12.09.2009

Wie kann Anthroposophie verwirklicht werden?

Kommentare zu: Wolf-Ulrich Klünker: Anthroposophie und Anthroposophische Gesellschaft. In: Anthroposophie weltweit, Mitteilungen Deutschland, Mai 2009, S. 19-20.


Inhalt
Von der notwendigen Gesinnungsbildung
Gesinnung vs. Weltanschauung?
Rückbezug auf die Vergangenheit?
„Zukunftsoffenheit herstellen“?
Die „zwei Schwellen“ und die Verantwortung
Vom Dabeisein des Ich – aber wie?


Was ist Anthroposophie, wie kann und soll sie heute wirksam, verwirklicht werden? Das ist die wesentliche Frage, mit der sich W.-U. Klünker in seinem Aufsatz auseinandersetzt. Er weist auf wesentliche Hindernisse hin, die sich einer solchen Verwirklichung bis heute entgegenstellen – doch sein eigener Aufsatz ist in vielerlei Hinsicht Teil des Problems, was ich versuchen werde zu zeigen. (Man sollte diesen zunächst selbst ganz lesen. Im folgenden werde ich verschiedene Abschnitte zitieren und darauf eingehen).

Von der notwendigen Gesinnungsbildung

„Und es geschah auch im Heilpädagogischen Kurs, dass es aus Rudolf Steiner herausbrach: das anthroposophische Geschehen sei ihm zu griesgrämig und zu schwer, die Anthroposophen sollten doch eigentlich mit Nietzsches Zarathustra zu Tänzern für die Wahrheit werden. [...] Im letzten Vortrag des Kurses (7. Juli 1924) folgen dann die weitreichenden Worte: „Die Dinge, die angegeben werden, sollten eigentlich nur wie die Wurzeln angesehen werden, aus denen die Gesinnungspflanze aufsprießt. Und da ist es wirklich notwendig, dass vor allen Dingen empfunden werde das Substantiell-Anthroposophische als eine Realität. Und Sie werden nichts erreichen, das kann im voraus gesagt werden, wenn Sie dasjenige, was Sie hier aufgenommen haben, nur wie etwas hinnehmen, was Sie eben erfahren haben und was nicht gesinnungsbildend gewesen ist.“ Hier muss sich natürlich sofort die Frage anschließen, wie ein geistiger Inhalt in die eigene Gesinnung übergeht; welche Verwandlung der anthroposophische Inhalt durchmacht, wenn er in mir seelisch-geistige, vielleicht allmählich sogar ätherisch-leibliche Konstitution wird; ob und in welcher Form der Inhalt dann noch als „Inhalt“ und als Bewusstseinsform erkennbar bleibt.“


Das Grundproblem der heutigen anthroposophischen Bewegung ist, dass die Anthroposophie viel zu wenig gesinnungsbildend ist. Das aber heißt: Sie wird nicht richtig, nicht wirklich aufgenommen. Die Menschen werden dann alles mögliche, aber keine wahren Anthroposophen. Sie werden „wissend“, hochmütig, dogmatisch, tief-ernst-bedeutungsschwer, unindividuell und anderes. Dies geschieht, weil das Anthroposophische nicht zur Gesinnung wird – es müsste rein aufgenommen werden und die eigenen Seelenkräfte verwandeln; stattdessen wird es abstrakt und auf andere Weise falsch aufgenommen und verbindet sich mit den unverwandelt bleibenden Seelenkräften. Dadurch wird der Anthroposophie Gewalt angetan – und den Seelenkräften ebenfalls. Denn man glaubt ja, man „mache alles richtig“, es fehlt also jedes Urteilsvermögen für das wahre Geschehen. Ein abstraktes oder unreines Aufnehmen der Anthroposophie kann aber nicht ohne Wirkung bleiben – sonst wäre die Anthroposophie selbst ein Abstraktum und keine Realität.

