25.11.2007

Von der Aufgabe der weltweiten Waldorfbewegung

und die zwei ungleichen Brüder

Verfasst für die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, veröffentlicht auf der Homepage und im Rundbrief Frühling 2008.


In diesem Herbst stieg die Zahl der weltweit arbeitenden Waldorfschulen auf 1.000
.

Über diese Entwicklung könnte man sich sehr freuen: In so vielen Schulen wird wunderbare, tief engagierte Arbeit geleistet – in vielen Ländern unter Bedingungen, die wir uns kaum klarmachen oder gar vorstellen können. Die entscheidende Frage dabei ist aber doch: Betrachten wir die Schule in der südafrikanischen Township oder im fernen Tadschikistan als Schwester- und Bruderschule? Ganz konkret? Oder haben wir dazu gar nicht die Kraft (stellen uns dies zumindest vor) – oder vielleicht sogar nicht den Willen?

Die 1.000 Waldorfschulen weltweit sind ja kein abstrakter Grund (sich?) zu „feiern“, will man nicht einem illusionären Kollektivempfinden verfallen. Sehr wohl aber wären sie dann einer innerlichen Feier wert, wenn man sich mit dieser Bewegung in ihrer Ganzheit so verbunden fühlt, dass man wirklich dankbar auf die Tatsache blicken kann, dass tatsächlich so viele Keime den Weg ins Leben gefunden haben. In einem solchen Blick lebt dann aber zugleich das Empfinden, wie unendlich viel Hilfe für diese Keime notwendig ist, damit sie nicht von innen und von außen verdorren müssen.

Um leben zu können, braucht die weltweite Waldorfbewegung ein gemeinsames Bewusstsein. Die Waldorfbewegung würde erlahmen, vertrocknen, wenn sich nicht immer wieder Pädagogen verschiedenster Schulen und Länder begegnen würden in gemeinsamen Konferenzen, Gesprächen, Fragestellungen. Sie würde aber auch erlahmen und ersterben, wenn sie nicht immer wieder getragen würde durch viele Menschen, die sich für sie interessieren, die sie begleiten, fördern und mittragen – ganz konkret.

Die Waldorfschule ein Kulturfaktor – als Bettler?

Rudolf Steiner setzte hohe Hoffnungen in die Waldorfschule. Sie sollte ein Keim für jenes Geistesleben werden, das heute so schmerzlich fehlt. Sie sollte ein Kulturfaktor werden! Die Waldorfschulen, die heute in über 60 Ländern existieren, kämpfen jedoch zumeist unter mißgünstiger staatlicher Kontrolle und ohne alle Zuschüsse ums Überleben. Viele von ihnen sind in ihren Ländern Pioniere für eine neue Art, das Wesen von Bildung überhaupt zu verstehen und auf die Kinder zu schauen – doch: Sie werden meist nicht wahrgenommen ... und sie können auch nicht ausstrahlen, weil sie eben selbst um die tägliche Existenz ringen müssen. Die Frage der Weltschulbewegung steht aber in dem nicht groß genug zu denkenden Zusammenhang der Frage nach der Zukunft der menschlichen Kultur, des menschlichen Geistes überhaupt!

Der Geist muss wirklich hineinschlagen in die gegenwärtige Zivilisation – eine Zivilisation, die von diesem Geist bereits so weit entfernt ist, dass sie gleichsam ratlos dasteht, vor den Trümmern ihrer Geistlosigkeit, ohne es überhaupt zu merken. Im Grunde müssen wir die Aufgabe schon deshalb immer wieder so groß begreifen lernen, weil dies die Bedingung dafür ist, dass der Waldorfimpuls selbst lebendig bleibt – in jeder einzelnen Schule. Auf der anderen Seite kann sich nur durch eine so groß begriffene Aufgabe eine lebendige Brüderlichkeit innerhalb der Waldorfbewegung entwickeln.

