Argumente gegen die Viergliederung?

Mein Aufsatz "Revolution der Demokratie - durch Viergliederung?" zog einige Diskussionen nach sich.

 

Nach einem Leserbrief von Rudolf Isler verfasste ich folgende Antwort, veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 24.9.2004 (Nr. 39):

Argumente gegen die Viergliederung?

Der Verweis auf die Selbstverwaltung des Geisteslebens und eine assoziative Wirtschaft kann keine Kritik an Heinrichs´ Konzept der Viergliederung sein, da diese selbst deren weitgehende Autonomie anstrebt. Durch das viergliedrige Parlament können die Rechtsfragen (!) jeder Sphäre gerade sachgemäß durch Menschen entschieden werden, die in dieser Sphäre selbst tätig sind. Die Autonomie von Geistesleben und Wirtschaftsleben ist erst eine Folge sachgemäßer Rechtssetzungen, die wiederum erst durch ein gegliedertes Parlament möglich würden. (Wäre diese Autonomie einmal erreicht, mag man sich über noch ganz andere Selbstverwaltungen streiten).

Islers Forderung, die Wirtschaft müsse vom Staat Vorgaben z.B. zum Mindesteinkommen erhalten und die Realisierung dann selbst verantworten, könnte gerade durch Gliederung des Parlaments möglich werden. Zwangsläufig würden dann Sachfragen diskutiert und man käme von selbst zu sachgemäßeren Lösungen. Herr Isler schreibt, die parlamentarische Demokratie brächte laut Steiner Wirtschaftsinteressen zur Herrschaft. Deren Dominanz ist zweifellos ein empirisches Faktum – bei Einheitsparlament und Blockparteien. Genau dies will Heinrichs ändern: Würde für jede Sphäre ein eigenes Parlament die jeweiligen Rechtsfragen behandeln, wäre es wirtschaftlichen Interessen gar nicht mehr möglich, andere Bereiche zu dominieren. Selbst innerhalb der Wirtschaftssphäre würden dann die entscheidenden Fragen gestellt – und beantwortet werden (müssen).

Herr Isler vertritt zunächst gar die völlige Abschaffung der repräsentativen Demokratie. (Wie viele Gesetzesvorlagen soll das Volk monatlich abstimmen? Wie wird die öffentliche Diskussion ermöglicht? Welche Veränderungen sollen nach einer Ablehnung erfolgen? Gäbe es eine Mindest-Wahlbeteiligung? Haben „Wirtschaftsinteressen“ und Demagogie auf das „Volk“ weniger Einfluß als auf ein Parlament?). Offenbar gegen Heinrichs schreibt er zuletzt jedoch: Die Dreigliederung brauche nicht unbedingt eine „große Revolution“, es könne im Kleinen begonnen werden.

Dient dieses schöne Faktum („Jeder kann etwas tun“) und der Verweis auf den „ethischen Individualismus“ hier nicht letztlich der Flucht vor strukturellen Fragen? Selbst wenn ich nach Kräften Schenkgeld gebe, fließt immer mehr Geld dorthin, wo es nutzlos oder gar zerstörerisch ist. Wenn die Mehrheit immer weniger Geld hat, verliert auch jeder individuelle gute Wille die reale Grundlage zum Handeln. „Im Kleinen anfangen“ führt nur zu zeitweise Dreigliederungs-ähnlichen Momenten und Nischen in der Gesellschaft. Auch die Waldorfschule führte nicht zu einem freien Geistesleben – Steiner betonte im Gegenteil, daß ohne dieses auch jene als Projekt scheitern (bzw. als Nischen-Schule immer mehr Kompromisse eingehen) müßte.

Im „Goetheanum“ vom 4.9.2005 (Nr. 36) erschien Islers Aufsatz „Menschenkunde oder Systemdenken“, auf den ich folgenden Kommentar schrieb:

Ist die Reflexionstheorie theoretisch?

