16.04.2003

Die Eroberung Washingtons

Zwischen Mission und Macht – die unheilige Allianz der Neokonservativen

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 4.7.2003 (Nr. 27).

Die US-Außenpolitik ist nur scheinbar einheitlich, basiert jedoch auf mehreren „Denkschulen“. Eine Gliederung spricht von „Realisten“, machtbewußten „Nationalisten“ und „Demokratischen Imperialisten“. Powell und sein Außenministerium tendieren zur traditionellen „Realpolitik“, die Risiken durch Diplomatie und eine Balance der Kräfte eindämmen will. Rumsfeld und Cheney vertreten die zweite Strömung, der es um Amerikas Macht und geopolitische Interessen geht. Die dritte Fraktion der eigentlichen „Neokonservativen“ beruft sich auf „Ideen“ wie Freiheit und andere „universelle Werte“.


Entscheidende Positionen der heutigen US-Regierung werden von Mitgliedern des 1997 gegründeten „Project for the New American Century“ (PNAC) eingenommen. Diese Organisation hat es sich offiziell zum Ziel gesetzt, „Amerikas globale Führungsrolle zu fördern“. Schon Anfang 1998 erhielt Clinton zwei Briefe – unterschrieben (nicht nur) von PNAC-Mitgliedern –, die ihn aufforderten, das Hussein-Regime zu beseitigen.[1] Doch noch früher zeigte sich der Kern jener Fraktion, die Jahre später Washington erobern sollte. 1992 gelangte die wesentlich von Paul Wolfowitz[2] ausgearbeitete Pentagon-Richtlinie Defense Planning Guidance an die Presse: „Unser erstes Ziel ist es, das Entstehen eines neuen Rivalen...zu verhindern... [Dies bedeutet] die hochentwickelten Industrieländer von jedem Versuch abzuhalten, unsere Führungsrolle in Frage zu stellen.“ Wegen starker Kritik wurde das Papier damals wieder zurückgezogen. 

Wohl jede US-Regierung hätte nach dem 11. September das Taliban-Regime angegriffen, doch das folgende war nur möglich, weil Amerikas Wahl- und Gerichtssystem Bush zum Präsidenten machte und Cheney in der Übergangsperiode bis zu Bushs Amtsantritt verbündete Hardliner wie Paul Wolfowitz, Richard Perle, Douglas Feith und Richard Wurmser in die Regierung brachte (12 der 25 Gründungsmitglieder des PNAC sind heute in der Bush-Regierung).[3]

Das „Neue Amerikanische Jahrhundert“

Wenige Tage nach dem 11. September war es Wolfowitz, der empfahl, den Irak statt Afghanistan anzugreifen, und öffentlich erklärte, daß die USA „Staaten beseitigen würden, die den Terrorismus unterstützen“. Eine Woche später schrieben die PNAC-Mitglieder Bush in einem offenen Brief, Israel sei der „treueste Verbündete gegen den Terrorismus“ und man müsse gegen Syrien und Iran vorgehen, wenn diese die Hisbollah weiter unterstützten. Insbesondere aber müsse Hussein entmachtet werden, wenn man nicht bereits zu Beginn im Kampf gegen den Terrorismus kapitulieren wolle.

Anfang Januar 2002 sprach Bush dann von der „Achse des Bösen“, Anfang Juni verkündete er in West Point die Notwendigkeit „präemptiver Schläge“ (und sprach von den weltweit nicht-verhandelbaren Forderungen nach menschlicher Würde und den Gesetzen des Rechts). Im September wurde die Nationale Sicherheitsstrategie veröffentlicht und machte die Präventivdoktrin zur offiziellen Politik. In Bushs Begleitschreiben heißt es: “Die Vereinigten Staaten werden diesen günstigen Moment nutzen, um die Früchte der Freiheit über den Globus zu verbreiten.“

Tatsächlich sind die Hardliner noch immer eine deutliche Minderheit. Die entscheidenden Personen bilden eine kleine Gruppe, die wichtige Positionen in der Regierung innehat, in den Vorständen verschiedener Think Tanks sitzt und/oder in verschiedenen Zeitungen schreibt. Selbst in der New York Times und Washington Post sind Hardliner wie Safire oder Krauthammer platziert. Es entsteht der Eindruck, als würden zahllose unterschiedliche Stimmen die gleiche Linie vertreten, wenn einige Männer wie Robert Kagan immer wieder Dinge schreiben wie: „Die Wahrheit ist, daß die wohlwollende Hegemonie der Vereinigten Staaten für weite Teile der Weltbevölkerung gut ist.“[4].

