20.04.2014

Chartres und das Geheimnis der Auferstehung

Eindrücke von einer Reise nach Chartres mit Mieke Mosmuller. | Bilder. | Youtube.


Chartres ist ein leuchtender Mittelpunkt der abendländischen Spiritualität gewesen – und Mieke Mosmuller machte die Bedeutung der Schule von Chartres für die heutige Zeit, für den einzelnen Menschen, in den Tagen vor Ostern in berührender Weise erlebbar.

Schon von ferne weithin sichtbar erhebt sich die Kathedrale auf einer natürlichen Erhebung – über Jahrhunderte ein Zentrum nicht nur der Landschaft, sondern des ganzen religiösen Lebens der Menschen, mit ihren Impulsen nach ganz Europa ausstrahlend.

Chartres war und ist das Urbild der gotischen Kathedrale. Und welch unendliche Arbeit und wieviel Opferwille flossen ein in ihre Gestalt! Allein schon zu den Gestalten, Figuren und Bildern der drei mal drei Portale und ihren Kompositionsgeheimnissen wurden ganze Bücher geschrieben. Jedes Portal kann eine ganz eigene Stimmung erwecken. Letztlich begegnet dem Eintretenden hier die umfassende Geistesgeschichte der Menschheit. Aber überall, ob in der Wurzel Jesse, den Königen Israels oder den Propheten, leuchtet bereits das Geheimnis des Christentums voraus. Und wenn einem an einem Portal die Königin von Saba begegnet, die die Weisheit Salomos suchte, so ist auch dies Vorausschau und Bild für diejenigen, die Christus suchen, der „mehr ist als Salomo“.

Aber an den Portalen begegnen einem auch die Sieben Freien Künste, die in Chartres in tiefem Ernst gepflegt und noch als Tore zum geistigen Erleben empfunden wurden. Es begegnen einem die Tugenden und Laster, die von den Lehrern der Schule von Chartres noch imaginativ als reale Wesenheiten erlebt wurden. Hier in Chartres lebte noch ein tief spirituelles Menschenbild, als all dies überall bereits verdämmerte.

Seine tieferen Geheimnisse offenbart Chartres aber nur, wenn man sich dem Mysterium der Umstülpung zuwendet, das im Mittelpunkt von Mieke Mosmullers Seminar steht. Auf verschiedene Weise versucht sie, die Teilnehmer zu dem Erleben zu führen, dass das Äußere der Kathedrale gerade die gesamte äußere Welt ist – und das Innere dann in einer vollkommenen Umstülpung eigentlich als die geistige Welt erlebt werden muss. Und würde man die Darstellungen der Portale in ihrer ganzen Bedeutungstiefe erleben können, würde man auch in der notwendigen tiefen Ehrfurcht und inneren Umwandlung die Kathedrale betreten können...

Überschreitet man schließlich die Schwelle, so empfängt einen dämmriges Dunkel – und in diesem Dunkel das Wunder der Glasfenster von Chartres. In diesem heiligen Innenraum verwandelt sich das Licht in eine unendliche Vielfalt von Farben, Formen und Darstellungen des vom Christus-Wirken durchzogenen Weltenwerdens von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht und zum Neuen Jerusalem.

Und wiederum führt Mieke Mosmuller die Teilnehmer in ein Eintauchen in das Geheimnis der Umstülpung. Von einem Glasfenster zum anderen kann immer wieder eine Metamorphose der Formen und Farben erlebt werden. Und die Versuche, den Übergang nicht nur abstrakt nachzuvollziehen, sondern als Übergang zu erleben, lassen eine lebendige Ahnung aufsteigen, was ein lebendiges Denken überhaupt wäre – wie ganz anders alles Erleben wäre, wenn das Denken wirklich lebendig wird.

Nach diesen Bemühungen erlebt man alles mit anderen Augen. Wirkliche Ehrfurcht vor der ganzen Gestalt dieser Kathedrale und dem, was geistig darin verborgen lebt, wird in der Seele lebendig. Das tiefste Erleben geht dann von den drei großen Fensterrosen im Norden, Süden und Westen aus, die einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen.

Wenn man dann die Kathedrale wieder verlässt, ist es wirklich so, als kehre man in eine völlig andere Welt zurück...

Im abschließenden Vortrag des letzten Tages wird eindrücklich erlebbar, dass das Haupthindernis für ein wirkliches Erleben des Geistigen der Intellekt ist, der sich absolut nicht verwandeln, nicht spiritualisieren und nicht umstülpen will.

Rudolf Steiner machte als Erster auf die Bedeutung der Schule von Chartres aufmerksam – aber er wies auch darauf hin, dass schon die Lehrer von Chartres erkannten, dass das alte Bewusstsein, das zum Beispiel noch die lebendigen Naturkräfte als Göttin Natura geschaut hatte, unwiderruflich verloren ging. In Chartres lebte jedoch die Sehnsucht nach dieser immer mehr sich zurückziehenden geistigen Welt bis zuletzt in hingebungsvoller Stärke.

Der Weg, diese geistige Welt wiederzufinden, ist heute wieder offen. Es ist der Weg der Spiritualisierung des Denkens – wie ihn Rudolf Steiner gab und wie ihn Mieke Mosmuller in all ihren Seminaren und Büchern vertritt.

Eindrücklich betont sie, wie es notwendig ist, das Denken zunächst so stark wie möglich zu machen, es immer mehr von der leiblichen Grundlage loszureißen, um schließlich rein nur im Geistigen zu leben und zu weben – wie dann aber noch eine letzte Umstülpung notwendig ist, um wirklich die geistige Welt mit ihren Wesenheiten erleben zu können. Es geht darum, die ganze Richtung des Denkens zu ändern. Selbst das bereits ganz leibfrei gewordene Denken behält zunächst die aus dem „irdischen Leben“ gewohnte Richtung bei, wodurch man es selbst ist, der die geistige Welt noch immer unsichtbar bleiben lässt. Erst wenn man sich dann noch einmal umwenden kann, überschreitet man die eigentliche Schwelle der geistigen Welt...

Das tief berührende Erlebnis der Kathedrale von Chartres ist, dank des Seminars von Mieke Mosmuller, ein ungeheurer Aufruf, den Weg der Spiritualisierung, der Auferstehung des Denkens zu betreten und immer weiter zu gehen. Und als sie am Karfreitag zum Abschluss des gesamten Seminars aus dem hohepriesterlichen Gebet Christi vorliest (Joh 17), in dem bereits das Geheimnis der Auferstehung zu erleben ist, wird auch die Verantwortung des Menschen, ob dieser Weg gegangen wird oder nicht, in größter Tiefe erlebbar.

Das Geheimnis der Auferstehung ist real – und der Weg zu diesem Geheimnis führt über die Auferstehung des Denkens...