Es ist zwar wahr: Viele Schulen tragen sich selbst in Südamerika, Afrika, Osteuropa, Asien ganz aus dem Enthusiasmus der Eltern und Lehrer heraus (ohne jeden staatlichen Zuschuss, dafür immer mit der Tendenz zu Armutslöhnen und Elite-Schulgeldern...). Aber zu einer Waldorfschule gehört eben weit mehr als die „Deckung laufender Kosten“. Zuallererst die pädagogische Substanz. Und hier fehlt es sehr oft an ortsnahen, guten Ausbildungsststätten oder aber schon am Geld, um vorhandene Möglichkeiten überhaupt wahrnehmen zu können! Oder es fehlen die Mittel, um z.B. Fachräume mit dem Allernotwendigsten ausstatten zu können – und vieles mehr.

Dass es überhaupt Waldorfschulen in Ländern gibt, die nicht wie die deutschen immerhin 60-70% staatliche Zuschüsse bekommen, zugleich aber ein unendlich viel tieferes Lohnniveau haben (bei durchaus ähnlichen Lebenshaltungskosten), ist – wörtlich – ein Wunder. Viele Lehrerinnen und Lehrer arbeiten eigentlich aus reinem Idealismus, für einen Lohn, von dem sie nicht einmal die Miete ihrer Wohnung bezahlen können... Solche Bedingungen werden zu Schicksal – zum Schicksal all dieser Pionierschulen, in ihren Ländern noch viel mehr „Winkelschulen“ zu bleiben als hier in Deutschland.

Die große Aufgabe aber ist es, diesen Pionierschulen so zu helfen, daß sie wirklich strahlen können – daß man an ihnen erlebt, was Waldorfpädagogik im tiefsten Sinne bedeutet. Man male sich einmal folgendes Bild: Da ist ein Mensch, der hätte anderen im Grunde etwas ungeheuer Wichtiges zu schenken, mitzuteilen. Aber er hätte das Schicksal eines Bettlers... Er müßte täglich selbst um sein Überleben kämpfen, und er würde auch gar nicht beachtet!

Die Waldorfschulen in fast allen Ländern dieser Erde sind dieser Bettler. Die Waldorfschulen in Deutschland sind sein älterer Zwillingsbruder. Spüren wir, wie hier das Bild von St. Martin, das wir den Kindern nahebringen wollen, in anderer Form lebendig, konkret wird? Können wir den Kindern dieses leuchtende Bild malen, ohne uns selbst innerlich zu verwandeln, zu begeistern? Können wir so weit kommen, daß wir am eigenen Bruder innerhalb unserer Waldorfbewegung nicht mehr vorüber reiten, sondern seine Not erkennen?

Auch der ältere Bruder in Deutschland hat seine Sorgen, kann sich vor Sorgen oft ebenfalls kaum darauf konzentrieren, daß es auch seine Aufgabe ist, nach außen zu strahlen. Worauf es aber ankäme, ist, daß diese beiden Zwillingsbrüder ihre jeweilige Aufgabe immer mehr als gemeinsame begreifen... Je mehr sie zusammenwirken würden, desto mehr würden sie daran arbeiten können, die Waldorfpädagogik zu einer Verwandlerin des gesamten Bildungswesens, ja wirklich zu einem Kulturfaktor werden zu lassen. Der jüngere Bruder, der immer vor dem Verhungern steht, aber mit seinen schwachen Kräften versucht, weltweit zu wirken, braucht jede denkbare Hilfe seines älteren Bruders. Je mehr dieser Ältere ihm hilft, desto mehr werden beide ihre gemeinsame Aufgabe erfüllen können!

... Nur als wirklich gemeinsame Bewegung!