Zum Umgang mit eigenständigen Denkern


Ich finde, der Aufsatz „Menschenkunde oder Systemdenken“ von Rudolf Isler wird weder dem Philosophen Johannes Heinrichs noch Rudolf Steiner und seiner Idee der Dreigliederung gerecht. Heinrichs´ „Reflexionstheorie“ wird mit wenigen Bemerkungen als abstrakt und theoretisch hingestellt und einige weitere Bemerkungen zum Ich-Sinn und zur Frage der motorischen Nerven sollen belegen, wie viel tiefgreifender die Idee der Dreigliederung sei. 

Meiner Meinung nach ist es unredlich, so mit Ideen und Gedanken anderer Menschen umzugehen – sei es, um sie zu beurteilen, zu bewerten, abzuwerten, aufzuwerten oder was für Intentionen es sonst noch geben mag. Niemand erweist Steiner oder der Anthroposophie einen (guten) Dienst, wenn er mit kurzen Hinweisen für sich und den Leser das Urteil herbeiführen will: „Da hat jemand anders wieder nicht – wie Steiner – bis zuende gedacht.“ Für sehr viele Menschen ist die Überheblichkeit – man könnte auch sagen Arroganz – der Anthroposophen unerträglich. Warum? Weil sie vorgeben, eine Wahrheit zu haben, die sie doch nur referieren und eben gerade nicht haben. Wenn ich in der entsprechenden Weise GA-Stellen anführe, tue ich so, als würde ausgerechnet ich mich nicht im Tagesbewußtsein bewegen, sondern im Gegensatz zu anderen übersinnliche Erkenntnisse haben.

Johannes Heinrichs ist einer der selten gewordenen echten Philosophen und Denker. Er gibt sich nicht zufrieden mit dem, was andere gesagt haben und er nicht selbst in seinem Denken als richtig erkennen und erleben kann. Mit derselben Wahrhaftigkeit sollten Menschen, die sich als Anthroposophen sehen, prüfen, inwieweit sie Aussagen, die sie aus der GA haben, wirklich selbst denken und selbst wahrnehmen können.

Isler urteilt über Heinrichs´ „Gedankengebäude“ innerhalb von zwei, drei Sätzen. Es erscheine als Ergebnis eines Denkens, das auf strengen Zusammenhang Wert lege. Wie stehe es aber mit dem Fundament? Es sei die Begegnung von Ich und Du. Steiner mache jedoch in bezug auf das Ich und die Ich-Du-Beziehung auf ganz andere Dimensionen aufmerksam. Es gebe nicht nur einen Ich-Gedanken, sondern auch eine Ich-Empfindung, die dadurch entstehe, daß das Tagesbewußtsein jede Nacht unterbrochen wird. Auch die Ich-Du-Beziehung begründe er nicht nur mit dem Denken des Tagesbewußtseins, sondern verweise auf den Ich-Sinn.

Wo aber ist nun das Fundament bei Heinrichs morsch? Seine Gedanken über die Ich-Du-Beziehung umfassen weit mehr als nur den Ich-Gedanken. Er beschreibt tatsächlich das Erleben zwischen Ich und Du. Schon in „Reflexion als soziales System“ (Bouvier Verlag 1976) beschreibt er ausführlich, wie das Ich-Bewußtsein abhängig vom Erleben des Du und auch der Objektwelt ist. Seine Ausführungen an dieser Stelle erinnern an Steiners Schilderungen über den wahren Charakter des Ich, dessen Wesen eigentlich im Umkreis zu suchen ist. Und wo Heinrichs andererseits die Selbstbezügli­chkeit des Ich beschreibt, wird ebenfalls klar, daß das Ich-Bewußtsein mehr ist als ein gedankliches In-sich-kreisen. Es ist einfach unredlich, seine Begriffssprache als abstrakt hinzustellen, bloß weil er nicht „die Nacht“ oder anderes erwähnt, was Steiner aus übersinnlichem Erleben heraus ausgesprochen hat.

