12.08.2005

Die Waldorfbewegung in Süd- und Ostasien – eine Reise

Eine imaginäre Reise, zusammengestellt aus verschiedenen Berichten, die die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners erhalten.

Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Süd- und Ostasien. Doch noch vor zehn Jahren gab es in der ganzen Region nur eine einzige Waldorfschule. Heute lebt Waldorfpädagogik hier in 11 Ländern.


Asien – uralte Kulturen, Philosophien und Religionen... Auf der anderen Seite: Megastädte, modernste Technik, gehetztes Treiben. Oft scheint es, als lägen Tradition und Moderne nirgends so nah nebeneinander wie in Asien. Doch die Vergangenheit trägt nicht mehr, und die „Moderne“ ist kalt und zerstörerisch. Der Materialismus hat gerade Asien kraftvoll überrollt. Und wie so oft sind die Kinder am schlimmsten betroffen. Oft müssen sie schon mit drei Jahren Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Nicht nur in China wird nach der Schule in „Hobby-Stunden“ für Extra-Zertifikate gepaukt, nicht nur in Japan entziehen sich zahlreiche Jugendliche dem seelischen Streß durch Selbstmord... 

Gerade in Asien kann die Waldorfpädagogik beweisen, wie heilsam sie für die Kinderseelen ist. Doch lange Zeit war die Region hier gleichsam ein „weißer Fleck“. 1987 eröffnete die Waldorfschule Tokyo – und blieb viele weitere Jahre allein. Erst ab 1996 begann in Asien der „Aufbruch“ (siehe Kasten).

1995 gab es in Afrika immerhin schon ein Dutzend Waldorfschulen, in Südamerika über 20, und in Osteuropa waren innerhalb weniger Jahre über 50 Schulen gegründet worden. Heute haben sich diese Zahlen wiederum etwa verdoppelt.

Und in Asien? Ab Mitte der 90er Jahre setzte die Waldorfpädagogik langsam auch hier einen Fuß auf die Erde.
1996 eröffnete die erste Schule in Thailand (Bangkok) und Philippinen (Manila), 1998 in Indien, 1999 auf Taiwan (und die dritte in Japan), 2000 in Nepal (und die zweite in Indien). In der ganzen Region waren es nun neun Schulen...
Heute ist diese Zahl auf 23 Schulen gewachsen, davon je 6 in Indien und Japan, je zwei in Nepal, Taiwan, Thailand und Philippinen und je eine in Pakistan, China und Südkorea. Dazu kommt mindestens dieselbe Zahl an Kindergärten (u.a. mehrere in Japan, fünf auf Taiwan und je zwei in Hongkong, Vietnam und Thailand).


Einen vielleicht nicht unbeträchtlichen Anteil hatte wohl auch die Asien-Tournee der „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ bzw. ihrer Ausstellung „Waldorfpädagogik“ (1996 in Indien, Korea, Thailand und Philippinen). Später initiierten die „Freunde der Erziehungskunst“ regelmäßig Round-Table-Gespräche und im April diesen Jahres die erste Konferenz tätiger Waldorflehrer auf Taiwan. 

Die Verzweiflung der Eltern, die nach einer Alternative für ihre Kinder suchen, ist groß in Asien. Doch ebenso groß ist der Enthusiasmus und die Offenheit der Lehrerinnen und Lehrer, die Waldorfpädagogik und die in ihr verborgene Spiritualität aufzunehmen.

Indien und Pakistan

Diese Erfahrung macht auch Aban Bana, die vor 30 Jahren in Dornach studierte und seitdem nicht nur in ihrer Heimat Indien unermüdlich für die Lehrerbildung tätig ist. Dabei erlebt sie immer wieder, daß gerade Lehrer, die noch nach dörflichen Traditionen unterrichten, unmittelbar Zugang zur Waldorfpädagogik finden. Auch die alten Ashram-Schulen waren wahre Lebensschulen, wo Kinder viel praktisch und künstlerisch tätig waren und natürlich erst beim Zahnwechsel eingeschult wurden.

Wir besuchen die älteste indische Waldorfschule, „Sloka“ in Hyderabad. „Sloka“ sind alte, rhythmisch-religiöse Verse – ein Hinweis auf die Bedeutung alles Rhythmisch-Künstlerischen. Ein kleines Mädchen bestaunt die Lichtmuster, die das Gewand der Lehrerin mit seinen kleinen Spiegelplättchen an die Wand wirft, dann tanzt es fröhlich dazu.

