehlte da noch. Das Orientierungsvermögen der Welt gegenüber fehlte noch. Das alles hat man in sich entwickelt. Man ist gegenüber seiner Kindheit außer dem Körperlich-Leiblichen auch seelisch-geistig ein ganz anderer Mensch geworden. Fähigkeiten sind herausgesproßt aus dem Inneren, die einem nunmehr im Leben und in der Wissenschaft dienen. So, wie nun heute einmal die menschliche Seelenverfassung ist, so sagt sich eben der Mensch: Gewiß, Erziehung und Leben haben seit meiner Kindheit gewisse Fähigkeiten aus meinem Inneren hervorgezogen. Aber jetzt bin ich auch fertig. Jetzt habe ich gewisse Fähigkeiten; mit denen will ich die Welt erkennen, mit denen will ich mich als handelnder, als tätiger Mensch in die Welt hineinstellen; mit denen will ich auch beurteilen meine religiösen, meine sittlichen Impulse. Man sagt sich nicht: Dasjenige, was von der Kindheit bis jetzt mit der menschlichen Seele sich abgespielt hat, das könnte sich vielleicht auch weiter abspielen. Man könnte sich ja auch sagen: Ich könnte ja weitere Fähigkeiten aus meiner Seele herausholen. Dann würde ich mit voller Bewußtheit aus mir einen Menschen mit einem ganz anderen Seelenvermögen machen, einen Menschen, der sich vielleicht von dem heutigen normalen Menschen ebenso unterschiede, wie ich mich selber in meiner jetzigen Seelenverfassung von der kindlichen Seelenverfassung unterscheide.

Wie gesagt, es gehört intellektuelle Bescheidenheit dazu, um sich in einem gewissen Zeitpunkte seines Lebens das zu sagen, was ich eben charakterisiert habe, und es dann auch praktisch zu machen. Es praktisch zu machen in der Art, daß man wirklich versucht, nun weiterzukommen, in der Seele verborgene Fähigkeiten heraufzuholen zum Ziele weiteren Forschens. [...]

Und so ist es eben durchaus notwendig für anthroposophisch-geisteswissenschaftliche Forschung, einmal ganz ernsthaft sich auf den Standpunkt zu stellen: Ich will in meiner Seele schlummernde Fähigkeiten, die heute noch so schlummern, wie einstmals die heute offenbaren Fähigkeiten während der Kindheit in meiner Seele geschlummert haben, aus meiner Seele herausholen. [...]

Seelenverfassung des Mathematisierens...

Sie können im Grunde genommen schon alles, was erstes, sagen wir, Axiom, was erstes Elementarstes ist, um die anthroposophische Forschungsmethode zu durchschauen, in meiner „Philosophie der Freiheit“, ja, in noch älteren meiner Bücher finden. [...]

In dieser „Philosophie der Freiheit“ habe ich versucht festzustellen, woher die moralischen Impulse, die ethischen, die sittlichen Impulse des Menschen eigentlich kommen. [...]  

Wer diese „Philosophie der Freiheit“ liest, der wird, wie ich glaube, finden, daß darin etwas herrscht wie ein mathematisches Denken – sonderbar, aber es ist doch so –, ein mathematisches Denken, indem eigentlich diese „Philosophie der Freiheit“ darauf zielt, den menschlichen Freiheitsimpuls und die sittlichen Impulse zu finden. Aber die Art und Weise, wie in dieser „Philosophie der Freiheit“ versucht wird, über die moralische Welt zu reden, die unterscheidet sich qualitativ nicht von demjenigen, das in uns als Seelenverfassung vorhanden ist, wenn wir mathematisieren. Ich habe dieses Mathematisieren charakterisiert an den vorhergehenden Tagen. Ich habe gezeigt, wie es aus dem Inneren des Menschen heraus lebendig geschöpft wird, wie wir uns dann wie gewissermaßen vergessen, wie wir vergessen, daß wir den mathematischen Raum aus uns selber geschöpft haben, wie wir dann in diesem Raum mit unserer Raumesanschauung leben. Ich sagte auch: Es interessiert zunächst die Menschen, wenn es sich um ihre eigenen menschlichen Fähigkeiten handelt, nicht gar so sehr, welche Seelenverfassung man hat, wenn man mathematisiert. Man findet nur wenige Menschen in der Welt, möchte ich sagen, welche, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, den richtigen Respekt vor dem Mathematisieren haben. Diesen richtigen Respekt vor dem Mathematisieren hatte zum Beispiel ein tiefer, liebenswürdiger, außerordentlich sympathischer Dichter, nämlich Novalis. Wer Novalis' Dichtungen auf sich wirken läßt, der hat den Eindruck: Da ist ein wunderbarer lyrischer Schwung, da ist ein restloser Enthusiasmus, da ist alles Dichtung in der Seele. Und wenn Novalis, der wunderbare Lyriker, auf das Mathematisieren zu sprechen kommt, dann sagt er ungefähr: Im Mathematisieren haben wir im Grunde genommen die schönste, die großartigste, die gewaltigste menschliche Dichtung vor uns! Ich weiß, wie wenig Menschen das zunächst zugeben. Aber, wie gesagt, der liebenswürdige, tiefe Lyriker Novalis, er hat gewußt – denn er war Mathematiker –, [...]  wie die Seele sich fühlt, wenn sie so entrückt ist, daß sie sich selbst vergessend sich im Räume draußen weiß.

