Freies Geistesleben

„Warum kämpfen wir für etwas, wovon wir wissen, dass es nicht gut für uns ist?“

aus der Broschüre: Die freie Camphill Gemeinschaft in Velem, Ungarn (2008).


Der Ungarische Camphill Verein für seelenpflegebedürftige Kinder wurde am 16. Oktober 2001 von 12 Menschen gegründet. Diese Menschen haben sich entschlossen alles dafür einzusetzen, in Ungarn ein Heim für seelenpflegebedürftige Kinder zu bauen, wo die Mitarbeiter sich mit dem anthroposophischen Erkenntnisweg beschäftigen und die daraus entstehende Lebenseinstellung und Menschenkenntnis zu ihrer Arbeit brauchen.

Der Verein möchte in Ungarn wie ein Kelch sein, der alle die Fragen, die im Zusammenhang mit der Organisation Camphill Heime auftauchen, tragen möchte und aus diesem Kelch das erste Camphill Heim und danach viele andere Gemeinschaften entstehen könnten. Wir übernehmen die Aufgaben, die mit der Organisation, den Finanzen und mit dem Projektmanagement zu tun haben so, dass die Mitarbeiter dieser Heime Freiheit genießen können: nur für ihren Beruf zu leben. [...]

Als Ergebnis einer langen aber erfolgreichen Arbeit haben wir in Juni 2004 das Gebäude und das dazugehörige Land eines ehemaligen Kinderheimes in Velem – in West-Ungarn, ganz an der Österreichischen Grenze – von dem Landesamt Vas bekommen, mit der Möglichkeit dort ein Camphill Heim zu bauen und eine Camphill Gemeinschaft zu gründen. Auf dem Grundstück steht ein altes Haus, mit Grundgeschoss und erste Etage, mit insgesamt 2 x 190 m² Grundfläche. [...]

Vier der Mitglieder des Ungarischen Camphill Vereins sind Gründer der Waldorfschule in Szombathely, dadurch haben wir viel Erfahrung in der Unterhaltung von einer großen Institution. 30 % der Unterhaltungskosten müssen von den Eltern gedeckt werden. Die restlichen 70 % müssen wir über Spenden und Unterstützungen sichern.

So machen wir ständig Kampagne in Ungarn, wo wir Freunde, Zivilgesellschaften und Stiftungen und Unternehmen besuchen, um unser Camphill Heim in Velem und unser Ziel - dort ein freies Heim und Gemeinschaft auf anthroposophischer Basis im Betrieb halten - vorstellen. Bis heute haben wir in dieser Kampagne mehrere Unternehmen, Zivilgesellschaften und viele Privatpersonen gefunden, die bereit sind – durch regelmäßige Spenden - unser Heim in Velem und unsere Ziele zu unterstützen.

Warum nennen wir die Camphill Gemeinschaft Velem „frei“?

Während der Vorbereitungen haben wir mehrere Camphill Gemeinschaften in Deutschland, in der Schweiz und in Österreich besucht, und dort über das Leben und Arbeit mit den Einwohnern gesprochen. Für uns war es eine sehr interessante Erfahrung, dass die Camphill Gemeinschaften in West-Europa unter dem Druck der staatlichen Bürokratie und der Regelungen leiden, und das ist in einigen Fällen schon so schlimm geworden, dass selbst die Camphill Initiative gefährdet ist.

In Ungarn haben wir dieselbe Situation angetroffen, wie es von den Behörden zu erwarten war, dass wir mit unserer neuen Initiative eine unglaubliche Menge und Vielfalt von bürokratischen Vorschriften erfüllen sollen. Wir haben hart dafür gekämpft, dass wir sie erfüllen können und versuchten wirklich alles Mögliches dafür tun. Das haben wir trotzdem gemacht, obwohl es von Anfang an klar war, dass ein Camphill Heim diese Regeln nicht erfüllen kann.

Bei einer Projektbesprechung im Mai 2007 hat einer der Mitglieder eine Frage an uns gestellt, die unsere Augen geöffnet hat und gleich auch unsere Zukunft geändert hat. Die Frage lautete: „Müssen wir unbedingt diese Vorschriften erfüllen? Warum kämpfen wir für etwas, wovon wir wissen, dass es nicht gut für uns ist?“

Es war gleich glasklar für uns, dass wir alles nur wegen des Geldes gemacht haben, und schon fast in eine sehr klug und intelligent aufgestellte Falle geraten sind. Das bürokratische System ist eigentlich so aufgebaut, das man während der Vorbereitungen daran gar nicht denken soll, das es auch ein Leben außerhalb der Systeme gibt. Damit geht eine Initiative wie unsere, fast gleich in eine Einbahnstraße hinein - wovon fast kein Weg zurückführt. Diese Einbahnstraße heißt: staatliche Unterstützung, und desto höher sie ist, desto mehr kann der Staat verlangen, womit er die wichtigste, die Freiheit der Initiative abkaufen kann.

Diese Frage hat uns aber aufgeweckt und so konnten wir eine klaren Aussage machen: die Freiheit von unserer Camphill Initiative ist das Wichtigste, so wir sind nicht bereit, es gegen Geld oder andere Mittel zu verkaufen. Lieber arm aber frei, als reich aber tot. Wir haben es ganz klar gesehen, dass über die Vorschriften und die bürokratischen Regelungen, der Staat tödliche Kräfte in eine Initiative einführt, und diese Gravitations-Kräfte besiegen langsam alle Lebenskräfte der Gemeinschaft, so langsam, das sie es kaum entdecken kann. Das war der Punkt, wo wir vieles verstanden was wir z.B. in Deutschland früher gesehen und erlebt haben.

Jetzt war es für uns alle klar, was wir wollen, aber die Antwort auf die Frage „Wie kann eine Initiative wie unsere Camphill Gemeinschaft in Velem seine Freiheit bewahren?“ – fehlte noch. Aber in diese fröhliche und begeisterte Stimmung, die wir nach dieser Entscheidung hatten, kam auch die Lösung schnell. Wir müssen einen engen Kontakt mit der Zivil- und Wirtschafts-Sphäre halten, damit wir das benötigte und durch unsere Entscheidung jetzt fehlende Geld von dieser Quelle bekommen.

Und seit August, 2007 arbeiten und leben wir so; die fehlende Summe ist von Unternehmern und der Zivilsphäre gedeckt! Wir bekommen Spenden in aller Form: Geld, Arbeit und Güter, jeder hilft so, wie er kann. Damit möchten wir auch ein Beispiel für unsere Freunde in Europa geben, dass es auch so – frei – möglich ist, und man muss seine Freiheit nicht unbedingt wegen Geld aufgeben. Wir sind davon auch überzeugt, dass diese Lösung auch die Zukunft von allen Camphill Initiativen und von anderen geisteswissenschaftlichen Initiativen ist: frei - mit der Unterstützung der Unternehmen und der Zivilgesellschaft zu leben und zu arbeiten.

Freie Camphill Gemeinschaft Velem, www.camphill.hu