23.10.2005

Wunderbare Harmonie

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 4.11.2005 (Nr. 45).

Ein kleiner Junge spielt in einem Kornfeld Geige, zwei Notenblätter hat er mit Wäscheklammern an den Halmen befestigt. Drei andere Jungen kommen gelaufen und verprügeln ihn. So beginnt der schwedische Film „Wie im Himmel“. Er erzählt von verletzten Seelen, ihrer Suche nach Leben und Liebe – und von der großartigen Mission der Musik.


Daniel Dareus ist etwa 45 Jahre alt und ein berühmter Dirigent, der sich ganz der Musik hingibt. Am Ende eines Konzerts bricht er zusammen. Daraufhin läßt er die Welt der vollen Terminkalender hinter sich und kauft das ehemalige Schulhaus in seinem Heimatdorf. Als er zum ersten Mal vor die Tür tritt und sich über die fallenden Schneeflocken wie ein Kind freut, erlebt man unmittelbar, wie sensibel dieser Mann ist.

Im Dorfladen sieht er die junge Lena, die mit Lucia-Glitzerschmuck im Haar wie ein verlorener Engel auf einer Kiste sitzt und weint. Als eine Kundin hereinkommt, wischt sie schnell ihre Tränen weg und erzählt der alten Frau einen Witz. Auch Daniel begegnet sie mit großer Herzlichkeit – und lädt ihn zur Probe des Kirchenchors ein.

Die zusammengewürfelte kleine Schar ist begeistert, als sie von dem großen Dirigenten erfährt. Eigentlich suchte Daniel die Ruhe, doch seine Lebensaufgabe wartet auch hier: Schon als kleiner Junge wollte er immer eine Musik machen, die die Herzen der Menschen öffnet. Und so bewirbt er sich als Kantor.

Entwicklung durch Musik

Mit unkonventionellen Methoden beginnt er, äußere und innere Verspannungen der Sänger zu lösen. Zwar stellt das störende Handy des wenig sensiblen Händlers Arne die Arbeit zunächst in Frage, und bald darauf beginnen auch noch alle Chormitglieder zur gewohnten Zeit die gemeinsame Kaffeepause. Doch Daniel lernt, auch das Soziale zu schätzen; die anderen wiederum werden von seiner Begeisterung angesteckt.

Daniel bringt ihnen das Wesen der Musik nahe: Das Wichtigste sei das Hören. Man muß sich öffnen für die Töne, dann kann man sie vom Himmel herabholen. Vor allem muß jeder seinen individuellen Ton finden. Zuhause stellt er auf seinem Klavier die Fotos aller Chormitglieder immer wieder um, bis es für ihn zusammenstimmt. Für die unsichere Gabriella, die von ihrem Mann geschlagen wird, komponiert er eine Solostimme, und das erste Konzert wird ein großer Erfolg.

Zugleich aber wächst der Haß des Pfarrers Stig, der sich verdrängt fühlt. Seine eigene Frau bricht ihre lange Zurückhaltung und kritisiert sein Reden von Schuld und Sünde: Gott vergibt nicht – denn er verurteilt nicht.

Alle Beteiligten gehen durch persönliche Dramen und Entwicklungen, die die Gemeinschaft verwandeln und den Film ausmachen. Manches könnte unglaubwürdig wirken, doch das Leben selbst ist so vielfältig.

Daniel und Lena sind es, die die Entwicklung möglich machen. Daniel, der über die Musik die Menschen zu sich selbst führt. Lena als engelhaftes Wesen, das immer wieder vermittelt, ehrliche Fragen stellt und anderen zur Seite steht. Ihr rückhaltloses Lächeln, ihre strahlenden Augen sind unbeschreiblich. Doch auch sie leidet nach einer beendeten Beziehung. Alle wußten, daß der Mann verheiratet war, nur sie nicht.

Lena faßt immer mehr Zuneigung zu Daniel und gesteht ihm, daß sie an einigen Menschen manchmal Engelsflügel sehen kann, etwa an Tore, aber auch an ihm. Und sie fügt hinzu: „Man ist erst fertig, wenn man sie an allen Menschen sehen kann ...“ Als Daniel ihr gegenüber distanzierter ist, als er es eigentlich will, ahnt sie, daß er ihr auch wegen seines Gesundheitszustands keine Beziehung zumuten will. Sie aber sagt: „Du brauchst keine Angst zu haben. Es gibt keinen Tod.“

Am Ende reist der Chor zu einem Wettbewerb. Als Daniel etwas verspätet zum Auftritt hastet, bekommt er wieder Herzbeschwerden und bricht in einer Toilette zusammen. Nervös wartet das Publikum – da beginnt Gabriella mit einem langen Ton. Nach und nach stimmen alle ein und erklingen in wunderbarer Harmonie. Die übrigen Chöre sind zunächst irritiert, doch dann erleben die Menschen das Großartige dieses Klanges. Ein erster Mann steht auf und stimmt ‹seinen› Ton an, andere tun es ihm nach. Zuletzt steht der ganze Saal, und alle tönen zusammen.

Daniel hört das Ganze durch einen Lüftungsschacht über ihm: Dies ist es, was er sein ganzes Leben lang gesucht hat. Glücklich schließt er die Augen...

Bedürfnis nach Angstlosigkeit

Fast wäre dieser Film von Kay Pollak nicht entstanden. Als sein letzter Film am 28. Februar 1986 anlief, wurde Premierminister Olof Palme nach dem Kinobesuch ermordet. Das Attentat traumatisierte Schweden und bewog auch Pollak, sich vom Filmemachen abzuwenden.

Dann lernte er seine Frau kennen – die in einem Chor sang. „Und nach und nach wurde mir bewußt, daß so ein Chor eigentlich als Metapher für Menschlichkeit stehen kann.“ Pollak entdeckte das Chorsingen als größte kulturelle Bewegung in Schweden, führte viele Gespräche, und über die Jahre reifte ein Drehbuch. Mehr als zwei Millionen Schweden, bei nicht einmal neun Millionen Einwohnern, sahen den Film. Sein Erfolg erklärt sich aus der allgemeinen Sehnsucht, dem anderen ganz und gar offen und ohne Angst zu begegnen. Die einzige Figur, die sich nicht verändert, ist Lena. Sie ist bereits ehrlich, mutig und voller Liebe – ein Engel auf Erden.