...und moralische Intuitionen

Nun ist aber eines möglich. Es ist nämlich möglich, daß, wenn man diese Seelenverfassung des Mathematisierens kennt, von der Novalis so wunderbar spricht, und sich dann in die Lage versetzen kann, aus derselben Seelenverfassung heraus nun etwas ganz anderes zu gewinnen, nämlich das Erleben moralischer Impulse, mit anderen Worten, wenn es einem gelingt, mit derselben inneren Klarheit, mit derselben inneren Sicherheit, wie man, sagen wir, den Pythagoräischen Lehrsatz löst, zu fassen und zu erleben moralische Probleme, dann weiß man: man ist mit diesem Erfassen der moralischen Probleme in der geistigen, in der übersinnlichen Welt darinnen, und man redet davon, daß in dieser übersinnlichen Welt mit den moralischen Impulsen moralische Intuitionen in die Seele einströmen. Man weiß, indem man sich mit dieser Seelenverfassung innerhalb der sittlichen Welt fühlt, daß man sich in einer übersinnlichen Welt fühlt, die nichts zu tun hat zunächst mit demjenigen, was äußerlich durch die Sinne wahrgenommen werden kann. Man weiß, daß man sich in einer Welt fühlt, wo man erstens die sittlichen Impulse unmittelbar mit seinem tiefsten Inneren erlebt; wo man eins mit ihnen ist; wo sie daher, weil man eins mit ihnen ist, intuitive Erkenntnisse sind. Und man weiß ein zweites. Man weiß, [...] dasjenige, was man als die moralischen Intuitionen, wenn ich so sagen darf, in der mathematischen Welt entdeckt, das kann einem von keiner sinnlichen Außenwelt kommen, es kommt einem aus der übersinnlichen Welt herein. Das heißt aber mit anderen Worten: es ist inspiriert. Die wirklichen, die tiefsten moralischen Impulse, die der Mensch erhalten kann aus der übersinnlichen Welt, sie sind Intuitionen, die zu gleicher Zeit für unsere Seele inspiriert sind. Und obzwar sie nicht anschaulich sind, nicht in Bildern auftreten, sind sie doch so da wie die Sinneswahrnehmungen selber. Wie die Sinneswahrnehmungen auf dem Gebiete des Sinnlichen, so sind die moralischen Impulse auf dem Gebiete des Übersinnlichen da. Das heißt: Sie sind Imaginationen. Und derjenige, der entdeckt hat in der Welt, in welcher das auch von Novalis gemeinte Mathematische erlebt wird, das Moralische, der weiß, daß dieses Moralische auf diesem Felde auftritt, daß es für den der Sinneswelt völlig entrückten Menschen als Intuitionen auftritt, die zu gleicher Zeit Inspirationen und Imaginationen sind. Kurz, indem man also versucht, aus der übersinnlichen Welt heraus eine moralische Grundlegung des menschlichen Lebens zu gewinnen, lernt man erkennen, wie die Seele erleben muß, wenn sie in der übersinnlichen Welt sein will. Und man muß sagen, es ist für den heutigen Menschen – [...] zunächst der beste Weg, kennenzulernen, wie der Mensch hinauskommen kann aus seinem sinnlichen Leibe und leben kann in einer rein geistigen Welt, wenn er auf die Weise, wie ich versuchte anzudeuten in meiner „Philosophie der Freiheit“, sich hineinlebt in eine rein übersinnliche Welt.

