07.05.2004

Soziale Schmerzzustände

Zwei Initiativen wollen das politische Vakuum in Deutschland füllen

Veröffentlicht im Goetheanum vom 21.5.2004 (Nr. 21), ohne die Absätze 6 und 9.

In Deutschland wird derzeit durch drastische Maßnahmen das bisherige soziale Gefüge einschneidend verändert. Trotz dieses „Sozialkahlschlags“ protestieren die Gewerkschafts-Vorstände größtenteils nur sehr verhalten, denn die regierende SPD und die Gewerkschaften verbindet seit eh und je ein enges Band. Doch innerhalb der Gewerkschaften brodelt es und in der gesamten Bevölkerung sind die Unzufriedenheit und Verunsicherung groß.


Daß die SPD unter Bundeskanzler Gerhard Schröder derart auf neoliberalen Kurs einschwenken würde, hätte sich nach der Wahl 1998 kaum jemand träumen lassen. Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau, neue „Zumutbarkeits“-Vorschriften für „Arbeitslose“, neue Belastungen für Patienten, Einschnitte für Rentner und anderes mehr. 

Die Regierung selbst spricht stets von unumgänglichen und modernen „Reformen“. Das Grundproblem aller Kritiker besteht darin, daß die derzeit in der Opposition agierende CDU keine Gelegenheit ausläßt, auf noch viel weitergehende Maßnahmen zu drängen. Es ist, als wenn in der Politik ein Vakuum existierte: niemand formuliert wirkliche Alternativen, es gibt keine Visionen, die mit sozialen Idealen etwas zu tun hätten.

Wie sehr die Politik derzeit am Erleben der Bevölkerung vorbeigeht, zeigt eine neuere Studie.[1] Auf die Frage, warum sie wählen gehen würden, meinten nur 18%, sie seien vom Programm einer Partei überzeugt, fast 40% wollten ihren Protest ausdrücken. Als ungelöste brennende Probleme sahen über 80% den sicheren Arbeitsplatz, fast 75% die Gesundheitsfürsorge und fast ebenso viele die Sicherung des Friedens und soziale Gerechtigkeit. Über 50% halten die Schaffung einer sozialen Grundsicherung für dringend. Nach notwendigen Maßnahmen in ihrem eigenen Bundesland gefragt, rangierte an erster Stelle ein Vorgehen gegen Filz und Parteienklüngel (72%), dicht gefolgt von einer veränderten Bildungspolitik (67%), dann von Volksentscheiden (49%).

Ein zeitgleicher Impuls

In dieser Situation traten im März zeitgleich zwei Initiativen an die Öffentlichkeit, die unter Umständen auch auf politischer Ebene bei der nächsten Wahl antreten wollen. Sie stießen auf eine Resonanz, mit denen angesichts der bis dahin herrschenden öffentlichen Rhetorik wenige gerechnet hatten.

Die „Wahlalternative 2006“ entstand, nachdem Ralf Krämer von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in Berlin rund 30 engagierte Menschen aus unter anderem Gewerkschaften, Sozialverbänden u.a. zum Gespräch über diese Frage eingeladen hatte. Währenddessen diskutierten in Süddeutschland sieben Menschen, größtenteils hauptberufliche Gewerkschafter der Metallindustrie, ganz ähnliches und veröffentlichten wenige Tage später ihren Aufruf zur „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (ASG).

Wer sind die Beteiligten? Ein Gründungsmitglied der „Alternative“, Axel Troost, ist seit vielen Jahren Geschäftsführer der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“, die jährlich zum 1. Mai sehr fundierte Memoranden veröffentlicht.[2] Zu den Initiatoren der ASG zählt der Gewerkschafter Klaus Ernst, dessen Lebenseinstellung sehr durch den Streik von 1984 geprägt wurde, als rund 60.000 Metallarbeiter sieben Wochen lang für die 35-Stunden-Woche streikten und die Arbeitgeber fast eine halbe Million Arbeitnehmer aussperrten, um die Gewerkschaft finanziell in die Knie zu zwingen. Heute will die SPD-Führung alle Abweichler durch „Parteidisziplin“ wieder „auf Linie“ bringen, doch Ernst sagt angesichts persönlicher Angriffe gegen ihn: „Wir können die SPD gar nicht spalten, denn sie ist längst gespalten. Es gibt unendlich viele Menschen, die das Vertrauen in sie verloren haben“.[3]

Authentisch sein und offensichtliche Fragen nicht verdrängen

Als ich einige der Initiatoren während einer Informationsveranstaltung in Berlin persönlich wahrnehmen konnte, fiel mir auf, daß sie erlebbar über das sprachen, was sie als richtig empfanden und als richtig erkannt hatten. Ich erlebte keine „Pressekonferenz“, auf der Spitzenpolitiker ihre Politik inszenieren und sie als die beste Lösung für alle verkaufen wollen. Nein, diese Menschen sprachen aus, was sie wirklich fühlen und denken, sind mit ihrem ganzen Menschen anwesend. Menschen wie Klaus Ernst haben offenbar tägliche Evidenzerlebnisse, welcher Art die Richtung ist, die ihre Gesellschaft eingeschlagen hat, und was sich mit Gerechtigkeit und Solidarität oder Brüderlichkeit bezeichnen läßt, ist ihnen reales Herzens-Anliegen, brennender Impuls, ihr Fehlen ein innerer Schmerz.

