06.06.2003

Die soziale Frage ruft nach Erkenntnismut

Von „(un)sozialen Reformen“ und anderen Frag-Würdigkeiten

Das Jahr 2003 scheint das Jahr der „Sozialreformen“ zu sein. In Österreich und Frankreich geht es um Rentenreformen, die Gewerkschaften streiken, in Paris gingen eine Million Menschen auf die Straßen. – In Deutschland geht es um Einschnitte in das soziale Sicherungssystem. Die Arbeitslosenhilfen werden drastisch gesenkt, das Krankengeld wird künftig allein vom Arbeitnehmer selbst finanziert. Nachdem die „Agenda 2010“ seit Mitte März große Diskussionen ausgelöst hatte, stimmten auf einem Sonderparteitag der SPD Anfang Juni 90% der Delegierten für die Pläne von Bundeskanzler Schröder. Der folgende Aufsatz bezieht sich auf die Verhältnisse in Deutschland.


Fast alle deutschen Medien und Politiker verkünden täglich, daß das bisherige System der sozialen Sicherung umfassend reformiert werden müsse, wenn „man“ die Wirtschaftskrise vermeiden bzw. aus einer schon eintretenden Krise wieder herauskommen wolle. Der „Faktor Arbeit“ müsse billiger werden, damit man konkurrenzfähig bleibe und vielleicht sogar wieder mehr Arbeitsplätze schaffen könne. Immer wieder ist von „Anspruchsdenken“ und von „Besitzstandswahrern“ die Rede, vom nötigen „Mut“ zu dringenden „Reformen“ und zu „Visionen“. 

Wer bei alledem das Gefühl hat, daß hier irgendwo grundlegende Wahrheiten verzerrt und mißbraucht werden, kann sich mit der Zeit dennoch kaum des Gedankens erwehren, daß er selbst irgend etwas Wichtiges übersehen haben müsse, und beginnt vielleicht sogar, an seiner eigenen Denkfähigkeit zu zweifeln. Das allerdings hat etwas Gutes! Es zwingt zu einem wiederholten, immer genauer werdenden Durchdenken der tatsächlichen Sachverhalte. Nur so können schrittweise wirkliche, eigene Erkenntnisse wachsen.

So traurig es ist – vielfach bringen erst massenhaft wiederholte Stereotypen, die schon fast an das von Steiner prophezeite „Denkverbot“ erinnern, einen Menschen zum eigenen Nachdenken, das Wirklichkeiten zu erfassen beginnt. Welche Tragik, daß das Denken erst massenhaft „abgeschafft“ werden muß, um die einzelnen Menschen dazu aufzurufen, sich im Denken selbst ergreifen! Die bange Frage ist, ob dieses wirklichkeitsgemäße Denken Einzelner dann stark genug sein wird, um den zunächst offenbar in seiner vollen Gewalt nötigen Ungeist wieder zu heilen und zu erfüllen.

Ich behaupte nicht, daß ein sich bemühendes Denken frei von Irrtümern ist. Entscheidend ist zunächst diese Bemühung um die Wirklichkeiten. Das beginnt mit echten Fragen.

Um welche Reformen geht es?

Wann ist die Forderung nach mehr Eigenverantwortung nur eine Umschreibung für Sozialabbau und Entsolidarisierung? Wie kommt es, daß drei Viertel der Deutschen nicht glauben, daß die „Agenda 2010“ die Arbeitslosenzahlen senken wird? Was liegt vor, wenn die SPD in Umfragen nur noch bei 25% liegt, die CDU (die noch drastischere Maßnahmen fordert!) dagegen bei 49%?