Reicht es, auf den von Steiner beschriebenen Ich-Sinn hinzuweisen, wenn ich nicht wirklich erlebe, ob und wie ich diesen Sinn benutze? Kann ich unter Hinweis auf den Ich-Sinn behaupten, ein anderer Denker, der an das Mysterium der Ich-Du-Begegnung heranzukommen versucht, käme nicht über Abstraktionen hinaus? Habe ich dieses Urteil denn gefällt, nachdem ich wirklich in ihn hinein-geschlafen bin – oder habe ich meinen Ich-Sinn überhaupt nicht benutzt. Wie aber kann ich dem anderen dann gerecht werden?

Die von Heinrichs beschriebenen Reflexionsstufen, die das Ich in der Ich-Du-Begegnung durchlaufen kann, haben nichts Abstraktes, wenn man sie wirklich nacherlebt. Ihre Beschreibung ist „abstrakt“, weil das Erleben in Begriffe gegossen werden muß. Diese Notwendigkeit hat auch Steiner immer wieder betont, und er verwies auch auf die Wichtigkeit gleichsam trockener und mathematischer Begriffe, die das Denken frei lassen. Der einzelne muß selbst in den Begriffen das Begeisternde, das eigentliche Erleben wieder finden.

Der „Ich-Sinn“ liegt unmittelbar in den von Heinrichs beschriebenen Stufen verborgen. Schon die dritte Reflexionsstufe – jeder reflektiert die Erwartungen und Wünsche des anderen – wäre gar nicht möglich, wenn ich nicht vorher in den anderen hätte hinein-schlafen können. Und wenn man Heinrichs´ wunderbares Büchlein „Die Liebe buchstabieren“ gelesen hat, wird man nie mehr meinen, daß dieser Philosoph eine Tendenz zu Abstraktionen hätte, denen keine Wirklichkeit entspricht.

Isler schreibt, die „Dreigliederung“ sei gedanklich tief begründet und bei vielen Philosophen noch immer unverstanden. Bei dieser Aussage kommen in mir gleich mehrere Fragen auf: Was haben die von Isler zuvor erwähnten motorischen Nerven und die Menschenkunde („Von Seelenrätseln“) mit der Dreigliederung konkret zu tun? Wie kann die Dreigliederung konkret umgesetzt werden? Sie mag mit tiefen übersinnlich erkennbaren Mysterien zu tun haben. Diese „gedanklich tiefe Begründung“ ist aber zunächst alles andere als nachvollziehbar. Es gibt genug Lücken und offene Fragen. Selbst Steiner hat betont, daß die Dreigliederung keine Idee, sondern ein Impuls ist. Und tatsächlich verstehen oder fühlen selbst die meisten „Anthroposophen“ von der Dreigliederung nicht einmal so viel, daß sie von Begeisterung für diesen Impuls ergriffen werden. Ist es da ein Wunder, daß Philosophen abwinken?

Als Christoph Strawe mir seinen kritischen Aufsatz „Dreigliederung und Viergliederung. Eine Antwort auf Johannes Heinrichs“ schickte (Rundbrief Dreigliederung 1/2002) schickte, ging ich am 30.6.2004 wie folgt darauf ein:

Zum Verständnis eines „Grundwerte-Parlaments“

Vielen Dank für die Zusendung Ihres Aufsatzes aus dem Dreigliederungs-Rundbrief vom März 2002. Ich konnte Ihren dortigen Ausführungen sehr gut folgen, habe aber dennoch einige Kommentare dazu. Ich glaube, daß man die Potentiale beider Ideen noch mehr verbinden könnte. Und ich meine, daß Sie in Ihrem Aufsatz des öfteren die Stärken der Dreigliederung und die Schwächen der Viergliederung miteinander vergleichen und daß die Viergliederung durchaus auch berechtigte Ansätze hat (wobei ich allerdings Heinrichs früheren Aufsatz nicht gelesen habe, sondern von seinem neueren Buch „Revolution der Demokratie“ ausgehe). In diesem Zusammenhang will ich auf einiges hinweisen.