Hauptinitiator des PNAC ist William Kristol, der 1995 den Weekly Standard gründete. War dieser zunächst nur das Sprachrohr einer kleinen Fraktion der Hardliner, ist er heute identisch mit der offiziellen Politik und ein einflußreiches Magazin.[5] Kristol war früher Stabschef des Vizepräsidenten Dan Quayle. Viele Redenschreiber, die damals für Kristol arbeiteten, schreiben heute für Bush und Cheney.

Die jüdische und die christliche Rechte

Vor einer weiteren Charakterisierung der im engeren Sinne neokonservativen Strömung sei auf den Einfluß der jüdischen und christlichen Rechten eingegangen, der insbesondere in bezug auf die Nahostpolitik eine wichtige Rolle spielt. George Washington sagte einmal, die größte Gefahr für die auswärtigen Beziehungen der USA wäre eine „leidenschaftliche Bindung“ zu einem anderen Land, welches dann die US-Außenpolitik zum eigenen Nutzen lenken würde. Heute offenbart die US-Regie­rung eine extreme Bindung an Israel bzw. an die Regierung Sharon (für Bush ein „Mann des Friedens“). Einer der Gründe ist, daß Männer wie Wolfowitz, Perle und Feith jüdische Amerikaner sind[6] – ein anderer Grund ist die extreme jüdische Lobby-Organisation AIPAC, die die Wahlkampagnen hunderter Politiker beider Parteien mit finanzierte. William Quandt, Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates unter Nixon und Carter, sagt: „70 bis 80 Prozent aller Kongreßabgeordneten stimmen in den für Israel relevanten Fragen nach den Anweisungen von AIPAC.“[7]

Interessant ist, daß auch die christliche Rechte oft wie eine jüdische Lobby denkt und agiert. Der christliche Fundamentalismus sieht in Israel das „gelobte Land“. Hier wird das „Armageddon“[8] erwartet, an dessen Ende die zweite Ankunft des Messias erfolgen soll. Der christliche Fundamentalismus erstarkte Mitte der 70er Jahre als Reaktion auf das „Jahrzehnt der Schocks“ (sexuelle Revolution, Legalisierung der Abtreibung etc.). Es waren dann israelische Likud- und Religionsführer, die christliche Rechte nach Israel einluden - während die Elite der christlichen Fundamentalisten wie Rev. Jerry Falwell und Rev. Pat Robertson das Washingtoner „Gebetsfrühstück für Israel“ initiierten, an dem auch Menachem Begin wiederholt teilnahm.[9]

Die Mission der Freiheit?

Zurück zu den Neokonservativen, die – wie übrigens auch viele Linke – an eine etwas andere „Mission“ Amerikas glauben.[10] Ihnen geht es um die „Globalisierung der Freiheit“. Die Diktatur in den arabischen Ländern sei verantwortlich für den dortigen Niedergang und die Hoffnungslosigkeit. Dies ist eine halbe Wahrheit. Wie aber wird die „Freiheit“ – auch schon im eigenen Land – verstanden? Offenbar als etwas, was äußerlich gebracht werden kann – dies eben sehen die Neokonservativen als ihre Mission an. Wer die „Freiheit“ dann nicht ergreift, ist selbst schuld. Er fällt dann sogar den anderen zur Last und schränkt deren Freiheit dadurch ein. Kürzungen im Sozialetat sind nach dieser Logik nicht nur nicht verwerflich, sondern notwendig, um die Mittel sinnvoller zu verwenden – und um die aus eigener Schuld und Trägheit Verarmten wieder in die eigene Verantwortung zu entlassen, was vielleicht ein heilsamer Schock sei. Dies ist eine Viertelwahrheit. Die Freiheit muß richtig gedacht werden.