In der 7. Klasse ziehen die Kinder gerade ihre eigene Lehrerin in einem wunderschönen Seiden-Sari in die Luft und erleben das Wirken von Seilwinden. Dies wird ihnen unvergeßlich bleiben!

Die Schulgründerin Nirmala Diaz erzählt: „In vielen indischen Klassen gibt es über 65 Kinder! Künstlerische Fächer werden fast völlig ignoriert, gewaltsam bekommen die Kinder viel zu früh Unmengen an Lernstoff eingeprägt. Sie antworten mit Lernschwierigkeiten bis hin zu Krankheiten und Apathie, dem Verlust jeglicher Freude am Lernen und am Leben selbst... Singen, Tanzen, Malen und Zeichnen, Farben, Blumen, Theater, Gedichte und Musik – das alles ist wichtig, und die Kinder erleben daran, wie wundervoll und vielfältig das Leben ist.“

Im letzten Jahr machte sich die 5. Klasse der Sloka-Schule zum ersten Mal auf die 17-stündige Zugfahrt nach Mumbai, zur gemeinsamen Olympiade mit den Fünftklässlern der Tridha Waldorfschule. Dort hatte man nach etwas gesucht, was diesem Übergangsalter eine Hilfe sein könnte. Im indischen Epos Ramayana muß Rama durch Dutzende Prüfungen gehen, bis er zum Meister seines eigenen Schicksals wird. Die Schule entdeckte den Fünfkampf als eine moderne „Prüfung“. Ein Tag im olympischen Geist führt zu einer tiefen Begegnung mit sich selbst und dem anderen Menschen. Jeder Mitstreiter und jeder Gewinner ist – ein Freund.

In Pakistan gründete Shahid Alam vor einem Jahr einen kleinen Waldorfkindergarten in Lahore. Die Waldorfpädagogik lernte er als Student in Deutschland kennen. Wann wird sie sich in seinem Land ausbreiten? Lahore hat rund 10 Millionen Einwohner, die Menschen sind an eine Überflutung mit Sensationen gewöhnt, die Dinge werden kaum wahrgenommen. Wer hat es wohl wirklich bemerkt, daß auf der dicht befahrenen Straße ein Eselskarren im Schrittempo das neue Schild „Waldorf Education Centre“ lieferte? Um andere Lehrer auszubilden, suchte Alam Kontakt mit den etablierten Schulen, die aber allesamt kommerzielle Unternehmen sind und dankend ablehnten. Kürzlich kamen drei andere Schulen interessiert auf ihn zu – Schulen für arme Kinder und Waisen!

China, Hongkong, Taiwan

Oft noch extremer als anderswo zählen in den Städten Chinas allein akademische Grade und materieller Besitz. Die Eltern erlauben ihren Kindern keine Ideale. Die Kinder müssen ihre eigene Seele für die materialistischen Hoffnungen ihrer Eltern aufgeben – und leiden. Nur wenige Eltern wachen auf und noch weniger haben den Mut, aus dem vorgegebenen Schema auszusteigen.

Li Zhang und Huang Xiaoxing hatten ein kleines Teehaus in Chengdu (Provinz Sichuan). Eines Tages im Sommer 1994 erzählten ihnen zwei australische Reisende von der Waldorfpädagogik. Inspiriert von diesem Gespräch beschloß das chinesische Paar, eine Waldorfausbildung zu machen, und ging dafür in die USA. Vor einem Jahr kehrten sie zurück und begannen mit einer Handvoll Kindern eine Waldorfinitiative.

In Hongkong arbeitet Constanze Chan seit drei Jahren künstlerisch mit Kindern und macht viele Workshops für Eltern. Sie erzählt: „Für die Waldorfpädagogik zu wirken ist hier wie Arbeit in einer spirituellen Wüste. Die herrschende Meinung will `Ergebnisse´ – und verliert den Prozeß, wie etwas ins Leben kommt. Wir wollen den Kindern reale Erfahrungen vermitteln und ihre künstlerische Empfindung erwecken.

Ein Mädchen sagte mir nach ihren Naß-in-Naß-Bildern immer, daß die Farben kämpften oder stritten, egal welche Geschichten ich vorher erzählt hatte. Aber sie liebte es, mit den Farben zu spielen – spritzen, auf das Papier gießen, Experimente aller Art. Eines Tages sagte sie, nun wären die Farben glücklich zusammen. Dann malte sie einen wundervollen Regenbogen...“

In Taiwan – der „Welthauptstadt“ für Computer – besuchen wir die vier Jahre alte Waldorfschule in Taichung. Die Kinder begrüßen uns freudig in der noch heißen Spätnachmittagssonne – sie kommen gerade zurück von einer Farm, wo die 3. Klasse Reis ernten durfte. Die 2. Klasse half und die Jüngsten bastelten eifrig Kornpuppen. Nun zeigen uns alle stolz ihr Schulgelände: ein Baumhaus, eine Sandkiste, ein Garten – nicht wissend, wie kostbar all dies in der Stadt ist...