Ich weiß, daß sehr viele Menschen nicht zufrieden sind mit einem solchen Hineinleben in die geistige Welt, weil ja zunächst in dieser Welt auftreten nur die sittlichen Wahrheiten, die man lieber als Gebote, als konventionelle Tatsachen und so weiter hinnimmt. [...] Aber man hat, wenn man kennengelernt hat diese besondere Art des Darinnenstehens in der übersinnlichen Welt, den Ansporn, weiter zu gehen, zu versuchen, ob es nicht auch für andere Gebiete des Lebens möglich ist, gegenüber der sinnlichen Welt in eine übersinnliche Welt einzudringen. Und man kommt dann allmählich dazu, daß wirklich Methoden der inneren seelischen Entwickelung möglich sind, welche den Menschen hinaufführen den Pfad, auch den ganzen Kosmos und die menschliche Innenerkenntnis so zu schauen, wie man sonst im Sinn der „Philosophie der Freiheit“ nur im Moralischen schaut, wo man noch nicht gelten lassen will, daß es sich um das Übersinnliche handelt, wenn man nicht auf das eigentliche Fundament der Sache eingeht.

Erkraftung des Denkens...

Die Methoden nun, durch die man auf anderen Gebieten hinaufgelangt in die übersinnliche Welt, bestehen darin, daß man die gewöhnlichen Seelenkräfte, wie man sie hat im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft, weiterentwickelt. Und diese Seelenkräfte sind ja zunächst, wenn wir sie äußerlich abstrakt charakterisieren, Denken, Fühlen und Wollen. Wir unterscheiden zwar diese drei Seelenfähigkeiten, Denken, Fühlen und Wollen, aber in dem einheitlichen Leben der Seele sind sie durchaus nicht in strenger Weise von einander geschieden. [...]

Das wird nun insbesondere wichtig, wenn es sich um die weitere Ausbildung, um die Entwickelung zunächst der Denkfähigkeit, der Gedankenkraft handelt. Denn da muß man über folgendes sich klar sein. Man muß sich zuerst darüber klar sein, wie man im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft zu den Dingen der Umgebung und zu sich selbst steht. [...]

Man sollte sich klar, sehr klar darüber sein, daß so ziemlich alles gewöhnliche Leben, auch dasjenige, das in die Wissenschaft untertaucht, auf die Weise verläuft in bezug auf das Vorstellen, daß wir uns der Lebendigkeit der Sinneswahrnehmungen aussetzen, daß wir dann matte Vorstellungen bekommen, daß wir aber wieder heraufholen können aus unserem menschlichen Wesen in der Erinnerung dasjenige, was wir von außen als Eindrücke empfangen haben. Unser Innenleben ist meistens nichts als höchstens mehr oder weniger umgewandeltes, metamorphosiertes Vorstellen im Sinne der äußeren Wahrnehmung.

Ich werde heute nicht eingehen auf die tiefere Natur des Gedächtnisses, denn ich will ja schildern, wie nun das, was ich eben am Vorstellen charakterisiert habe, weiterentwickelt werden kann. Es kann weiterentwickelt werden dadurch, daß man nun nicht so denkt, daß man das Denken nur anknüpft an die äußeren Sinneswahrnehmungen, sondern daß man denkt durch diejenigen Methoden, die ich [...]genannt habe die Meditation, Konzentration und so weiter – auf die Namen kommt es nicht an. [...]

