05.01.2010

Vom Wesen der Anthroposophie und einer auferstehenden Kultur

Zur Entschleierung der Vorurteile „Dogmatismus“ und „Moralismus“, „Weltfremdheit“ und „Schwarz-Weiß-Denken“.


Inhalt
Worum geht es bei Wahrheit und Moral?
Weltfremd und schwarzweiß?
Was ist wahre Moral – eine Frage an jeden Einzelnen
Schlussworte 


Worum geht es bei Wahrheit und Moral?

Die Missverständnisse in Bezug sowohl auf meine Ausführungen, als auch das Wesen der Anthroposophie sind immer wieder eklatant. Und dann zeigt sich nach und nach ein Zusammenhang: So „dogmatisch“ man meine Aufsätze empfindet, so wenig versteht man die Anthroposophie. Das ist keine dahingesprochene Behauptung, denn das Problem ist eben: Was empfindet man als „dogmatisch“? Offenbar einen gewissen Zug von Strenge, Ernsthaftigkeit, Moralität und Wahrhaftigkeit. Wenn man dies nicht erträgt, ist etwas eben „dogmatisch“. Und weil man es nicht erträgt, wird auch die Anthroposophie zu etwas anderem gemacht. Man blendet das, was einem zu ernst und moralisch ist, aus – und nimmt nur den Rest, den man ebenfalls auf seine Weise „versteht“.

Man stößt sich natürlich auch an dem „Das ist so.“ – und übersieht auch hier zweierlei: Erstens hat man dieses Urteil selbst ebenfalls immer in all seinen eigenen, teilweise höchst subjektiven, unwahren Urteilen (jeder glaubt von sich, dass er die Dinge, so wie er sie sieht, „richtig“ sieht). Zweitens geht es gar nicht um ein Überzeugenwollen oder ähnliches, sondern eben nur um ein Hinstellen von Tatsachen – wie es auch Rudolf Steiner selbst wiederholt notwendig fand zu betonen. Die Strenge und Wahrhaftigkeit hat an sich schon den Gestus: „Das ist so“. Wenn der Andere dann subjektiv empfindet, man wolle ihm die Wahrheit aufdrängen, stimmt das einfach nicht. Wenn man sich aber schon gegen dieses „Das ist so“ wendet und es als „dogmatisch“ bezeichnet, möge man erstens auf seine eigene Dogmatik aufmerksam werden und zweitens die Geister scheiden lernen – denn natürlich gibt es echte Dogmatik, der nämlich ein Aspekt fehlt: die Wahrhaftigkeit.

Und drittens möge man in jedem Falle die gemachten Aussagen selbst prüfen – also dieses „Das ist so“ selbst prüfen. Wenn man sich an dem selbst aufgebauten Gespenst „Dogmatik“ stößt, kann man natürlich überhaupt nicht mehr unbefangen in die eigentlichen Aussagen eintauchen. Wenn man sie aber prüft, könnte es sein, dass man am Ende jenseits aller Dogmatik selbst sagen muss: „Das ist so.“

Ein absolut paralleler Prozess bezieht sich auf moralische Aussagen, die also eine Art „Das sei so“ beinhalten. Auch hier geht es um den Zug von Moralität, Strenge und Ernsthaftigkeit. Wenn man dies nicht erträgt, wird man ebenfalls von „dogmatisch“ und von „zu moralisch“ bzw. „moralisierend“ sprechen. Man übersieht dabei, dass es auch hier nicht um ein Überzeugenwollen geht, sondern um ein freies Hinstellen einer Aussage, die dem Anderen die Freiheit lässt, zu einer eigenen Erkenntnis und einem eigenen freien Wollen zu kommen – oder nicht. Wahrhaft moralische Aussagen werden nie einen konkreten Inhalt für das moralische Wollen vorgeben, sondern immer nur von dem sprechen, was geschehen muss, damit man überhaupt zu irgendeinem wahrhaft moralischen Wollen kommen kann. Das kann z.B. ein Hinweis auf die Notwendigkeit der Vertiefung des Empfindungslebens sein. In Wirklichkeit sind also die meisten moralischen Aussagen im Grunde auch nur ein „Das ist so.“, nämlich z.B.: „Wenn man ... verwirklichen will, dann muss man ...“.

Dann gibt es noch Aussagen, die einen mehr oder weniger deutlichen Aufruf zum Tätigwerden enthalten – und sei es, sich des zuvor Gesagten bewusst zu bleiben oder ähnliches. Diese Aussagen drücken im Grunde eine Hoffnung des Sprechenden aus, in dem Sinne von: „Möge...“. Rudolf Steiner hat auch solche Aussagen gemacht, etwa am Ende vieler Vorträge. Implizit liegt ein solcher Aufruf auch in Aussagen, die auf mitunter dramatische Zusammenhänge verweisen, etwa auf einen unaufhaltsamen Niedergang, wenn gewisse Entwicklungen weitergehen. Aber auch bei all diesen sanften oder stärkeren Aufrufen ist die Freiheit des Anderen ganz und gar gewahrt, denn appelliert wird immer nur an die freie Einsicht und an das daran anschließende freie Wollen.