Ich verstehe den hauptsächlichen Ansatz eines Grundwerte-Parlamentes so, daß durch ein solches die Gesellschaft bzw. ihre demokratische Repräsentanz gezwungen ist, zumindest in diesem Parlament auf dieser Reflexionsstufe anzusetzen. Das heißt, sie wird endlich realisiert. Über die Grundwerte und ihre Verwirklichung wird endlich wirklich nachgedacht. Das jetzige Parlament sollte zwar auch auf dieser Stufe ansetzen, tut es aber nicht, weil es seine eigentliche Aufgabe durch Tagespolitik recht gut vertuschen kann. Die Viergliederung zwingt die demokratische Gesellschaft auf institutionellem Wege zur Vernunft. Sie zwingt die Gesellschaft, sich auf die Reflexionsebene zu bewegen, die dem Menschen wesensgemäß ist.

Heinrichs verweist auf die ungeheure Theorie-Praxis-Kluft und behauptet: Die Grundwerte (Recht auf Arbeit oder menschenwürdiges Leben etc.) werden so lange mißachtet, bis man gezwungen wird bzw. ein Parlament die explizite und ausschließliche Aufgabe hat, sie zu konkretisieren. Auch das jetzige Parlament hat implizit ständig mit Grundwert-Entscheidungen zu tun. Alle Rechtsentscheidungen haben moralisch-normativen Charakter und Bezüge zu den Grundwerten. Die Setzungen des politischen Parlaments widersprechen ebensowenig oder ebensosehr dem individuellen Selbstführungsprinzip wie die zunächst rahmensetzenden Setzungen eines Grundwerte-Parlaments.

Sie schreiben (teilweise fasse ich im folgenden etwas zusammen):

> „Politische Macht und ökonomischer Erfolg sind zum Selbstzweck geworden wegen des Niedergangs des anachronistisch gewordenen alten Geisteslebens, weshalb die Therapie niemals Anleihen bei diesem machen sollte.“

Heinrichs strebt aber durchaus die Impulsierung des neuen Geisteslebens an: Nicht die autoritäre Vorgabe weniger Geistesführer, sondern den Diskurs demokratisch gewählter Repräsentanten. Dieser wiederum wäre ein Impuls für das gesamte Geistesleben einer Gesellschaft.

> „Es ist ein Irrtum, die notwendige Wertorientierung und kulturelle Bindung von Ökonomie und Politik kämen durch Unterordnung unter ein Gremium zustande. Man muss der Ökonomie einen rechtlichen Rahmen setzen, der es ihr ermöglicht bzw. sie veranlasst, aus sich heraus die Organe zu bilden, die eine konsequente Orientierung an den individuellen Bedürfnissen der Menschen möglich machen.“

Dies widerspricht sich ja nicht. Das Grundwerte-Parlament würde das allgemeine Geistesleben nicht verbieten, sondern könnte es gerade anregen (wenn die individuellen Bürger mündig genug sind). In bezug auf nötige Rahmengesetzgebungen muß man aber nicht auf das letzte Individuum warten, das kann auch kein bestehendes Parlament. Gerade die Rahmengesetze können die Wirtschaftssphäre anregen, sich an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren bzw. aus ihrer Mitte heraus Organe zu bilden. Um den rechtlichen Rahmen geht es doch auch Heinrichs gerade!

> „Man muss andererseits der geistigen Kultur die Möglichkeit des Aufblühens in Freiheit und Vielfalt schaffen. Von einer derartigen Kultur können dann verfeinernde Wirkungen auf die die Ökonomie steuernden Bedürfnisse der Menschen ausgehen. Und von ihr werden auch die Anregungen ausgehen können, welche die politische Ideenbildung und mit ihr dann die Gesetzgebung aus ihrer Kurzatmigkeit und Machtorientierung befreit.“

Das Grundwerteparlament wäre ein konkreter Bestandteil eines neu aufblühenden Geisteslebens und könnte dieses Aufblühen impulsieren!