Während man also sonst Gedanken bekommt dadurch, daß man sich passiv den Wahrnehmungen hingibt oder aus den Erinnerungen heraus die Nachklänge der Erlebnisse wieder auftauchen läßt, versucht man, um anthroposophischer Geistesforscher zu werden, durch innere Willkür, wie man sie kennengelernt hat beim Mathematisieren, beim Lösen mathematischer Probleme, also [...] in voller Bewußtheit sich dem Denken und Vorstellen hinzugeben, so daß man lernt, zu ruhen auf Vorstellungen, die man willkürlich in sein Bewußtsein hereinversetzt hat. Es ist durchaus gut, wenn man möglichst überschaubare Vorstellungen, also nicht solche, m denen man allerlei nebuloses, mystisches Zeug erleben kann, sondern solche, die man leicht überschauen kann, in den Mittelpunkt seines Bewußtseins rückt. Es kommt dann nicht darauf an, was man da für eine Vorstellung hat, sondern es kommt auf die seelische Tätigkeit an, die man jetzt in diesem Meditieren entwickelt. Beachten Sie nur: wenn Sie einen Muskel fortwährend anspannen, wenn Sie ihn in der Arbeit brauchen, wird der Muskel stark. Dasselbe geht vor mit Ihrer seelischen Denkkraft, wenn Sie immer wieder und wiederum – die Übungen dauern manchmal jahrelang, es kann auch kürzere Zeit dauern, je nach der Veranlagung des Menschen – auf Vorstellungen sich konzentrieren, die Sie in den Mittelpunkt Ihres Bewußtseins rücken. Die Denkkraft wird immer stärker und stärker, und sie erreicht endlich einen Punkt, an dem Sie sagen können: Jetzt bin ich in der Lage, meine Vorstellungen so lebendig zu haben, wie ich sonst nur äußere Sinneseindrücke habe. [...]

Nichts mehr von blassen, schattenhaften Gedanken – innerlich lebendige Gedanken! Die seelische Denkkraft hat sich verstärkt. Man hat eine neue Kraft aus dem Inneren seiner Seele herausgerufen. Das Denken hat man erkraftet. Hat man das Denken erkraftet, dann hat man die erste Stufe übersinnlicher Erkenntnis erreicht. Ich habe sie in meinen Büchern genannt die imaginative Erkenntnisstufe. Man hat die Stufe der Imagination erreicht. [...]

Imagination und Erkenntnis des Ätherleibes

Jetzt, nach meinem Üben, bin ich in der Lage, in meinem Bewußtsein verstärkte Gedanken zu haben, die ich deshalb imaginative Gedanken nenne, weil sie mit der Lebendigkeit, mit der Intensität von Bildern auftreten, weil sie wirklich wie sinnliche Bilder sind, trotzdem sie zunächst nur Gedanken sind. Aber so, wie sonst dadurch, daß ich über ein äußeres Erlebnis gedacht habe – wenn ich es nur anglotze, kommt mir keine Erinnerung später, nur wenn ich darüber gedacht habe –, eine Erinnerung kommen kann aus meinem eigenen Wesen heraus, so kommt mir dadurch, daß ich jetzt einen Gedanken, und noch dazu in verstärktem Maße, in der Seele habe, aus meinem eigenen Wesen heraus etwas, was zunächst so aussieht wie eine Erinnerung, was aber eben keine Erinnerung ist. Es steigt jetzt etwas auf, was nicht eine Reminiszenz von einem äußeren Sinnlich-Erlebten ist, sondern etwas ist, was ich früher überhaupt niemals aus meinem Inneren heraus aufsteigend wahrgenommen habe. Wenn ich es so ausdrücken darf: So wie sonst Erinnerungen an gewöhnliche Erlebnisse aufsteigen, so steigt durch die Kraft des verstärkten Denkens jetzt dasjenige aus dem Inneren herauf, was ich noch niemals innerlich geschaut habe. Und ich werde sehr bald erkennen, was das ist, was da aufsteigt. Ich versuche, indem ich weiter und weiter schreite in diesem Meditieren, es zu immer größerer und größerer Deutlichkeit zu bringen in diesem innerlich Aufsteigenden, und ich komme zuletzt darauf, was dieses innerlich Aufsteigende eigentlich ist. Ich komme darauf: Dieses innerlich Aufsteigende, das bin ich selbst, wie ich in der Zeit seit meiner Geburt hier auf der Erde mich entwickelt habe. [...] Das ist etwas, was mich gewissermaßen in tiefere Schichten meines Innenwesens hinunterführt, als mich die Erinnerungsgedanken hinunterführen. Das ist etwas, was mir zeigt, wie ich als kleines Kind Fähigkeiten, die ich seelisch hatte, dazu verwendet habe, meinen Organismus plastisch auszugestalten vom Gehirne aus. Das ist dasjenige, was mir zeigt, wie ich als ein etwas größeres Kind in mir mit Hilfe der Sprachfähigkeit meinen inneren Menschen weiter plastisch ausgebildet habe. Kurz, mein innerstes Leben tritt vor meine Seele in einem großen, gewaltigen Tableau, wie ich es früher nicht gesehen habe. Und dasjenige, was da jetzt vor meine Seele tritt, ist eben nicht bloß Bild. Das bitte ich wohl zu beachten. Es ist nicht bloß Bild, sondern es ist etwas, von dem ich erkenne, indem ich es auffasse, daß es zusammenhängt mit meinen Wachstumskräften, mit demjenigen, was in mir wächst, was in mir auch lebt in den Ernährungskräften, in den Zirkulations-, in den Atmungskräften, was überhaupt ein innerer, übersinnlicher Leib ist gegenüber dem physischen Leibe. [...]