Mieke Mosmuller schreibt in ihrem Buch „Eine Klasse voller Engel“:

Und so ergibt sich das Folgende:
Ohne moralische Entwicklung bleibt das Wissen unentrinnbar abstrakt. Anwendung des geisteswissenschaftlichen Wissens in abstrakter Form ist unmoralisch.
Das letztere bedeutet also, dass abstrakt angewendetes geisteswissenschaftliches Wissen in einen sich selbst verstärkenden üblen Prozess hineinführt, aus dem wir nur durch moralische Entwicklung erlöst werden können. Weil es sich nun beim abstrakten geisteswissenschaftlichen Wissen nicht um naturwissenschaftliches, sondern eben um geisteswissenschaftliches Wissen handelt, tritt trotz allem eine Art Einweihung auf, eine Einweihung in Begriffsform. Das bedeutet, dass das abstrakte Wissen, das unmoralisch ist und macht, doch Einweihungsstärke und -bedeutung erlangt. [...]
Wenn wir doch nur die Realitäten der Einweihungspraxis ernst nehmen würden! Man meint, man könne mit dem Wissen Rudolf Steiners in Konferenzen und Seminaren so ein wenig hin und her denken, etwas herumspielen. [...] Nun herrscht aber dieses abstrakte geisteswissenschaftliche Wissen in der Waldorfschule – und überall in anthroposophischen Kreisen. Es ist zur Gewohnheit geworden, auch der Neuling wird schnell darin aufgenommen, er wird sich nur wehren, wenn es ihm vorzüglich um die moralische Entwicklung zu tun ist – sonst bemerkt er seinen Niedergang nicht einmal.
So entsteht eine Gemeinschaft, in der abstraktes geisteswissenschaftliches Wissen gehandhabt und gelehrt wird. Dies kann in der Anwendung nur zu Sünden führen. Die Mitglieder der Gemeinschaft erlangen zunehmende Menschenerkenntnisse, wodurch sie abstrakt ‚hellsehen‘; sie sehen mehr, sie sehen tiefer als früher, jedoch ohne zunehmende, tiefere Moralität, sondern mit abnehmender Moralität.
Mieke Mosmuller, „Eine Klasse voller Engel“, S. 363f.


Dass Anthroposophie heute nicht zur Gesinnung wird, ist das Grundproblem – und es ist ein Problem, auf das schon Rudolf Steiner selbst immer wieder hinweisen musste! Um so ernster wäre es heute zu nehmen...

Wenn W.-U. Klünker dann fortfährt: „Hier muss sich natürlich sofort die Frage anschließen, wie ein geistiger Inhalt in die eigene Gesinnung übergeht...“, liegt gerade hier der Kern des Problems! Wie Rudolf Steiner oft sagte, fing man in der Geschichte immer dann an, über gewisse Dinge zu reden, als man sie nicht mehr verstand. Man kann doch im Grunde nicht theoretisch über die Frage nachdenken, wie Anthroposophie gesinnungsbildend wirkt! Entweder sie tut es – dann nimmt man sie richtig, real auf – oder sie tut es nicht.

Die Grundbedingungen für jegliche innere Entwicklung – und das heißt auch für ein richtiges Aufnehmen der Anthroposophie! – hat Rudolf Steiner oft genannt. Dazu gehören Ehrfurcht und eine moralische Entwicklung. Wir stehen also vor der in gewisser Weise paradoxen Realität, dass die Anthroposophie nur dann richtig – nämlich u.a. gesinnungsbildend – aufgenommen werden kann, wenn eine gewisse innere Entwicklung vorausgegangen ist, wenn man ihr also bereits moralisch entgegentritt. Andernfalls trifft Anthroposophie sofort auf die innerseelischen Hindernisse, allen voran die Abstraktheit, dann der Hochmut (der für die Abstraktheit blind macht) usw.

Und ein Teil der heute allgegenwärtigen Abstraktheit wird eben schon daran sichtbar, dass man fragt (bzw. fragen muss), wie Anthroposophie oder ein konkreter geistiger Inhalt „in die eigene Gesinnung übergeht“.

Gesinnung vs. Weltanschauung?

„Eine Gesinnung wirkt tiefer als eine Weltanschauung. Gesinnung meint eine wirkliche Verwandlung der mitgebrachten Konstitution, eine Metamorphose bis in die Schichten von Empfindung und Leben hinein.“


Das ist einerseits richtig, wenn man unter „Weltanschauung“ ein abstraktes Gedankengebäude versteht, wie es ja in der Regel immer der Fall ist. Man darf allerdings nicht übersehen, dass gerade die Anthroposophie wirklich eine Welt-Anschauung geben will – eben nicht ein abstraktes System von Vorstellungen, sondern eine reale Anschauung der Wirklichkeit, geistdurchdrungen und gesinnungsbildend...