Schulgründerin June Lin erzählt aus ihrer Kindheit: „Meine Großmutter nahm mich immer mit zum Tempel und lehrte mich, wie ich das Gebet sagen sollte. Ich sagte gewöhnlich: Gebet für meine Großeltern: Langes Leben! Gebet für meinen Vater: Gesundheit! Gebet für mich: In der Schule die Beste! Das sind die Gebete der meisten Taiwanesen. Heute haben wir moderne Medizin, Reichtum, Colleges – doch die Wünsche sind dieselben!“ Sie hatte sich irgendwann entschlossen, einen neuen Wunsch zu haben: die Gründung einer Waldorfschule in Taiwan...

Es wurde die zweite, denn schon zwei Jahre vorher begann die Ci Xing Waldorfschule in der Provinz I-Lan. Sue Chang leitete bereits seit 20 Jahren einen Kindergarten, als sie 1991 in Stuttgart der Waldorfpädagogik begegnete. Da es überall an zukunftsweisenden Ideen fehlt, waren auch die Behörden offen für Neues. Es ergab sich gar die Möglichkeit, eine staatliche Schule in freier Trägerschaft zu werden. Heute hat die Schule sechs Klassen, teilweise zweizügig, und einen großen Kindergarten mit acht Gruppen. Der Landkreis stellte ein staatliches Gebäude und deckt seit 2002 alle Kosten –für ganz Asien einmalig!

Ya Chih Chan, die in England eine Ausbildung machte, sollte ihre Kolleginnen fortbilden. Keine leichte Aufgabe bei dem besonderen chinesischen Sprach- und Schriftsystem! Sie erzählt: „Ich mußte passende Übersetzungen für jene Worte und Ideen finden, mit denen die Menschen noch nicht vertraut waren. Diese Arbeit erlebte ich wie einen Inkarnationsprozeß der Anthroposophie in unserer Kultur.“

Eine weitere Besonderheit im chinesischen Raum sei noch erwähnt: Jeder 12. Jahrgang ist hoffnungslos überfüllt, da ungezählte Eltern ihre Kinder im Jahr des Drachen zur Welt bringen wollen...

Japan

In Japan eröffneten in den letzten acht Jahren neben der alten Tokyo Waldorfschule fünf weitere Schulen – die jüngste erst in diesem Frühjahr in Yokohama. Doch sie alle haben keine offizielle Anerkennung. Die Tokyo-Schule bekam sie nach 18 Jahren des Wartens erst im letzten November. In jüngster Zeit hatten sich Gemeinden zu „special regions“ erklären können, in denen u.a. die restriktiven Auflagen des Bildungsgesetzes (eigenes Gebäude, staatlicher Lehrplan) gelockert werden durften. Die Schule zog um nach Fujino in den Bergen – und hat nun auch die geeignete Umgebung für die Tee-Zeremonie, die in der 7. und 10. Klasse zum Epochenunterricht gehört...

Die Waldorfpädagogik macht das Wertvolle jeder Kultur erlebbar, und an allen Erlebnissen machen die Kinder Erfahrungen, die sie in ihrer eigenen Entwicklung weiterbringen. Die Kinder der zweiten Waldorfschule in Tokyo können ab der 4. Klasse in den Ferien den Nanazu-mai lernen, einen traditionellen Tanz mit japanischen Kurz- und Langschwertern... Dieselben Kinder haben auf dem Schulhof viel Spaß beim Einradfahren und entwickeln auch dabei spielerisch ihre Sinne.

Philippinen und Thailand

In Manila entstand unter Beteiligung von Nicanor Perlas – Träger des alternativen Nobelpreises 2004 – eine der ersten asiatischen Schulen. Zugleich eine mit den extremsten Bedingungen, denn Manila ist eine Megastadt, ein Verkehrs-Alptraum. Auch der Tag an der Waldorfschule beginnt mit dem Lärm des Müllwagens, später hört man Polizeisirenen, irgendwann die Konservenmusik des Eisverkäufers... Die Lehrer tun ihr Bestes, um den Kindern durch ihren seelen-erfüllten Unterricht eine Hülle zu geben.