> „Eine von einem Gremium verordnete Wertorientierung kann nie jene Kraft entfalten, die entsteht, wenn Menschen werthaft handeln wollen.“

Richtig. Aber es könnte viele Menschen dafür aufwachen lassen, daß sie ja längst werthaft handeln wollen. Und es könnte für diese Menschen und ihre Werte den Raum zur Entfaltung schaffen.

> „Ein Grundwerteparlament kann nicht beides zugleich sein: ein Forum freien geistigen Lebens und ein Organ mit Durchgriffsrechten. Will man das erstere, darf man es nicht mit rechtlich-hoheitlicher Macht ausstatten.“

Und warum darf ein Rechtsparlament (das sich der Ideen des Geisteslebens bedient hat) Durchgriffsrechte haben? Die Durchgriffsrechte auch eines Grundwerte-Parlaments sind Durchgriffsrechte des Souveräns in bezug auf sich selbst! Durchgriffsrechte gibt es jetzt genauso. Es muß sie geben und sie werden immer die individuelle Freiheit einschränken, wenn der einzelne die Rechtsvorgaben nicht einsieht.

> „Wertentscheidungen und Erkenntnisfragen sind der Sache nach nicht durch Mehrheiten entscheidbar.“

Dennoch ist jede Rechtssetzung das Ergebnis einer Wertentscheidung. Rechtssetzungen sind – worauf Sie ja selbst hinweisen – nur möglich aus dem werthaften, wesenhaften Rechts-Erleben.

> „Das Problem wird nicht dadurch gelöst, dass ein gewähltes Gremium befasst wird mit der ‚Bildung eines demokratischen Konsenses über das, was an gemeinsamen Grundwerten des Gemeinwesens - bei religiös-weltanschaulichem Pluralismus - von der großen Mehrheit anerkannt werden kann‘ “

Siehe oben. Und bisher haben wir ein gewähltes Blockparteien-Gremium, daß Rechtssetzungen mit Mühe (Fraktionszwang) aus einem Un-Konsens fällt, der auch nur von einer immer kleiner werdenden Minderheit der bevormundeten Bürger anerkannt werden kann.

> „Heinrichs hält es offensichtlich für unmöglich, dass die Unfähigkeit der bestehenden Parlamente, die Grundwerte effektiv umzusetzen, durch die Reform dieser Parlamente selbst heilbar sein könnte. Er glaubt, ein Grundwerteparlament sei ein Gremium, das den Zwängen heutiger Parteipolitik weniger ausgeliefert sei als die bestehenden Parlamente.“

Nein, aber das Grundwerte-Parlament wäre zur Diskussion über die Grundwerte gezwungen!

> „Doch gerade ein Grundwerteparlament würde zum Objekt machtpolitischen Wettbewerbs werden - mit der Gefahr einer weitgehenden Politisierung der Wertedebatte.“

Das ist immer der Preis. In jedem Parlament werden Grundwerte-Diskussionen umkämpft sein, in einem Grundwerte-Parlament nicht mehr und nicht weniger als im bestehenden Parlament. Wichtig ist, daß die Grundwerte im Grundwerte-Parlament diskutiert werden müssen. Daß man dieser Frage (und auch diesem Umkämpftsein) nicht mehr ausweichen kann. Und daß man auch nicht mehr schnell die Ebenen wechseln und mit Sachzwängen die Diskussion abwürgen kann.

