Das reine Denken und die Realität des Christus

Mieke Mosmuller: Der Heilige Gral. Occident Verlag, 2007. >> Buchbesprechung.

Rudolf Steiner gab in seinen Werken einen Schulungsweg, auf dem das Denken vollkommen gereinigt und verwandelt werden kann. Dass das Gehen dieses Weges möglich ist und man auf diesem Weg zu einem wirklichen Erleben des realen Christus kommen kann, zeigen die Werke der niederländischen Anthroposophin Mieke Mosmuller. Das folgende ist ein Auszug aus Ihrem erschütternden Buch „Der Heilige Gral“:


Das Denken jedoch, das rationale Denken, formt einen Teil des so genannten Ätherleibes des Menschen, des Lebensleibes. Die Lebensprozesse kann man durch wissenschaftliche Erkenntnisse nicht erreichen, das Denken jedoch ist wie ein Schatten, der geworfen wird, weil das Lebenslicht nicht direkt scheinen kann, sondern reflektiert wird. Diese Reflektion ‚sieht‘ man als die eigenen Gedanken. [...]

Der Ätherleib des Hauptes wird nur im Denken bewusst. Dieses Denken steht noch unmittelbar mit dem ganzen Kosmos in Verbindung. Nur hat man davon kein direktes Bewusstsein, sondern es erscheinen einem die Weltgedanken, die kosmischen Gedanken, über einen Umweg als alltägliche Gedanken. Würde man das kosmische Denken direkt wahrnehmen, würde man es als unerträglich erfahren. Es muss gefiltert, abgeschwächt, reflektiert werden. Der Scheincharakter des Denkens beruht auf dieser Abschwächung, auf der Spiegelung durch das Großhirn. [...]

Wenn man erwachsen geworden ist, hat man ein passives Denken entwickelt, das meist gefüllt ist mit geistlosen Gedanken und das eng gebunden an das physische Sein ‚abläuft‘, wodurch es sich als Form auch dem physischen Sein – und ausschließlich diesem – anpasst. [...]

Das Loslösen des Denkens aus dem physischen Sein ist Meditation auf dem Weg zu Christus. Es ist das Suchen nach dem Heiligen Gral. Es ist also nicht ein Vermeiden des Denkens, sondern eine Umwandlung dessen. Man arbeitet am Ätherleib des Kopfes. Man verlässt das Denken nicht, sondern man knetet, massiert es. Es muss die physische Steifheit verlieren und wieder die Geschmeidigkeit bekommen, die zum Geist passt. Dann muss man lernen, sich daraus zu lösen und das Denken anzuschauen. Das ist Meditation, und sie ist ein Kampf. Man muss etwas umzubiegen versuchen, was absolut nicht umgebogen werden will, und man hat auch noch nichts anderes zur Verfügung als diese Unbeugsamkeit selbst – nämlich das Denken, das noch festsitzt an der Physis.

Es ist eine unmögliche Aufgabe, und man wird zum ersten Mal konfrontiert mit dem Wesen von Christus heute. [...] Während man völlig im Netz der physisch-materiellen Gedanken gefangen ist, kann man die Kraft finden, einen Gedanken zu formen, der nicht physisch-materieller Art ist, der keinen Inhalt aus der Welt hat und den man denkt, weil man es selbst so will. Dass man es will, ist eigene vollkommene Freiheit. Dass man es aber auch kann, ist ein Wunder. Es geht eigentlich gar nicht, denn man ist die eigene physische Gedankenwelt, man ist damit verwoben, man ist selbst das Gewebe. Und doch ist da etwas, das anscheinend abgesondert davon existiert und das inmitten dieses Gewebes einen frei initiierten, nicht-materiellen Gedanken formen kann. Dasjenige, was dies will, ist der eigene Geist, der die Seele bewegt; die Macht jedoch, die man braucht, diesen Willen zu verwirklichen, ist Christus selbst.

[...]