Rudolf Steiner selbst bringt beides in unmittelbare Verbindung, als er vor Waldorflehrern folgende Sätze spricht:

Wenn die Erkenntnis vom Wesen des Menschen zunächst gesucht werden muß für die Unterrichts- und Erziehungskunst, so handelt es sich für das praktische Leben doch darum, welche Gesinnung, welche Seelenverfassung in dem Lehrer, in dem Erziehenden vorhanden ist gerade dadurch, daß er eine solche Weltanschauung hat, die im spirituellen Leben wurzelt. Eine solche Weltanschauung bleibt nämlich, wenn sie ehrlich erworben ist, nicht bloß ein Gedankensystem, sondern ist von einer Gesinnungsrichtung begleitet.
Rudolf Steiner 19.8.1922, GA 305, S. 70 („Die Erziehung des kleinen Kindes und die Grundstimmung des Erziehers“).


Hier wird es also ganz direkt ausgesprochen, dass eine wirklichkeitsgemäße, spirituelle Weltanschauung immer gesinnungsbildend ist! Wo wirkliche, tiefe Gesinnung fehlt, ist auch „Anthroposophie“ nicht reale Welt-Anschauung, sondern nur ein System fester Vorstellungen, die einen nicht mit der Welt verbinden, sondern wie andere abstrakte „Weltanschauungen“ von ihr getrennt halten.

Rückbezug auf die Vergangenheit?

„In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, wie in einem lebendigen Geistesleben der Rückbezug auf die Vergangenheit (also auch auf das Werk Rudolf Steiners bis zum Ende des ersten Viertels des vergangenen Jahrhunderts), eigene geistige Kraft und Tätigkeit und schließlich die Beziehung auf die Zukunft zusammen gehören. Können sich wirklich aus einem historischen Rückbezug Orientierungen für die Gegenwart ergeben, oder zeigt sich nicht immer mehr, wie nur die eigene Beziehung zur Zukunft überhaupt erst Vergangenheit zu erschließen vermag?“


Dies ist ein weiterer falscher Widerspruch. So falsch es ist, in der Anthroposophie eine abstrakte Weltanschauung zu sehen (oder aus ihr eine solche zu machen), so falsch ist es, sie als etwas Vergangenes zu erleben. Was soll denn mit „historischem Rückbezug“ überhaupt gemeint sein?

Bücher wie die „Philosophie der Freiheit“, die „Theosophie“ oder die „Geheimwissenschaft“ sind zeitlos, weil sie den Menschen zu einem Erleben des Geistes führen wollen und aus der Sphäre des reinen Geistes heraus geschrieben wurden. Wer dagegen nur darauf schaut, dass „Rudolf Steiner vor 100 Jahren gelebt hat“, der hat eben noch überhaupt nicht begriffen, worauf es eigentlich ankommt!

Das von Klünker erwähnte „lebendige Geistesleben“ ist doch heute überhaupt nicht existent! Und selbst die Beziehung des Menschen zu seiner Zukunft wird doch erst dann eröffnet, wenn der Mensch anfängt, sein wahres Wesen zu erahnen – und gerade dahin will die Anthroposophie doch führen. Wenn die Menschheit ohne Anthroposophie eine Zukunft gehabt hätte, hätte die Anthroposophie nicht „gegeben“ werden müssen – es ist aber erst die Anthroposophie, die Zukunft möglich macht, machen würde. Anthroposophie ist niemals etwas Vergangenes, ein (richtiges) Studium der von Rudolf Steiner gegebenen Geisteswissenschaft – also seiner geisteswissenschaftlichen Werke – kann niemals ein „Rückbezug auf die Vergangenheit“ sein!

Rudolf Steiners Werke wollen zum realen Geist-Erleben führen – und mit diesem Erleben beginnt überhaupt erst die wirkliche Zukunft für jeden einzelnen Menschen.

„Zukunftsoffenheit herstellen“?