> „Er empfindet ganz richtig, dass es (in der geistigen Welt urständende) Werte gibt, die im politischen Mehrheitsprozess nicht mehr zur Debatte stehen dürften, ja mehr noch: deren Umsetzung (unabhängig von der Kassenlage) dieser Prozess eigentlich gewidmet sein müsste. Doch vermischt er die Ebenen der vorliegenden strukturell-institutionellen Probleme. Das erste Problem liegt auf der Ebene der Befreiung der geistigen Kultur ganz allgemein, das zweite bei der Neugestaltung der klassischen Gewaltenteilung in bezug auf die Judikative, das dritte schließlich in der notwendigen Reform des politischen Systems.“

Es geht ja im Grunde nicht um ein Rütteln an den Grundwerten, sondern um ein Gespräch über sie bzw. einen Diskurs, der an ihnen ansetzt, um sie zu konkretisieren. Aber darüber hinaus: Wenn an den Grundwerten der Verfassung nicht gerüttelt werden soll, wie steht es dann wirklich mit der Freiheit des Menschen? Wer traut dem Menschen mehr Freiheit zu – Heinrichs oder Sie? Egal, was in der Verfassung steht, der freie Mensch bildet sich seine eigenen, individuellen Grundwerte (gerade Sie postuliert dies) und verneint sogar die Grundwerte der Verfassung, wenn er dies will. Der demokratische Diskurs, angeregt vom Grundwerte-Parlament, aber nicht auf dieses beschränkt, macht die Freiheit des Individuums für die Gesellschaft fruchtbar.

> „1) Es gibt heute kaum öffentliche Orte, an denen frei ein öffentlicher Diskurs über Sinn- und Wertfragen geführt werden kann. Ich denke allerdings, dass gerade diese Ebene von geistiger Kultur sich der parlamentarischen Gestaltung entzieht. Entsprechende Foren können sich nur durch freien Zusammenschluss bilden (...)“

Siehe oben: Heinrichs strebt durchaus die Impulsierung des Geisteslebens an: Der Diskurs demokratisch gewählter Repräsentanten wäre ein Impuls für das gesamte Geistesleben einer Gesellschaft. Zugleich steht eine Gesellschaft immer vor der Aufgabe, Grundwerte zu formulieren, zu konkretisieren und in Rahmengesetze zu gießen, die im weiteren bindend sind. Alle bestehenden Gesetze sollten irgendwie mit den Grundwerten zu tun haben, auf die sie zurückgehen. Nur leider werden immer mehr Gesetze ohne Bezug auf die Grundwerte, ja sogar gegen diese verabschiedet.

> „2) Wir brauchen die Stärkung der Wächterämter über die Grundrechte: Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und der Exekutive.“

Es geht nicht nur um Wächterämter, sondern um Konkretisierung der Grundwerte. Die Wächterämter sind übrigens tendenziell auch nur so gut, wie die umgebende Gesellschaft. Erst eine offene Diskussion um die Grundwerte würde auch die Wächterämter real stärken. In gewissem Sinne ist auch das Grundwerte-Parlament eine Judikative, die Vorgaben macht, wie die Werte der Verfassung konkret auszulegen sind.

> „3) Reform des politischen Systems: Das System heckt eben durch seine Attraktivität für Karrieristen und Machtpolitiker und durch die Ausgestaltung der Legitimationsmechanismen selbst jene Kurzatmigkeit aus.“

Ich denke, in dem Bestreben, diese Mechanismen zu beseitigen, sind Heinrichs und Sie sich völlig einig.

Wie gesagt verstehe ich sehr gut, was Sie gerade in bezug auf das Grundwerte-Parlament befürchten. Mir ging es mit diesen Einwänden um einen Brückenschlag. Ich meine eben, daß man dieses Parlament nicht als Feind eines freien Geisteslebens und daher der Dreigliederung absolut widersprechend sehen muß. Und daß es vieles gibt, was Sie am Grundwerte-Parlament kritisieren, aber durch den Hinweis auf die Dreigliederungs-Idee nicht gelöst haben.

Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie Zeit hätten, auf meine Kommentare einzugehen. Es wäre doch entscheidend wichtig, wenn Menschen wie Sie und Heinrichs (und ich) in dem gemeinsamen Grundimpuls, neue, zeitgemäße Formen für eine Gesellschaft mündig werdender Menschen zu finden, fruchtbar zusammenwirken könnten – zumindest bzw. zunächst im Austausch von Kritik, Überlegungen, Anregungen, Hinweisen, Ermutigungen usw.