01.12.2008

Gedanken zu Weihnachten

veröffentlicht in der "Mittenmang", Schulzeitung der Waldorfschule Berlin-Mitte, Weihnachten 2008.


Advent ... und dann Weihnachten – was ist das?
Es ist für die meisten Menschen wahrscheinlich einfacher zu beschreiben, was Weihnachten für sie nicht (mehr) ist... Keine Ruhe, eher Hektik. Keine Besinnung, eher Leere. Mehr Essen als sonst, lästige Familienbegegnungen, Fernsehen, vielleicht sogar eine unerträgliche Leere. Nicht wenige Menschen verfallen gerade zur Weihnachtszeit in Depressionen...

Und doch – was war Weihnachten einmal? In den Jahren der Kindheit? Auch hier angefangen in der Adventszeit... Draußen wurde es immer später hell, immer früher dunkel ... drinnen gab es Kerzen, vielleicht morgens schon, oder nachmittags, abends... Manchmal Geschichten, Basteln, dann der Duft von Plätzchen, den es in jedem Jahr nur in diesen wenigen Wochen gab. Und dann Weihnachten... Der wunderschöne Baum, die Lichter überall, eine Krippe unter dem Baum, Maria, Josef und das Kind ... die Musik, die Lieder ... wieder die schönen Düfte ... und dann das Wunder der Geschenke, die auf einmal da waren, vielleicht schon zu Heiligabend, vielleicht am ersten Weihnachtsmorgen... Vielleicht draußen leiser Schneefall. Und um all das webte ein Geheimnis, das alles umfasste – das Geheimnis dieses Kindes...

Was ist davon heute noch vorhanden – bei uns, uns Erwachsenen? Ist das alles verloren? Haben wir uns damit abgefunden? Warum eigentlich? Weil wir nicht mehr daran glauben? Oder nicht mehr glauben können? Oder darin nichts mehr sehen können? Oder wollen wir nicht? Wissen wir nur nicht, wie es geht, dieses Glauben, Fühlen, Sehen, Erkennen – oder interessiert es uns auch nicht?

Sich auf die Suche machen

Tatsache ist, dass es immer Menschen gab, die einen Zugang zu Weihnachten hatten, auch als Erwachsene, sogar einen tieferen Zugang als die Kinder. Und diese Erwachsenen waren nicht dumm, auch nicht immer einfach nur „gläubig“. Es muss also eine Ursache geben, warum dieser Zugang heute so verschüttet ist. Diese Ursache gibt es natürlich. Aber man kommt ihr nur auf die Spur, wenn man sich auf die Suche macht. Auch die Hirten fanden das Kind schließlich nur, weil sie nach ihm suchten... Zwar führte sie ein Stern, aber wer sagt uns, dass wir nicht einem solchen Stern begegnen, wenn wir zu suchen anfangen?

Nun – jeder, der sich von dieser Frage auch nur ansatzweise betroffen fühlt, kennt die Antwort natürlich schon mehr oder weniger. Er weiß, warum der Glaube, das Erleben des Kindes, der „Hauch des Wunders“ nicht mehr da ist. Das Erwachsenwerden ist nur ein Spiegel der Bewusstseinsgeschichte der Menschheit in den letzten Jahrhunderten – einer Menschheit, die ebenfalls erwachsen geworden ist, mit allen Vor- und Nachteilen, die uns heute klar vor Augen stehen. Nicht nur Weihnachten hat seinen Inhalt verloren, sondern alles um uns herum. Alles wird sachlicher, zweckgerichteter, sinn- und zusammenhangloser, profaner...

Man könnte einmal die Frage stellen: Haben wir das Weihnachtswunder verloren, weil dies so ist – oder ist dies alles so, weil wir das Weihnachtswunder verloren haben...? Soviel jedenfalls ist klar, der Verlust des Weihnachtsgeheimnis für unser Erleben ist keine Frage der Überwindung eines „kindlichen Glaubens“ an etwas Überholtes, es ist nur Symptom eines viel größeren Verlustes, der unser gesamtes Erleben betrifft. – Nun könnte man sagen: Wenn die Welt sinnlos ist, dann ist ein Sinn darin eben nicht zu finden, also muss das Erleben immer leerer werden. Das aber ist doch gerade die Frage: Wer sagt mir, dass die Welt sinnlos ist?

Glaube ich den modernen Propheten, die noch immer den Materialismus verkünden, wo es längst viele und immer mehr Menschen gibt, die Erlebnisse an der Todesschwelle, mit Engelwesen, mit Elementarwesen ... ja, mit Christus selbst gehabt haben? Wen nehme ich ernst? Die Wissenschaftler, die per definitionem ihre Erkenntnisse bewiesen haben, tatsächlich aber überhaupt nichts bewiesen haben, als nur ihre eigenen Erkenntnisgrenzen? Oder diese realen Erfahrungen anderer Menschen, mich selbst, mein Bedürfnis nach Sinn, meine Sehnsucht, meine Ahnung eines Sinnes? Hat je ein Wissenschaftler wirklich Sehnsucht oder Ahnung erklären können? Oder Liebe? Ergriffenheit? Ehrfurcht?

Wenn ich also sehe, dass die Wissenschaft hierzu überhaupt keine Aussagen machen kann, dass also über die Frage des Weihnachtswunders gar nichts ausgemacht ist, außer der Tatsache, dass ich es vielleicht seit Jahren verloren habe – und wenn ich dennoch die Sehnsucht empfinde ... warum mache ich mich dann nicht wieder auf die Suche?