Warum bezahlen die Lohnabhängigen mehr für die öffentlichen Ausgaben als die Unternehmer? Warum wird zunehmend – vom Kindergarten bis zur Universität – an der Ausbildung gespart? Warum verdienen jene am meisten, die die Arbeitsplätze von anderen „einsparen“? Warum verdienen Lehrer weniger als Personalmanager? Warum werden Menschen bewundert, die noch nicht einmal ihre Toilette selbst putzen können? Warum bekommen Leih- und Zeitarbeiter weniger Lohn, obwohl sie flexibler sein müssen? Warum müssen Menschen unbezahlte Überstunden leisten, wenn der Unternehmer Fehler macht? Warum stehen Milliarden Überstunden Millionen Arbeitslosen gegenüber?[1] Wofür müssen Erwerbslose sich ständig demütigen und „schulen“ lassen, wenn es keine Arbeitsplätze gibt? Warum sollen die Alten länger arbeiten, wenn schon die Jungen keine Arbeit finden? Warum werden Rentner bestraft, wenn sie immer mehr werden? Ein Leben lang gearbeitet und trotzdem arm im Alter?[2]

Eine Delegierte des SPD-Sonderparteitages stellte die Frage: „Warum habt ihr den Mut, den ihr einfordert, nicht, wenn es darum geht, Gewinne und Vermögen zu besteuern?“ – Man kann weiter fragen: Wie kommt es, daß immer lauter die „unerträgliche Steuerlast“ beschworen wird, wenn große Unternehmen und Banken oft gar keine Steuern mehr zahlen und Millionäre, die noch Steuern zahlen, schlicht den Steuerberater wechseln? Ist die Rede vom „Sozialneid“ nicht vielmehr eine Offenbarung des „Neides der Besitzenden“ noch gegenüber jenen, denen das Wasser bis zum Hals steht? Können Löhne und soziale Absicherung vom Wesen her je Brocken vom Tisch der Reichen sein? Ist die Diskussion um den „Mißbrauch“ und die Abschaffung des Solidarsystems nicht ein Kampf gegen den Solidargedanken in den Köpfen und Herzen selbst?[3]

Gerechtigkeit und gesunder Menschenverstand

Alle Fragen laufen im wesentlichen auf die eine hinaus - jene nach der Gerechtigkeit. Sie lautet: Was ist recht? Das äußere Recht zementiert vielfaches Unrecht, wenn es diese Frage nicht radikal und umfassend beantworten kann.

Wie kann der Erdboden nur wenigen gehören, während alle anderen einen hohen Preis allein schon dafür zu zahlen haben, daß sie irgendwo leben müssen?[4] Wieso dient das Geld nicht allen gleichermaßen als neutraler Vermittler der Wirtschaftsprozesse, sondern fließt konstant von jenen, die es brauchen, zu denen, die ohnehin schon mehr als genug haben?

Wie kann schon ein einfacher Millionär täglich rund 150 Euro Zinsen erhalten? Warum darf man mit einem „Vermögen“ anerkanntermaßen von der Arbeit anderer leben, während den Zwangs-Arbeitslosen noch die „Almosen“ gekürzt werden?[5] Wieso ist heute „Sparen“ gleichbedeutend mit einer beschleunigten Umverteilung von arm nach reich? Wie kann man den Sparzwang „bedauern“, wenn wenige Jahre zuvor die Vermögenssteuer abgeschafft wurde, die es in anderen Ländern weiterhin gibt?[6] Wieso gelten die großen Vermögen geradezu als Tabu, die sich doch dem Wirtschaftskreislauf zunehmend verweigern, so daß der Staat sie sich borgen muß (und inzwischen jährlich allein rund 60 Mrd € an Zinsen zahlt)? Wieso werden Sozialhilfeempfänger zunehmend pauschal des Schmarotzertums verdächtigt, obwohl der Mißbrauch nur im Promillebereich liegt und nicht annähernd mit jenen dreistelligen Milliardenbeträgen vergleichbar ist, um die insbesondere Spitzenverdiener das Gemeinwesen jährlich durch Steuerhinterziehung betrügen?

Wie kann man glauben, durch „soziale Einschnitte“ die Wirtschaft wieder „anzukurbeln“, wenn doch jene, die mehr Waren, Dienstleistungen oder kulturelle Werte konsumieren könnten und echte Bedürfnisse haben, immer weniger Geld haben? Was ist das wirkliche Problem, wenn Deutschland immer noch minimale Lohnstückkosten, minimale Unternehmenssteuern (gemessen am BIP) und außerdem 2002 einen neuen Rekordüberschuß im Außenhandel von 126 Mrd € hat – und welche „Einschnitte“ müßten dann erst in anderen Ländern nötig sein?