Die „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“, die gegründet wurden, um die von Rudolf Steiner immer wieder angeregte Idee eines „Weltschulverein“ aufzugreifen, unterstützen die weltweite Waldorfbewegung nach Kräften – mit Hilfe von geschenktem Geld. Als eine unserer wichtigsten Aufgaben verstehen wir es, (selbst) ein Bewusstsein der weltweiten Waldorfbewegung zu entwickeln und alle anderen, in und außerhalb dieser Bewegung stehenden Menschen daran teilnehmen zu lassen. Mit unseren Rundbriefen zum Beispiel wollen wir allen Lesern die Waldorfbewegung in lebendigen Berichten so nahebringen, dass man das (berechtigte) Gefühl gewinnen kann, wirklich einen Überblick zu bekommen, zu fühlen: Da ist etwas Ganzes, und ich kann dieses Ganze zumindest an diesem oder jenem Zipfel wirklich erleben. Einen noch tieferen Einblick bietet unsere ständig wachsende Homepage, wo sich nicht nur Berichte aus aller Welt finden, sondern auch viele wunderbare Beispiele, z.B. von Schulpartnerschaften.

Die Braunschweiger Waldorfschule zum Beispiel hat eine Partnerschaft mit einer Waldorfschule im ländlichen Osten Brasiliens. Würde man sich jemals direkt kennenlernen? Die 12. Klasse hat im Mai eine Reise dorthin gemacht. Und sie hat nicht nur das Geld für diese weite Reise aufgebracht, sondern außerdem 20.000 Euro Spenden für diese Partnerschule und eine weitere Waldorfinitiative in Brasilien!

Manche deutschen Waldorfschulen unterstützen unseren Internationalen Hilfsfonds mit Basarerlösen oder anderen Spenden. Dadurch können wir auf ganz konkrete Hilferufe aus der weltweiten Waldorfbewegung eingehen! Und wieviel mehr könnte getan werden, wenn jede deutsche Waldorfschule in ihrem Haushalt selbst nur 0,36% (so viel wendet der deutsche Staat für Entwicklungshilfe auf) für die Bruder- und Schwesterschulen in der Welt einplanen würde! 5.000 bis 10.000 Euro sind für einen Jahreshaushalt einer ganzen Schule wirklich ein winziger Bruchteil – aber wie viel könnte mit einer solchen Summe für die Waldorfbewegung z.B. in Afrika oder Asien getan werden! Nur um eine Vorstellung zu bekommen: Eine solche jährliche Spende von jeder deutschen Waldorfschule würde die freien Spenden, mit denen wir helfen können, fast verzwanzigfachen!

Wir nähern uns jetzt der Weihnachtszeit. Es ist dies nicht eine Zeit falscher sentimentaler „Besinnlichkeit“. Wenn man das Weihnachtsfest richtig feiern will, muss man vorher die Michaeli-Zeit erlebt haben: Den Ruf des (wahren) Zeitgeistes, jenes göttlichen Wesens, das die Menschen zum Geist wachrufen will. Das Weihnachtsmysterium wird dann zum Bild für die menschliche Seele, die in sich den Geist gebiert. Möge also gerade das nahende Fest der Liebe Zeit und Kraft geben, in Liebe auch diese weltweite Schulbewegung ins Bewusstsein zu heben und den Geist in sich wachzurufen, der sich der Größe der Aufgabe bewusst wird.

Dann wird die Waldorfbewegung zu einer wirklichen Bewegung werden. Dann wird auch St. Martin nicht nur eine schöne Legende bleiben, sondern dann werden die zwei Brüder einander erkennen und die Hand reichen ... und es werden nicht nur die vielen kleinen Wunder (die jede einzelne Waldorfschule darstellt) lebendig bleiben, sondern es wird aus den vielen kleinen Keimen heraus ein großes Wunder entstehen: Der Geist, den jede einzelne Waldorfschule zu pflegen und zu wecken hat, strahlt aus in diese Kultur und verwandelt sie – und schafft real an einer neuen Welt, in die die heranwachsenden Kinder dann auch jene Impulse, die sie fortwährend mitbringen, wirklich hineintragen können...