Es geht um eine einfache Frage: Wo bleibt der Reichtum, der aus steigender Produktivität, der Ausbildung und dem Wissen von Millionen Menschen, der Einführung immer neuer Technologien und moderner Organisationsstrukturen etc. zwangsläufig resultieren muß? Wie kann angesichts dessen der erreichte Wohlstand als „nicht mehr haltbar“ gelten? Weil sich eine Minderheit größere Teile des gemeinsam produzierten gesellschaftlichen Reichtums aneignet als je zuvor.[4]

Weil der zentrale Maßstab der im Wettbewerb errungene Profit ist, kommt es zu wachsender Ungerechtigkeit, die zur Verarmung immer größerer Teile der Gesellschaft wird. Der Profit darf sich dabei immer ungehinderter konzentrieren.[5] Die aggressive, stetige Rhetorik der machtvollen Unternehmensverbände hat ihr Ziel weitgehend erreicht: Die als „alternativlos“ bezeichneten Maßnahmen der SPD-Regierung sind ein großer Schritt in Richtung einer Gesellschaft, in der verbreitete Armut und große Profite offen hingenommen werden (müssen). Bereicherung und Verarmung sind offenbar gesetzmäßige Vorgänge angesichts der gegenwärtigen Rahmenbedingungen eines sozialdarwinistischen Wirtschaftslebens, das auch das Geschick der übrigen Gesellschaftsbereiche bestimmt.

Die anfangs erwähnte Umfrage zeigt, daß viele Menschen ein deutliches Bedürfnis nach menschengemäßer Politik und ein Empfinden haben, wie wenig die gegenwärtigen Verhältnisse dem entsprechen. Den geschaffenen Reichtum sahen zwei Drittel der West- und drei Viertel der Ostdeutschen als Profit konzentriert. Nur 30% hielten die aktuellen wirtschaftlich-sozialen Probleme für aufgebauscht, während fast zwei Drittel meinen, man steuere auf eine Katastrophe zu.

Jeder einzelne hat die Wahl

Andererseits gaben Ende März nur 18% an, eine neue Partei vielleicht wählen zu wollen. Für eine neue Initiative ist schon dieser Werte sehr hoch, zumal die Umfrage nur wenige Wochen nach Bekanntwerden der neuen Initiativen erfolgte. Ein Viertel der Befragten begrüßte die Parteigründungspläne.[6]

Dennoch werden viele Wähler bei den etablierten Parteien bleiben, weil sie neuen Parteien „keine Chance“ einräumen und ihre Stimme nicht „verschenken“ wollen. Sie bewirken damit allerdings selbst das, was sie befürchten, und verhindern eine mögliche Mehrheit für jene Bündnisse, deren Politik ihrem sozialen Empfinden entspräche. Dasselbe Paradox läßt sich beobachten, wenn in Umfragen derzeit die CDU auf eine sogar absolute Mehrheit zusteuert, obwohl ihre Politik noch deutlich größeren Einschnitten in die Sozialsysteme entspricht.

Die zwei neuen Initiativen haben von Anfang an deutlich gemacht, daß sie nicht die Gründung einer Partei alten Stils anstreben. Sie wollen vielmehr ein Sprachrohr sozialer Bewegungen sein und bleiben, gewissermaßen eine Verlängerung der Zivilgesellschaft hinein in das Parlament. Beide Initiativen werden in den nächsten Monaten noch bekannter werden, insbesondere auf einem gemeinsamen Kongreß am 20. Juni. Dann wird sich zeigen, wer nach und nach vielleicht doch den Mut gewinnt, seine Stimme bei der nächsten Wahl jenen politischen Bündnissen zu schenken, die seinem wirklichen Empfinden eine Stimme verliehen haben.

Wir befinden uns in einer Zeit der Bewußtwerdung. Wie im Leiblichen Schmerz Bewußtsein hervorruft, so hat im sozialen Organismus sozialer Schmerz eine ganz ähnliche Wirkung. Der Mensch lernt immer wieder durch Irrtum und Leiden. Diese haben darum eine wichtige Mission – und es ist zu hoffen, daß die Zuspitzung der sozialen Frage (nicht nur) in Deutschland dazu führt, daß sich viele Menschen auf die Bedürfnisse ihres innersten Wesens besinnen können und daraus auch Willensimpulse sich entzünden lassen.

Fußnoten


[1] durchgeführt im Herbst 2003 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte04_06.pdf

 

[2] Das diesjährige trägt den Titel „Beschäftigung, Solidarität und Gerechtigkeit – Reform statt Gegenreform“.

 

[3] Welt am Sonntag vom 28.03.2004, www.wams.de/data/2004/03/28/257393.html.

 

[4] Und weil das – auch qualitative – Wohlstandspotential dadurch vergeudet sind, daß Millionen von seiner Schöpfung ausgeschlossen sind.

 

[5] Im weltweiten Maßstab ist es eine sprechende Tatsache, daß der Umsatz der 200 weltweit größten Konzerne den Gesamtumsatz aller anderen Volkswirtschaften übertrifft, wenn man die 10 mächtigsten Wirtschaftsnationen ausnimmt.

 

[6] s. Anm. 2