Das Geheimnis der Freiheit

Das Zeitalter des nackten Intellekts ist das Zeitalter der Freiheit. Man kann sich immer nach einer früheren Zeit mit einer gegebenen Frömmigkeit zurücksehnen – doch diese gegebene Religiosität war nichts selbst Errungenes. Sicher, sie konnte unendlich vertieft werden, aber dass man an Gott glaubte, stand außer Frage. Der Mensch war in dieser Hinsicht unfrei. Nun ist ein anderes Zeitalter angebrochen. Der Mensch ist in die Freiheit entlassen. Unfrei ist er heute in Bezug auf den Intellekt, der ihm nun gegeben ist. Diesem Intellekt muss er sich entringen und einen neuen Glauben muss er sich erringen. Wenn er das will. Freiheit ist eine Tat des freien Willens. Man kann auch darauf verzichten und (freiwillig!) in der Gefangenschaft einer immer leereren Welt verbleiben... Es ist aber eine Entscheidung, die man so oder so selbst trifft.

Wem wollte man einen Vorwurf machen, dass die Welt immer leerer und sinnloser wird? Dass sie immer unmenschlicher wird, dafür sind die Menschen verantwortlich. Die Sinnlosigkeit selbst kann man aber auch nicht einem blinden Urknall vorwerfen. Es wäre nicht nur paradox, einen enttäuschten Vorwurf ins Nichts zu richten. Nein, sondern: So ist die Welt überhaupt nicht. Die Sinnlosigkeit besteht nur für das menschliche Bewusstsein, insofern es völlig vom Intellekt durchtränkt worden ist. Daher ist man auch hier mit sich selbst, seiner eigenen Aufgabe konfrontiert: Sich auf die Suche zu machen. Heißt es nicht: Suchet, so werdet ihr finden...?

Weihnachten ist nicht zufällig ein Fest, in dem alles, aber auch alles auf eine Verinnerlichung zuzugehen scheint. Diese Zeit und dieses Fest ist ein Ruf nach Verinnerlichung. Wer ruft...? Vielleicht das Kind...? Vielleicht die eigene Seele, die längst die Richtung kennt, in die die Suche gehen muss, und die sich danach sehnt, dass die Zwangsherrschaft des Intellektes etwas anderem weicht – etwas, was nicht weniger klar und bewusst ist, aber dennoch unendlich viel weitsichtiger, hellsichtiger, weiser...

Das wahre Wesen des Denkens

Das menschliche Denken ist etwas, was ein ebenso großes Geheimnis ist wie das Weihnachtsgeheimnis. Der Intellekt hat dazu beigetragen, dass der Mensch sich die Schärfe und Klarheit seines heutigen Bewusstseins erobern konnte. Aber er hat zugleich – und in immer größerem Maße – das Denken selbst unterdrückt, beschränkt, gelähmt, ertötet, unmenschlich gemacht. Die Aufgabe, vor der der Mensch heute steht, ist, sein Denken zu ergreifen und zu seiner wahren Bestimmung zu führen. Das Denken ist dazu berufen, die tiefsten und höchsten Weltengeheimnisse zu erkennen und zu schauen, das Wesen des Menschen zu erfassen, die Sinnhaftigkeit von allem, was ist.

Heute wird das Denken zu einem Produkt des Gehirns erklärt. Aber wer erklärt da eigentlich? Das Denken selbst erklärt sich zu einem Produkt der Tätigkeit von Nervenzellen. Wie kommt es dazu? Wie kommen die Nervenzellen dazu? Und wer bin ich dann? Das Denken begreift sich selbst nicht, bloß weil man gemerkt hat, dass während des Denkens Gehirnzellen aktiv sind. Es ist, wie wenn ein Klavierspieler sich selbst vergisst und glaubt, das Klavier bringe das Stück hervor. Es ist aber nur ein Hilfsmittel und hat selbst nicht den kleinsten Ton einer Symphonie erschaffen.

Der Intellekt schreibt dem Denken allerdings vor, was es zu tun hat: Es hat nur das Meß-, Zähl- und Wägbare zu denken, das Zweckgerichtete, das auf Eigennutz Gerichtete, das dem Egoismus der unverwandelten Seele Dienende. Damit das Denken gefügig bleibt und auch die Seele ihre Sehnsucht vergisst, gaukelt der Intellekt dem Erleben vor, dass die Welt aus nichts anderem besteht. Das heutige Denken ist überhaupt kein Denken, es ist ein willenloser Sklave einer Macht, die wir Intellekt nennen – was aber auch nichts weiter besagt, denn wir kennen nur ihre Wirkungen. Sie verwandelt die Welt in etwas Totes, Fahles, Sinnloses. Unser Denken besteht aus blassen Vorstellungen, in Gang gesetzt durch äußere Ereignisse oder aufsteigend aus dem Inneren – meist beides in Kombination.

Das Denken – der Mensch selbst – ist aber zu ganz anderem berufen. Es kann sich in die Weltengeheimnisse einleben. Es kann beginnen, sich selbst ernst zu nehmen – nicht die subjektive Seele, sondern sich als Vermögen zu erkennen. Dann durchstößt es langsam den Schleier, die Mauer, die Herrschaft des Intellekts, der ihm seine wahre Natur verbergen wollte. Dann beginnt es zu sehen, dass alles Geheimnis ist und immer tiefer erkannt, verstanden, erlebt, empfunden werden kann. Dass Erkennen ein unendlicher Weg ist, der immer mehr in die Liebe hineinführt.

Dann ist das Denken, ist der Mensch auf dem Weg, auch jenes Geheimnis immer mehr erlebend und erkennend zu ergründen, dass das Wesen der Liebe in sich trägt: das Weihnachtsgeheimnis.