Ich trage diesen Zeitorganismus in mir. Ich habe ihn in meinen Büchern Ätherleib oder Bildekräfteleib genannt. Dieser Bildekräfteleib ist eben ein Zeitorganismus. Er ist das erste, was wir entdecken auf dem Wege der imaginativen Forschung. [...] Und in dem Augenblick, wo man gewahr wird, wie dieser Ätherleib in einem ein Kraftleib ist, ohne dessen inneres Gefüge zu kennen man den Menschen nicht verstehen kann, merkt man, daß dieselben Kräfte, die da in einem wirken als solcher Ätherleib, auch die Welt als ätherische Kräfte durchziehen; daß Subjektiv und Objektiv aufhören, eine Bedeutung zu haben; daß dieser Bildekräfteleib zusammenhängt mit dem großen Zeitverlauf des Universums; daß wir drinnenstehen als ein Glied in diesem großen Universum. [...]

Inspiration und Erkenntnis des Astralleibes

Wollen wir nun weiterkommen, dann müssen wir unsere Übungen auch fortsetzen. Diese Übungen bestehen aus vielen, vielen Einzelheiten. Ich habe es in den Büchern geschildert und will hier nur das Prinzipielle angeben. [...]

Mit derselben Willkür, mit der man in die Seele hereingerufen hat diese Bilder, diese Imaginationen, mit derselben Kraft und Willkür muß man sie auch wieder zu entfernen verstehen, sie aus der Seele fortschicken können, so daß man das in der Seele haben kann, was ich nun nennen möchte: Leerheit des Bewußtseins. [...]

Ich möchte sagen: ganz Erwartung. Man wacht, hat nichts im Bewußtsein, weil man mit der starken Kraft, die notwendig war, die Imaginationen getilgt hat. Man erwartet wachend, was sich nun ergibt. Und wenn man leeres Bewußtsein dadurch hergestellt hat, daß man erst verstärkte Denkkraft tilgen mußte, dann wartet dieses leere Bewußtsein nicht vergebens. Dann dringt in dieses leere Bewußtsein ein die übersinnliche Welt, dringt genau so ein, wie die sinnliche Welt durch unsere Augen und Ohren, durch unseren Wärmeorganismus und so weiter eindringt. Da machen wir die Entdeckung, daß uns eine übersinnliche Welt umgibt, die nun in das leere, aber wache Bewußtsein hereindringt als die geistige Welt, wie wir vorher die sinnliche Welt um uns hatten. Dabei bleibt immer, weil wir alles das vollziehen mit absolutem Willkür-Bewußtsein, neben diesem erhöhten Bewußtsein das ursprüngliche Bewußtsein des alltäglichen Lebens, das heißt der gesunde Menschenverstand, vorhanden, im Gegensatz zu dem Zustand, wenn jemand halluziniert und Visionen hat, denn dabei geht sein ganzes Bewußtsein in einzelne Visionen über. Das ist bei dem Bewußtsein, von dem ich spreche, nicht der Fall. Das Alltagsbewußtsein, durch das wir fest drinnenstehen im Leben, in der gewöhnlichen Wissenschaft, das bleibt bei jedem Schritt daneben, bleibt fortwährend als Kontrolleur vorhanden. [...]

