27.01.2010

Zur Erkenntnis des „anthroposophischen“ Intellekts

Menschen, die sich der Anthroposophie verbunden fühlen, wissen um das, was Rudolf Steiner über den Intellekt gesagt hat. Doch viele bemerken gar nicht, wie sehr auch sie selbst in diesem Intellekt gefangen bleiben. - Über das Un-Wesen des "anthroposophischen" Intellekts und seine Überwindung.


Inhalt
Einleitung
Welche Realität hat das Fühlen für das Denken?
Die Realität des Willens – zunächst unfassbar
Erkenntnis und Verwandlung


Einleitung

Menschen, die sich der Anthroposophie verbunden fühlen, wissen um das, was Rudolf Steiner über den Intellekt gesagt hat. Doch viele schauen „wissend“ auf die heutigen Zeitphänomene, können vielleicht auch ausführliche Vorträge über das Versinken der Welt im Intellekt halten, aber bemerken gar nicht, wie sehr auch sie selbst in diesem Intellekt gefangen bleiben.

Es gibt einen „anthroposophischen“ Intellekt. Das ist eben jener Intellekt, der sich der Anthroposophie zu nähern versucht, aber trotz allem – trotz der Fülle der neuen Denkinhalte – Intellekt bleibt. Auf diese Weise zieht er die Anthroposophie auf sein Wesen (bzw. seine Wesenlosigkeit) herunter, während er glaubt, sich mit der Anthroposophie zu verbinden. Das ist aber ein Widerspruch in sich – nur dass er vom Intellekt nicht bemerkt werden kann, der ja glaubt, bereits etwas ganz anderes zu werden. Er wird auch etwas anderes: Er wird ein „anthroposophisch“ verfeinerter Intellekt, der als solches immer mehr zu einer furchtbaren Karikatur der wirklichen Anthroposophie wird.

Der Intellekt aber ist und bleibt ein totes, wesenloses Gebilde. Er meint, gerade sehr lebendig zu sein, dem „Wesen der Dinge“ auf der Spur zu sein. Er erlebt sich als den Mittelpunkt der Welt, weil er alles an sich heranzieht, alles mit seinem Blick anschaut, wodurch alles ihm ähnlich wird. Er macht alles, was er anschaut, abstrakt und glaubt, es so „durchdringen“ zu können. Er glaubt, dass er mit den ganzen „anthroposophischen“ Phrasen etwas aussagt. Dasjenige, wozu er die Wirklichkeit gemacht hat, kann er durchaus „verstehen“, aber es ist toter, wesenloser Schein.

Der Mensch, der diesen Intellekt zur Verfügung hat, merkt nicht, dass der Intellekt ihn und sein Denken bestimmt. Er kann es nicht merken, solange er noch nicht ein anderes Denken findet, das vom Intellekt befreien kann, das der Weg der Befreiung aus der Wesenlosigkeit ist. Der Mensch, der sich „der Anthroposophie verbunden fühlt“, kann den Irrtum und das unheilige Wirken des Intellekts nicht durchschauen, solange er nicht erkennt, dass er zwar seine Verbundenheit fühlt, diese aber selbst wieder durch den Intellekt zur abgelähmten Vorstellung wird (etwas Merkwürdiges zwischen echtem Gefühl und Vorstellung von einem Gefühl), dass vor allem aber das Denken selbst völlig unverwandelt bleibt und neben dieser „Verbundenheit“ nebenher läuft.

Welche Realität hat das Fühlen für das Denken?

Der Mensch kann glauben, dass er sein Denken schon sehr verwandelt habe, dass all sein Denken sich bemühe, den Rätselfragen des Lebens auf den Grund zu gehen und in die Anthroposophie hineinzuwachsen. Man bemüht sich doch so sehr, zu „erfassen, in welchem Verhältnis Hülle und Wesenskern zueinander zu stehen“ oder „die Frage in sich zu bewegen und zu durchdringen“, wie man „zu einem angemessenen Verständnis des und Verhältnis zum Christus kommen kann“ und so weiter. Was der Mensch aber nicht bemerkt, ist, dass er gerade seine besten Kräfte missbraucht und verwahrlosen lässt, indem er die Keime einer Sehnsucht nach der Anthroposophie nicht zu ihrem wahren Wesen erwachen lässt, sondern das „Sich-Verbunden-Fühlen“ noch immer aus dem Denken heraushält, so dass das Denken noch immer abstrakt und wesenlos bleibt, ja zu dieser Karikatur des scheinbar sehr bemühten, „geistigen“, „anthroposophischen“ „Ringens“ wird, das mit dem wahren Erkenntnisringen nichts gemein hat.