In meinem Buch ‚Suche das Licht...‘ habe ich einen Versuch gemacht, den Leser auf die Spur eines Denkens zu bringen, in dem kein Zweifel mehr über die Wahrheit eines Gedanken besteht. Ein derartiges Denken, das ein reines Denken ist, weil es sich ausschließlich in wahrhaftigen Gedanken entfaltet, nicht in Meinungen, kann dann angewandt werden, um geisteswissenschaftliche Inhalte zu lesen und mitzudenken. Das Denken ist dann so an das Wahrheitserleben gewöhnt, dass es Unwahrheit nicht mehr erträgt, es wird gleichsam krank davon. Es ist ein Denken, dass ganz geduldig und abwartend ist. Es kann über längere Zeit Gedanken mitdenken, ohne auch nur einen Augenblick das Bedürfnis zu haben, sie an eigenen Meinungen zu prüfen. Es ist selbstlos, denn es muss viele Gedanken mitdenken, ohne Schlüsse zu ziehen, ohne in die eigene Persönlichkeit zurückzufallen. Die Kohärenz der Gedanken, der logische Zusammenhang, auch wenn es zeitweilige Gegensätze gibt, wird beweisend für die Wahrheit der Gesamtheit der geisteswissenschaftlichen Gedanken. Man hat ja anfangs keine Wahrnehmungen, die die Gedanken beweisen, man hat ausschließlich Denken, Begriffe. In der Naturwissenschaft sind die Sinneswahrnehmungen Bestätigung für die Begriffe und umgekehrt. In der Geisteswissenschaft hat nur der ‚Seher‘ die Wahrnehmung, der Schüler hat nur das Denken. Aber der Schüler lernt, die Wahrheit durch den logischen Begriffszusammenhang zu erkennen.

Auf die oben beschriebene Weise wird das Denken ein auf sich selbst stehendes Ganzes, ein sich gegenseitig tragender zusammenhängender Wahrheitsorganismus, es wird die Wahrheit selbst. Diese ist kein starres, dogmatisches Gedankensystem, sondern ein inniges, tief im Innern empfundenes, lichtvolles, geschmeidiges Gewebe. Das Wahrnehmen dessen kann eigentlich die erste hellseherische Erfahrung des Schülers sein. Um diese Wahrnehmung haben zu können, muss der Schüler wohl geübt sein im Anschauen des eigenen Denkens, nicht mehr des Inhalts, sondern des Denkens als Prozess. Diese Fähigkeit wird in der Meditation geübt und schließlich erworben.

Der Schüler ‚sieht‘ dann dieses Gewebe, das von ihm ausstrahlt und in ihn zurückkehrt, das von individueller Art ist, jedoch gleichzeitig universell. Es ist ureigen und auch überpersönlich. Es ist die lebendige Wahrheit selbst, an der der Schüler behutsam und doch mutig und voller Vertrauen teilhat, der er sich aber auch gegenüberstellen kann. Es ist der Heilige Gral...

Wenn dann der geistige Lehrer, der Seher (in meinem Fall der Meister des Abendlandes), offenbart, dass dieses lichtvolle geschmeidige Wahrheitsweben die erste Offenbarung von Christus selbst ist, dann ist das für den Schüler eine selbstverständliche Wahrheit, weil dieser Gedanke kohärent ist, logisch zusammenhängt mit dem Wahrheitserleben selbst, es ist der dazugehörende Begriff. Es ist ja der Logos selbst, den der Schüler dort anschaut! Das ganze auf sich selbst stehende, in sich ruhende und doch bewegliche denkende Wahrheitserleben ist der lebendige Begriffsorganismus, der allem, was erschaffen wurde, zu Grunde liegt. Der Schüler sieht zwar noch nicht das Wesen des Logos, er hört noch nicht das Wort. Doch er schaut die lebendige Wirkung an, wie diese im Wahrheitserleben, im webenden Gedankenorganismus gegeben ist.

[...]