Aber wenn jetzt durch das leere Bewußtsein aus unserer Umgebung eine übersinnliche Welt eindringt, dann sind wir auch in der Lage, noch weiteres an uns selber wahrzunehmen als bloß den vorher geschilderten tableauartigen Ätherleib. Jetzt kommen wir in die Lage, hinauszuschauen über Geburt und Konzeption. Indem wir austilgen können, was der ganze Bildekräfteleib ist, sehen wir durch das leere Bewußtsein nichts mehr von dem ganzen Menschen zwischen der Geburt und dem jetzigen Erlebnis-Zeitpunkte. [...] Jetzt lernen wir erkennen, wie wir waren, bevor wir heruntergestiegen sind in das physische Leben. Jetzt lernen wir ein Weiteres übersinnlich erkennen.

Wir haben zuerst, indem wir uns als physisches Erdenwesen betrachten, unseren Raumesleib, den physischen Leib; wir haben den zweiten Leib, den wir durch imaginative Erkenntnis erfassen, der ein übersinnlicher ist, aber nicht über das Erdenleben hinausführt; jetzt aber haben wir den dritten Leib. Weil er in die Sternenwelten führt, nennt man ihn – es ist nur eine Terminologie – den Astralleib. Das eigentliche Seelenwesen des Menschen lernt man kennen. [...]

Ich schilderte Ihnen ja, wie leeres Bewußtsein eintreten muß und wie aus der geistigen Welt hereinkommen muß in dieses leere Bewußtsein der Inhalt der übersinnlichen Welt so, wie sonst hereindringt in Augen und Ohren die sinnliche Welt. Diese zweite Stufe der übersinnlichen Erkenntnis nenne ich Inspiration: die inspirierte Erkenntnis. Durch die inspirierte Erkenntnis kommen wir nun unmittelbar hinein in die wirkliche übersinnliche Welt. Wir lernen vor allen Dingen uns selbst als übersinnliches Wesen erkennen in unserem vorgeburtlichen Dasein. Wir lernen auch die geistige Umwelt erkennen. Und jetzt tritt etwas sehr Bedeutsames ein. Ich möchte es Ihnen heute zunächst nur skizzenhaft andeuten, in den nächsten Tagen wird es noch genauer ausgeführt werden. [...]

Nehmen Sie an, ich sähe für das inspirierte Bewußtsein diese materielle Welt nunmehr durchdrungen von der geistigen Welt. Jetzt tritt im Inneren des Menschen nicht bildhaft auf dasjenige, was da draußen als geistig geschaut wird, sondern jetzt lernt man erkennen das Geistige draußen, wie es sich im Inneren des Menschen spiegelt, und da spiegelt es sich als seine physischen Organe, als Lunge, Leber, Herz, Nieren und so weiter, als alles dasjenige, was materiell zunächst im Inneren ist. Es ist ein vollständiges Umkehren, eine Reziprozität vorhanden. Während die materielle Welt sich in uns spiegelt auf geistig-seelische Weise für das gewöhnliche Bewußtsein, spiegelt sich die geistige Weit durch unsere Organe in uns. Wir lernen uns innerlich als physische Menschen kennen, indem wir die geistige Welt um uns herum gewahr werden. Vorher versteht man den physischen Menschen nicht. [...]

Intuition und Erkenntnis des Ich

Eine dritte Stufe wird dadurch erreicht, daß man sich an den Willen wendet. Man kann nun auch diesen Willen ausbilden insbesondere dadurch, daß man wiederum zunächst sich ganz klar wird, was es mit diesem Willen für eine Bewandtnis hat im gewöhnlichen Leben. [...] Wir sind eigentlich wach im gewöhnlichen Bewußtsein nur für unser Vorstellungsleben; wir schlafen im gewöhnlichen Bewußtsein für unser Willensleben. Aber wir können dieses Willensleben in den Wachzustand hinaufheben. [...] Da handelt es sich zum Beispiel um die Vorbereitung zu einer Eigenschaft, die ich nennen möchte die Geistesgegenwart. Geistesgegenwart im gewöhnlichen Leben besteht darin, daß man schnelle Entschlüsse fassen kann gegenüber einer Situation. Das muß aber eine habituelle Eigenschaft werden für den, der in die geistigen Welten hinaufsteigen will. Denn dasjenige, was da wahrzunehmen ist, es ist nicht so bequem wahrzunehmen, sondern es ist tatsächlich so, daß sehr fleißig übende Menschen, wenn ich sie so nennen darf, glauben: Ich kann nichts wahrnehmen. Sie können es nicht, weil sie nicht genügend vorbereitet sind für Geistesgegenwart, denn die Dinge huschen so schnell vorbei, daß man sie schnell ergreifen muß. [...]