„In diesem Sinne könnte Anthroposophie ein geistiger Inhalt sein, der mich nicht „wissender“ oder „eingeweihter“ macht, sondern im Sinne einer Selbstsensibilisierung empfindlicher: Selbstgefühl und Selbsterkenntnis stützen sich auf präsentes gegenwärtiges Erleben und eine Zukunftsoffenheit, die die Vergangenheit als Grundlage des Zukünftigen überhaupt erst richtig zu empfinden und zu begreifen vermag. Anthroposophische Gesellschaft wäre dann eine Gemeinschaft von Menschen, die sich nicht durch Inhalte und Weltanschauungselemente verbunden fühlen, sondern aus der Stimmung heraus leben, die sich aus einer so verstandenen Gesinnungsbildung ergibt. Die Anthroposophische Gesellschaft hätte dann jenseits von Vereinsgrenzen die Aufgabe, die gegenseitigen Lebensvoraussetzungen für ein Selbstgefühl aus Gegenwartspräsenz und Zukunftsoffenheit herzustellen – denn diese Existenzgrundlagen können zivilisatorisch nicht selbstverständlich sein.“


Was bedeutet der Konjunktiv des ersten Satzes? Ist das eine „freilassende“ Formulierung? Eine „Vermutung“? Oder eine Möglichkeit? Und warum wieder ein falscher Widerspruch, ein Entweder-Oder? Anthroposophie ist in jedem Falle eine Einweihung (siehe oben das Zitat von Mieke Mosmuller) – die Frage ist nur, ob sie mit der richtigen Gesinnung einhergeht...

Der ganze Absatz ist durchzogen von Begriffen und Formulierungen, bei denen immer wieder die erwähnte allgegenwärtige Abstraktion zu empfinden ist – auf hohem intellektuellem Niveau und mit schein-anthroposophischer Verklausulierung. Wenn man von der Aufgabe spricht, „die gegenseitigen Lebensvoraussetzungen für ein Selbstgefühl aus Gegenwartspräsenz und Zukunftsoffenheit herzustellen“ – kann dies denn wirklich auch nur ansatzweise jener Empfindung entsprechen, die für ein wirkliches Aufnehmen der Anthroposophie notwendig ist?

Und was der Absatz innerlich aussagt, sind doch wirklich nur die allerersten Grundlagen jeder Verwirklichung von Anthroposophie. Selbsterkenntnis kann überhaupt nur aus Geistesgegenwart hervorgehen (was allerdings noch etwas anderes ist als Gegenwartspräsenz) – und solange Zukunftsoffenheit und die Vergangenheit als Grundlage des Zukünftigen noch nicht wirklich erlebt wird, hat man noch nicht einmal die ersten, allgemeinsten Schritte getan.

Die „zwei Schwellen“ und die Verantwortung

Dann kommt Klünker auf die „geistige Schwelle“ und die „persönliche Schwelle“ zu sprechen, die heute „nicht mehr getrennt werden können“...

Der Begriff der Schwelle ist in anthroposophischen Zusammenhängen vielleicht der am stärksten missbrauchte Begriff überhaupt. Immer und immer wieder wird er wiederholt – und immer wieder wird damit scheinbar etwas Hoch-Esoterisches, in Wirklichkeit jedoch meist überhaupt nichts gesagt. Was soll das ständige Reden von der „Schwelle“, an der die Menschheit steht oder die sie sogar schon überschritten hat (oder doch noch nicht)?

Was Klünker in diesem Absatz schreibt, ist andererseits eine Selbstverständlichkeit: Natürlich kann man die geistige Schwelle nicht wirklich erreichen, wenn man sich der persönlichen nicht stellt! Rudolf Steiner hat oft darauf hingewiesen, dass eine tiefe Selbsterkenntnis zu den ersten Bedingungen gehört – und der „kleine Hüter der Schwelle“ ist die entsprechende Realität. Und natürlich ist die persönliche Schwelle letztlich nicht überwindbar, wenn man nicht geistig arbeitet – dafür sorgen die Widersachermächte ebenfalls...

Das war allerdings auch schon zu Rudolf Steiners Zeiten so, es ist nicht erst im 21. Jahrhundert so, auch wenn dies „bedeutsamer“ klingt. Im Grunde sind also auch diese „zwei Schwellen“ wieder ein falscher Gegensatz. Denn innere Entwicklung, die in rechtmäßiger Weise zum Geistigen führt, umfasst immer den ganzen Menschen. – Den falschen Weg kann man allerdings auch heute immer noch gehen. Das beginnt bei der allgegenwärtigen abstrakten Aufnahme der Anthroposophie (dennoch mit Einweihungsstärke, siehe auch das Zitat oben) und kann bis zu schwarzmagischen Wegen gehen, wo man ganz bewusst Schwellen überschreitet, die immer weiter in das Böse hineinführen.