Der Mensch glaubt, mit diesem sachlichen, „vorsichtig tastenden“, „objektiven“ Ringen der Wirklichkeit und der Erkenntnis – der Wirklichkeit der Erkenntnis – näher zu kommen, aber es ist gerade diese Sachlichkeit, die nichts anderes als völlige Abstraktion ist und auch jede „Erkenntnis“ wesenlos bleiben lässt. Der „anthroposophische“ Intellekt bewegt sich sehr kundig und mit vielfältigsten Wortschöpfungen in dem, was er sich angeeignet hat – und er glaubt, der Wirklichkeit näher zu kommen, indem er gerade von subjektiven Gefühlen absieht, sich „rein um die Sache“ bemüht usw. – Aber er sieht nicht, dass er der Wirklichkeit nicht nur „näher“, sondern überhaupt erst in die Wirklichkeit hineinkommen könnte, wenn er sich mit dem Gefühl verbinden könnte.

Das Gefühl, das zunächst die Quelle des „Sich-verbunden-Fühlens“ mit der Anthroposophie ist, kann, wenn es diese Quelle ist, doch niemals die Quelle von Unwahrheit und Verfälschung sein! Es geht nicht darum, subjektive Gefühls- und Wunschinhalte in das Denken hineinzutragen, sondern das Denken soll das Fühlen so entzünden, dass dessen reine Kraft im Denken mitleben kann. Dann erst vergeht der Intellekt, und etwas vollkommen anderes entsteht...

Das Fühlen, diese fühlende Verbundenheit mit der Anthroposophie, kann immer tiefer und stärker werden. Sie kann zu einer tiefen Sehnsucht und Liebe werden. Und es geht in der Anthroposophie doch gerade um die Steigerung und Vertiefung der Seelenkräfte – aber dafür müssen sie erst einmal zugelassen, hervorgerufen und entzündet werden! Man sieht nicht, dass wir durch die Bewusstseinsgeschichte eigentlich sehr, sehr geschult darin sind, die Subjektivität zu überwinden, und dass es heute darum geht, ein Übermaß an „Objektivität“, d.h. in Wirklichkeit an Abstraktheit zu überwinden – eine „Wirklichkeit“, in der der Mensch gar nicht enthalten sein darf. Diesem Irrtum unterliegt auch der „anthroposophische“ Intellekt.

Es geht nicht um eine inhaltsvolle Sehnsucht, sondern um die reine Kraft der Sehnsucht als solches. Die vom Denken entzündete reine Kraft des Fühlens muss im Denken mitleben können. Sonst kann man noch so sehr von den „Herzen“ sprechen, die „beginnen, Gedanken zu haben“, man macht ja nicht einmal den ersten Schritt! Der erste Schritt wäre, in den Gedanken selbst überhaupt erst einmal das wahre Fühlen zuzulassen. Dann würde sich das Denken verwandeln, man würde dies an der Sprache empfinden. Zum ersten Mal dürfte in den Worten und Gedanken wirklich ein Fühlen leben – ein Fühlen, was ganz eins sein darf mit der Sehnsucht nach der Anthroposophie, die es in sich trägt. Das wäre ein Denken, das nicht abstrakt bleibt, sondern wirklich „authentisch“ sein darf, nämlich den ganzen Menschen in sich zu tragen beginnt. Der ganze Mensch beginnt zu denken.

Die Realität des Willens – zunächst unfassbar

Nun ist all das zuvor Gesagte natürlich noch immer nur ein Teil der Wahrheit. Denn der Mensch ist nicht vollständig, wenn nicht auch der Wille in seine Realität eintreten darf.

Der Mensch findet immer mehr sich selbst, wenn er seine Seelenkräfte wahrhaft in die Hand bekommt und sie sich dann immer mehr durchdringen können. Der Beginn dieses Weges kann nur im Denken gemacht werden. Erst wenn das Denken wirklich Herz bekommt und willenskräftig wird, kann irgendwann auch umgekehrt das Licht des Denkens das Fühlen und das Tun durchdringen. Der Wille muss also in das Denken hineingetragen werden. Jeder einzelne Gedanke soll seine Abstraktion nicht nur durch die Wärme des Fühlens verlieren, sondern er muss auch wirklich willentlich, aktiv geformt und gebildet werden.

Der Denkende muss mit seinem Gedanken eins sein. Er muss in jedem neuen Gedanken selbst darinnensein, in der Entstehung wirklich dabei sein. Das sagt sich so leicht, aber wenn es leicht genommen wird, dann ist es noch überhaupt nicht verstanden. Denn was hier gemeint ist, gelingt, wenn überhaupt, erst einmal anfänglich in Stunden der Übung, der Konzentration und Besinnung. Dann merkt man überhaupt erst, wie willenlos und kraftlos das gewöhnliche Alltagsdenken ist – selbst wenn es mit den schwierigsten Gedankenverbindungen hantiert! Der Intellekt ist mittendrin in seinem Element, aber der Denker ist gar nicht dabei. Man wird erst nach und nach lernen müssen, erlebend zu verstehen, was es überhaupt heißt, seinen Willen in das Denken hineinzutragen. Dass man es zuerst überhaupt nicht versteht, liegt daran, dass dieser Wille zunächst gar nicht zur Verfügung steht, gar nicht vorhanden ist. Er kann überhaupt nicht entfaltet werden! Es ist, wie wenn man sich zu einer schweren Gartenarbeit aufraffen müsste – aber da weiß man wenigstens, wie es gemacht werden kann!