Das üblicherweise mit „Freiheit“ Gemeinte stellt nur gewisse äußere Bedingungen dar, die das individuelle Freiwerden des einzelnen Menschen begünstigen (können). Was ist Freiheit? Was ist wahres Menschentum? Müssen sich nicht alle Menschen einander ständig beistehen, um (immer wieder und immer mehr) frei zu werden? Was die Neokonservativen völlig übersehen oder verleugnen, ist die Diktatur des ökonomischen Sozialdarwinismus im eigenen Land – und von dort ausgehend in aller Welt. Die rein äußerlich verstandene „Freiheit“ ist vollkommen vereinbar mit einer Welt(ordnung), in der die jeweils Stärksten „gleicher“ sind als die anderen.

Zwischen Ideologie und Selbstbetrug

Die Ideologie der Neokonservativen ist von vornherein äußerst elitär und schon damit antichristlich. Ihr Leitphilosoph ist Léo Strauss (1899-1973), der als Jude Nazi-Deutschland verließ und in die USA ging. In Chicago lehrte er für fast 20 Jahre politische Philosophie und prägte zusammen mit seinen Schülern ganze Generationen von Politikern. In einem seiner Briefe heißt es: „Weil der Mensch von Natur böse ist, darum braucht er Herrschaft“. Strauss´ Idealstaat wird von einer kleinen Elite von Denkern verwaltet. Da neben dem Staat auch die Religion Autorität hat bzw. den Menschen Werte gibt, solle man ihnen die (illusionäre) Gottesvorstellung nicht nehmen. Auf der anderen Seite entwirft Strauss das Ideal des moralischen Staatsbürgers und die Vorstellung, daß eine gute Ordnung doch irgendwie herstellbar ist.

Es ist bezeichnend, daß für die Neokonservativen die Hegemonie der USA und die Idee der Freiheit kein Widerspruch sind, sondern daß sie geradezu voneinander abhängen. Die US-Weltmacht ist der Garant für die Verbreitung der Freiheit! Es wundert nun nicht mehr, daß sich gerade die Mitglieder des PNAC – das sich die Hegemonie der USA auf die Fahnen geschrieben hat – größtenteils zu den Neokonservativen zählen. Damit ist auch klar, daß reine Machtpolitiker und Neokonservative im Ergebnis kaum zu unterscheiden sind.

Auch am Neokonservativismus zeigt sich, wie Ideen zur Ideologie werden, wenn sie über die konkreten Menschen gestellt werden.[11] Verhängnisvoll ist, daß jene Menschen, die unter die „Knechtschaft der Idee“ geraten, sich dies selbst nicht eingestehen wollen – wozu auch, wenn man glauben kann, eine Mission zu haben, und gerade die anderen als unmoralisch ansehen darf. Lieber macht man sich abstrakte Vorstellungen von Menschen, denen man die Demokratie zu bringen habe[12], als den allernächsten Menschenbruder neben sich in seiner Not wahrzunehmen. Das Problem des Selbstbetruges ist aber natürlich nicht nur eines der Neokonservativen, sondern ein menschheitliches. Die Menschen werden sich so lange belügen und in ihrer nicht bemerkten Flucht vor ihrer eigenen Verantwortung – und Freiheit! – auch noch gefallen, wie sie die realen Bedürfnisse und Leiden des anderen Menschen nicht wenigstens annähernd empfinden werden. Sogar jede Unterscheidung zwischen selbst verschuldet und unverschuldet ist immer schon die Flucht vor der eigenen Verantwortung.

Fußnoten


[1] Clinton unterstützte daraufhin immerhin den Irak Liberation Act, der rund 100 Mio $ für die irakische Opposition vorsah.

 

[2] Wolfowitz war damals Staatssekretär von Verteidigungsminister Cheney, heute von Rumsfeld.