Doch wo ist der Ort, wo die Pädagogen selbst einmal ausatmen können? An einem Freitagabend versammelten sie sich auf dem Rasen vor dem Kindergarten, setzten sich in einem Kreis und zündeten Kerzen an. Sie tranken Tee und lasen sich eigene Verse oder andere Gedichte vor, lachten, sangen und sprachen über Dinge, die sie alle angingen - über sich die leuchtenden Sterne. Wege zu innerem Freiraum in einer Millionenstadt...

In Thailand setzte das Leid von Früherziehung und schulischem Drill schon in den 80er Jahren ein – Thailand wollte wirtschaftlich mit dem Westen mithalten. 1996 gründete der Kinderarzt Dr. Porn Panosot die Waldorfschule in Bangkok und baute ein Netzwerk für Freiheit im Bildungswesen auf, dem es mit zu verdanken war, daß 1999 ein neues Bildungsgesetz verabschiedet wurde. Ein Artikel Panosots in der Bangkok Post inspirierte 2001 die Entstehung einer zweiten Waldorfschule durch eine Richterin, die vor allem mit sehr armen Kindern zu tun hatte und Wege suchte, sie vor dem Gefängnis zu bewahren...

Vietnam

In Vietnam eröffnete vor drei Jahren der erste Waldorfkindergarten in Ho-Chi-Minh-Stadt – auf dem Gelände eines buddhistischen Tempels. Die Gründerin Thanh Cherry ist zugleich Waldorflehrerin in Bowral/Australien und unermüdliche Begleiterin junger Waldorfinitiativen in ganz Asien. Eine Woche nach der Eröffnung kam der Vater der kleinen Hang, ein schüchterner Müllsammler, zu ihr und sagte: „Ich hätte nicht gewußt, was ich mit meiner Tochter tun kann, wenn es diesen Kindergarten nicht gäbe.“

Schon ein Jahr später folgte der zweite Kindergarten 30 km weiter nördlich in Cu Chi. Junge Absolventen der Bowral Waldorfschule hatten Spenden gesammelt, einer unter ihnen – inzwischen Architekt – hatte den Bau entworfen. Nur die armen Eltern waren zunächst skeptisch: Was war das für ein wunderschöner Kindergarten mit so liebevollen Erzieherinnen – und ganz kostenlos?

Erzieherin Lan hatte bereits 25 Jahre Berufserfahrung und ein Herz aus Gold. Ruhig und liebevoll nahm sie die nach ihrer Mutter weinenden Kinder in die Arme, trocknete Tränen und sang Lieder. Langsam sammelten sich die Kinder um sie im Kreis und begannen schüchtern zu singen, während sie ihre Fingerspiele nachahmten. Ein berührender Anblick! Mit noch tränennassen Gesichtern schauten die Kinder auf, um Lan´s Mund zu sehen, dann hinab zu ihren Fingern, dann zu ihren eigenen Händen, die die gleichen Gesten probierten...

Schon bald bemerkten die Eltern einen Unterschied zu anderen Kindern dieses armen Bezirks: Ihre waren glücklicher, gesünder, kindlicher – sie können selbst spielen...

Wenn man Menschen wie Thanh Cherry begegnet, erlebt man, welche unzähligen Keime ein einzelner Mensch säen kann. Erinnern Sie sich noch an die australischen Reisenden, die die Gründung in China inspirierten? Auch das waren Thanh und Ben Cherry. Und im Mai begegnen wir Thanh wieder im nordindischen Khandala, wo Aban Bana jährlich ein zweiwöchiges Fortbildungs-Seminar organisiert. Thanh leitete eine Arbeitsgruppe, die sich auf „die Reise eines jungen Kindes“ begab, um sich der heiligen Aufgabe des Erwachsenen zu nähern. Eine junge Deutsche, die gerade ihr Freiwilliges Soziales Jahr in einer heilpädagogischen Einrichtung in Indien macht, sagt: „Ich kann nur schwer in Worte fassen, welche Magie und spirituelle Atmosphäre in unserer Gruppe entstand.“

Die Waldorfbewegung lebt ganz wesentlich von Menschen, die begeistert und begeisternd Pionierarbeit leisten. Dieses Wirken und dieser Enthusiasmus trifft auf Gleichgesinnte und langsam verbreitet sich der Impuls der Waldorfpädagogik auch in Asien. Wenn er genügend Menschen findet, die ihn kraftvoll in ihren Willen aufnehmen, ist zu hoffen, daß künftig immer mehr Familien jener Alternative begegnen, die sie verzweifelt suchen.