Wie der Wille in das Denken hineingebracht werden kann, weiß man zunächst überhaupt nicht. Und man bemerkt dies unmittelbar, wenn man versucht, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Ja, man kann die Worte innerlich vor sich hinsprechen, man kann den „Gedanken“ vielleicht sogar „sehen“, sich vorstellen usw. – aber man kann ihn nicht wirklich denken. Man kann nicht in dem Gedanken leben, man kann den Gedanken nicht beleben, es bleibt etwas Äußerliches – wenn man nicht sogar sehr schnell völlig abschweift. Es gelingt einem zunächst nicht einmal eine dauerhafte Konzentration, geschweige denn eine Kontemplation oder gar Meditation. Man fühlt die ganze, vollkommene Unfähigkeit des Denkens, wirklich zu sich selbst zu kommen...

Wenn man dies einmal eingesehen hat, dann ist die wichtigste Selbsterkenntnis errungen, die man haben kann – erst recht, wenn man sich der Anthroposophie verbunden fühlt. Denn nun liegt die Aufgabe klar vor einem: Die Seelenkräfte müssen überhaupt erst einmal eine Realität werden – und sie müssen es im Denken werden können, damit das Denken überhaupt erst wahrhaft Denken wird.

Erkenntnis und Verwandlung

Man muss also zunächst diese wichtigste Selbsterkenntnis erringen, sonst wird man nie zu der Wirklichkeit von dem vordringen, was Rudolf Steiner die Wesenlosigkeit des Denkens nannte. Wenn man diese Selbsterkenntnis aber errungen hat, dann kann sie sich auch weiter vertiefen – man erfährt die Ohnmacht und Abstraktion des Denkens immer realer, aber man erlebt auch immer deutlicher die Aufgabe, die Keime, die aus einem entschlossenen Üben hervorgehen...

Dann aber durchschaut man immer mehr durch und durch die Wesenlosigkeit und Abstraktion des Denkens, wo sie auch auftritt. Man erlebt in sich selbst und auch überall sonst den Selbstbetrug und die Illusionen des Intellekts, seine verzweifelten Bemühungen wie auch seinen hochmütigen Glauben, der Realität (auch und gerade der Realität der „Anthroposophie“) näherzukommen; man erlebt seine ganzen Techniken und Varianten, die die verschiedenste Gestalt annehmen können, aber doch immer wieder nur zu einer Illusion und einer Karikatur führen. So wie der Intellekt selbst die völlige Karikatur eines ganz anderen Denkens ist, das Organ für die lebendige Geistwirklichkeit werden würde, so macht er auch alles, was er unter „Anthroposophie“ versteht, zu einer schlimmen, nicht wiederzuerkennenden Karikatur ihrer lebendigen Wirklichkeit.[1]

Das Denken muss sich selbst ergreifen – der ganze Mensch muss in das Denken hineinsteigen lernen. Der Intellekt glaubt immer schon, dass er der ganze Mensch ist, und das gerade ist sein Hochmut. Der ganze Mensch muss sich überhaupt erst kennenlernen und erschaffen!

Zwar hat der Mensch „Denken, Fühlen und Wollen“, aber gleichsam wie eine Marionette. Der Intellekt ist sich seiner selbst bewusst, aber er denkt seine Inhalte „wie von selbst“, kann sich nicht einmal auf einen einzigen Gedanken dauerhaft konzentrieren und ihn wirklich mit Kraft füllen. Das Gefühl lebt sich zwischen Sympathie und Antipathie aus, auch wenn man heute ansatzweise um „Positivität“ und „Selbstbeherrschung“ bemüht ist. Und der Wille verläuft ganz automatisch, auch wenn man sich natürlich seiner Handlungen „bewusst“ ist oder sein kann. Es kommt darauf an, dass die Seelenkräfte sich wieder vereinigen – zuerst im Denken. Das Denken muss Fühlen und Wille werden, die volle Wirklichkeit des Fühlens und Wollens muss im Denken real werden können.

Dann erfährt das Denken seine Auferstehung ... dann erfährt der Mensch die Auferstehung, zuerst im Denken...

Anmerkung

 

[1] Erlebt und durchschaut werden kann dies alles sehr weitgehend auch schon durch ein wahrhaftiges, vom Intellekt nicht korrumpiertes Empfinden.