Wenn man sich auch hier von allen Vorurteilen frei macht und einmal nicht davon ausgeht, dass der Schreibende irgendeine Handlung „erwartet“ oder „einen dazu bringen will“ etc., dann wird man auch hier unbefangen prüfen können, ob dieses „Das ist so“ wahr ist und ob man aus einer in sich selbst gefundenen Erkenntnis heraus selbst sagen will: „Ja, so sei es.“

Weltfremd und schwarzweiß?

Ein Kommentar auf meine Ausführungen der letzten Tage lautete:

Wenn Ihre Übungen des "reinen Denkens" nicht dazu führen, dass Sie sich unvoreingenommen einmal in Fragen aus einer anderen Perspektive einleben können, sind sie nicht viel wert. Auch nicht, wenn sie zu einem so dualistischen Denken in Schwarz und Weiss führen, wie Sie es praktizieren, gleichsam wie eine Karrikatur des Erzengels Michael, dessen angeblich so scharfes Schwert Sie immer gerne benutzen möchten. Brechen Sie doch einmal aus Ihrem wohlbehüteten Anthro-Zirkel aus, schreiben Sie ein Buch und vertreten den "Weckruf der Anthroposophie" draussen, in Schulen, normalen Buchhandlungen, mit Menschen, die nicht von morgens bis abends das "reine Denken" üben, aber dennoch nach spirituellen Werten suchen. Gronbach, so viel man ihn auch kritisieren kann, tut das immerhin und meditiert auf der Strasse, geht in Fernsehtalkshows, auf Buchmessen, in nichtanthroposophische Kreise und würde dies - falls öfter Einladungen kämen - auch noch öfter tun. Er stellt sich der Diskussion, knüpft Kontakte, sucht Menschen auch da auf, wo kein anthroposophischer Sprachkonsens herrscht. Ähnliches macht Eggert auf seiner extrem offenen Webseite.
Erst wenn Sie das mal machen, merken Sie, wie weit Sie mit Ihrer Sprache und Haltung kommen. Vielleicht lernen Sie dann auch was von Anderen, statt nur im Elfenbeinturm über den Verfall der Zeiten und Sitten zu klagen.


Das dualistische Denken in Schwarz und Weiß, was Sie meinen, müssen Sie mir noch einmal erklären – und zwar bitte klar und deutlich. Dass die Anthroposophie „draußen“ nur sehr schwer verstanden werden wird, ist kein Wunder, denn sie wird ja schon „drinnen“ nicht verstanden! Offenbar sehnen Sie sich doch nach einem Weckruf „draußen“, denn warum verlangen Sie von mir sonst, ich solle ihn „draußen“ vertreten? Weil es sinnlos und lebensfremd ist, wenn er „draußen“ nicht bestehen kann? Das ist eine sinnlose Behauptung pur! Denn das hieße, dass sie mit der Freiheit der Menschen überhaupt nicht rechnen. Jeder Mensch, „drinnen“ oder „draußen“ kann sich immer weiter für die Geistlosigkeit entscheiden – selbst wenn das die entsprechenden Konsequenzen für die weitere Entwicklung haben wird.

Wenn die Anthroposophie ihr Wesen nicht entfalten kann, geht die Menschheitsentwicklung dem völligen Untergang entgegen. Das sage nicht ich, das hat Steiner gesagt. Vielleicht „glauben“ Sie ja auch ihm nicht. Es kann jedenfalls nicht darum gehen, der Welt die „Anthroposophie“ in einer Gestalt anzudienen, die ihrem heutigen Bedürfnis nach Unterhaltung und leicht verständlicher Kost entspricht. Die Seele muss sich zum Geist erheben, wenn sie überhaupt eine Sehnsucht hat, der Geist kann nicht der Seele dienen. Diesen Zustand allerdings haben wir heute, man nennt ihn „Intellekt“.

Auf dem Wege der Anpassung wurde aus einer großartig religiösen Zeit, wo die Menschen noch echte Religiosität hatten, eine Zeit, wo vielleicht noch hier und da ein Kreuzkettchen getragen wird und man um der Kinder willen einen Weihnachtsbaum hat, und das war‘s. Mit allen Zwischenstufen natürlich, also z.B. „moderne“ Gottesdienste mit möglichst viel Unterhaltungswert etc. Das Bewusstsein versinkt in der Materie, und das Bemühen hechelt hinterher, um jeweils noch eine kleine Alibi-Verbindung zum „Himmel“ zu behalten.

Und Gronbach? Er bringt tatsächlich Spiritualität nach „draußen“, in die Welt. Es unterscheidet sich aber nicht von dem, was New-Age-ler schon immer vertreten haben. Wenn man in deren Aktivitäten etwas sehen kann, was heilsamer ist als nichts, dann trifft das auf Gronbach in ähnlicher Weise zu. Aber Anthroposophie ist es nicht, und das Schlimme ist, dass er an der Verschleierung ihres Wesens kräftig mitwirkt.