Die Willensimpulse spielen sich ab, wir blicken in unser Inneres, wir sind uns seelisch undurchsichtig für diese Willensimpulse. Wir schauen in ein Finsteres hinein in bezug auf den Willen. Wir können aber dieses Finstere lichten. Wir können uns seelisch durchsichtig machen. Dazu gehört aber viel Geduld, denn jetzt müssen wir unsere Übungen über große Zeitspannen ausdehnen. [...]

Wenn man es aber dazu brächte, den Willen so anzustrengen, daß man etwas so in den Menschen Hineinverwobenes umändern könnte wie die Handschrift oder auch andere Gewohnheiten, kurz, wenn man sich zum völlig anderen Menschen macht durch innere Bewußtheit, durch Willenskultur, kann man den Willen durchsichtig machen. Man braucht dazu Jahre. Insbesondere ist es gut, wenn man sich herbeiläßt, gewisse Eigenschaften, die man zunächst nur als schön empfindet, aber nicht hat, sich einzuverleiben, indem man sich zum Beispiel vornimmt: Du wirst die nächsten acht Jahre dazu verwenden, um gewisse Eigenschaften, die du nicht hast, gewisse besondere Arten des Sich-Darlebens, dir mit aller Gewalt anzuerziehen. [...] Kurz, das, was sich sonst nur auslebt in Momenten, wo der Wille voll wird, indem er nach außen sein Dasein in der Handlung kundgibt, das auf die Willensentwickelung selber angewendet, das bringt uns dazu – das Genauere über diese Übungen finden Sie auch in den Büchern –, durch solche Übungen nun wirklich in sich hinunterzuschauen, sich in bezug auf den Willen ganz durchsichtig zu machen. [...]

Wie wir zuerst durch das verstärkte Denken frei werden und zuerst zum Bildekräfteleib, dann zum vorgeburtlichen Astralleib gelangen, so gelangen wir jetzt dazu, indem wir den Willen auf diese Weise ausgebildet haben, die andere Seite unseres ewigen Wesens kennenzulernen. Dadurch, daß wir unseren physischen Leib durchsichtig gemacht haben, sind wir im Stande, vor unsere Seele zu rufen das Bild – ich sage ausdrücklich: das Bild – dessen, was mit uns vorgeht im Momente des Todes. [...] Denn wir können jetzt von ihm absehen, indem wir in der dritten, in der intuitiven Stufe des Erkennens uns dazu aufgeschwungen haben, vom physischen Leibe abzusehen. Jetzt lernen wir die andere Seite der Ewigkeit der Seele kennen. Wir lernen die Unsterblichkeit durch unmittelbares Anschauen kennen. [...]

Man lernt geistig das Universum erkennen. Man lernt geistig sein eigenes, ewiges Wesen kennen. Und lernt man diese beiden Seiten kennen an sich selber, lernt man erkennen, wie auf der einen Seite der Mensch ist zwischen Geburt und Tod, wenn sein Seelisches verborgen ist unter den leiblichen Vorgängen, und lernt man auf der anderen Seite erkennen das geistig-seelische Leben, das wir entfalten, wenn wir außerhalb des Leibes sind vor der Geburt oder nach dem Tode, dann ergeben sich uns auch die Einblicke in unser wahres Ich. Und dann lernen wir erkennen dasjenige, was durch die wiederholten Erdenleben durchgeht. [...]