Man wird in einem übersinnlichen Denken wiedergeboren, man ist dort aus Gott geboren. Man hat die innere Sicherheit, dass diese Geburt innig mit dem Wesen von Christus zusammenhängt. Man hat gelernt, ein reines Denken zu entfalten, und man hat gelernt, es in geisteswissenschaftlichem Inhalt zu bewegen. Das reine Denken, das in der Meditation zur reinen Seele, zur Sophia, erhoben wird, empfängt als Inhalt, als Befruchtung, den Weltgeist als Weltgedanken. Die Frucht, die von der Seele getragen wird, ist Christus. [...]

Wenn man sich als Denker aus dem normalen Gedankenleben in ein reines Denken befreit hat und durch das Festhalten solcher Gedanken in der Meditation Standhaftigkeit in das reine Denken gebracht hat, dann ‚steht‘ das Denken vor dem Geistesauge, als ein starker, webender Organismus. Es ist ein dynamisches Kräftefeld, das aus dem eigenen reinen Denken geboren wurde, und man hat es vor sich, nicht als Begriff, sondern als lebende, webende Wirklichkeit. Obwohl man darin eine Art Wunder erlebt, ist es doch noch ein ‚nüchternes‘ Ereignis. Es ist wahrhaft Denken, man erlebt es als Kraft, doch es schenkt einem keine Gefühle. Diese Kraft ist der heilige Gral.

Plötzlich und unerwartet kann eine Veränderung eintreten. In den von einem selbst ausgehenden Denkprozess tritt von außen her, das heißt außerhalb der eigenen Aktivität und des eigenen Einsatzes, eine Erfüllung ein. Gnade möchte man das nennen, denn das Denken wird jetzt empfindsam. Ein milder Glanz durchdringt es, Wärme, Liebe. Ach, Worte passen hier nicht, es sind absolut neue Empfindungen, nie hat man sie zuvor gehabt. Sie ähneln wohl Gefühlen, die man in außergewöhnlichen Momenten haben kann: Trost, Schutz, Beruhigung; aufsteigendes Licht, nicht außerhalb von einem, sondern ganz mit einem verwoben; Wärme in inniger Freundschaft, in einem guten Gespräch, in dem der Begriff hinüber und herüber fließt; vertrauensvolle Hingabe an den anderen, weil man nichts zu fürchten hat...

Doch ist dies auch schwierig zu ertragen. Es prüft einen ja auch. Es ist das Allerhöchste und erwartet von einem den Willen, sich zum Allerhöchsten zu erheben, von Angesicht zu Angesicht vor Ihm zu stehen – und den Kontrast zu erleben. Unermessliche Liebe fühlt man, aber verbunden mit einer Aufgabe. Man kann nicht bleiben, wer man ist, und wenn man einst die eigene Menschlichkeit zur vollen Entfaltung gebracht haben wird, wird noch immer viel von einem erwartet werden. [...]

Man schaut das Allerhöchste an, es ergießt sich als Gefühle in den Denkorganismus – und man kann es kaum ertragen, obwohl man weiß, dass dieses Erlebnis einem durch göttliche Gnade zuteil wird.

Später in der Entwicklung kommt Stabilität in die Erlebnisse. Man entdeckt, dass die Gnade geschenkt wird durch eine einsetzende Veränderung in seinem eigenen Verhältnis zu sich selbst. Zuerst ging die Meditation noch aus vom gewöhnlichen Willen, den wir auch sonst im Leben einsetzen. Durch die Konzentration in der Meditation wird immer mehr und mehr der übersinnliche Wille eingesetzt, die Kraft des eigentlichen Willenswesens, das auch reale Vorstellungen formt. Die Umformung des Willens erlebt man als die Gnade, sie ist die Befreiung des Willens aus dem physischen Leib.

Es ist eine absolute Realität, die man erfährt. Wie das Sonnenlicht, das durch eine Wolkendecke bricht, Realität ist, so tritt dieses warme Liebeslicht aus dem Umkreis in die eigene Denkkraft, die metamorphosierte Willenskraft ist, hinein.

Das ist die Erscheinung des ätherischen Christus im Denken.

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