Wie kann man bei stetig steigender Arbeitslosigkeit trotz jahrelanger „Lohnzurückhaltung“ dennoch weiter daran glauben, daß „Lohnverzicht“ und Senkung der Lohnnebenkosten Arbeitsplätze schaffen? Wie kommt es, daß seit Jahren die Kaufkraft der Nettoeinkommen sinkt, während die Gewinne großer Kapitalgesellschaften immer neue Rekordmarken erreichen und im letzten Jahrzehnt um zwei Drittel gestiegen sind? Warum werden Löhne und Gewinne nicht wenigstens gleich besteuert?[7] Woher kommt das Bild des „uneigennützigen Unternehmers“, der ein direktes Interesse hätte, mehr Arbeitsplätze anzubieten? Sieht man nicht, daß Profitstreben, Rationalisierung und gesättigte Märkte Arbeitskraft überflüssig machen – und nur Sklaventum unter allen Bedingungen rentabel wäre?

Wieso können sich manche Menschen von ihrem Jahresgehalt ein Haus mit Pool kaufen, während öffentliche Bäder schließen müssen? Kann man noch von einem Gemeinwesen sprechen, wenn alles, was nicht unmittelbaren Gewinn bringt, in Frage steht? Muß die Gemeinschaft nicht, wenn sie zu einer menschenwürdigen Daseinsvorsorge in der Lage sein will, die nötigen Mittel von denen verlangen, bei denen sie sich befinden? Muß sie nicht einer zunehmenden Umverteilung, die in ihrer stetigen Zwangsläufigkeit unsachgemäß und ungerecht ist, die Schranken weisen? Wann wird man nicht mehr „Wohlstand für alle“ als Nebenprodukt eines unmöglichen Wachstums erhoffen, sondern Gerechtigkeit als erste Aufgabe be- und ergreifen?

Ich möchte schließen mit folgenden Worten von Rudolf Steiner: Es mag mit äußeren Worten scheinbar nicht vom Christentum die Rede sein in der Dreigliederung, aber diese Dreigliederung des sozialen Organismus ist im Sinne des echten, wahren, praktischen Christentums gedacht. Und man wird doch noch einmal einsehen..., daß die Idealisten, die heute von Dreigliederung sprechen, die eigentlichen wahren Praktiker sind.[8]

Fußnoten


[1] Und warum werden z.B. zunehmend lebensfeindliche „Lebensmittel“ produziert, während der Staat ruinierten Kleinbauern Sozialhilfe zahlen muß?

 

[2] Die Formulierung der Fragen dieses Absatzes verdanke ich Mag Wompel (Protestgründe, in: junge Welt vom 17.5.2003)

 

[3] Die Formulierung dieser Fragen verdanke ich einer Erklärung des DKP-Parteivorstandes: Agenda 2010 – eine Alternative ist möglich, in: junge Welt  vom 17.5.2003).

 

[4] Die ständig steigenden Bodenpreise bilden einen hohen Anteil an den Mieten, sind aber natürlich auch in allen anderen Preisen enthalten.

 

[5] Täglich fließen in Deutschland etwa eine Milliarde Euro Zinsen von arm zu reich. Wären auch nur ein Drittel davon Steuern, könnten damit problemlos vier Millionen Arbeitslosen normale Löhne erhalten – für welche sinnvollen Arbeiten auch immer.

 

[6] Eine Vermögenssteuer von 1% gab es bis 1996, sie machte zusammen mit der Erbschaftssteuer weniger als 2% des Steueraufkommens aus, während es in Großbritannien und den USA ca. 10% sind.

 

[7] Während 1960 die Lohnsteuer rund 6% betrug und Vermögen und Gewinne effektiv mit rund 20% besteuert wurden, ist das Verhältnis heute etwa umgekehrt.

 

[8] GA334, Vortrag vom 18.4.1920, zitiert aus dem Aufsatz „Gleichheit im Rechtsleben als Zeitforderung“ von Frank Bohner, in: Novalis 5/6 2003