Nun fährt Klünker fort:

„Die Verantwortung für Inhalte, die zu Gesinnung werden, ihre Erforschung und Weiterentwicklung kann eigentlich nicht mehr delegiert werden, auch nicht an Rudolf Steiner. Gegenwärtige Anthroposophie wäre dann nicht der vorfindliche historische Inhalt, sondern dasjenige, was in seiner Weiterentwicklung in der Gesinnung des Ich daraus entsteht.“


Wann
war es denn je so, dass die Verantwortung eines Anthroposophen delegiert werden konnte!? Ein wahrer Anthroposoph trägt für alles, was er tut, immer die volle Verantwortung! Man darf andererseits nicht übersehen, dass Rudolf Steiner die Verantwortung für das trug, was er schrieb und aussprach – und dass es diese Inhalte sind, die zur Gesinnung des Anthroposophen werden, wenn er sie aufnimmt! Die Verantwortung des Anthroposophen liegt nicht darin, diese Inhalte argwöhnisch zu bezweifeln, sondern sie real-wirklich aufnehmen und zur Gesinnung werden lassen zu können! Kann er dieser Verantwortung gerecht werden oder nicht? (Inwiefern der Inhalt der Geisteswissenschaft „historisch“ ist, dazu wurde oben schon das Notwendige gesagt).

Vom Dabeisein des Ich – aber wie?

„Mit anderen Worten: Die intensivierte Schwellensituation führt zu einer Veränderung der Esoterik. Aus einer Esoterik des Inhalts wird eine Esoterik des Ich. Der höchste esoterische Inhalt wird tendenziell unbedeutend, wenn nicht das Ich unmittelbar existentiell dabei ist, und der „geringste“ geistige Inhalt gewinnt spirituelle Dignität, wenn sich das Ich in der angedeuteten Weise mit ihm verbinden kann.“


Auch dies ist wieder ein falscher Gegensatz. Denn auch dies war schon immer so – außer bei jenen „Anthroposophen“, die die Anthroposophie zu allen Zeiten falsch verstanden haben. Der Inhalt der Geisteswissenschaft diente immer nur der Verwandlung und Erweckung des Menschen, und jeder ihrer Inhalte ist unbedeutend, ja schädlich, wenn das Ich nicht voll-wirklich dabei ist. Das ist ja gerade die Krankheit der „Anthroposophie“ – dass man so wenig begreift, was dieses „Dabeisein“ wirklich bedeuten würde!

Wenn dies nicht genau der zentrale Punkt wäre, auf den es ankommt, dann hätte Rudolf Steiner nicht immer wieder so scharf darauf hinweisen müssen, dass die Anthroposophen nicht „dabei“ sind, dass ihnen die Begeisterung fehlt, dass sie zu „schwer“ sind usw. – Und wenn man begriffe, was dieses „Dabeisein“ bedeutet, dann würde man auch die Bücher von Mieke Mosmuller begreifen, die auf diesen zentralen Punkt immer wieder hinweist.

Im Pädagogischen Jugendkurs sagt Rudolf Steiner:

In dem, was ich anthroposophische Geisteswissenschaft nenne, schon in meinem Vorwort zu der „Philosophie der Freiheit“, tritt Ihnen etwas entgegen, was Sie nicht erfassen können, wenn Sie sich nur jenem passiven Denken hingeben, das man heute besonders liebt, jenem gottverlassenen Denken, dem sich die meisten Menschen hingeben, und das schon im vorigen Leben gottverlassen war; sondern Sie können es nur erfassen, wenn Sie in Freiheit den inneren Impuls entwickeln, Aktivität in das Denken hineinzubringen. Sie kommen eben mit demjenigen, was in der Geisteswissenschaft lebt, nicht mit, wenn nicht jener Funke, jener Blitz hineinschlägt, durch den das Denken voller Aktivität wird.
Durch diese Aktivität müssen wir uns auch wieder die Göttlichkeit des Denkens erobern.