 

[3] Die drei letztgenannten verfaßten schon 1996 ein Papier („A Clean Break“), das Israels Premier Netanjahu empfahl, die Osloer Friedensverträge fallenzulassen und seinen Feind Syrien „einzudämmen“, indem Hussein aus dem Amt entfernt wird. Feith, der 1997 Israel die Wiederbesetzung der palästinensischen Gebiete vorschlug, ist heute Planungschef im Pentagon. Wurmser ist im Außenministerium tätig und Präsident der Abteilung für Nahoststudien des einflussreichen „American Enterprise Institute“. Als solcher empfahl er Anfang 2001, den Nahost-Konflikt auszuweiten, um Arafat und die Regime in Syrien, Irak, Iran, Libyen zu stürzen. Perle wurde schon als Reagans Vize-Verteidigungsminister „Prinz der Finsternis“ genannt und war bis vor kurzem Vorsitzender des Defense Policy Boards. In Interviews griff er wiederholt seine Gegner an und tat so, als ob er direkt für Bush oder Rumsfeld spräche, wenn er seine eigenen extremen Standpunkte äußerte. Perle ist außerdem im Aufsichtsrat der Jerusalem Post und Mitherausgeber der Washington Post.

 

[4]The Benevolent Empire”, in: Foreign Policy, Sommer 1998

 

[5] Die 10 Millionen Dollar für die Gründung des Weekly Standard kamen von Rupert Murdoch, der in Australien fast alle Zeitungen und in Großbritannien 40% des Zeitungsmarktes kontrolliert. Die patriotische Berichterstattung seiner Fernsehkette Fox TV hatte in den USA 2002 mehr Zuschauer als Marktführer CNN.

 

[6] ebenso Regierungssprecher Ari Fleischer, der Berater des Nationalen Sicherheitsrates Elliott Abrams, Bushs direkter Mitarbeiter Josh Bolten u.a.

 

[7] Als sich Bush sen. gegen die Siedlungspolitik wandte, hatte er zunächst sogar große Teile der Israel-Lobby (einschließlich des Kongresses) auf seiner Seite. Als aber 1991 US-Außenminister Baker in bezug auf einen von Israel für die Eingliederung der russischen Einwanderer gewünschten Kredit forderte, die Gelder nicht in den besetzten Gebieten einzusetzen, nahm die Israel-Lobby diese erstmalige Bedingung für US-Hilfe nicht hin. Dies trug dazu bei, daß Bush 1992 die Wahl verlor (wie übrigens auch Shamir in Israel, nachdem er den Kredit abgelehnt hatte…).

 

[8] dessen Anfänge die Mehrzahl nach Umfragen bereits wahrzunehmen meint. Allein vom Endzeit-Roman „Left Behind“ von Timothy LaHaye wurden 50 Mio Exemplare verkauft.

 

[9] Als im Frühjahr 2002 der israelisch-palästinensische Konflikt weiter eskalierte und Powell nach Israel reiste, organisierte Falwell (inzwischen 25 Jahre älter) eine Kampagne, um die Regierung von jeglichem Druck auf Israel abzubringen. Natürlich geht es der christlichen Rechten nicht nur um Israel. Die Präsidentschaftswahlen 2000 ließ Falwell sich rund 20 Mio $ kosten, um möglichst viele Menschen zur Wahl eines Kandidaten zu animieren, der das ungeborene Leben schützt, Homosexuelle nicht heiraten lässt, Jungfräulichkeit propagiert und die Todesstrafe befürwortet.

 

[10] Dies hat viel mit dem frühen Puritanismus und seiner Rhetorik der Vorsehung zu tun (diese sollte die Siedler durch den ganzen Kontinent führen, um überall den Unglauben zu beseitigen).

 

[11] Kürzlich nannte jemand den Neokonservativismus einen „inversen Marxismus“ – er ähnelt sehr dem leninistischen Prinzip der Avantgardpartei (und ihrer heiligen Mission). Tatsächlich haben viele Neokonservative ihre Wurzeln im liberalen oder sogar sozialistischen Milieu und schwenkten erst in der Zeit der Hippies, Linksradikalen und Black-Power-Bewegung nach rechts.

 

[12] Michael Moore („Bowling for Columbine“) wies wenige Tage vor dem Irakkrieg in einem offenen Brief an Bush darauf hin, daß nur ein einziger der 535 Kongreßabgeordneten seinen Sohn beim bewaffneten Militär eingetragen hat.