Was ist wahre Moral – eine Frage an jeden Einzelnen

Damit die Anthroposophie in der Welt wirken kann, muss sie erst einmal „drinnen“ verstanden werden – und nicht nur verstanden. In dem Maße, indem sie seelenverwandelnd wirkt, kann sie auch nach außen wirken. Das kann unscheinbar sein, im unmittelbaren Umkreis usw. Aber man darf im eigenen Verständnis über die Tiefe dieser Verwandlung nicht haltmachen – sie ist unbegrenzt. Erst wenn genügend Menschen mit dieser Tiefe wirklich ernst machen, würde sich „drinnen“ das Bleigewicht von Theorie, Dogmatik, Abstraktion, Scheinheiligkeit, Unpersönlichkeit (siehe Jo‘s Zitat über „Die drei Aspekte des Persönlichen“) usw. auflösen und könnte das Wesen der Anthroposophie auch „draußen“ in der Welt langsam wirksam werden – durch jene Menschen, die sie in sich selbst wahrhaft wirksam werden lassen.

Man stelle sich ein inniges Adventsgärtlein vor Augen – und kleine Kinder, die wirklich noch mit andächtigem Leuchten in den Augen diese Spirale entlang zum Licht gehen, ihr eigenes Licht daran entzünden, dann umkehren und ihr Licht behutsam an einen Platz stellen, wo es den Weg erleuchten soll, damit Maria den Weg findet, auf dass das Christkind in die Welt kommen kann... Das ist ein Wahrbild für die Kultur, die auferstehen müsste. Und sie müsste in den Erwachsenen, in der Seele der Erwachsenen auferstehen! Wenn dies wahrhaft geschähe, dann hätten wir eine erneuerte Kultur, und zwar ohne Scheinheiligkeit, ohne Bierernst und Trauergesichter, ohne strenge Blicke und moralisierende Zeigefinger – untereinander nicht und den Kindern gegenüber schon gar nicht.

Eine solche Kultur auferstandener Religiosität und Geistesahnung (und Geist-Erkenntnis!) ist einem entweder ein leuchtendes Vorbild und Zukunftsbild – dann ist man wahrhaft ein Anthroposoph auf dem Weg – oder nicht. Wenn dies einem nicht eine selbst empfundene Sehnsucht sein kann, dann versteht man entweder gar nicht, wovon ich spreche, oder man ist so vollständig ein „Kind seiner Zeit“, dass die eigenen Empfindungen völlig korrumpiert sind. Das wird dann sehr stark daran liegen, dass man fast nur und immer wieder mit den pervertierten Gegenbildern dieser wunderbaren Seelentiefe und -verwandlung konfrontiert wurde – mit Scheinheiligkeit, Todernst usw. usf. – Selbstverständlich muss man sich dagegen wehren, aber gerät so in das andere Extrem.

Rudolf Steiners machte die grandiose Entdeckung der Doppelheit der Widersacher, die den Menschen vom Christusweg abbringen wollen. Sich dies zu vergegenwärtigen, kann doch wirklich immer wieder die größte Hilfe sein. Wohin also gerät man, wenn man sich schaudernd von Scheinheiligkeit, Todernst usw. abwendet? In die „lebensfrohe“, den Begierden gehorchende Flachheit. Kommt man so dahin, wohin man wollte? Vielleicht, das steht in der Freiheit des Einzelnen. Wenn man aber den Christus sucht, wird man erkennen, dass man sich nach wahrer Vertiefung sehnt – und wird erkennen, dass man durch Scheinheiligkeit und Todernst hindurchstoßen muss (und kann) zur wahren Heiligkeit und zum wahren Ernst, der zugleich eine tiefe Freude bringt und die zugleich das wahre Leben bedeutet.

Die Frage ist also immer wieder: Sucht man wirklich den Christus – dann wird man ihn auf seinem ernsthaften (!) Wege früher oder später finden, und mit ihm die Hierarchien. Oder sucht man z.B. nur ein bisschen Spiritualität oder die All-Eins-Erleuchtung nach Ken Wilber, die zwar am Computer erreicht werden kann, aber laut Gronbach dennoch sogar über der All-Liebe steht und natürlich auf den ganzen „Wesenszoo“ verzichten kann...

Schlussworte

Die entscheidende Frage stellt sich immer wieder – sie steht da und wartet. Und zwar auf jeden einzeln. Reden wir nicht von der Welt „draußen“, reden wir nicht vom „behüteten Elfenbeinturm drinnen“. Vergessen wir auch, wie oft und vielleicht wie viele Jahrzehnte wir scheinbar dieselbe Frage schon aus mehr oder weniger berufenem Munde gehört haben. Hören wir die wirkliche Frage – und hören wir sie wirklich! Nicht weil sie ein anderer stellt. Sondern weil wir sie stellen, weil sie in uns selbst aufklingt. Setze ein jeder an die Stelle dieses „wir“ wirklich sein eigenes heiliges, freies Ich und höre die Frage...