Da ist die anthroposophische Literatur und macht Anspruch darauf, daß man aktiv denken soll. Die meisten können nur passiv denken und meinen, aktiv zu denken sei nicht möglich. Es läßt sich dabei weder schlafen noch intellektualistisch träumen. Man muß mit, man muß das Denken in Bewegung setzen; in dem Augenblicke, wo man das tut, kommt man mit. Da hört auf dasjenige, was ich modernes Hellsehen nennen möchte, etwas Wunderbares zu sein. Daß das immer noch als etwas besonders Wunderbares erscheint, kommt daher, daß die Menschen noch nicht die Energie entwickeln wollen, Aktivität in das Denken hineinzutragen.

Es ist oft zum Verzweifeln in dieser Beziehung. Man fühlt manchmal, wenn man diese Forderung der Aktivität an das Denken stellt, daß es dem Betreffenden zumute ist wie einem Manne, der im Straßengraben lag, seine Hände und Beine nicht bewegte, nicht einmal seine Augenlider aufmachte, und von einem Vorübergehenden gefragt wurde: Warum sind Sie so traurig? – Er antwortete: Weil ich nichts tun möchte. – Der Fragende war erstaunt darüber, denn der Liegende tat anscheinend schon seit langer Zeit nichts. Aber er wollte noch mehr „nichts tun“! Da sagte der Fragende: Ja, Sie tun ja wirklich nichts! – Darauf bekam er die Antwort: Ich muß ja die Umdrehung der Erde mitmachen, und ich möchte selbst das nicht tun.
So kommen einem diejenigen vor, die durchaus nicht Aktivität in das Denken hineintragen möchten, die Kraft, die allein aus dem Menschen heraus wiederum einen Zusammenhang bringen kann zwischen der Menschenseele und dem göttlich-geistigen Weltinhalt.

Rudolf Steiner, GA 217, S. 125f.


Gegen Ende schreibt Klünker:

„Eine so verstandene Anthroposophie ist nicht historisch. Wissenschaftlich wäre die Geisteswissenschaft dann insofern, als sie in der Verantwortung des Ich eigene Ergebnisse und Wirkungen auf die Gesinnung überprüft, gegebenenfalls revidiert, sie aber auf jeden Fall weiterentwickelt [...]. Eine solche Haltung verlangt Fähigkeit zur Selbstkritik, persönliche Präsenz in der eigenen geistigen Aktivität.“


Hier finden wir also den „Ausblick“ auf eine Anthroposophie, die nicht historisch ist... Aber wie gesagt: Es gibt gar keine andere Anthroposophie als jene, bei der das Ich „unmittelbar existentiell dabei ist“. Das müsste man ganz deutlich sagen! Und die Wissenschaftlichkeit? Was heißt denn, „die Geisteswissenschaft prüft in der Verantwortung des Ich“ – wer prüft denn? Und was soll sie (bzw. das Ich) revidieren können – Wirkungen auf die Gesinnung? Das ist wieder eine sehr abstrakte, auch technische Formulierung eines außerordentlich tiefgreifenden Prozesses! Und was allein sind eigene Ergebnisse?

Die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaft besteht für einen Anthroposophen zuallererst darin, dass er die von Rudolf Steiner gegebenen Inhalte („Ergebnisse“) im eigenen Denken bewegen, studieren, sich in sie vertiefen kann und erleben und schließlich anschauen lernen kann, was er dabei beobachtet, erlebt, durchmacht. Es geht darum, sich durch intensives Bemühen überhaupt erst jenes reine Denken zu erringen, von dem Rudolf Steiner immer wieder gesprochen hat. Erst auf der Grundlage dieses reinen Denkens ist an eine weitergehende eigene Geistesforschung überhaupt nur zu denken.

Doch statt auf diese hohe Anforderung hinzuweisen, spricht Klünker wieder von der „Fähigkeit zur Selbstkritik“ und der „persönlichen Präsenz in der eigenen geistigen Aktivität“. Diese Art von Formulierungen sind reine Schlagworte und Trivialitäten. Man kann solche Dinge hundertfach wiederholen, und es ist damit nichts gesagt. Erst wenn man deutlich macht, was dies wirklich heißt – was z.B. das Wesen des reinen Denkens ist, und warum dieses die notwendige Grundlage des anthroposophischen Schulungsweges sein muss[1] –, bekommen die Worte einen Bezug zur Realität, zur realen Anthroposophie, die auf den Menschen wartet...

Anmerkungen


[1] Siehe auch dazu Rudolf Steiners Worte im „Pädagogischen Jugendkurs“, entscheidende Zitate >> hier.