Zusammenfassung

Sie sehen, es handelt sich bei dem übersinnlichen Erkenntnispfade, bei dem anthroposophischen Forschungswege darum, daß man zuerst durch imaginative Erkenntnis hineingelangt in die Bildekräftewelt, daß man dasjenige Übersinnliche von uns erkennt, das schon im gewöhnlichen physischen Leben, aber auf übersinnliche Art, in uns ist, den Bildekräfteleib. Dann lernen wir durch das Aufsteigen zu inspirierter Erkenntnis den Astralleib, das heißt Seelenleib kennen, lernen kennen das In-den-Leib-Eintreten und das wiederum Durch-den-Tod-Heraustreten aus dem Leibe, lernen dann auch das menschliche Ich kennen. Man gelangt jetzt in eine konkrete geistige Welt hinein, in eine Welt geistiger Wesenheiten. Denn dasjenige, was man da als geistige Welt, wofür die Organe ausgebildet sind, erkennt mit dem leeren Bewußtsein, das aber doch wach ist, das ist eine Welt, in der geistige Wesenheiten sind neben unserer eigenen geistigen Wesenheit, neben unserem eigenen geistig-seelischen Wesen. Man schaut auf diese Art in eine geistige Welt hinein. Und jetzt wird man gewahr: Will man diese geistige Welt erforschen, so muß man diese drei Stufen übersinnlicher Erkenntnis entwickeln, muß herausholen aus der Seele die imaginative Erkenntnis, die inspirierte Erkenntnis, die intuitive Erkenntnis. Sie legen sich auseinander, sie gliedern sich in Stufen, wenn man den Kosmos in seinem geistigen Inhalt in sich selber als geistige Wesenheit kennenlernen will.

Eine Spur von einem Eindruck hat man schon erhalten, wenn man die sittliche Welt in ihrer eigentlichen Wesenheit durchforscht. Da kommt man im Grunde genommen dazu, wenn auch nur für die sittlichen Impulse, in derselben Welt zu sein, wo man sonst ist, wenn man die imaginative, die inspirierte, die intuitive Welt vor sich hat. Nur ist sie gewissermaßen so vorhanden für das Moralische, daß eben nur zunächst die moralischen Impulse darinnen sind. Die findet man aber, wenn man durchgegangen ist durch Imagination und Inspiration zur Intuition. [...] Und wer versteht das wirkliche Vorhandensein der übersinnlichen Natur des Moralischen, der kann, wenn er nur richtig ausbildet das, was er hier auf elementare Art kennenlernt als Kosmologie und Anthropologie, aufrücken zu einer wirklichen Geisteinsicht in die Welt, so daß ihm die geistigen Gestaltungen, dann das geistige Innenleben anderer Geistwesen und dann das Verwobensein mit der geistigen Welt, wie wir hier mit den anderen Reichen verwoben sind, entgegentreten, und daß ihm auch sein eigenes ewiges Seelenwesen wirklich vor das Seelenauge tritt. Das ist dasjenige, was man an der „Philosophie der Freiheit“, wenn man sie nicht bloß theoretisch studiert, sondern wirklich erlebt, kennenlernen kann. Das ist ebenso, wie wenn man die Axiome des Euklid liest auf der ersten Seite eines Geometriebuches und einen Begriff bekommt, was da kommen wird. Wie dann die ganze Geometrie folgt aus diesen Axiomen, so ist, wie axiomatisch, in der wirklichen Einsicht in die sittliche Welt vorhanden ihrer Wesenheit nach die ganze geistige Welt. Aber es darf deshalb niemand glauben, daß er die Natur der geistigen Welt kennt, wenn er nur die Natur der moralischen Impulse kennt. Er kennt nur das Axiomatische, das Elementare. [...]

Und darum handelt es sich, daß ebenso, wie ein vernünftiger Mensch, der die Seele des Menschen anerkennt, auch seinen Leib, seine äußere Gestaltung, seine Physiognomie nicht negiert, der vernünftige Anthroposoph die äußere Wissenschaft nicht negiert. Im Gegenteil. Er will voll darinnenstehen. Er möchte nur, daß ebenso, wie der totale Mensch in seinem physischen Leibe die Seele trägt, auch die äußere Wissenschaft Seele habe für die Weiterentwickelung der Menschheit. Ja, er behauptet, daß sie Seele braucht. Und Anthroposophie möchte nicht eine Opponentin des heutigen Wissenschaftsgeistes sein, sondern möchte werden die Seele dieses Wissenschaftsbetriebes m der Zukunft.